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Ein Toter kommt selten allein … Packender Italien-Krimi mit viel Lokalkolorit für Fans von Paolo Riva und Jürgen Seibold Es ist Frühjahr, die Temperaturen steigen und stetig sinkt das Wasser des Gardasees – und so kommt plötzlich auch eine Leiche ans Licht. Der grummelige Commissario Francesco Tedesco, der sich eigentlich schon auf seinen Ruhestand vorbereiten wollte, wird nach Riva del Garda beordert, um die Kollegen vor Ort zu unterstützen. Doch kaum ist die Wasserleiche geborgen, wird ein zweiter Todesfall gemeldet: Die Hausdame eines edlen Apartmenthauses, dessen Gäste nun vorübergehend in der Villa Torrani unterkommen. Hängen die beiden Fälle zusammen? Und warum treffen sich hier drei sehr unterschiedliche Paare alljährlich für sechs Wochen, um sich gegenseitig ihrer Verschwiegenheit zu versichern?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Piper Verlag GmbH, München 2025
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Cover & Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
In Erinnerung an Monika Reile (6. Mai 1951–26. Juli 2023)
Mittwoch, 10. April
Schuld an allem war der Regen, nein, besser umgekehrt, die Dürre. Es war immer gut, das Wetter für etwas verantwortlich zu machen: Das wehrte sich nicht.
Francesco Tedesco sah kopfschüttelnd in den blauen Himmel. Hätte es einfach mal wieder geregnet und wäre der Pegel des Gardasees nicht um historische achtunddreißig Zentimeter gesunken, so wäre all das nicht ans Licht gekommen, was ihm nun Kopfschmerzen bereitete. So viel zu den Worten »hätte«, »wäre« und »würde«. Tatsächlich hatte Massimo Lumacino, der Leiter der Polizeidirektion Riva, ihn vor wenigen Minuten angerufen und um Hilfe gebeten. Und genau das war das Problem.
»Wir haben einen Selbstmord.«
»Für Suizide bin ich nicht zuständig.«
»Das stimmt, aber der Staatsanwalt besteht darauf, dass du noch mal einen Blick auf die Leiche wirfst. Du kennst ja unseren Dottore Scarpa.«
»Warum?«
»Weil Giorgia Marchetti, die Mitarbeiterin unseres Pathologen meint, dass der Mann schon vor sehr langer Zeit im See versenkt wurde. Zusammen mit einem Kanister, in dem Beton war.«
Tedesco trat an seine Küchenzeile, füllte den Espressokocher mit Wasser und Pulver, verschloss alles sorgfältig und stellte die Bialetti auf den Herd. Erst dann wandte er sich wieder an den Questore. »Möglicherweise wollte er ja ganz sichergehen.«
»So sehe ich das auch.« Massimo Lumacino seufzte dramatisch. »Aber wie gesagt, der Staatsanwalt hat mal wieder Zweifel. Komm doch einfach schnell vorbei und bestätige das, was ich die ganze Zeit schon behaupte.«
Tedesco lachte. »Du machst es dir ganz schön leicht. Warum nimmst du nicht einen aus deiner Truppe? Nur zum Abnicken mache ich mich nicht auf den Weg.«
»Aber der Staatsanwalt hat genau deinen Namen genannt. Entweder hat Dottore Scarpa dich auf dem Kieker und will dich ärgern, oder er zweifelt an meiner Kompetenz.«
Tedesco nickte und schwieg. Vermutlich war Letzteres der Fall. Jeder Polizist im ganzen Trentino wusste, dass Massimo Lumacino dazu neigte, alle Aufgaben, für die er zuständig war, ganz schnell weiterzugeben. Glücklicherweise hatte er sehr gute Mitarbeiter.
Der Commissario aus Trento füllte nun eine Espressotasse mit dem noch sehr heißen Kaffee und setzte sich an seinen Küchentisch. »Eins verstehe ich nicht. Wenn der Körper sehr lange im See lag, woher wisst ihr dann, dass es ein Mann ist? Mehrere Jahre sind eine sehr, sehr lange Zeit. Da bleibt so gut wie nichts an Erkennbarem von einem Leichnam übrig.«
»Habe ich auch gedacht.« Massimo schluckte. »Aber als der dann in der Bergungswanne lag, immer noch am viel zu niedrigen Seeufer und inmitten unseres ganzen Wohlstandsmülls, ausgediente Kühlschränke, Autos, Fahrräder, Möbel, sogar Laptops, also unter uns, da ist mir die Lust auf Frühstück vergangen.«
Tedesco gönnte sich eine zweite Tasse Espresso. Dass Lumacino über Umweltschutz nachdachte, war ihm neu. Hatte er sich etwa der grünen Partei »Europa Verde« angeschlossen? Das wäre ein Fortschritt. Er rührte Zucker in seinen Espresso und wandte sich erneut an den Anrufer. »Also, erzähl, was ist das Besondere an der Leiche?«
»Der war noch einigermaßen zu erkennen – aber ich kannte ihn glücklicherweise nicht.«
»Du kannst ja auch nicht alle kennen«, bestätigte Francesco. »Bei fast achtzehntausend Einwohnern.«
Sein Gesprächspartner schien zu nicken. »Vermutlich ist es nur ein Tourist. Isetta soll mal nachschauen, ob in den letzten Jahren jemand als vermisst gemeldet wurde.« Lumacino schien sich Notizen zu machen. Dann wandte er sich wieder an den Trentiner Kollegen. »Wusstest du, dass eine Wasserleiche manchmal zwischen zehn und dreißig Jahren braucht, um zu verwesen? Also mir hat das noch keiner gesagt. Aber hier haben wir so ein Exemplar. Bei einigen Toten bildet sich wohl nach einiger Zeit eine chemische Reaktion, die dafür sorgt, dass die Körperform erhalten bleibt. Die in der Pathologie sprachen von Adipocere. Also, schön anzusehen ist das nicht. Um es kurz zu machen: Unsere Leiche gehört wohl zu jenen Exemplaren, die eine wachsähnliche Schutzschicht gebildet haben und noch als menschliche Wesen erkennbar sind. Ganz schön hartnäckig.« Massimo Lumacino schimpfte weiter vor sich hin: »Und stell dir vor, bevor ich mich überhaupt zu dem Leichnam runterbeugen konnte, hatte unser Kollege Ernesto den Toten schon untersucht. Dabei habe ich ihm gesagt, dass die mit dem Fund in ihrer Bergungswanne erst mal in die Pathologie fahren sollen, bevor wir uns der Sache annehmen. Aber du kennst ja Ernesto. Immer mit dem Kopf durch die Wand. Und was das Schlimmste ist. Ich geb dem meinen Bericht zum Korrekturlesen, damit der fehlerfrei an Dottore Scarpa geht, und Carabiniero Neunmalklug fügt meiner Selbstmordthese selbstständig hinzu, dass der Tote sich nicht selbst gefesselt haben kann, dass da sicher noch ein zweiter Mensch mit im Spiel war.«
»Aber das hättest du doch wieder löschen können.«
Massimo Lumacino schnappte nach Luft. »Ich habe so viel Vertrauen zu meinen Mitarbeitern, dass ich ihre Arbeit nicht noch mal checke und die Mails grundsätzlich so weiterschicke. Aber aus diesem Schaden habe ich gelernt. Nun gut, jetzt haben wir den Salat. Che Stronzata!« Der Fluch kam aus tiefster Seele. »Also, was ist? Wann kommst du?«
»Ich mach mich gleich auf den Weg. Sag euren Pathologen schon mal Bescheid. Vermutlich bin ich in einer guten Stunde bei euch.«
»Soll ich dir wieder ein Apartment zur Verfügung stellen?«
»Nein, das ist nicht nötig. Ich fahre heute Abend wieder heim.«
Im Laufe der Jahre hatte Francesco Tedesco festgestellt, dass er am besten zu Hause schlief. Jetzt, da seine Pensionierung quasi vor der Tür stand, wurde es ihm noch wichtiger. Er reiste nicht einmal mehr – so wie früher – in den Ferien in fremde Länder, sondern verbrachte seine freien Tage daheim, lesend, mit langen Spaziergängen und vielen Kaffeepausen. Ihm fehlte niemand, schließlich hatte er immer ein Buch dabei. Obwohl damals, als er mit Ernesto Constantini im Fall des verschwundenen Bürgermeisters von Riva ermittelte, hatte die Zeugin Viola Giallo sein Herz berührt. Mit ihr hätte er möglicherweise einen Neuanfang gewagt und mit ihr wäre er auch gern verreist. Allerdings wusste er nicht, ob auch sie das gewollt hätte. Damals lebte sie in einem Haus voller Bücher und schien die gleichen Autorinnen und Autoren zu mögen wie er. Und wenn es unbedingt hätte sein müssen, hätte er sich sogar mit Violas weißem Königspudel Bella angefreundet. Vorbei. Schade. Aber nun hatte er seine Leidenschaft für Bücher entdeckt und zum Lesen brauchte man bekanntlich ja keinen Partner. Höchstens dazu, um über das Gelesene zu sprechen.
Unvermittelt dachte er an seinen verwitweten Nachbarn zur Linken. Dieser hatte sich mit Beginn der Rente einen älteren Mischlingshund aus dem Tierheim geholt und war nur wenig später bei einem Tierarztbesuch der Liebe seines Lebens begegnet. Deren Hund war ein reinrassiger Dackel und je besser die beiden Menschen miteinander klarkamen, umso mehr stritten sich die Hunde. Fast hätte man meinen können, dass all die fürsorglichen und freundlichen Worte von Mann und Frau mit aggressivem Hundeknurren unterlegt waren. »Amore mio«, so nannte der Nachbar seine Liebste nun. Zuvor war der Hund mit ähnlichen Kosenamen bedacht worden. Langen Diskussionen auf dem nachbarlichen Balkon hatte Francesco entnehmen können, dass nun weder der Dackel noch der Mischlingsrüde mit ins gemeinsame Schlafzimmer oder gar ins Bett durften. Klar, dass die Tiere auf achtzig waren. Andererseits, auch Viola Giallo hatte im eigenen Bett an der Seite ihres Hundes geschlafen. Ob sie ihre Königspudeldame seinetwegen vor die Tür gesetzt hätte? Vermutlich nicht. Der Hund war ihr wohl lieber gewesen. Eine leichte Wehmut fiel ihn an.
Während der Fahrt nach Riva hoffte Francesco, dass Ernesto sich geirrt hatte. Falls der Selbstmörder sich eigenmächtig an einen Kanister gekettet hatte, so könnten sich die Ketten im Laufe der Zeit ja auch so miteinander verhaken, dass ein Laie auf die Idee käme, jemand habe dabei nachgeholfen.
Der Commissario überholte einen Lastwagen und beschloss, diese These im Hinterkopf zu behalten. So eine Wasserliegezeit war ja nicht statisch. Das galt weder für ertrunkene Menschen noch für Elektroherde, Computer und ausgediente Fahrräder. Sehr tiefe Strömungen verteilten die Dinge immer wieder neu. Und das hieß dann ja wohl auch, dass der aufgefundene Körper vielleicht gar nicht in Riva in den See gelangt war. Sicher wüssten sie heute Abend schon mehr. Er stellte sich vor, dass Isetta ihm zusätzlich zu ihrem wunderbar schaumigen Cappuccino und ihren selbst gebackenen Biscottini eine fünf Jahre alte Pressemeldung servierte. »Vermisst wird seit dem Frühjahr 2019 Signore xy. Er ist psychisch krank und es wird vermutet, dass er sich das Leben nehmen will.« Da der Leichnam laut Lumacino eine sogenannte Wachsleiche war, bräuchte man nur noch jemanden, der die Identität des Toten bestätigte. Dass der Questore nicht einmal das selbst auf die Reihe brachte!
Während ihm das durch den Kopf ging, freute er sich fast auf seinen kleinen Ausflug und auf die allwissende Isetta Fusco. Obwohl Massimo Lumacinos rechte Hand fast so alt war wie der nun anreisende Francesco Tedesco, hatte sie vor der modernen Technik weder Respekt noch Angst. In Windeseile fuchste sie sich in alle existierenden Computerprogramme ein und surfte schneller als jede andere selbst durch die geheimen Akten des Innenministeriums und der Guardia di Finanza. Bestimmt verfügte sie auch über einen geheimen Weg zu den unter Verschluss gehaltenen Dossiers des Vatikans. Irgendwann würde er sie danach fragen.
Als er vor der Präfektur hielt, griff er wie immer an seine Brusttasche und erschrak. Nun hatte er doch tatsächlich eines seiner vielen Notizbüchlein vergessen. Seufzend ging er ein paar Straßen weiter und betrat eine Cartoleria. Ohne die Chance, etwas mitzuschreiben, war er nur ein halber Mensch.
Das junge Mädchen vor ihm erwarb Postkarten sowie Briefmarken. Die Art, wie sie »Francobollo« aussprach, zeigte ihm, dass sie nicht aus dieser Gegend war. Außerdem hieß es Francobolli, wenn sie mehr als eine Marke wollte, und das war ja wohl der Fall. Anders als die meisten Touristinnen trug sie ein braves gelbes Baumwollkleid, Schnürschuhe sowie einen breitkrempigen Hut, der ihr Gesicht so gut wie komplett verdeckte. Eine mittelblonde Haarsträhne fiel ihr in den Nacken.
Wer schrieb denn heutzutage noch Postkarten? Da erledigte man doch alles per WhatsApp, Telefonat oder SMS. Vermutlich war er in ein klitzekleines Zeitloch gefallen. Riva schien gepflastert mit Zeitlöchern. Nirgendwo sonst schien sich die Struktur der Zeit so sehr zu verknoten wie hier, ganz plötzlich riss sie auf und führte zu Abstürzen in die Vergangenheit oder katapultierte einen für Sekundenbruchteile in eine unbegreifliche Zukunft. Francesco wusste noch, dass er einst mit Viola Giallo darüber hatte sprechen wollen. Damals. Zu jener Zeit las sie ein Buch von Stephen Hawking und schien ihm die beste Gesprächspartnerin für dieses Thema.
Regula Holtmannspötter trat mit ihren Postkarten aus dem Souvenirladen, blieb stehen und schnappte nach Luft. Jetzt ging also alles wieder von vorn los. Was für ein Segen! Sie hatte ja immer gewusst, dass die Sache ein gutes Ende nehmen würde. Vittorio lebte! Anders konnte es nicht sein. Sie hatte gesehen, was sie gesehen hatte. Und der Mann, der hinter ihr den Laden betreten hatte, war das eindeutigste Zeichen dafür. Nur, wie sollte sie das Ernesto erklären? Etwa mit den Worten: »Ich hatte mich für einen anderen entschieden, den ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Jetzt ist er wieder da.«
Regula sprach nicht gern in ganzen Sätzen. Sie sprach überhaupt nicht gern. Das war auch ein Grund, warum sie Handwerkerin geworden war. Andere sagten ihr, was sie sich wünschten, und sie, Regula, zeichnete einen Plan oder baute ein Modell, hörte sich Änderungswünsche an, nickte zustimmend und legte los. Immer ohne Widersprüche – denn das hieße ja zu diskutieren. Besonders erfolgreich hatte dieses Prinzip schon vor gut zwei Jahren hier in Riva am Gardasee gegriffen. Ihr italienischer Arbeitgeber Camillo Torrani redete und redete und sie, die Schreinerin, nickte und hörte zu. Noch immer fragte sie sich, wie der Sohn eines Mailänder Fabrikanten ausgerechnet auf sie gekommen war. Ob es ein Zufall war? Ihre sehr katholische und sehr gläubige Mutter glaubte nicht an Zufall. »Gott sorgt dafür, dass dir diese Chancen zufallen.«
Nun gut, dann hatte also Gott dafür gesorgt, dass sie direkt nach ihrer Meisterprüfung mit einer ganz profanen Mail darum gebeten wurde, die alte Villa des jungen Torrani wieder bewohnbar zu machen. Die Anfrage war über den Geschäftsaccount ihrer Eltern eingegangen; Regula besaß weder Laptop noch Handy. Gemeinsam mit ihrem Vater hatte sie die Anfrage studiert und beantwortet: »Ich bin nur Schreinerin«, doch ihr Vater hatte das »nur« gelöscht und ihre Antwort dahingehend ergänzt, dass sie nur für reine Holzarbeiten antreten könne. »Das ist auch eine Frage der Versicherung.«
Gleich am nächsten Tag hatte dieser eigenartige Italiener, der, wie sie nun wusste, mit einer deutschen Mutter aufgewachsen war und daher perfekt beide Sprachen beherrschte, geantwortet: »Das ist kein Problem. Es kommt noch eine Elektrikerin aus Deutschland und die anderen Spezialisten finden sich hier vor Ort.«
Zweifelnd hatte Regula die Schultern gehoben. »Aber das ist so weit weg! Und die sprechen da eine andere Sprache! Und warum gerade ich?«
Natürlich hatte ihr Vater sofort eine Theorie gehabt. »Der Mann ist klug. Bestimmt hat er die Prüfungsergebnisse für Schreinerinnen und Schreiner bei der Handwerkskammer studiert und sich gleich die Beste rausgesucht. Nutz die Chance. Da du bei mir angestellt bist, stelle ich dich ein paar Monate frei und du bringst das Häuschen von dem auf Vordermann und sammelst dabei für dich etwas Lebenserfahrung.«
Lebenserfahrung. Dass so etwas grundsätzlich mit einem Strudel widersprüchlicher Empfindungen zusammenhing, hatte er ihr nicht gesagt. Also war sie mit Herzklopfen, einem Koffer voller Handwerkszeug und einer kleinen Tasche mit Sommerkleidung und T-Shirts sowie einem Rucksack voller Notizen angereist, in Rovereto aus dem Zug gestiegen und direkt dort von der Liebe ihres Lebens in Empfang genommen, genauer gesagt, erschlagen worden. Bedauerlicherweise hatte der aber lediglich von einem Plakat auf sie hinuntergestrahlt. Der ganze Bahnhof war mit seinen Porträts plakatiert, unter denen lediglich ein paar Worte in fremder Sprache standen: »Chi ha visto quest’uomo?«, was so viel hieß wie: »Wer hat diesen Mann gesehen?«
Bei dem Wort »visto« war sie sich sicher gewesen, dass das nur was mit Visite zu tun haben könnte. Also würde dieser Mann hier schon bald zu einer Visite vorbeikommen. Eines der Plakate, das nicht besonders festklebte, hatte sie von der Wand entfernt und in ihrem Rucksack versteckt. Das trug sie heute noch bei sich. Der Mann, den sie zu lieben plante, hieß Vittorio Bordignono. Sie wusste, dass er mittlerweile Mitte 50 sein musste. Aber sie war ja auch schon 26.
Tatsächlich hatte sie voller Elan geholfen, die Villa des Camillo Torrani wieder bewohnbar zu machen. In ihrer Vorstellung jedoch renovierte und verschönerte sie jeden Raum für Vittorio. Dabei lächelte sie und war glücklich. Alles passte und alles funktionierte: große Räume, große Fenster, große Pläne. Einbauschränke und Parkettfußböden – und Camillo besorgte auf Anhieb so viel Holz und Arbeitsmaterial wie sie brauchte. Von all dem hatte sie ihrem Vater nach ihrer Rückkehr in die Ochtruper Schreinerwerkstatt erzählt. Nicht aber von Ernesto und erst recht nicht von Vittorio. Er hätte Fragen stellen können, doch wie um alles in der Welt beantwortete man solche Fragen? Besser gar nicht.
Und dann war, kaum zwei Jahre später, eine weitere Anfrage mit der elektronischen Post in den väterlichen Rechner hineingeflattert. Was war da nur passiert? Sie erinnerte sich noch, dass ihr ganz flau geworden war, als ihr Vater ihr diese Mail mit fast feierlicher Betonung vorlas. »Liebe Regula, du wirst hier gebraucht. Bitte melde dich. Camillo.« Und sie erinnerte sich auch, dass die Mutter sie dabei ganz genau beobachtet hatte. Hätte sie etwa jubeln sollen? Die Mutter schien es zu erwarten.
Regula hatte an Riva gedacht und genickt. »Gut, ich fahre.« In Riva könnte sie arbeiten und für sich sein. Dort säßen ihr nicht ständig die Eltern im Nacken. Und an manchen Abenden käme Ernesto vorbei. Ein guter Freund.
Camillo Torrani, der seinen Wohnsitz nun ganz nach Riva verlegt hatte und dort in seiner Villa wohnte, wollte sich eine komplette zweite Wohnung mit Dachgarten in das Obergeschoss seines Hauses einbauen lassen und zudem jedes seiner unzähligen Gästezimmer mit eigenem Bad ausstatten. Vor allem Letzteres kam Regula sehr gelegen, hatte sie sich doch bei ihrem ersten Aufenthalt in der Villa Torrani ein Bad mit Tamara teilen müssen. Da war es manchmal ganz schön eng geworden.
Tamara Stadlhuber war nicht nur genau das, was Regulas Mutter als »Powerfrau« bezeichnen würde, sie nahm sich auch ungefragt Raum, Platz und Aufmerksamkeit – und davon immer ein bisschen mehr, als sie eigentlich brauchte … andererseits wusste Regula bei der wenigstens, woran sie war.
Tamara Stadlhuber kam aus Bayern und war Elektromeisterin. Für Camillo schienen die schüchterne Regula und die draufgängerische Tamara ein Dreamteam zu sein. Tamara allerdings sah das etwas anders. Ihr war die westfälische Schreinermeisterin zu still, zu verschlossen und zu eigenbrötlerisch. Sie wäre gern mit ihr nachts um die Häuser gezogen, inzwischen aber hatte sie glücklicherweise ihren eigenen Kreis und lästerte über die spießige Regula, die mit ihrem Ernesto regelmäßig ins Café des Hotel Sole ging, weil es dort die reinlichsten Toiletten gab, dann still auf das Wasser blickte und an einem Glas Wein nippte oder einen Aperol Spritz trank.
Ernesto ließ sich inzwischen all das, was er ihr zu erzählen hatte, von seinem Handy auf Deutsch übersetzen, reichte sein Telefonino an Regula weiter, die dann zustimmend nickte oder mit dem Kopf schüttelte. Sie selbst tippte so gut wie nie Worte in sein Handy. So war es auch jetzt wieder.
Nun stand Regula auf der Straße und betrachtete die Postkarten, die sie in wöchentlichem Abstand an ihre Eltern schicken würde. Das war besser als jedes Telefonat. Da hätte vor allem ihre Mutter nach Tamara gefragt. Nach der Powerfrau, die sie vor wenigen Wochen mit der Frage begrüßt hatte: »Na, wie war deine Zeit zwischen damals und jetzt«, und die nicht glauben wollte, dass Regula vor zwei Jahren nach Vollendung ihres ersten Auftrages einfach wieder in den Zug gestiegen und heimgefahren war, um in der Werkstatt ihres Vaters zu arbeiten.
»Ja, wolltest du denn gar nichts erleben? Jetzt, wo du endlich mal draußen warst?«
Regula hatte den Kopf geschüttelt. »Nein.«
»Du bist zurück in das kalte Westfalen, zurück ans Ende der Welt?«
Hätte Regula die richtigen Worte gefunden und auch Lust gehabt, mit Tamara zu reden, so hätte sie ihr sicher gestanden, dass Ochtrup für sie der Mittelpunkt der Welt war. Hier hatte sie ihre Kindheit verbrachte, hier lebten ihre Verwandten und hier stand, und das war das Allerwichtigste, die Schreinerwerkstatt ihres Vaters. Aber das wären viel zu viele Worte gewesen. Daher hatte sie nur genickt.
»Ich fass es nicht. Also ich,« erklärte Tamara großspurig, »ich habe zum ersten Mal die ganz große Freiheit gerochen und Blut geleckt. Abenteuerblut. Du glaubst ja wohl nicht, dass ich nach Zorneding und zu diesem Sebastian Huber gefahren bin, mit dem ich zwar verheiratet bin, der aber nicht ein einziges Mal versucht hat, mit mir Kontakt aufzunehmen. Der hatte offensichtlich ebenso die Schnauze voll wie ich. Nein, ich bin nach unserem Einsatz hier durch ganz Europa gereist und habe nun meine Berufung als Wander-Handwerkerin gefunden. Das ist es!« Sie hatte Regulas Hand genommen und ihr den ausgebauten Kleinbus vorgeführt. »Meine Werkstatt und mein Zuhause! Guck mal, sogar mit Strom und Internet und einem eigenen Chemieklo.«
»Da drin hast du gewohnt?« Regula schüttelte sich.
»Fast nie. Fast immer bin ich von den Leuten, für die ich gearbeitet habe, mit Kost und Logis versorgt worden. Und Geld gab’s auch noch. Das solltest du auch machen. Man lernt so tolle Menschen kennen.«
Regula hatte immer nur einen kennenlernen wollen: Vittorio. Ob er noch lebte? Vermutlich. Sonst wäre der Commissario ja nicht hier. Damals hatte er nach Vittorio gesucht. Zusammen mit Ernesto. Jetzt würden sie ihn finden. Ihr Herz hüpfte. Sie hatte wieder Zuversicht.
Sie war ebenso zuversichtlich und voller Vorfreude wie Camillo Torrani, der nichts anderes wollte, als dass die Wohnung auf dem Dach ganz schnell fertig würde, denn da sollte seine Freundin einziehen: Flavia Ottalevi. Endlich. Seit mindestens fünf Jahren waren sie miteinander liiert und er sehnte den Tag herbei, an dem er sie allen als seine Moglie, also seine Frau, vorstellen könnte und nicht mehr als seine Freundin. Allerdings hatte Flavia darauf bestanden, in seinem Haus eine eigene Wohnung zu beziehen und damit erst die ganzen Umbauarbeiten in Gang gesetzt. Hinter der Villa, nicht einsehbar von der Straße, plante Camillo einen Außenaufzug, der in jedem Stockwerk Halt machen sollte. So war aus der anfangs kleinen Veränderung mit nur wenigen Nachbesserungen erneut ein Riesenprojekt geworden.
All das wollte Regula eigentlich ihren Eltern auf einer Postkarte schreiben. Doch ihre Hände zitterten nun vor Aufregung.
Kaum hatte Francesco Tedesco die Tür zum Kommissariat geöffnet, schon begrüßte ihn Isetta mit einem verhaltenen Freudenschrei. »Dass immer erst etwas passieren muss, bevor Sie kommen. Aber egal. Hauptsache, Sie sind da. Kaffee?«
Er nickte.
Isetta eilte geschäftig zur Küchenzeile. Francesco hatte das Gefühl, dass sie von Jahr zu Jahr energischer und drahtiger wurde. Ein Energiebündel auf zwei Beinen, die meistens in Jeans steckten. Das graue Haar zu einem Bubikopf geschnitten und von der Brille zurückgehalten. Von Weitem wirkte sie wie ein junges Mädchen und war – das hatte der Commissario erstaunt registriert – weitaus agiler und fitter als ihre Tochter Aurora. Die schlug wohl eher nach dem trägen und sanftmütigen Vater.
»Der Chef will gleich mit Ihnen in die Pathologie, aber ich habe ihm gesagt, dass Sie sich erst stärken müssen. Schließlich sind Sie ja aus Trento angereist.«
»Oh, das ist sehr rücksichtsvoll. Danke. Wie geht es Ihnen?«
»Bestens«, Isetta strahlte ihn an. »Seit Sie mit meiner Tochter geredet haben, wird sie endlich vernünftig. Sie lässt sich jetzt nicht mehr operieren, um schöner zu sein. Allerdings …«, und hier senkte Isetta die Stimme, »hat sie es nun mit Tattoos.«
»Das ist Mode, das machen alle«, tröstete Francesco sie und wechselte das Thema. »Sind Sie schon ein bisschen weitergekommen? Mit den Vermisstenmeldungen?«
Isetta hüpfte ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Nicht wirklich. Ich kann es ja nicht eingrenzen. Dieser arme Mensch kann überall und irgendwann an irgendeinem Ufer des Gardasees ertrunken sein. Und das bedeutet, dass ich in sämtlichen Dienststellen von Nord bis Süd und von Ost bis West nachhaken muss.«
»Oh je, das kann dauern.« Tedesco zeigte Verständnis.
»Sie sagen es.« Isetta nickte. »Der Chef aber meint, ich schaffe das in drei Minuten.«
»Ach was, er hat sich also kaum geändert?«
»Dazu ist er wohl zu alt.« Isetta seufzte. »Übrigens habe ich mir schon die Wetteraufzeichnungen angesehen. Wir hatten in den vergangenen Jahren mehrere Stürme und heftige Gewitter, dazu kommen Unterwasserströmungen, die man mit dem bloßen Auge nicht sieht. Daher könnte unser Toter schon weit vor Torbole in den Fluss Sarca gefallen sein.«
Tedesco gab ihr recht.
»Vielleicht haben wir Glück und der Pathologe kann uns eine ungefähre Altersbestimmung geben. Allein damit käme ich schon weiter«, ließ Isetta ihn weiter an ihren Gedanken teilhaben.
»Ich werde mich darum kümmern!«, versprach Francesco Tedesco und wischte sich den Milchschaum von der Oberlippe.
In genau diesem Augenblick öffnete Massimo Lumacino die Tür. »Endlich bist du da!« Leicht ungehalten wandte er sich an seine Assistentin. »Nun nerv ihn nicht auch noch mit deiner Theorie von der Altersbestimmung. Das klärt sich bei der Obduktion.«
Isetta warf ihrem Chef einen frostigen Blick zu.
Lumacino schien das nicht zu bemerken. Er nickte Francesco zu: »Sobald du den Kaffee getrunken hast, fahren wir los. Die in der Pathologie haben auch nicht alle Zeit der Welt.«
»Die Toten sind uns noch nie weggelaufen«, setzte Francesco dagegen, aber Massimo war offensichtlich schlechter Laune. Er lächelte nicht einmal.
Die beiden Kommissare hatten sich seit mindestens zwei Jahren nicht mehr gesehen und Tedesco staunte über die noch weiter angewachsene Körperfülle des Questore, dessen Frau eine begnadete Köchin war, bedauerlicherweise aber am liebsten Pasta und Pizza auftischte. Obwohl erst Ende fünfzig, lief Massimo wie ein alter Mann und stöhnte bei jedem Schritt.
»Bist du krank?« Tedesco klang besorgt.
»Nein, nur ein bisschen Rheuma. Immer wenn das Wetter wechselt. Vermutlich wird es morgen regnen. Und nun komm. Ernesto wird uns fahren. Dann kann er gleich hören, dass seine These von der Fremdeinwirkung so was von daneben ist und er begreift hoffentlich auch, dass es nicht klug ist, Vermutungen als Fakten zu verkaufen. Red du ihm da bitte auch noch mal ins Gewissen.«
»Eins nach dem anderen. Ich will erst die Leiche sehen.«
Lumacino schnaufte und schnappte nach Luft. »Wie du willst. Wenn es dir recht ist, stelle ich dir Ernesto wieder zur Seite. Diesen ewigen Besserwisser!«
»Er denkt doch nur mit.«
Der Carabiniere näherte sich ihnen in einem schwarzen Dienstwagen. Tedesco hätte Ernesto kaum wiedererkannt, denn der junge Mann hatte nun dunkles und lockiges Haar.
Nachdem die Herren im Auto saßen, beugte sich Francesco von der Rückbank vor. »Ernesto, du lässt dir deine Haare nicht mehr blond färben und glätten?«
»Nein, Regula gefällt es so besser.«
»Mir auch.« Dem Kommissar aus Trento schoss sein vormittägliches Erlebnis in der Buchhandlung durch den Kopf und wollte von Ernesto wissen: »Kann es sein, dass ich deine Regula heute gesehen habe?«
»Gut möglich. Sie ist wieder im Einsatz. Camillo will, dass ihm die Bürgermeisterin aufs Dach steigt.« Er grinste.
»Sei nicht so despektierlich«, Massimo schnauzte seinen Mitarbeiter an. Immerhin ist Flavia Ottalevi unsere Bürgermeisterin.«
»Und ein Außenaufzug wird auch noch angebaut. So wie in Veronas vornehmen Stadthäusern«, fuhr Ernesto unbeeindruckt fort. »Das weiß ich alles von Regula.«
»Pah, nun lüg doch nicht schon wieder. Die sagt doch nie irgendwas. Das weiß sogar ich!« Massimo öffnete ein Seitenfenster und wedelte sich Luft zu.
»Muss sie auch nicht«, stellte Ernesto klar. »Ich frag sie was und mein Handy übersetzt es. Und entweder nickt sie oder sie schüttelt den Kopf. So krieg ich alles raus.«
»Sie spricht immer noch nicht Italienisch?«
»Keine Ahnung. Ich denke schon. Aber sie redet nicht gern. Ich finde das schön. Meine Mutter und meine Schwestern reden dauernd. Da kommt man gar nicht dazwischen. Mit meinem Handy kann ich mir dann auch genau überlegen, was ich sie fragen will.«
Da war was dran.
Um genau dreizehn Uhr erreichten die drei das Krankenhaus, in dessen Keller die Pathologie untergebracht war. Während Ernesto einen schattigen Parkplatz suchte, jammerte Massimo über jeden Meter, den sie sich vom Portal der Klinik entfernten. »Denk an meine Füße!«
Mitleidig betrachtete Francesco Tedesco seinen sehr rundlichen Kollegen und dachte: Lass dir eine Kur verschreiben und mach eine Diät, wer weiß, wie lange dein Körper das noch mitmacht. Aber er wusste, dass Massimo auf diesem Ohr mehr als taub war.
»Na dann wollen wir mal«, seufzte der Questore, nachdem er sich aus dem Auto gequält hatte und befreite vorausschauend ein mit Parfum getränktes Taschentuch aus einer Plastikdose. »Es tut mir leid, aber ich kann das da unten im Leichenkeller nicht so gut riechen.«
»Ja«, bestätigte Francesco. »Der Tod hat einen ganz eigenen Geruch.« Auch er würde sich nie daran gewöhnen.
Selbstbewusst trat ihnen am Eingang zum Obduktionsraum eine Frau im grünen Kittel entgegen. Ihr Haar war wie eine Bürste geschnitten und schon ziemlich grau. Sie trug eine Brille mit sehr dicken Gläsern. »Ich nehme an, Sie kommen wegen der Wasserleiche.«
»Exakt, aber wo ist Dottore Longhi? Ich hatte heute früh mit ihm telefoniert.«
»In der Klinik.«
»Um Gottes willen! Ist was passiert, ein Unfall?« Lumacino wurde ganz blass.
»Nein, nein, bei seiner Frau haben die Wehen frühzeitig eingesetzt. Er kümmert sich um ein neues Leben. Und ich beschäftige mich mit einem alten Toten.« Sie wischte sich beide Hände am Kittel ab. Dann begrüßte sie Massimo mit Handschlag. »Giorgia Marchetti.«
Nachdenklich wiederholte er ihren Namen, als ginge es darum, ihn jetzt und sofort auswendig zu lernen. »Marchetti also«, nickte er. »Und was konnten Sie herausfinden?«
»Einiges.«
Francesco fiel auf, dass sie weder ihn noch Ernesto auch nur eines Blickes würdigte.
»Bei dem Toten handelt es sich um einen etwa sechzigjährigen Mann, der im Laufe der Zeit von den tiefen Strömungen des Gardasees über den Boden geschleift wurde und entsprechende Verletzungen aufweist. Glücklicherweise – wenn man das so sagen darf, sind die inneren Organe noch relativ gut zu erkennen und die Fäulnisveränderungen noch nicht so weit fortgeschritten, was darauf hinweist, dass das Opfer erst nach seinem Tod in den See geraten ist. Also dort versenkt wurde.«
»Ach was!« Massimo Lumacino klang enttäuscht durch sein Taschentuch hindurch. »Das kann doch gar nicht sein. Warum ist das denn kein Selbstmord?«
»Glauben Sie mir, dieser Mann ist nicht ertrunken. Und schon gar nicht mit der Absicht, sich umzubringen. Definitiv nicht. Schauen Sie mal!« Mit einem Ruck drehte sie den Oberkörper des braun-grünlich verfärbten und nach Tod und Verwesung riechenden Leichnams zur Seite. »Ihm wurde mit einem stumpfen Gegenstand der Schädel eingeschlagen. Und nicht nur an einer Stelle. Hinzu kommen mehrere Rippenbrüche. Als habe jemand zusätzlich und voller Zorn auf ihn eingetreten. Wäre ich jetzt in einer Vorlesung, so würde ich von einem Wutrausch, wenn nicht gar von Übertötung sprechen.«
Dabei klang sie schon jetzt wie in einer Vorlesung. Ob sie immer so redete? Commissario Tedesco hatte augenblicklich das Bild vor Augen, dass sie auch im Bett, neben ihrem Mann liegend, in genau diesem Vortragston verlangte, er möge das Licht löschen und mit ihr Liebe machen … Er konzentrierte sich erneut auf den Toten und unterbrach die Pathologin. »Für mich heißt das, dass derjenige, der diesem Mann das angetan hat, gar nicht mehr wusste, wohin mit seiner Wut.«
»Ja. So denke ich mir das.« Fast erstaunt nahm sie die Anwesenheit des Kommissars aus Trento wahr und zuckte fast zusammen, weil der sie einfach überging und mit weiteren Fragen aufwartete.
»Und was bitte sagen Sie zu den Eisenketten und dem Betonkanister?«
»Selbst unter Berücksichtigung, dass der Leichnam von der tiefen Strömung hin und her gerollt wurde, so würde ich dennoch sagen, dass die ganze Aktion sehr schnell und unter großer Hektik abgelaufen ist. Jemand hat in Panik versucht, den Toten loszuwerden. Was ihm ja auch für einige Jahre gelungen ist. Wie gesagt, ein Mensch bei Bewusstsein hätte sich vielleicht trotz all der Rippenbrüche aus den Ketten befreien können.« Erneut sah sie auf den Questore mit dem Riechtüchlein vor der Nase und stellte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, klar: »Suizid ist definitiv ausgeschlossen.«
Massimo seufzte laut und vernehmlich. »Was meinen Sie? Aus welchem Milieu kommt der Mann?«
Giorgia Marchetti war augenblicklich wieder in ihrem Element und bediente sich ihres Vortragstons: »Er hatte einige Zahnimplantate, was darauf schließen lässt, dass er auf sein Äußeres achtete. Ob er mit seinen Händen gearbeitet hat, kann ich nun nicht mehr sagen. Wie Sie sehen, gibt es an Händen und Füßen schon die sogenannte Waschhautbildung. Teilweise haben sich Teile der Haut auch schon ganz abgelöst. Da kriegen wir keinen Fingerabdruck mehr hin.«
»Fingerabdrücke …« Ernesto hob zweifelnd die Schultern. »Das würde uns vermutlich keinen Millimeter weiterhelfen, es sei denn, er ist vorbestraft. Und statistisch gesehen sind das nur zwanzig Prozent aller polizeilich Erfassten.«
»Oh, Mister Besserwisser schlägt wieder zu.« Lumacino hob nur die Augenbrauen.
Giorgia Marchetti tat, als habe sie kein Wort gehört. »Schauen Sie sich den Toten an. Er ist weder übergewichtig noch untergewichtig, also ganz normal genährt.« Während sie das sagte, maß sie Massimo mit einem langen Blick. »Er hat die typische Männerfigur für sein Alter. Aber auf AFIS können wir in diesem Fall nicht bauen.«
»AFIS, das automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungssystem?« Ernesto nickte wissend. »Schade, das hätte ich gern mal eingesetzt.«
Sein Chef stöhnte: »Junge, du musst nicht immer allen erzählen, dass du alles weißt!«
Er wurde von seinem Kollegen Francesco unterbrochen. »Sei doch froh, dass er sich interessiert und so gut Bescheid weiß. Wenn er so weitermacht, wird er irgendwann deinen Posten einnehmen.«
Massimo atmete hektisch.
Ernesto nickte verlegen. »Ich meine ja nur.«
»Und was ist mit seiner Kleidung?« Massimo Lumacino zeigte nun, wer hier der Chef war.
»Die ist drüben in der Plastikwanne. Nichts Auffälliges. Eine Jeans und ein Sweatshirt. Alles schon mit Muscheln und Algen durchsetzt. Auch ein paar Fische haben sich daran zu schaffen gemacht.«
Zufrieden bemerkte Francesco, dass Ernesto alles ordentlich mitschrieb. Dieser Junge war ehrgeizig und diszipliniert. Genauso, wie man sich seinen Nachwuchs wünschte. Alles, was er sah und hörte, notierte er mit einem weißen Kugelschreiber in ein kleines Heftchen mit schwarzem Umschlag.
»Ernesto, lies uns doch mal vor, was du dir bisher notiert hast«, sagte der Commissario aus Trento und überging damit den empört blickenden Questore, der im Gegenzug zur Seite trat, sein Handy aktivierte und es wie ein Mikrofon vor Ernestos Mund hielt.
»So schicken wir gleich alles per WhatsApp an Isetta. Die kann sich dann schon mal kümmern.«
Der junge Carabiniere räusperte sich. »Bei dem Toten handelt es sich um einen Mann, etwa Ende fünfzig, ca. 1,78 Meter groß. Gepflegtes Äußeres. Eine Begutachtung des Gebisses lässt erkennen, dass mehrere Zahnimplantate am rechten Oberkiefer angebracht sind, im unteren Kieferbereich sind Amalgamfüllungen. Das Röntgenbild dazu wird nachgereicht.«
Lumacino hob die Hand und diktierte in sein Handy: »Isetta, darum kümmerst du dich dann.« Daraufhin forderte er Ernesto auf, weiterzusprechen.
Giorgia Marchetti hörte aufmerksam zu. Sie hätte sicher augenblicklich widersprochen, hätte Ernesto auch nur ein falsches Wort gesagt. Doch der gab weiter zu Protokoll: »Der Tote war normal gekleidet und lag nach Ansicht der Pathologin mindestens fünf Jahre auf dem Grund des Gardasees. Es ist nicht klar, ob er hier in der Nähe von Riva zu Wasser gelassen wurde.«
»›Zu Wasser gelassen‹ … was sagst du denn da? Das heißt versenkt!« Lumacino hatte sich das Tuch vom Mund genommen und schimpfte drauflos. Versehentlich atmete er dabei tief ein, hielt sich daraufhin sofort die Hand vor den Mund und stürzte aus dem Raum, um sich hinter der Toilettentür lauthals zu übergeben.
»Na ja, nicht jeder hat so gute Nerven.« Giorgia Marchetti zwinkerte hinter ihren dicken Brillengläsern. »Dann schicke ich die Ante-mortem-Röntgenbefunde des Gebisses direkt an ihre Kollegin?«
Ernesto nickte dankbar. »Es ist wirklich schade, dass es keine polizeilich geführte Datenbank mit allen Röntgenuntersuchungsbildern gibt.«
Was für ein Träumer, dachte Francesco Tedesco. So weit sind wir wohl noch lange nicht. Und er murmelte: »Die arme Isetta wird nun in jeder Zahnarztpraxis anrufen und sicher auch jeder Praxis das Röntgenbild schicken müssen.«
Ernesto nickte wissend. »Polizeiarbeit ist manchmal sehr kleinteilig. Am besten lässt sie sich gleich die Namen und Telefonnummern der örtlichen Zahnärzte nennen, wenn sie sowieso schon alle Polizeistandorte rund um den See wegen der Vermisstenmeldungen anruft.«
Die Pathologin nickte. »Das ist ein guter Ansatz.«
Lumacino gab außerhalb des Untersuchungsraumes weiterhin besorgniserregende Würggeräusche von sich.
Die Frau mit dem Bürstenhaarschnitt drehte den Toten gerade auf den Rücken, als sich die Tür öffnete und der blasse Questore den Raum betrat. »Sind wir fertig? Können wir jetzt gehen?«
»Ja.« Giorgia Marchetti nickte. »Ich schiebe ihn zurück ins Kühlfach. Wir müssen ja wissen, wohin er gehört, wer um ihn trauert, wer ihn dann bestatten und das alles auch bezahlen wird.«
»Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist!« Diesen Satz sprach Ernesto in sein Handy und ließ ihn sich übersetzen, nachdem er Regula auf die Wange geküsst hatte. Er strahlte sie an.
Sie lächelte und zögerte. »Der Commissario ist wieder da. Dein Freund.« Diese zwei Sätze sprach sie in perfektem Italienisch.
»Wow! Dann brauchen wir das hier ja gar nicht mehr!« Er wies auf sein Telefonino. »Hast du heimlich geübt?«
Sie schüttelte den Kopf, griff nach seinem Handy und tippte »nicht gut genug« hinein.
Schade, er hätte sich lieber von Angesicht zu Angesicht mit ihr unterhalten als über den Weg seines elektronischen Übersetzers. Wer wusste schon, ob der alles korrekt wiedergab.
»Gehen wir zum Hafen?«
»Come sempre – wie immer«, antwortete sie und hakte sich bei ihm ein.
Abends im Café Sole erzählte er ihr dann – natürlich streng geheim – von der Wasserleiche. »Stell dir vor, Commissario Tedesco hat mich gelobt.«
Sie nickte geistesabwesend, was ihn wunderte. Sonst war sie immer sehr an seinen abendlichen Berichten interessiert. Trotz ihrer offensichtlichen Teilnahmslosigkeit widerlegte er nun auch ihr gegenüber Massimos Selbstmordthese, tippte einen Satz nach dem anderen in den elektronischen Übersetzer und beobachtete dann, wie sie gelangweilt durch den Text scrollte. »Hast du Sorgen? Was ist mit dir?«
»Nichts. Was soll schon sein?«
Er kannte sie jetzt schon länger als drei Jahre. Na gut, zwischendrin war sie fast zwei Jahre in diesem eigenartigen Land Westfalen gewesen, in dem kein Wein angebaut wurde und weder Granatäpfel noch Limonen wuchsen und er war davon überzeugt, dass sie auch deshalb anders als alle anderen Frauen war, die er kannte. Nun aber dachte er ernüchtert: Sie ist doch wie meine Schwestern. Auch die sagten ständig »was soll schon sein«. Und immer, wenn sie das sagten, ahnte jeder, dass es um etwas ganz Großes ging. Ein weltumspannendes Problem wie beispielsweise die Frage, warum ein bestimmtes Paar Schuhe so teuer war, dass sie es sich nicht leisten konnten. Frauen eben.
Nachdenklich nippte er an seinem Wein und beobachtete sie. »Hast du dich vielleicht geärgert?«
»Nein, wieso?«
»Aber irgendwas geht dir doch durch den Kopf.«
»Nein!«
Hilflos hob er die Schultern. Merda! Sein Tag war so wunderbar gewesen und jetzt das! Francesco und er hatten noch mit Isetta zusammengesessen, nachdem sie in einer innerstädtischen Pension ein Zimmer für den Commissario gebucht hatte. Jetzt im April war das noch kein Problem. Doch dann musste der Commissario wieder nach Trento zurückfahren, um sich mit allem Nötigen auszustatten. Vielleicht brauchten sie für diesen Fall eine Woche, möglicherweise sogar länger.
Er betrachtete Regulas verschlossenes Gesicht. Sie war blasser als sonst. Ihre blauen Augen schienen nur halb geöffnet. Ihre lange und gerade Nase war an der Spitze etwas gerötet. Vielleicht war eine Erkältung im Anmarsch? Ihre Lippen, die sonst immer lächelten, wirkten abweisend. Das mittelblonde und schulterlange Haar wirkte stumpf und strähnig.
Nach sehr langer Zeit gab sie sich einen Ruck, griff nach Ernestos Handy und tippte wild darauf ein. Dann schob sie es ihm zurück, sah, wie er die Übersetzungstaste drückte, und beobachtete ihn mit lauerndem Blick.
Er las ihre Botschaft und sah sie fragend an: »Wie kommst du denn auf Vittorio Bordignono?«
Anstatt ihm zu antworten, tippte sie eine weitere Frage: »Wo ist er?«
Er schüttelte den Kopf, griff nach der Schale mit den Kartoffelchips und sah sie an. »Woher soll ich das denn wissen?«
»Deswegen ist doch dein Freund Francesco gekommen.«
»Nein.« Ernesto widersprach und tippte in Windeseile: »Er ist gekommen, weil der für uns zuständige Staatsanwalt, Dottore Scarpa, ihn hierher geordert hat.«
»Aber warum? Ma perché?« Diesmal bemühte sie nicht das Handy. Sie sprach und verstand schon ziemlich gut Italienisch, aber das behielt sie für sich. Es war einfacher so.
»Hab ich doch schon gesagt. Wegen der Wasserleiche.« Ernesto merkte, dass er ungeduldig wurde. Und nun das! Sie nervte. Vor allem nervte sie ihn schon wieder mit dem seit bereits sieben Jahren verschwundenen Bürgermeister. Zum Glück lief mit dessen Nachfolgerin Flavia Ottalevi alles tausendmal besser, als zu Zeiten ihres Vorgängers. Nein, der verschollene Bürgermeister lebte bestimmt gar nicht mehr. Schließlich waren ihm einige Unregelmäßigkeiten unterlaufen, wenn man es sehr vorsichtig ausdrücken wollte.
Er griff erneut in die Schale mit den Chips und tippte drauflos. »Was willst du bloß immer von dem? Und wieso interessiert dich mein aktueller Fall nicht?« Demonstrativ seufzend griff er erneut zu seinem elektronischen Übersetzer und wollte wissen: »Also was ist mit Vittorio und dir?«
»Nichts, was soll schon sein.«
Diesen Satz hatte er an diesem Abend schon einmal von ihr gehört. Er stand auf. »Wir müssen morgen früh wieder ran. Soll ich dich nach Hause bringen?« Sie nickte. »Und morgen? Hast du morgen Zeit?« Sie nickte erneut.
»Es sei denn, Vittorio läuft dir über den Weg, oder?« Den letzten Satz hatte er auf Italienisch gesprochen und nicht vom Handy übersetzen lassen. Doch sie hatte alles verstanden, er erkannte es daran, dass sie extrem blass wurde und kurz stehen blieb.
»Das war kein guter Scherz. Verzeih mir. Der kommt schon nicht, keine Angst.« Er steckte sein Handy ein, streifte vor der Villa Torrani ihre Wange mit einem Kuss und machte sich auf den Heimweg. Zum Glück saß die ganze Familie im Salon und verfolgte eine Quizshow. So konnte er die Treppe hochschleichen und sich gleich in sein Zimmer verziehen.
Etwa tausend Meter Luftlinie entfernt schlich auch Regula an diesem Abend fast unhörbar die breite Steintreppe hoch und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Andächtig entfaltete sie dann das Plakat, das sie damals am Bahnhof Rovereto so beeindruckt hatte. Inbrünstig vertiefte sie sich nun in die hellbraunen Augen jenes Mannes, von dem sie wusste, dass er zu ihr gehörte und den niemand sonst zu mögen schien. Nur sie. Sie würde ihn lieben und erlösen. Vittorio Bordignono. Beunruhigt nahm sie wahr, dass nicht nur sein Bild, sondern auch ihre Gefühle leicht verblassten.
Camillo Torrani hörte, wie eine seiner Handwerkerinnen auf leisen Sohlen in ihrem Zimmer verschwand. Das konnte nur Regula sein. Obwohl ihm nach einer kleinen Plauderei war, beschloss er, sie nicht mehr zu behelligen. Sie war nun mal gern allein. Etwas, was er nur schwer nachvollziehen konnte.
Er freute sich inzwischen so sehr auf den Tag, an dem Flavia endlich bei ihm einziehen würde, dass er mehrmals täglich auf das Dach seiner Villa stieg, um sich die Penthousewohnung mit der ausladenden Terrasse anzuschauen. Sie würde wunderschön werden. Es gab zwei besonders große Fenster, eins zum Westen mit Blick auf den See und Abenduntergänge; vor dem östlichen Fenster ginge die Sonne hinter den Hügeln auf. So hatte Flavia es sich gewünscht und natürlich bekam sie es dann auch so. Wenn alles gut ging, würden sie schon in diesem Sommer im gleichen Haus und unter einem Dach leben. Und natürlich würde alles gut. Schließlich waren er und die Bürgermeisterin schon seit Langem ein Paar.
Erst hatte sie ihm als Steuerberaterin seine Finanzen geordnet, seine Papiere durchgesehen, alle noch ausstehenden Rechnungen bezahlt – wofür ihr die Handwerksbetriebe in und um Riva vermutlich so dankbar waren, dass sie sie ihn mit ihrer Bürgermeisterinnenwahl unterstützten – dann wurde sie tatsächlich im ersten Wahlgang zur Sindachessa gewählt, und schließlich Camillos Fidanzata, Verlobte klang auf jeden Fall seriöser als Geliebte. Aus Sicht des gut aussehenden Lebemannes Camillo entsprach genau das der klassischen Entwicklung einer Beziehung.
Er legte alles Kaufmännische in ihre Hände. Er hatte Sprachen, Kunst und Literatur studiert, ein Faible für elegante Kleidung und teure Autos – und zwei linke Hände. Er hatte noch nie in seinem Leben gearbeitet und würde es auch niemals müssen. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie Geldsorgen sich anfühlen mochten, und er würde es niemals wissen.
Flavia war da ganz anders. Sie hatte einen Blick für Qualität und konnte ungewöhnlich gut mit Geld umgehen. Sie hätte sein Vermögen verdoppeln können – aber ihm war es egal. Es war ihre Idee, die großen Räume der nur von ihm bewohnten Villa in hübsche Ferienapartments mit eigenem Bad und charmanten Balkonen umzubauen.
»In den schöneren Teil der Beletage ziehst du ein und die großen Ferienwohnungen auf der anderen Seite des Flurs vermieten wir im Sommer.« Camillo selbst wäre nie auf diese Idee gekommen, verkaufte sie aber inzwischen als seine eigene. »Das Penthouse auf dem Dach ist für die Bürgermeisterin.« Wenn er das sagte, klang er wie ein stolzer Bauherr.
Glücklicherweise hatten die beiden deutschen Handwerksmeisterinnen Zeit, um die Elektro- und Schreinerarbeiten zu erledigen und ihm immer wieder Verbesserungsvorschläge zu machen, die er dann mit Flavia besprach. Für Regula und Tamara spielte er den Übersetzer von Flavias Wünschen.
Neben der Capo-Wohnung, in der Beletage sollte eine Zwei-Zimmer-Bleibe für die gemeinsame Hausdame und Köchin Alberta entstehen.
Die Elettricista und die Falegname, also die deutschen Handwerkerinnen, sollten sich ihre siebzig Quadratmeter im zweiten Stock jeweils so gestalten, dass sie sich darin wohlfühlten. Bedingung war nur, dass Fenster und Türen ihre Form behielten. Insgeheim hoffte Camillo, Tamara und Regula auf diese Art an sein Haus zu binden. Es war unglaublich, wie unterschiedlich sich die zwei ihre Räume einrichteten. Die Schreinerin wollte viele kleine Zimmer, mindestens vier, die Elektromeisterin entschied sich für zwei große Räume und ein riesiges Bad.
Was Flavia wohl dazu sagen würde? Bestimmt würde ihr Tamaras Wohnung besser gefallen.
In genau diesem Moment klingelte sein Handy und er sah auf dem Display Flavias Namen. Sie kam gleich zur Sache: »Ich muss mit dir reden.«
»Gern, wann immer du willst. Soll ich uns einen Wein öffnen?«
Dann hörte er lange zu. »Was???« Er riss die Augen auf. »Eine Wasserleiche? Wo?«
»Am Punta Lido – ganz in deiner Nähe.«
Er schnellte aus seinem Ledersessel hoch. »Was willst du damit sagen?«
»Nichts. Aber solltest du irgendwas damit zu tun haben, so sagst du mir Bescheid. Der Questore findet den Fundort sehr verdächtig und wartet bereits mit den wildesten Spekulationen auf.«
Camillo war so verblüfft, dass er erst einmal schluckte. »Ernsthaft, das traust du mir zu?«
»Ich nicht, aber hier wird viel geredet und ich muss auf meinen Ruf achten. Also, wenn da was dran ist, kann ich nicht in dein Haus ziehen. Auch nicht, wenn ich dort meine eigene und separate Wohnung haben werde. Man wird sagen, dass wir unter einem Dach leben und unter einer Decke stecken.«
»Flavia, du kennst mich doch. Natürlich habe ich nichts damit zu tun. Wir kennen uns seit Jahren und meinst du, ich hätte dir so etwas verschwiegen?«
Sie blieb ernst. »Der Tote lag mindestens fünf Jahre im Wasser und hat sich irgendwo verhakt. Jetzt, wegen der Dürre, ist der Wasserstand gesunken und er taucht ausgerechnet am Punta Lido auf.«
»Und warum erzählst du mir das jetzt?«
»Ich habe es auch erst gerade erfahren. Die Leiche ist wohl schon heute Morgen aufgetaucht. Hast du nichts davon mitbekommen?«
»Nein.«
»Egal, Giorgio di Stefano, mein Assistent, war in der Stadt unterwegs, und da ist das augenblicklich das Thema Nummer eins. Er hat mich gerade angerufen.«
»Pah!«, Camillo schnaufte. »Na logisch, dass die da als Erstes auf meinen Namen kommen. Zum einen wohne ich in der Nähe und zum anderen bin ich hier nicht gerade beliebt.«
»Letzteres hast du dir ja wohl selbst zuzuschreiben. Du hast jahrelang keine Rechnung bezahlt.«
»Aber nicht absichtlich, ich hab’s einfach vergessen.«
»Mio principe viziato – mein verwöhnter Prinz«. Flavia schien zu lächeln. »Eigentlich bist du das immer noch. Also ich werde nun mit Massimo Lumacino telefonieren und mich dann noch mal bei dir melden. Vielleicht weiß der Questore ja schon, wer da warum im Wasser liegt.«
»Der doch nicht. Aber ruf ihn ruhig an. Zum Glück hat er kompetente Mitarbeiter.« Camillo kam auf sein eigentliches Anliegen zurück: »Findest du nicht auch, dass wir auf diesen Schreck mindestens einen Aperol Spritz trinken sollten? Beispielsweise im Hotel Sole. Das ist für uns beide gut erreichbar.«
»Na gut. Warte mal … jetzt ist es kurz nach zehn. In etwa einer halben Stunde? Sobald ich mein Telefonat mit dem Questore hinter mir habe.«
Und genau 30 Minuten später verließ Flavia Ottalevi, die Bürgermeisterin, nach einem fast 15-stündigen Arbeitstag ihr Büro, sah ihren künftigen Mann dort auf der Terrasse des Hotel Sole ausgeglichen und entspannt unter einem Heizstrahler sitzen und dachte erneut, dass er aussah, wie den Seiten eines Herrenmagazins entnommen, einfach perfekt. Das dunkle Haar mit Brillantine leicht zurückgestrichen, korrekt rasiert, auf der geraden Nase saß seine neueste Errungenschaft – eine Hornbrille von Gucci. Jeans und T-Shirt von Armani, inzwischen wusste sie, dass auch seine Unterwäsche dies Label trug. Über seinen Schultern lag mit lässiger Eleganz jener mittelblaue Kaschmirpullover, den sie ihm einst geschenkt hatte. Dass er den Pullover gerade heute trug, hieß: Ich will nicht streiten! Wie gut sie ihn schon kannte.
»Kommst du erst jetzt aus deinem Büro?«
Sie nickte. »Ich frag dich aber besser nicht, woher du kommst.«
»Von unserer Baustelle. Es geht gut voran. Hast du Hunger?«
»Nein.« Schweigend saßen sie da und beobachteten den sinkenden Wasserstand des Sees.
»Bist du weitergekommen mit dem Questore?«
Flavia nickte.
»Und was sagt er?«