Gerlinde Gerlach und der Tanz der Tierchen - Katharina Gerwens - E-Book

Gerlinde Gerlach und der Tanz der Tierchen E-Book

Katharina Gerwens

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Beschreibung

Die Liebe und wo sie hinfällt! Ein kleines Abenteuer mit dem Schlagersänger Amosh White reichte und Gerlinde Gerlach war hin und weg. Eine gewöhnliche Frau hätte diese Erinnerungen bewahrt und in ihrem Herzen bewegt. Nicht aber Gerlinde! Sie kämpft um ihre Liebe und schleust sich – geschickt als Gesellschafterin getarnt – in das Gut von Wistinghausen ein, als sie in Erfahrung bringt, dass ein Elternteil des Schlagerstars inkognito in dieser Luxusresidenz für Senioren lebt. Eine skurrile Komödie nimmt ihren Lauf, die weder vor der Tierwelt, noch dem Reich der Engel halt macht und die dämonische Direktoren, spleenige Senioren, sanfte Stalker und eine Mörderin wider Willen in einem Gerwensʼschen Reigen über die Blätter tanzen lässt. Katharina Gerwens ist nicht nur für ihre Krimireihen (Kleinöd; Kalverode; Bayerischer Wald) bekannt, sondern auch dafür, dass sie auf ihre kauzig-merkwürdigen Figuren mit viel Einfühlungsvermögen das Licht des Alltags wirft, um dessen zuweilen verdeckte Absurdität zu enthüllen. »Diese Frau kann wirklich schreiben. Ich glaube, ich kann das beurteilen, denn ich habe einige ihrer wunderschönen Liedertexte vertont und auch gesungen.« (Udo Jürgens)

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Seitenzahl: 471

Veröffentlichungsjahr: 2016

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verlag duotincta

E-BOOK

KATHARINA GERWENS

Gerlinde Gerlach und der Tanz der Tierchen

Roman

KatharinaGerwens, geboren 1952 in Epe (jetzt Gronau) in Westfalen, wohnt seit 2011 mit ihrem Mann und ihren Katzen in einem zweihundert Jahre alten Bauernhaus in Eichendorf (Niederbayern).

Seit ihrem 15. Lebensjahr schreibt Gerwens, darunter auch Chansons für Udo Jürgens. Nach ihrer Ausbildung zur Journalistin arbeitete sie in verschiedenen Verlagen und ist heute als freie Lektorin tätig. Katharina Gerwens veröffentlichte zahlreiche Romane beim Piper Verlag und Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien. Bei duotincta erschien des Weiteren "Das dicke Herz" (2015) als E-Book.

Impressum

Dies ist ein Roman. Die Handlung und die Figuren der Geschichte sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Erste Auflage E-Book 2018 Copyright © 2016 Verlag duotincta, Berlin Alle Rechte vorbehalten. Satz und Typographie: Verlag duotincta Coverabbildung: Jürgen Volk & Nadine Tsawalasilis unter Verwendung von pixabayISBN 978-3-946086-39-0

Besuchen Sie uns im Internet unter:

www.duotincta.de

I

»Nein, tut mir leid. Wirklich. Wir brauchen Sie nicht. Lassen Sie uns in Ruhe. Wir haben keinen Platz für Sie und außerdem: Unsere Alten sind nicht wirklich alt.«

Wütend stand Gerlinde in der Küche und schnippelte Gemüse in kochende Fleischbrühe. Ihre Hände zitterten. »Sie werden aber alt«, drohte sie hauchfein geschnittenen Lauchstreifen und gewürfelten Kartoffeln und Möhren. »Die Alten werden alt und diese verzickte Telefonhexe wird auch nicht jünger, und ich bekomme diese verdammte Stelle. Es muss doch einmal im Leben möglich sein, genau das zu kriegen, was man will. Dabei will ich es ja nicht einmal geschenkt haben. Ich würde dafür arbeiten. Ich würde ihnen helfen, würde sie unterstützen.«

Die Suppe brodelte über den Kochtopfrand und schäumte auf die Herdplatte. Gerlinde fluchte. Das war heute einfach nicht ihr Tag. Sie war zu gierig gewesen und hatte sich zudem auch noch blöd angestellt. Weil sie nicht warten konnte. Nein, das stimmte nicht. Weil sie schon zu lange gewartet hatte. Viel zu lange.

Vor dem Spiegel imitierte sie mit hochgezogenen Schultern und überspannter Stimme ihr jüngstes Telefonat und die überdeutliche Aussprache der Frau am anderen Ende der Leitung. »Was, wie alt sind Sie? Nein, tatsächlich erst dreiundzwanzig? Ja so was. Und da wollen Sie in ein Seniorenhaus, da wollen Sie ausgerechnet zu uns? Sie sind viel zu jung für ein Altenheim.« Und auf diesen dummen Witz hatte sie auch noch in ihrer Naivität geantwortet: »Ich will ja nicht dort wohnen, ich will mich nicht einmieten – nur für Sie arbeiten, Ihnen zur Hand gehen, in Ihrem Haus, über das man ja nur Gutes liest.« Nur Gutes, klar, einfach übergangen hatte die Stimme der anderen ihr Arbeitsangebot: »Hier ist es nämlich so langweilig, dass niemand auch nur auf die Idee kommt, Ungutes zu veranstalten. Wissen Sie, junge Frau, wir hocken hier in der Mitte von gar nichts. Direkt auf dem flachen Land. Viel frische Luft. Ein Luftkurort. Sie werden sich langweilen und abends ausgehen wollen, aber hier gibt es nichts, wohin Sie gehen könnten. – Ach was, Kellnerin haben Sie gelernt? Interessant. Ich dachte, dass es diesen Beruf seit den 80er Jahren nicht mehr gibt. Ha, ha, natürlich gibt’s den noch, aber der Name hat sich geändert, wie das ja so oft der Fall ist. Wissen Sie, politisch korrekt müssten Sie sich eigentlich Fachgehilfin im Gastgewerbe nennen. Das hört sich doch schon um einiges professioneller an, oder? Dennoch, auch wenn es nett ist, mit Ihnen zu plaudern, wir brauchen weder eine Kellnerin noch eine Fachgehilfin im Gastgewerbe, und sei sie noch so gut. Wir brauchen niemanden …«

Gerlinde wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und ging in die kleine Küche ihrer winzigen Wohnung. So schnell gab sie nicht auf. Morgen würde sie erneut anrufen. Sie würde nun jeden Tag anrufen. Bis sie den Job hatte. Anfangs war das Gespräch sogar ganz nett verlaufen. Sie hatten miteinander geplaudert, wie alte Bekannte, wie vertraute Nachbarn, fast wie Freundinnen. Die junge Anruferin hatte gespürt, dass die ältere Frau ausgehungert war nach Gesprächspartnern, nach jemandem, der ihr zuhörte. Vermutlich waren ihre ausgesuchten und elitären Alten doch ein bisschen zu alt, um sich vernünftig zu unterhalten – oder zu arrogant – oder so ichbezogen, dass sie sich in Monologen erschöpften – ebenso wie die Frau am Telefon, die auch ihren ganz speziellen Monolog geführt hatte.

Sie hätte sie einfach weiterreden lassen und gelegentlich ein verständnisvolles »Ja, verstehe« oder ein »ach was?« einfließen lassen sollen, anstatt nur an ihr eigenes Anliegen zu denken und viel zu früh nach dem Job zu fragen. Nach einem Job, den es noch gar nicht gab und der erst für sie erfunden werden musste, das nämlich ist Personalpolitik: Nicht den Menschen auf einen Job hinbiegen, sondern eine Arbeit so definieren, dass sie den Fähigkeiten des Bewerbers entspricht. Das alles hätte sie gern vorsichtig angebracht, aber ihre Gier war zu groß gewesen und so war sie mit der Tür ins Haus gefallen, eine Drehtür, die so viel Schwung hatte, dass sie gleich wieder hinauskatapultiert wurde. Hatte sie denn gar nichts gelernt in ihren dreiundzwanzig Jahren?

Sie würde erneut anrufen. Vielleicht morgen, vielleicht übermorgen. Möglicherweise überlegte es sich die Frau ja noch einmal, sprach mit ihrem Mann darüber – falls es einen gab – oder mit ihrem Verwaltungsdirektor – falls es diesen gab – und vielleicht gingen ihr ja gerade heute ihre »ausgesuchten und handverlesenen Senioren« mit der Unfähigkeit zuzuhören und dem Vortragen selbstsüchtiger Anliegen so auf die Nerven, dass sie sich nach Gerlinde sehnte, nach jemandem, dem auch sie mal ihr Herz ausschütten konnte. Genau, sie sollte Sehnsucht kriegen nach der besten Zuhörerin der Welt. Das wünschte Gerlinde ihr. Denn dann, dann bekäme sie den Job, und wenn sie den hätte, würde sie alles am besten machen, für alle die Beste sein – sie würde sich beweisen und alle würden sie lieben und sich fragen, wie sie es so lange geschafft hatten ohne Gerlinde, deren Leben von diesem Job abhing, weil das ihre einzige Chance war, wieder an ein früheres und besseres Leben anzuknüpfen. Nur: wie hätte sie das der Frau erklären sollen? Wie konnte man überhaupt so etwas irgendjemandem erklären? Sie hatte ja noch nicht einmal für sich selbst eine handfeste Begründung. Nur dieses Gefühl. Und das Wissen. Gerlinde Gerlach nahm sich fest vor, weiterhin am Ball zu bleiben. Sie musste am Ball bleiben. Es gab keine Alternative. Wie hatte der chinesische Koch in der Volkshochschule immer gesagt? »Beharrlichkeit bringt Heil.« Damals hatten sie alle darüber gelächelt, ohne zu wissen, wie recht er hatte.

Beharrlichkeit.

Nur darauf kam es an.

Köstlich duftete der Gemüseeintopf.

»Ich muss die Stelle bekommen«, murmelte sie. »Ich brauche sie. Sie müssen sie für mich schaffen!« Alles bisher lief darauf hin! Die ganzen vergangenen sieben Jahre. Und die Sieben war eine heilige Zahl. Alle sieben Jahre änderte sich etwas. Nun war es also an der Zeit! Denn seit jenem denkwürdigen Tag waren sieben Jahre vergangen.

Sie hatte es von der Sekunde an gewusst, als sie die Notiz über Amosh White in der Zeitung gelesen und die verdrängte Sehnsucht und das Unerfülltsein sie angesprungen hatte wie eine Katze, mit schmerzhaft scharfen Krallen. Überall hatte es gleichzeitig wehgetan, im Genick, an den Schultern, und ihr Hals war wie zugeschnürt. Ihr Verlangen, diesem quälenden Warten ein Ende zu bereiten, hatte nun endlich ein Ventil gefunden, ein Quäntchen Hoffnung, gebündelt in dem Satz: »Dort gehst du hin und wirst ihn wiederfinden.«

Nur, wie hätte sie das alles einer Frau erklären sollen, die gar nicht zuhören wollte? Gerlinde staunte ja selbst noch immer über ihre Idee und darüber, dass es mit einem Mal so einfach war.

Auf der Homepage des Seniorenheimes fehlte jede Adresse. Kontaktaufnahme bitte per Telefon hieß es da arrogant und selbstbewusst neben einer Handynummer. Die hatten es nicht nötig, für sich Reklame zu machen. Einzig das Haus war abgebildet, ein ehemaliges Mädchenwohnheim aus roten Klinkern im Stil der Gründerzeit, und von der Leiterin des Hauses gab es ein Schattenbild, das hochgesteckte Haare und freche Löckchen erkennen ließ und eigenartigerweise an schlüpfrige Gesellschaftsspiele der Romantik erinnerte. Gerlinde hatte sich den Internetauftritt angesehen und ihr Gefühl hatte ihr gesagt, dass auch sie dorthin gehörte. Auf ihr Gefühl war Verlass.

Ihre Intuition hatte sie noch nie im Stich gelassen. Während der sieben langen Jahre nach jenem schicksalhaften Tag hatte sie sich von ihr führen lassen und ihr vertraut, sobald es darum ging, auf dem einmal eingeschlagenen Weg Haken zu schlagen und Hindernisse zu überwinden, und es war richtig gewesen – denn all diese vermeintlichen Umwege hatten sie unaufhaltsam zu genau dem Augenblick geführt, in dem diese aufgeschlagene Zeitung vor ihr lag, aus der er ihr entgegenblickte. Amosh White.

Nein, sie hatte ihn nicht vergessen, er war vielmehr ein Teil von ihr geworden, wie ein unsichtbares Tattoo, ein Piercing aus Licht.

Seine Existenz hatte sich ins Gedächtnis ihrer Haut eingegraben, in jeder ihrer Zellen winzige Spuren hinterlassen und war, nachdem sie monatelang seinetwegen gelitten hatte, zu einem Teil ihres Selbst geworden. Aber jetzt, konfrontiert mit seinem Foto, wurde ihr seine Abwesenheit so schmerzhaft bewusst, dass sie sich krümmte und wusste: es gab nur einen Weg, um ihn und sich zu retten. Denn auch er litt. Sie sah es ihm an: Diese sehnsuchtsvollen Augen. Das hilflose Lächeln. Jede Pore seines Körpers schien zu schreien: Ich leide Mangel, mir fehlt so viel.

Sie kannte das Gefühl und es war ihre Bestimmung, ihn zu retten, weil dann ja auch sie gerettet würde. Was für eine Erleichterung, das mit einem Mal zu wissen. Nicht alle Menschen hatten das Glück, ihre Bestimmung so klar zu sehen und zu erkennen, dass sie auserkoren waren, um einen anderen Menschen zu erlösen. Sie waren füreinander bestimmt. Amosh White und Gerlinde Gerlach.

Irgendein Fremder in der Frühstückskneipe hatte die Illustrierte aufgeschlagen auf dem Tisch liegen gelassen und war in sein wie auch immer geartetes Tagwerk verschwunden. Sie konnte sich noch an einen grauen Anzug und einen roten Kaschmirschal erinnern – und an die Zeitschrift unter seinem Arm.

Anfangs hatte sie abends bedient – aber sie war zu ungeduldig und wurde nervös und gereizt, wenn Gäste zwei- oder dreimal das Gleiche erzählten, wippte mit den Füßen, wenn die besonders Langweiligen Luft holten, um zu einem Bericht anzusetzen, bei dem sie von Anfang an wusste, dass sie sich auf dem Weg zur Pointe – falls es denn eine gab – im Dickicht ihrer Worte verirrten, um letztendlich hilflos ein weiteres Bier zu bestellen. Leider begannen sie dann solchermaßen gestärkt erneut von vorne. Nein, das hatte sie nicht ausgehalten. Sie war Besseres gewohnt. Charme, Stil und Witz. Vermutlich hatte die Begegnung mit Amosh White sie verdorben – für immer verdorben für die Mittelmäßigkeit.

Die Frühstücksgäste waren angenehmer. Es waren fast ausschließlich Männer, die blass und sorgenvoll vor ihrem Espresso saßen, in ihre Handys hineindiktierten und weder die Heldentaten ihrer Tischnachbarn hören noch über eigene berichten wollten. Aber das Beste war: Sie verschwanden innerhalb von dreißig bis vierzig Minuten, bestellten gelegentlich noch einen Coffee-to-go, nickten ihr schweigend zu und hinterließen kleine, aber nicht zu verachtende Trinkgelder.

Die wenigsten von ihnen lasen Zeitung, und wenn, dann den Wirtschaftsteil. Aber dieser hier hatte eine Illustrierte in der Hand gehabt, sie an genau dieser Seite aufgeblättert und dann liegen lassen, womit ja wohl klar war, dass er ihr entweder vom Schicksal gesandt oder von ihrem Schutzengel vorbeigeschickt worden war, damit ihr eigentliches Leben endlich in die Gänge käme. Gerlinde seufzte. Das wurde auch Zeit.

Gerlinde Gerlach glaubte an ihren Schutzengel. Sie vermeinte ihn manchmal zu sehen, in einem weißen Gewand und groß und hager stand er mit sorgenvollem Gesicht, gerauften silbernen Haaren und lädierten Flügeln hinter ihr, offensichtlich unglücklich über die Aufgabe, Gerlindes Leben zu begleiten und zu sichern. Denn ihre Biografie war nicht gerade spannend, was auch seinen Job unattraktiv machte. Aber jetzt war er für sie aktiv geworden, hatte den Gast mit der Zeitschrift vorbeigeschickt und ihr ein Zeichen gegeben, und sie würde dafür sorgen, dass sein Einsatz nicht umsonst war.

Ihr Schutzengel, Amosh White und sie selbst würden glücklich werden, und während sie Brotkrümel zusammenfegte und die Schalen des geköpften Fünf-Minuten-Eis in einen der verhassten Tisch-Abfallbehälter aus Plastik warf, schmiedete sie einen ersten Plan.

An der Suppe fehlte Salz.

»Du duftest nach Salz und Meer. Und nach mehr, nach immer mehr …«, hatte Amosh ihr damals ins Ohr geflüstert, damals, vor sieben Jahren. Sie war sechzehn gewesen und er Ende zwanzig. Sie hatte ihn angesehen und gespürt, wie ihr Herz sich aus ihrer Brust löste und wild zu hüpfen begann, hoch bis zu ihrem Kopf federte, um letztendlich jählings neben ihrem linken Ohr lauthals zu pochen. Da wusste sie, dass sie ihn liebte.

Zu jener Zeit trat er zwar noch nicht in den großen Hallen auf, sang und spielte aber seine selbstgeschriebenen Liebeslieder vor einer wachsenden Zahl von Leuten, die nicht mehr zufällig, sondern gezielt zu den Veranstaltungen gekommen waren, und erforschte sein Publikum mit einer Präzision, als habe er Buch darüber zu führen, wie seine Melodien, Texte und Gesten ankamen, wie er sich am besten verkaufen könne. Er verstand sich als ein aus sich selbst erschaffendes Produkt, für dessen Nachfrage allein er zu sorgen hatte. So hatte er es ihr erklärt, ohne zu wissen, dass ihr Bedarf schon vom ersten Augenblick an geweckt worden war, dass sie niemals genug bekommen würde von ihm, nicht mehr leben wollte ohne ihn und ihm schon seit Monaten im Umkreis von hundert Kilometern per Zug, Autobus und mit dem Fahrrad nachreiste, sich immer den bühnennächsten Platz zu ergattern wusste und an seinen Lippen hing.

»Du duftest nach Salz und Meer«, hatte er in jener Nacht gesagt und ihr gestanden, dass er sie durchaus wahrgenommen hatte, von Anfang an um ihre Existenz wusste, ja, dass er sie insgeheim bei seinen Auftritten suchte, sie als »ein kleines und zu früh aus dem Nest gefallenes Vögelchen« bezeichnete, so zitternd vor Aufregung, so bedürftig. Und er hatte in jener Nacht gemurmelt, dass er sie unter seine Fittiche nehmen und in sein Nest holen wolle. Für immer. An diesem Abend im Sommer, an einem Samstag, an einem 13. August.

Er hatte sie angelächelt, sie an seinen Tisch geholt und sie später mit in ein kleines Hotel genommen, dessen Name auf immer mit dem glücklichsten Tag ihres Lebens verbunden sein würde. Er hatte sie in jener Nacht aus dem Sumpf der Mittelmäßigkeit befreit und sie war überzeugt davon gewesen, dass es für immer so bliebe und sie gemeinsam mit ihm leben und reisen würde und man von ihr sprechen würde als der Frau an der Seite Amosh Whites.

Schützend hatte er in der damals sanftesten aller Dunkelheiten seine Arme um sie gelegt und sie hatte sich vertrauensvoll an ihn geschmiegt und gewusst, dass sie für immer angekommen war.

Am nächsten Morgen aber war er fort gewesen. Keine Nachricht, keine Handynummer, nichts. Zwei lange Tage noch hatte sie in dem Hotel, dessen Räume von Stunde zu Stunde kälter und unwirtlicher wurden, auf ihn gewartet – zu mehr reichte ihr Erspartes nicht, dann hatte sie an der Rezeption all ihre Daten hinterlegt, Telefon, Email, Handy – falls Amosh zurückkehren und nach ihr fragen sollte – und war heimgekehrt zu ihren Eltern, die schon grau vor Sorge und bereits bei der Polizei gewesen waren, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben.

Das hätte sie auch machen sollen: Vermisst wird Amosh White, der, der mir ein Nest versprach … und mich in tiefster Dunkelheit zurückließ. In Großbuchstaben und an jeder Litfaßsäule, wie ein riesiger Schrei.

Sicher war ihm etwas passiert, etwas Schreckliches zugestoßen, und monatelang durchforstete sie die Zeitungen und das Internet nach seinem Namen.

Was sie fand waren Bilder von ihm, die Texte seiner Lieder und eine Auflistung künftiger Konzerttermine. Keine Biografie, keine Adresse, keine Handynummer.

Als sei er kein Mensch, sondern eine künstliche Figur.

Ihre Eltern ließen es nicht zu, dass sie weiterhin zu seinen Konzerten reiste, nahmen ihr die Schlüssel ab und schlossen sie in der Wohnung ein. »Es ist alles zu deinem Besten.« Sie schickten sie zu einer Therapeutin, begleiteten sie zur Schule und holten sie dort ab, als sei sie ein hilfloses Kind. Und das war sie ja auch ohne Amosh, der ihr Wärme gegeben hatte und das Gefühl, angekommen zu sein, und ohne den sie auf eine erschreckende Art heimatlos geworden war.

Sie fror jahrelang und die Welt hatte ihren Glanz verloren und das schien ihr durchaus richtig so. Eine glänzende Welt hätte Gerlinde nicht ertragen. Ihre Eltern und die Therapeutin behaupteten, sie sei depressiv und müsse etwas dagegen tun. Im Angebot waren hellblaue und rosafarbene Tabletten mit dem Versprechen des Glücks. Sie wollte keine synthetische Zufriedenheit. Sie wollte Amosh.

»Es gibt ihn nicht«, behauptete die Therapeutin. »Er ist ein Phantom, eine nur von dir geschaffene Erscheinung. Schau dir die richtigen Menschen an, die, die sich um dich sorgen.« Hilflos hatte Gerlinde die Schultern gehoben. Wie sollte sie einer vertrauen, die nicht an Amosh glaubte und behauptete, er sei ein Gespenst. Wenn sie allein war, flüsterte sie seinen Namen, bewegte Buchstaben um Buchstaben in ihrem Mund. Eine Art Zusatzernährung, das einzige Überlebensmittel. So waren Monate und Jahre vergangen. Sie hatte den Schulabschluss geschafft und sich dann als Kellnerin versucht. Kellnern als Selbsttherapie. Kontakt, aber keine Nähe. Ein weiteres Mittel zum Überleben. Aber seit einer Woche wusste sie, dass dieser Weg der einzig richtige gewesen war, denn er hatte sie in das Frühstückscafé geführt und direkt auf die aufgeschlagene Zeitung zu, wo ihr sein Bild entgegenleuchtete. AMOSH.

Es gab ihn und er hatte etwas unternommen und es wurde ein Name genannt, anhand dessen er zu finden sein würde. Gut von Wistinghausen. Klang das nicht wie eine Verheißung? Dort würden sie sich erneut begegnen. Nach all der Zeit. Denn jetzt brauchte er ihren Trost und ihren Zuspruch, und aus den Augenwinkeln heraus vermeinte sie, ihren Schutzengel erleichtert nicken zu sehen.

Während sie ihre Suppe aß und aus dem Fenster auf den zunehmenden Mond starrte, schwor sie sich, es morgen erneut zu versuchen und übermorgen auch. Sie würde so lange bei den von Wistinghausen anrufen, bis sie dort eine Stelle hatte.

II

»Wir haben leider noch nicht genug Gäste«, sagte Ludmilla von Wistinghausen und seufzte.

»Wenige, aber Auserkorene …«, murmelte ihr Mann und entkorkte eine Weinflasche.

Ludmilla beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn und schüttelte den Kopf: »Du gehst unseren Gästen mit äußerst schlechtem Beispiel voran. Wenn du nicht so viel trinken und rauchen würdest, bräuchten wir nicht so viel zu arbeiten.«

Er hob den Kopf: »Wäre das nicht entsetzlich langweilig?«

Sie lachte und gab ihm recht: »Vermutlich sterbenslangweilig. Wir würden uns den ganzen Tag anschweigen, weil es nichts gäbe, über das wir reden könnten. Wir würden getrennte Spaziergänge machen in der Hoffnung, unterwegs etwas Abenteuerliches zu entdecken und eine Geschichte heimzutragen. Nun denn. Hier passiert wenigstens ständig etwas.« Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Stell dir vor, heute rief doch tatsächlich ein junges Mädchen bei mir an und fragte, ob sie bei uns als Kellnerin arbeiten könne.«

»Und?«

»Ich sagte ihr, wir seien weder eine Kneipe noch ein Hotel.«

Hermann lächelte: »Auch wenn es hier wesentlich lebendiger zugeht als in solchen Etablissements.«

»Mag sein«, Ludmilla griff sich in ihr dunkles Haar und schüttelte verständnislos den Kopf, »sie wohnt in der Stadt. Was soll sie hier?«

»Beispielsweise den müden und alten Auge unserer Gäste etwas Knackiges bieten«, grinste Hermann, »andere Seniorenheime leisten sich auch sogenannte Etagendamen.«

»Etagendame, was für ein Wort!«, Ludmilla kicherte. Sie nahm das gefüllte Rotweinglas und stellte sich eine teepüppchenähnliche Etagendame vor, nach unten hin breiter und breiter werdend. Bekleidet wäre diese Person – ihren Aufgaben entsprechend – mit einem ausufernd gestuften Reifrock aus verchromtem Metall, dessen einzelne Lagen einander überlappten, aber dennoch genügend Platz böten, um Wesentliches auf ihnen abzulegen. Ein Buch, eine Brille, ein Praliné, ein Glas Wein – oder einen Aschenbecher mit brennender Zigarette. Madame d´ Etagere. Eine würde nicht genügen, sie bräuchten für jedes Stockwerk eine Angestellte, die gemessen über die Flure schritt, ihren makellos weißen Schwanenhals reckte und gepflegt vor sich hinplapperte. – »Da wir drei Stockwerke haben, bräuchten wir ihrer drei«, schloss sie ihre Überlegungen ab.

Ihr Mann ließ sich auf das Spielchen ein. »Warum eigentlich nicht. Sie könnte unseren schwierigsten Kandidaten zur Hand gehen. Dann lass es uns doch einmal mit einer versuchen und diese in der Belle Etage installieren. Du weißt ja, ich bin immer dafür, unseren Tierchen auch mal was Nettes zu gönnen. Erhöh einfach ihre Miete um einhundert Euro und biete ihnen dafür junges und frisches Fleisch frei Haus, oder besser noch: frei Flur.«

Ludmilla hob die Augenbrauen und seufzte demonstrativ: »Du Ferkel!«

Er widersprach augenblicklich: »Du weißt doch, ich befinde mich jenseits von Gut und Böse.«

»Das sehe ich aber anders.« Sie stand auf, stellte sich neben ihn, nahm ihm die Zigarette aus der Hand und drückte sie aus: »Tu mir einen Gefallen und nenn sie nicht immer Tierchen. Sie sind nur wenige Jahre älter als wir und wir werden ihnen ähnlicher, wir nähern uns an.«

»Das will ich nicht hoffen«, ihr Mann zündete sich eine weitere Zigarette an. »Keinesfalls möchte ich so werden wie Herr Geiß, der nichts anderes im Kopf hat als die Enten am Fluss zu beobachten, oder wie Frau Ibis, bei der sich Annegret Ammer die Seele aus dem Leib klagt, und gar wie Clemens Bär, der immer noch nicht weiß, dass man sich satt essen darf.«

Ludmilla reckte sich: »Schau, sie sind alle beschäftigt und das ist doch gut. Gehst du noch einmal mit mir um den Block?« Und wie immer, wenn sie ihm wichtige Dinge mitzuteilen hatte, fügte sie auch jetzt wie nebenbei gesprochen hinzu: »Ich hab übrigens heute das neunte Appartement putzen lassen. Morgen zieht wieder jemand ein.«

Er runzelte die Stirn. »Ach, davon hast du mir nichts erzählt. Und wie heißt der Neuzugang?«

»Du wirst es komisch finden. Es ist eine Frau Hummer.«

»Na bitte, da sind wir doch wieder bei den Tierchen. Frau Hummer komplettiert unsere Sammlung. Ein erstes Krustentier. Wunderbar. Wie alt schätzt du sie?«

»Keine Ahnung, sie hörte sich ziemlich jung an und scheint mächtig viel Kohle zu haben. Ich habe nur drei Sätze mit ihr gesprochen. Den Rest der Verhandlung führte ihr Sekretär. Von mir wollte sie allerdings wissen, ob unser Haus diskret und abgeschieden sei. Sie brauche Ruhe. Vor allen Dingen Ruhe. Das sei ihr besonders wichtig. Sie betonte es ein wenig zu oft. Das heißt, sie wünscht sich Aufmerksamkeit.«

»Hummer?« Hermann von Wistinghausen dachte nach, »ich kenne keinen Promi mit diesem Namen. Vielleicht ist es ein Pseudonym.«

Es war Ludmillas Idee gewesen, aus dem leicht heruntergekommenen ehemaligen Mädchenwohnheim eines Textilfabrikanten, das ihre Eltern im Zuge ihres Wahns, sich mit Immobilien gegen eine vermeintliche Armut absichern zu müssen, erworben hatten, ein edles Appartementhaus für gut betuchte Senioren zu schaffen, die hier in Ruhe und versorgt mit dem höchsten Komfort ihren Lebensabend verbringen sollten. Einen Zauberberg. Mitten im Münsterland.

Die angrenzenden Stallungen waren zu einem Wellnessbereich ausgebaut, mit Granitsäulen stabilisiert und mit Fußbodenheizungen versehen worden, Böden und Wände waren mit Platten aus grauem und dunkelgrünem Schiefer verkleidet. Es gab sieben großzügige Umkleidekabinen, zwei Duschen, ein Tauchbecken, einen zehn mal fünfundzwanzig Meter großen Swimmingpool mit einer Grundtemperatur von vierundzwanzig Grad, dazu Sauna, Dampfbad und Whirlpool. Zum Süden hin war dieser Bereich mit einer Glasfront versehen worden und Ludmilla empfand es als besonders luxuriös, gleich nach dem Aufstehen im warmen Becken zu schwimmen, während ungewöhnlich oft draußen vor den Fenstern ein grauer und mit Nebel gepaarter Regen dem Tag Tristesse verlieh. Denn in diesem Teil des Münsterlands regnete es viel.

Sie wusste, dass es ihr Name war, mit dem sie sich dieses kleine Paradies hatte einrichten können, auch wenn es zum größten Teil Hermanns Geld gewesen war. Aber gerade der Name: Seniorenresidenz Gut von Wistinghausen verlieh dem Projekt jenen Glanz, der Geldgeber anlockte und mit dem sich Bankdirektoren überzeugen ließen.

»Eine Art Wohngemeinschaft für ältere Personen, die einerseits ihr selbstbestimmtes Leben weiterführen wollen, andererseits aber gegen den Komfort eines gut geführten Hotels mit sämtlichen Dienstleistungen nichts einzuwenden haben.«

»Und eine feine Adresse dazu«, pflegten die Finanziers zu nicken und sich die Lippen zu lecken.

»Genau. Zudem äußerst exklusiv. Denn wir wollen zunächst nicht mehr als neun Appartements bereitstellen«, hatte Hermann in solchen Gesprächen betont und den möglichen Geldgebern seine Pläne offenbart. »Neun Wohnungen in der Belle Etage, jede einzelne mit Wohn- und Schlafzimmer, einem großzügigen Bad und einer kleinen, aber funktionalen Küche. Und dazu, nutzbar und zugänglich für alle, Aufenthaltsräume, eine Bibliothek, ein Kaminzimmer, ein Speisesaal, der sich im Sommer zum Garten hin öffnen lässt, sowie der Wellnessbereich, zu dem meine Frau Ihnen alles sagen kann. Wissen Sie, wenn in jedes Appartement ein Paar einzieht, so haben wir achtzehn Gäste. Mit uns und dem Personal, einem Koch, einer Küchenhilfe, zwei Zimmermädchen, einem Bademeister und Physiotherapeuten in Personalunion, einer Krankenschwester sowie dem Gärtner, der zugleich als Hausmeister fungiert, sind das insgesamt siebenundzwanzig Personen – das ist immer noch individuell und lässt sich rechnen. Mehr sollten wir auf keinen Fall werden, denn auch Raum, verstehen Sie, Platz – im wahrsten Sinne des Wortes, sozusagen in Quadratmetern gerechnet – ist eine Art von Luxus, an den unsere Gäste gewöhnt sind und den wir ihnen weiterhin bieten sollten; je älter man wird, desto schwieriger ist es, mit zu viel Nähe und fremder Körperlichkeit umzugehen.

Von den Gästen, die sich in den vergangenen zwei Jahren auf dem Gut der von Wistinghausen eingemietet hatten, war allerdings niemand als Paar gekommen. Es waren ausgeprägte Individualisten – Menschen, die lange allein gelebt und sich mit sich selbst arrangiert hatten, »geschlossene Systeme«, wie Ludmilla zu sagen pflegte. Persönlichkeiten mit Geld und Spleen. »Nur wer Geld hat, kann sich auch einen Spleen leisten«, war ihre These.

»Arme mit Tick dagegen landen in der Psychiatrie«, stimmte ihr Mann zu und bekannte dann mit einem Lächeln: »Wäre ich arm, so hätte man mich schon längst in eine Klapsmühle gesteckt.«

Jeden Morgen um sieben schwamm Ludmilla im Pool ihre Runden und plante den Tag, plante ihn wie ein Fest für Kinder. Auch wenn ihre Gäste sich noch nicht so verhielten, wie sie es sich erträumte, die Hoffnung, dass sie eines Tages eine große Familie sein und einen immerwährenden Kindergeburtstag feiern würden, gab sie nicht auf. Sie selbst hatte als kleines Mädchen eine sehr enge Beziehung zu ihren beiden Großmüttern gehabt, zugleich aber auch das Empfinden, dass die zwei Damen unter einem großen und nie wieder aufzufüllenden Mangel litten. Diesen Mangel bemühte sie sich nun, selbst schon der Generation 50 plus angehörend, zu lindern, aber wenn sie ehrlich war, sehnte sie sich ganz egoistisch nach jener viel zur kurzen Zeit zurück, als sie selbst noch ein Kind war. Deswegen hatte sie ein Haus für Großmütter und -väter jeglicher Couleur geschaffen, um ihr eigenes zu kurz gekommenes Kindsein wiederzubeleben und sich jene Omas und Opas an die Seite zu holen, mit denen sie die ersten sechs Jahre ihrer Kindheit verbringen durfte – wechselseitig ein Wochenende bei den einen und ein Wochenende bei den anderen – bevor die Eltern sie in ein Eliteinternat steckten. Ihr war klar, dass das nicht gutgehen konnte – aber sie wollte es zumindest versuchen und das Beste daraus machen. Noch immer rechnete sie fest damit, dass unter ihren Alten irgendwann einer sein würde, der ihr ein Stück ihrer gestohlenen Kindheit zurückgäbe.

Während sie schwamm, überlegte sie sich das Mittagsmenü, Ausflüge, Gesellschaftsspiele, Events, Dinge, die gemeinsam unternommen werden konnten. Aber noch waren ihre Gäste nicht soweit und aßen am liebsten an Einzeltischen, schweigend und den Blick auf den Park geheftet.

Ludmilla gab nicht auf und feierte winzige Veränderungen. Immerhin waren sich Annegret Ammer und Inge Ibis schon nähergekommen, pflegten gemeinsam den Wintergarten und trafen sich allmorgendlich zum Schwimmen. Komisch, auf gerade diese Kombination wären weder Ludmilla noch ihr Mann gekommen. Sie erinnerte sich noch, wie Inge Ibis ins Haus gekommen war: Eine relativ große und ziemlich runde Frau auf extrem dünnen Beinen. Sie hatte sich einen gläsernen Le Corbusier-Schreibtisch an das Südfenster ihres Wohnzimmers stellen lassen, einen ledernen Schreibtischsessel davor platziert, ihre Spinnenbeinchen übereinandergeschlagen, den Laptop aufgeklappt, eine externe Tastatur daran befestigt und sich dann theatralisch zu den von Wistinghausen umgewandt.

»Ich bin Schriftstellerin.«

»Wunderbar«, hatte Hermann sogleich gejubelt, »das ist ja toll. Dann entstehen hier also demnächst Meisterwerke der Literatur.«

»Vor allem brauche ich Ruhe«, hatte Inge Ibis geantwortet, ohne auf sein Kompliment einzugehen. Ich brauche viel Ruhe, denn ich schreibe jeden Monat einen Roman. Wie Georges Simenon. Und das ist nicht wenig. Wissen sie, im Gegensatz zu anderen Autoren schreibe ich nämlich nicht mit dem Kopf, sondern hauptsächlich mit dem Arsch. Fünf Seiten jeden Tag, außer samstags und sonntags. Und jetzt habe ich mich nach langen und vielen Überlegungen bei Ihnen niedergelassen, um in Ruhe meine Monatsproduktion anzugehen. Sie haben mir versichert, dass hier jeder seinen Bedürfnissen entsprechend leben und sein kann. Ich habe ein großes Bedürfnis nach Ruhe. Und zwar jetzt!« Und mit diesen Bemerkungen hatte sie Ludmilla und Hermann Richtung Wohnungstür geschoben und sie sozusagen vor die eigene Tür gesetzt.

Viel später hatte Ludmilla herausgefunden, dass Inge Ibis jeden Monat einen Groschenroman schrieb. Geschichten von Liebe und Eifersucht und Gut und Böse, die naturgemäß immer so ausgingen, dass die Guten siegten und die Bösen ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Inge Ibis hatte immer alleine gelebt und eindeutig keine Ahnung von den Dingen, über die sie schrieb, aber vielleicht, weil sie keine Ahnung hatte, verliebte sich bei ihr der gutaussehende Chefarzt in die Schwesternschülerin und der wahnsinnig erfolgreiche und attraktive Jungunternehmer in genau jene schüchterne aber liebenswerte Hauptschülerin, die bei ihm ein Praktikum absolvierte. Auch fehlte nicht der Industriemagnat, dessen Gefühle für ein armes kleines Mädelchen, das mit seinem Schrottauto auf der Straße liegengeblieben war, ins Unermessliche wuchsen. Doch vor dem guten Ende all dieser Geschichten mussten Lügen aufgedeckt und Intrigen entlarvt werden und falsche Freunde das Feld räumen.

Ludmilla hatte es sich nicht nehmen lassen, sechs oder sieben der Ibisʼschen Ergüsse, die unter dem Namen Alexandra van Barenbeck im Zeitschriftenregal des Supermarktes auslagen, zu erwerben und ihrem Mann passagenweise daraus vorzulesen. Staunend hatten sie beide erkannt, dass es in der heilen Welt von Inge Ibis Unmengen bedürftiger Frauen gab, die unaufhaltsam mit strahlenden und charismatischen Helden zusammentrafen, um nach sechzig bis siebzig Seiten Verwirrung nebst Auflösung glückliche und wunderschöne Kinder in die Welt zu setzen.

Inge Ibis schien alle normal aussehenden Menschen nicht wahrzunehmen, in ihrer Märchenwelt gab es weder graue, alte, übergewichtige noch traurige Frauen, sondern nur charismatische Geschöpfe mit langen blonden oder aschblonden Haaren, bei denen den Männern das Herz stehen blieb ob ihrer Reinheit, Klarheit und Schönheit. Die Leserinnen durften annehmen, dass diese Frauen langbeinig und großbusig waren – geschrieben jedoch stand das nirgends.

»Wer liest denn so was?«, wollte Hermann wissen.

»Ich fürchte, der gleiche Typ Frau wie der, der so etwas schreibt«, sagte Ludmilla.

»Wenn sie schon Märchen dichtet, könnte sie doch für sich eins schreiben, eins, das Leute wie sie wieder hoffen lässt«, gab Hermann zu bedenken und schlug auch gleich vor: »Übergewichtige Drohne mit streichholzdünnen Beinchen lernt untersetzten lebenslustigen Hilfskoch kennen. Man gewinnt gemeinsam im Lotto und zieht in die Karibik.«

»Wer mag sich schon mit einer fetten Drohne identifizieren oder mit einem fülligen Hilfskoch«, Ludmilla schüttelte den Kopf. »Nein, nein, sie weiß schon was sie macht. Sie produziert Träume.«

»Weltfremde Träume«, fügte ihr Mann hinzu. »Die hat doch keine Ahnung.«

Ob Inge Ibis an ihre Märchen glaubte oder diese nur zu ihrem Geschäft gemacht hatte, war nicht herauszufinden. Aber sie war diszipliniert, hatte sich allein durch ihr Schreiben einen komfortablen Lebensabend ermöglicht, alles aus eigener Kraft, und das nötigte Hermann von Wistinghausen Hochachtung ab.

Als Annegret Ammer einzog, an einem Montagnachmittag Ende März, saß Inge Ibis im Kaminzimmer am offenen Feuer, trank Tee und studierte einen Stapel jener Illustrierten, die sich mit den Reichen und den Schönen befassen und deren Artikel auf Klatsch, Tratsch und Vermutungen basieren. Das Zimmermädchen schenkte nach und Frau Ibis kommentierte den Einzug der Neuen als: »Da wird also jemand eingezogen. Widerspruch zwecklos.«

Ludmilla musste zugeben, dass da was dran war. Sie hatte von Anfang an direkt mit Frau Ammer verhandeln wollen, wie sie es mit all ihren Gästen zu tun pflegte, aber ihr Mann und die Ammerʼschen Kinder hatten über Ludmillas Kopf hinweg entschieden. Klar war, dass Frau Ammer niemals vorgehabt hatte, in eine Seniorenresidenz zu ziehen; ihre fünf Kinder hatten das in einem Familienrat entschieden. Ihr ältester Sohn hatte mit den von Wistinghausen verhandelt, sich das Appartement angesehen, überlegt, welche Möbel seine Mutter mitnehmen könne, einen Umzugsplan erstellt – und jetzt war also der Augenblick gekommen, an dem er sie hier abgab – als sei sie eine Pflanze, die über den Winter in ein Treibhaus gebracht würde. Nur dass es für Frau Ammer keinen Frühling mehr geben würde. Der Winter ihres Lebens war angebrochen. Fassungslos sah sie zu, wie ihr Eichenschrank und die schwere Vitrine in den ersten Stock verfrachtet wurden, gefolgt von einer Hälfte ihres Ehebettes und großen Koffern mit Kleidern und Geschirr.

»Kommen Sie zu mir und trinken Sie erst einmal eine Tasse Tee«, hatte Inge Ibis gemeint und die schockierte Frau Ammer hinter sich her ins Kaminzimmer gezogen. »Die meinen es doch nur gut.«

Frau Ammer hatte die Schultern gehoben und sich eine Träne aus den Augen gewischt. »Wissen Sie, ich habe so ein schönes und großes Haus. Das kostet keine Miete und ist voll mit Erinnerungen. Warum kann ich da nicht bleiben?«

Inge Ibis wusste keine Antwort. In ihren Romanen hätte sie nun ein Wunder geschehen lassen, aber wenn sie Frau Ammer ansah, ahnte sie, dass ihr Gegenüber nicht der Typ für übernatürliche Mysterien war. Eher für naturgegebene Katastrophen.

»Mama, Papa hat dir eine so tolle Rente vermacht. Die verprasst du nun hier. Schau, hier ist es wunderschön und du bist unter deinesgleichen«, versuchte der Sohn sie zu trösten.

»Haben Sie Kinder«, hatte die Ammer Inge Ibis gefragt und gleichzeitig erklärt: »Ich habe fünf, aber glauben Sie ja nicht, dass das mein Leben einfacher gemacht hätte. Fünfmal Unglück und Missverstehen. Und jetzt schieben sie mich auch noch ab. Und warum? Ich bin sicher, dass sie so schnell wie möglich das Haus verkaufen werden. All meine Antiquitäten und Sammlerstücke. Dabei haben wir sie so lange lernen und studieren lassen wie sie wollten, und alle haben gute Berufe: Architektin, Anwalt, Therapeutin, Arzt und Steuerberater. Aber jetzt, jetzt behaupten sie, dass ihre Geschäfte schlecht gehen, ausnahmsweise sind sie sich da mal einig«, Annegret Ammer lachte bitter. »Nun wollen sie das Haus verkaufen und mich loswerden. Ein Wunder, dass sie mir kein Gift in den Kaffee geschüttet haben, wo doch in diesem Fall sogar Anwalt und Arzt unter einer Decke stecken könnten. Sind Ihre Kinder auch so undankbar?«

»Nein, ich habe keine Kinder«, murmelte Inge Ibis. »Und wenn ich Sie so höre, ist es vielleicht auch gut so. Bitte, nehmen Sie doch noch eine Tasse Tee.«

Seit jener ersten Begegnung trafen sich diese beiden Damen allmorgendlich zum Schwimmen, zogen schweigend ihre Bahnen und verschwanden anschließend im Bewegungsbereich, um sich körperlich zu ertüchtigen. Hier gab es Laufbänder, Crosstrainer und Ergometer, und Frau Ammer und Frau Ibis hatten sich in den vergangenen sechs Monaten die Figuren junger Mädchen antrainiert und verkündeten ungefragt, dass sie sich genauso gut fühlten, wie sie aussahen.

So hatte beispielsweise die ziemlich untersetzte und schwammig wirkende Frau Ammer straffe Oberarme und Oberschenkel bekommen, ihr runder Bauch war verschwunden und ließ eine Taille, zwei Brüste und einen gut geformten Po erkennen, während sich Frau Ibis’ spinnenbeindünne Arme und Beine gekräftigt hatten und sich die Körpermasse nun proportionsgerecht vom Scheitel bis zum großen Zeh verteilte.

Nach ihren Leibesübungen verschwanden die Damen in den an die Badelandschaft angrenzenden Wintergarten, flüsterten miteinander, tauschten sich aus, stutzten die Palmen, besprühten die Blätter der Orangen- und Zitronenbäumchen mit Blattglanz und bewegten sich in diesem halbtropischen Klima wie zwei einem Gemälde von Gaugin entsprungene Südseeschönheiten, in nichts als grellbunte Seidentücher gehüllt, mit regenbogenfarbenen Badekappenturbanen.

Danach begab sich Frau Ibis an ihren Schreibtisch und Frau Ammer ging spazieren.

III

Lustlos löffelte Gerlinde ihre Suppe und grübelte. Was sollte sie tun, wenn sie die Stelle nun doch nicht bekäme? Sie hatte viel zu voreilig ihren Job gekündigt, den Verstand beiseitegeschoben und aus dem Bauch heraus reagiert. Sie musste verrückt geworden sein. Amosh hatte sie verrückt gemacht. Wie damals. Aber es hatte sich gut angefühlt, so aktiv zu sein, die Kellnerinnenschürze abzulegen und zu behaupten, ab sofort andere und wichtigere Aufgaben erfüllen zu müssen. Unglaublich lebendig und voller Tatendrang hatte sie sich erlebt, als sie im Erdgeschoss ihres kleinen Häuschens klingelte, dem ihr öffnenden Hausbesitzer knapp und entschieden mitteilte, dass sie ihre Zweizimmerdachwohnung über ihm zum nächsten Ersten kündige, und zufrieden und leise lächelnd die Treppe in ihr befristetes Reich hochgestiegen war. Keine Sekunde lang hatte sie sich vorgestellt, dass ihre Mission misslingen könnte.

Sie hatte die Handynummer des Guts von Wistinghausen angewählt, eine Wollsocke über die Sprechmuschel des Telefons gezogen und einer Frauenstimme, die sich zunächst nur mit »Hallo« gemeldet hatte, Interesse vorgetäuscht.

»Es geht um meine Eltern. Die denken über einen Alterssitz nach. Da bin ich auf Sie gekommen, wissen Sie, übers Internet. So ein schönes Haus, es strahlt Ruhe aus und Gelassenheit. Können wir mal vorbeikommen? Würden Sie mir eine Anfahrtsskizze mailen?«

Die Frau am anderen Ende der Leitung schien zu zögern. »Wissen Sie, das mag vielleicht komisch und ein bisschen anmaßend klingen, aber nicht jeder passt zu uns. Wir haben klare Vorstellungen von unseren Gästen und wollen auch, dass das Miteinander harmonisch ist. Daher bitte ich Sie, Ihren Herrn Vater oder Ihre Frau Mutter direkt bei mir anrufen zu lassen.«

»Das ist schwierig«, hatte Gerlinde gelogen. »Die sind nämlich gerade im Ausland unterwegs und ich hätte sie gern bei ihrer Rückkehr mit einem Prospekt Ihres Hauses überrascht.«

»Zeigen Sie ihnen einfach unseren Internetauftritt«, hatte die Stimme am anderen Ende der Leitung vorgeschlagen.

»Unabhängig davon«, wollte Gerlinde wissen, »besteht denn grundsätzlich die Möglichkeit, sich bei Ihnen einzumieten? Ich meine, haben Sie noch Platz?«

»Wenn Sie es sich leisten können …«

»Mit welchen monatlichen Kosten wäre zu rechnen?«

»Auch das würde ich lieber in einem persönlichen Gespräch mit Ihren Eltern klären, wenn Sie verstehen.«

Aalglatt war die, diese Ludmilla von und zu. An der konnte man sich die Zähne ausbeißen, aber Gerlinde würde es schaffen, weil sie es schaffen musste. Es gab sowieso keinen anderen Weg mehr.

Am nächsten Tag hatte sie erneut angerufen. Diesmal ohne bestrumpftes Telefon, hatte aufs Freundlichste die Homepage gelobt und den schönen Garten – »sicher macht das viel Arbeit« – den Wellnessbereich als »Super« bezeichnet und die daran angrenzende Orangerie als einmalig, um dann, nach vielem Hin und Her, mit ihrem eigentlichen Anliegen zu kommen. Viel zu früh. Sie hatte es gespürt, noch bevor sie die Worte der anderen richtig verstanden hatte: »Nein, tut mir leid. Wirklich. Wir brauchen Sie nicht. Lassen Sie uns in Ruhe. Wir haben keinen Platz für Sie und außerdem: Unsere Alten sind nicht wirklich alt.«

Alte, die nicht alt waren. So ein Quatsch. Denn wenn es so wäre, müssten sie doch eigentlich Junge heißen, oder? Gerlinde beschloss, morgen wieder anzurufen. Jeden Tag. So lange, bis es endlich klappte.

Der Job in dieser Residenz war ihr vorbestimmt – und irgendwann würde es diese Baronin oder Freifrau, oder was immer sie war, einsehen.

*

Seit vier Tagen schickte der Hausbesitzer Prozessionen von Fremden in ihre Wohnung, die die Teppichböden begutachteten und die Räume mit einer Besessenheit nachmaßen, als sei die Quadratmeterzahl durch mehrmaliges Zollstockanlegen zu erhöhen.

Einige wenige gingen gleich. Andere dagegen wollten sofort einziehen, augenblicklich einen Mietvertrag unterzeichnen und kamen dann mit der Bitte: »Legen Sie doch beim Vermieter ein gutes Wort für mich ein …«

Ein gutes Wort. Und wer hatte für sie ein gutes Wort übrig?

Gerlinde stützte den Kopf in beide Hände und starrte in ihren dampfenden Eintopf. Ein schönes Süppchen hatte sie sich da eingebrockt. Hier konnte sie nicht bleiben, war tatsächlich heimatlos geworden durch ihr Versprechen, das Appartement bis in zwei Wochen zu räumen. Nur einen Ort gab es auf dieser Welt, an den sie hingehörte. Nur einen Platz, von dem sie wusste, wie der sich anfühlte. »Nach Meer und mehr und immer mehr« – einmal war sie dort gewesen und irgendwann würde sie wieder dort sein, denn der Weg dorthin führte über das Gut von Wistinghausen. Der Weg zu ihm, zu Amosh.

Wenn sie sich dort begegneten, würde er nicht gleichgültig über sie hinwegsehen. Dort würde er sie wieder erkennen.

In der Zeitung hatte gestanden, dass Amosh seine Eltern in einem äußerst exklusiven und ruhigen Seniorenheim untergebracht hätte. Und auch der Name war genannt worden: Gut von Wistinghausen. Klang das nicht wie Musik? Zukunftsmusik? Sehnsuchtsvoll sah Gerlinde sich in ihrem kleinen Schwarzen und mit einem weißen Kellnerinnenschürzchen durch den Speisesaal huschen; auf leisen Sohlen, aber natürlich hochelegant. Liebevoll würde sie zunächst Amoshs Mutter, dann seinem Vater das Essen hinstellen, Fisch filetieren, Wein und Wasser nachschenken, um erst dann, gelassen und souverän, einen Blick auf den berühmten Sohn der beiden zu werfen. Er würde sie sofort erkennen und wissen, wer da vor ihm stand: Sie, seine Gerlinde, sein kleines Vögelchen, das er seit sieben Jahren suchte. Sie wusste genau, was er sagen würde: »Meine Meerjungfrau!«, würde er flüstern und Tränen des Glücks in den Augen haben. »Meine Meerjungfrau, endlich habe ich dich wieder …«. Sieben lange Jahre hatte er all seine Lieder über Sehnsucht, Heimatlosigkeit, Traurigkeit und dem Wunsch nach Liebe und Erfüllung nur ihr gewidmet. »So eine wie dich / die vergisst man nicht …«. Hatte er das gesagt oder war es eine Zeile aus seinen Chansons? Egal, er schien sie im gleichen Maße zu suchen wie sie ihn. Und auf dem Gut dieser selbstgefälligen Baronin würden sie sich begegnen. Das wusste Gerlinde und deshalb durfte nichts und niemand ihren Plan durchkreuzen.

»Gut, aber nur die kleine Runde.« Hermann wickelte sich einen ungewöhnlich langen und dicken Schal um den Hals, Ludmilla schlüpfte in ihren Trenchcoat und murmelte: »Hauptsache raus. Wir könnten unterwegs ein Bierchen trinken.«

Ihr Mann nickte: »Meinetwegen.«

Zu ihrem abendlichen Ausgehritual gehörte die Gutsbesichtigung von der gegenüberliegenden Straßenseite. Hier standen sie nun unter dem rauschenden Dach einer Pappelallee und bewunderten die erleuchtete Fensterfront ihres Besitzes.

Das heißt, Ludmilla bewunderte ihren Besitz und ihr Mann leistete ihr dabei Gesellschaft. Und zur Belohnung bekam er in der Dorfschenke ein frischgezapftes Pils. Das große Haus mit den ungewöhnlich hohen Fenstern lag am Rande eines Parks und grenzte rechterhand an das Krankenhaus und linkerhand an einen stillgelegten Bahnhof, auf dessen Vorplatz zweimal täglich ein Bus hielt.

Angesichts dieser zentralen Lage hatte die geschäftstüchtige Ludmilla ihre altruistische Ader entdeckt und von einem absolut exklusiven Wohnstift für ältere Menschen zu träumen begonnen. »Ich will ganz viele nette Großeltern um mich versammeln und sie verwöhnen und zwischen all denen ab und zu ein bisschen Kind sein dürfen. – Es müssten natürlich besondere Leute sein, wenn du verstehst, was ich meine.«

Hermann von Wistinghausen hatte sofort begriffen: »Sie sollten also keinesfalls unvermögend sein.«

»Ehrlich gesagt wäre das nicht nur von Vorteil, sondern eine der wesentlichsten Bedingungen. Schließlich würden wir ihnen ein wunderbares Haus und den absoluten Service bieten, du könntest Ausflüge organisieren, mit ihnen in die Stadt zur Oper, ins Theater oder auch ins Kino fahren – sechzig Kilometer sind ja nicht eigentlich weit …«, und Ludmilla war ins Schwärmen geraten, »vielleicht kommen sie sich ja auch näher, ein junges Glück im Alter …«

In ihrer unerschütterlichen Zuversicht hatte sie den Umbau des Hauses geplant, neun Zwei- bis Dreizimmerappartements eingerichtet sowie ein dezent gestyltes Restaurant mit Blick auf den angrenzenden Park entworfen, für ihren Mann einen Rauchersalon und eine Bibliothek erschaffen und sich mit lauter zufriedenen alten Menschen umgeben. Alles ein wenig Hotelcharakter, wobei es sich um ein sehr exklusives Hotel handeln sollte. Und wer wollte, konnte seine eigenen Möbel mitbringen. Und genau so war es geschehen. Nach knapp einem Jahr, in dessen Verlauf Hermann sich mit dickköpfigen westfälischen Handwerkern und Innenarchitekten herumzustreiten hatte, stand das Haus. Endlich! Die Seniorenresidenz von Wistinghausen.

Ein Zeitungsbild zeigte das strahlende Paar vor ihrem neu eröffneten Domizil. Sie groß und hager mit Strasskämmchen im hochgesteckten Haar und einem schwarzen Seidenkleid im Stil der zwanziger Jahre, er ein schwammiger Riese in Jeans und Wollpullover, das runde, rötliche Gesicht von blondem Haarkranz umweht, eine kräftige und zupackende Hand in die Hüfte gestemmt, die andere prankengleich auf der zierlichen Schulter seiner Frau. Als Eine gelungene Verbindung von Geld und Geschmack, war der Artikel betitelt und spielte auf Hermanns und Ludmillas Vermögen sowie auf den guten Namen der beiden an. Der Lokalreporter hatte es zudem akribisch vermieden, auch nur einen Satz über die Philosophie dieser Residenz zu schreiben, war stattdessen auf die Geschichte des Hauses eingegangen und hatte das fabrikeigene Mädchenheim für höhere Töchter, erbaut Anno 1902, in all seiner Farbenpracht heraufbeschworen. Es war ein Artikel, der nicht mit einem Satz auf die zukünftigen Bewohner der Villa einging, aber er schien genau die Leute anzusprechen, auf die Ludmilla gesetzt hatte.

Als erste Gäste waren Lotte Fliegen und Günter Maus eingezogen; beide von Hermann liebevoll als unsere »Tierchen« bezeichnet. Eigenartigerweise hatten weder Ludmilla noch Hermann und schon gar nicht das erwartungsvolle Personal gestutzt, als die beiden ohne jegliches Gepäck anreisten, sich innerhalb einer Woche die Einrichtung ihrer Appartements in einem Designerhaus zusammenstellen und anliefern sowie sich in einem Kaufhaus neu einkleiden ließen. Demonstrativ hatten sie gegen alle ungeschriebenen Regeln der »Residenz« verstoßen, waren auswärts essen gegangen und hatten Ludmilla in ihrem elegant gedeckten Speisesaal verzweifeln lassen. Arm in Arm waren sie zum Bahnhof spaziert und mit dem Zug zu Tanzveranstaltungen und fragwürdigen Varietébesuchen in die entfernte Großstadt gefahren, ja, sie kamen nicht einmal mehr jede Nacht heim. Alles in allem hatten Herr Maus und Frau Fliegen sich wie zwei kichernde Teenager benommen, und Hermann und Ludmilla fragten sich noch heute, wie sie so blauäugig sein konnten und warum sie nichts gemerkt hatten. Sie wollten nichts merken. Das war vermutlich die einzige Erklärung. Und ebenso wie ihre zwei Gäste waren auch sie aus allen Wolken gefallen, als ihre gepflegte Residenz einige Monate später von zwei aufgebrachten älteren Herrschaften in Begleitung der Polizei heimgesucht wurde und Herr Maus von Frau Maus und Frau Fliegen von Herrn Fliegen aus dem Wohnstift ausgekauft und in die geschützte Höhle einer umsorgenden Häuslichkeit zurückgeführt wurden.

Seitdem legte Ludmilla großen Wert darauf, alle Angaben bezüglich der Witwenschaft oder des Alleinlebens ihrer zukünftigen Mieter aufs Genaueste zu überprüfen. Herr Haase, Fräulein Grill und Herr Fink kamen fast gleichzeitig und machten das Haus zu dem, wohin es sich entwickeln sollte: zu einer gepflegten, hotelartigen Einrichtung; auch wenn die neuen Gäste es anfangs vorzogen, an getrennten Tischen zu speisen, jeder in seinem eigenen System versunken, mit seinen ganz privaten Machenschaften beschäftigt. Ludmilla und Hermann ließen sie: »Wir haben Ruhe versprochen und dies Versprechen halten wir auch.« Später hatten sich weitere fünf Herrschaften, wie Hermann es nannte, eingemietet, ihre Appartements individuell gestaltet und ihre Lebenskonzepte verteidigt gegen zu grobe Putzfrauen und zu neugierige Fragen.

»Du solltest die Rosen noch einmal stutzen, bevor es richtig Frühling wird«, meinte Ludmilla und zog ihren Mann am Vorgarten ihres Anwesens vorbei die Dorfstraße hinunter.

»Ich finde, wir könnten uns durchaus noch eine weitere Angestellte leisten«, gab Hermann von Wistinghausen zu bedenken. »Je mehr ich darüber nachdenke, umso besser gefällt mir der Gedanke. Weißt du, es hat durchaus seinen Vorteil, wenn diese Neue von außen kommt. Es ist nicht gut, so viele Leute aus dem Ort zu beschäftigen. Du weißt schon, in so einem Kaff wie hier wird geredet und gemunkelt und überhaupt …«

»Wir haben nichts zu verbergen«, Ludmilla schob ihre rechte Hand in die linke Jackentasche ihres Mannes und umfasste seine Finger.

»Schön, aber wir haben auch viel Arbeit. Schau mal Liebes, morgen zieht schon wieder jemand ein. Diese Frau Hummer. Da müssen die Zimmer gerichtet, Einkäufe erledigt, Blumen besorgt und vor allem muss Unterhaltung angeboten werden.«

»Frau Hummer ist Nummer neun. Weißt du das eigentlich? Mit ihr sind wir komplett.«

Mehr als neun Wohnungen wollten sie nie vermieten, was bedeutete, dass einer von den fünf Herren und demnächst vier Damen erst sterben musste, bevor jemand anderer einziehen konnte. Der Tod persönlich würde Platz für einen Nachmieter machen.

Eine schreckliche Vorstellung, Ludmilla seufzte. Gerade jetzt, wo sie das Gefühl hatte, dass sie ein bisschen lebendiger wurden. »Weißt du noch, wie steif und vorsichtig jeder einzelne von ihnen die Schwelle unseres Hauses überschritten hat? Wie sie nach rechts und links schauten, hinterhältige Angriffe witternd? Und nun laufen sie so beschwingt über die Flure, durch den Garten und den Park, dass ich mir nicht ganz sicher bin, ob sie hinter der nächsten Ecke nicht leichtfüßig zu tanzen beginnen.«

»Weil ihr Leben leichter geworden ist, ohne den Ballast der Alltäglichkeiten. Und so sollte es auch bleiben. Stell diese junge Frau ein.«

»Ich weiß nicht, wo soll sie denn wohnen? Bei uns ist kein Platz mehr und die Räume im Dachgeschoss sind noch nicht renoviert.«

»Ich habe heute auf der Post erfahren, dass die kleine Dachwohnung über der Schule frei geworden ist.«

Ludmilla seufzte erneut: »Das ist ja alles gut und schöne, aber ich habe mir die Nummer dieser Frau nicht notiert. Sie heißt Gerlinde, Gerlinde und auch ihr Nachname fängt mit Ger an. Gerlach, Gerking, Gerzer … davon kann es tausende im deutschsprachigen Raum geben. Vielleicht hätte sie ja wirklich ganz gut zu uns gepasst, denn ein bisschen schräg war sie schon drauf. Wie besessen, sie wollte unbedingt zu uns.«

»Na bitte, dann soll sie halt kommen – wenn sie sich noch mal meldet.«

IV

Lange, bevor sie kam, kamen ihre Möbel. Ein Ungetüm von rustikalem Eichenschrank mit senfgelben Butzenscheiben, drei schwere und dunkle Ledersessel mit zierlich gedrechselten Füßen sowie eine mit Schnitzwerk überfrachtete Holztruhe, über die ein überdimensionaler Flachbildfernseher mit einer Diagonale von mindestens einem Meter fünfzig an die Wand geschraubt werden sollte.

Dicke Teppiche wurden über die breiten Treppen in den ersten Stock verfrachtet und gaben nach dem Ausrollen Landschaften preis, in denen auf mitternachtsblauem Grund grellfarbige Fantasieblumen wuchsen und ungelenke Paradiesvögel flatterten. Grob gedrechselte Masten, Stangen, Streben und Klötze verwandelten sich unter den geschickten Händen der Möbelpacker in ein stilloses Himmelbett, als ging es darum, das hummersche Schlafzimmer in den geschmacklosesten Raum des ganzen Anwesens zu verwandeln.

Kopfschüttelnd stand Ludmilla in der gepflasterten Einfahrt zu ihrem Gut und erstarrte angesichts der endlosen Prozession an Absonderlichkeiten, die von den schweißüberströmten Möbelpackern in ihr Haus hineingetragen wurden.

»Sie müssen sich vertan haben«, flüsterte Hermann seiner Frau ins Ohr. »Das Museum für Gelsenkirchener Barock, du weißt schon, Eiche mundgebissen nebst marmorschimmernden Nierentischchen, ist nur eine Autostunde von uns entfernt. Schick sie wieder weg! Schick sie dorthin.«

Ludmilla seufzte und biss sich auf die Lippen: »Verdammt, ich habe ihrem Sekretär, oder wer immer es war, extra einen Grundriss der Wohnung geschickt. Mit genauen Quadratmeterangeben. Dies Zeug hier passt doch niemals in zweieinhalb Zimmer!«

»Na ja«, ihr Mann grinste. »Zur Not schon. Aber dann passt vermutlich Frau Hummer nicht mehr rein. Es sei denn, sie hat die Statur einer magersüchtigen Elfe.«

Voller Bewunderung kniete indessen Otto Hirsch im ersten Stock auf dem Teppich des Neueinzugs, hatte ihn schon gewendet und von allen Seiten begutachtet, dabei die verwirrende Landkarte von Fadenanfängen und -enden zu verstehen versucht, und verkündete nun freudestrahlend, dass dieses gute Stück handgeknüpft sei.

Hermann gab ihm Recht: »Dessen bin ich sicher«, und murmelte leise in Richtung Ludmilla, »wenn so etwas jemals maschinell gefertigt würde, hätte ich in der Tat allen Grund, mich pausenlos zu betrinken, um meinen Glauben an den guten Geschmack der Menschen aufzugeben.

Auch die raufte sich verzweifelt die Haare: »Gibt’s schon einen offenen Rotwein?«

Schweigend beobachteten sie daraufhin, wie weißlackierte Rattansessel, bestückt mit neonfarbenen Seidenkissen, aus dem Siebeneinhalbtonner ausgeladen wurden, und ahnten Fürchterliches: Dieses Freizeitensemble, das ohne weiteres den passenden Hintergrund für kubanische Rum-Reklame abgegeben hätte, sollte nach Frau Hummers Vorstellung seinen festen Platz auf der glyzinienüberrankten Gemeinschaftsterrasse finden.

Mit der Empfangsbestätigung für die Möbel präsentierte der Fahrer einen Brief. Frau Hummer würde erst in einer Woche anreisen, zur Zeit befände sie sich noch zum Durchchecken in einem Krankenhaus, hieß es darin, und dass bis zu ihrer Ankunft die Möbel an ihrem Platz zu stehen und die Wohnung gemütlich eingerichtet zu sein habe; grob waren auf einer vergrößerten Kopie des Grundrisses die Standorte der einzelnen Stücke markiert.

»Na dann an die Arbeit. Wer zahlt schafft an«, Hermann drückte den Möbelpackern einen Hunderter in die Hand, versprach kalte Getränke und ein gutes Essen und übernahm das Kommando.

*

Der, der heute als erster durch ihre Wohnung geschlichen war, hatte einen verschreckten Dackel an viel zu langer Leine hinter sich hergezogen. »Wurmi« nannte er seinen Hund tadelnd, und in der Tat, wie ein Wurm wand sich dieser, inspizierte Zimmerecken immer erst dann, wenn sein Herrchen schon Meter von ihm entfernt war, und Gerlinde beobachtete das Tier die ganze Zeit über ängstlich: es würde doch nicht sein Bein heben …

Nein, das da war kein guter Besucher gewesen; mit seinen hochgezogenen Schultern und den zusammengewachsenen Augenbrauen und der kurz über dem Knöchel endenden fadenscheinigen Flanellhose. So einer machte nicht Mut für ein lebenswichtiges Telefonat. So einer reduzierte die Fähigkeit des Sprechens auf ein hilfloses Stottern. Und wie er sie angesehen hatte! Und dabei immer seine roten Hände geknetet, als müsse er jedes einzelne Wort erst sorgsam formen. Was der sich nur einbildete! Klingelte morgens um sieben Alarm, nur weil ihr Vermieter behauptet hatte, Gerlinde würde immer früh aus dem Haus gehen, und schien dann auch noch damit zu rechnen, dass sie ihn zum Frühstück einlud. Schlaftrunken hatte sie ihn in Nachthemd, Bademantel und Filzpantoffeln durch die Wohnung geführt, dabei demonstrativ gegähnt und das noch ungekämmte Haar hastig zu einem provisorischen Knoten zusammengesteckt. Absichtlich hatte sie es sich verkniffen, die Kaffeemaschine anzuwerfen.

»Ich heiße Waller, Walther Waller, und das ist Wurmi«, so hatte er sich und seinen O-beinigen Dackel vorgestellt. »Mein Wurmi ist Frühaufsteher. Tut mir leid.«

»Und schlecht erzogen«, murmelte Gerlinde. Weder Herr noch Hund sahen so aus, als könnten sie sich die Wohnung leisten, was machten sie also hier?

»Wir leben allein«, stellte Walther Waller klar. »Und Sie?«

Gerlinde schwieg und sah an ihm vorbei.

»Schöne Wohnung. Ist sie noch zu haben?«

»Ich weiß nicht. Da müssen Sie den Besitzer fragen. Er wohnt im Erdgeschoss.«

»Genau, mit dem habe ich gestern gesprochen. Er gab mir nämlich den Tipp, rechtzeitig zu kommen, falls ich nicht nur die Wohnung, sondern auch Sie kennenlernen wolle.«

»Was?«

Ihr Gegenüber grinste und gab dabei einen Blick auf ungewöhnlich viele und schief gewachsene Zähnen preis. Er trat einen Schritt auf sie zu. Sein Atem roch muffig. »Haben Sie schon Kaffee getrunken?«

Verneinend ging sie ihm voran, öffnete die Tür zum Bad und stellte klar: »Ich habʼ noch nicht einmal geduscht.« So, das würde er doch wohl verstehen und schnell Leine ziehen.

Doch dieser frühmorgendliche Besucher schien auf diesem Ohr taub zu sein. Freundlich nickte er ihr zu und schlug vor: »Ich könnte einen Kaffee kochen, während Sie duschen.«

Sie starrte ihn an. Er starrte zurück und fuhr sich mit der Zunge über spröde Lippen. Auch Wurmi auf seine hündische Art devot zu ihr hoch, viel Weißes leuchtete in seinen Augen auf und Speichel tropfte ihm aus den Lefzen. Gerlinde verspürte am ganzen Körper eine Gänsehaut.

»Wir könnten natürlich auch in ein Café gehen«, schlug Walther Waller jetzt vor. »Aber eindeutig gemütlicher ist es doch zu Hause, oder?« Er verhielt sich so, als sei er bereits eingezogen und lebe mit ihr in eheähnlicher Gemeinschaft. Stumm schüttelte sie den Kopf. Der da musste verrückt sein. Krank und verrückt.

Mit eigenartig spröder Stimme krächzte sie ihn an: »Ich frühstücke am liebsten allein«, und suchte nach Worten, um ihn wieder vor die Tür setzen zu können.

Er jedoch tat so, als gäbe es sie nicht, durchmaß ihr Schlafzimmer mit festem Schritt, legte seine rote rechte Hand prüfend auf ihr Bett, schob sie kontrollierend zwischen Decken und Laken, als ginge es darum, ihr Alibi zu sichern. Angesichts dieser Geste fühlte sie sich sofort schuldig. Was war nur los mit ihr? Wie konnte sie es zulassen, dass so einer unangemeldet und viel zu früh in ihre Wohnung eindrang und ihr Kraft und Lebensmut raubte. In ihrem Café hatte sie zwei oder dreimal mit einer älteren Dame geplaudert, die angeblich Auren sah und immer wieder bewundernd auf Gerlindes Od-Mantel zu sprechen kam: »Das ist das Kraftfeld Ihrer Seele, passen Sie auf, dass Ihnen das keiner wegfrisst. In dieser Welt wimmelt es nur so von Od-Fressern.«

Walther Waller schien sich auf Od spezialisiert zu haben. Je schwächer Gerlinde sich fühlte, umso unverschämter ging er vor.