Der Letzte seiner Art - Sibylle Grimbert - E-Book

Der Letzte seiner Art E-Book

Sibylle Grimbert

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Beschreibung

1835: Der junge Zoologe Gus wird vom Naturhistorischen Museum in Lille nach Island geschickt, um die Fauna des Nordatlantik zu studieren. Dort wird er Zeuge eines Massakers an einer Kolonie von Riesenalken, einer pinguinähnlichen Vogelart. Gus kann einen der Vögel retten, ohne zu ahnen, dass er gerade das letzte Exemplar seiner Art geborgen hat. Er nennt ihn Prosp – und zwischen dem neugierigen Forscher und dem anfänglich misstrauischen Tier entsteht eine tiefe Freundschaft. Gus wird nach und nach klar, dass er womöglich etwas Einzigartiges und Unvorstellbares miterlebt: Das Aussterben einer Spezies. Was bedeutet es, ein Tier zu lieben, das es nie wieder geben wird? Gus entwickelt eine Obsession mit dem Schicksal seines gefiederten Freundes – eine Obsession, bei der alles andere auf der Strecke bleibt …

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Seitenzahl: 239

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Das Buch

1835: Der junge Zoologe Gus wird vom Naturhistorischen Museum in Lille nach Island geschickt, um die Fauna des Nordatlantik zu studieren. Dort wird er Zeuge eines Massakers an einer Kolonie von Riesenalken, einer pinguinähnlichen Vogelart. Gus kann einen der Vögel retten, ohne zu ahnen, dass er gerade das letzte Exemplar seiner Art geborgen hat. Er nennt ihn Prosp – und zwischen dem neugierigen Forscher und dem anfänglich misstrauischen Tier entsteht eine tiefe Freundschaft. Gus wird nach und nach klar, dass er womöglich etwas Einzigartiges und Unvorstellbares miterlebt: Das Aussterben einer Spezies. Was bedeutet es, ein Tier zu lieben, das es nie wieder geben wird? Gus entwickelt eine Obsession mit dem Schicksal seines gefiederten Freundes – eine Obsession, bei der alles andere auf der Strecke bleibt …

Die Autorin

SIBYLLE GRIMBERT ist Schriftstellerin und Verlegerin. Für Der Letzte seiner Art war sie für den Prix Femina und den Prix Renaudot nominiert und wurde mit dem Goncourt des animaux ausgezeichnet. Sie lebt in Paris.

Sibylle Grimbert

der

letzte

seiner

art

ROMAN

Aus dem Französischen von Sabine Schwenk

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Le dernier des siens bei den Éditions Anne Carrière, Paris.

ISBN 978-3-96161-182-9

© 2023 Julia Eisele Verlags GmbH, München

© S.N. Éditions Anne Carrière, Paris, 2022

Publié par l’intermédiaire de Milena ASCIONE,

BOOKSAGENT– France (www.booksagent.fr)

Gestaltung und Satz: Red Cape Production, Berlin

Illustration: © akg-images / De Agostini Picture Library

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch / Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

I

II

III

Nachwort der Autorin

EMPFEHLUNGEN

Orientierungsmarken

Cover

Inhalt

Textbeginn

Für Béatrice, Michel, David, Florent

I

Nur die Bäuche hoben sich aus der Ferne wie weiße Flecken von der Felswand ab, darüber die glänzenden Schnäbel, krumm wie Raubvogelschnäbel, aber deutlich länger. Mit schaukelndem Gang tappten sie voran; sie schienen sich Zeit zu lassen, schienen vor jedem Schritt die Stabilität zu prüfen und den Körper mit einer Beckendrehung neu auszurichten. Auch die Männer kamen nur mühsam voran, suchten Halt auf dem klumpigen, aufgeweichten Boden der kleinen Insel, die Arme und Beine gespreizt, mit dem Rücken fast parallel zum Strand, wie überdimensionierte Krabben aufgereiht vor diesen Riesenalken, die dennoch bedächtigen Schrittes – was angesichts der Situation völlig unangebracht war – dem Ufer zustrebten.

Das Wetter war schön auf Eldey, diesem schroffen Felsen, von wo die Küste Islands noch gut zu erkennen war, jedenfalls besser als an gewöhnlichen Tagen, an denen die Wellen so hoch schlugen, dass auch ohne Regen immer etwas Feuchtes, Kaltes in der Luft lag und die Sicht trübte. An diesem Tag war der Himmel durch und durch grau. In seinem homogenen Licht war deutlich zu erkennen, wie sich am Meeresufer die Umrisse der Menschen und Tiere aufeinander zubewegten und wie sich die Männer - plötzlich sehr schnell - auf die Vögel stürzten, sie mit Knüppeln totschlugen oder unter ihren Körpern begruben und den noch zappelnden Tieren die Hälse umdrehten. Als sich die Mörder wieder aufrichteten, in ihren Fäusten die Köpfe der baumelnden Riesenalken, warfen sie die Tiere auf einen Haufen, wo die weißen Flecken zwischen Schnabel und Augen wie Schmetterlinge aussahen, die auf einem Aashaufen gelandet waren.

Die Szene dauerte nicht lange, ein paar Minuten vielleicht. Wie immer, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, kreisten die anderen Vögel, die noch fliegen konnten, deren Flügel nicht im Laufe friedlicher, glücklicher Jahrhunderte verkümmert waren, über dem Felsen und schrien. Während der Boden das Blut aufsog – von Weitem war jedenfalls nicht ein einziger roter Fleck zu sehen –, hinterließen die von den Männern achtlos zertrampelten Eier ihre glänzenden, glitschigen Spuren auf dem schwarzen Vulkangestein. Die meisten sammelten die Männer allerdings ein und legten sie vor die aufgetürmten Leichen derer, die ihre Eltern waren oder gewesen wären.

Je länger man die Szene an Bord des Fischerbootes oder der auf halber Strecke wartenden Schaluppe verfolgte, desto abstrakter wurde das Geschehen: Punkte unterschiedlicher Größe, die sich hinter dem durchsichtigen grauen Vorhang des Lichts auf geometrischen, monotonen Linien bewegten. Darüber vergaß man, dass es Lebewesen waren, Männer und Riesenalken. Die anfangs so fesselnde Szene wurde ein wenig langweilig. Doch dann brachte der Blick aufs Detail die Dinge wieder auf den Punkt, ein Bein, ein Schnabel, ein Vogel, übers Ufer geschleift wie ein totes Kind. Die Erinnerung an die Gesichter der Männer kehrte zurück, und einen Moment lang pochte der Puls dieser nie berührten, nie gespürten Tiere in der Brust und bis in die Hände der Seeleute hinein, die sich auf der Schaluppe und dem Fischerboot an der Reling festhielten.

Plötzlich war alles wieder still. Sogar die Männer auf der Felseninsel verstummten. Die Störung dessen, was wie eine kurze Ruhepause nach getaner Arbeit schien, kam von links: ein Felssturz, bei dem ein Stück aus der Steilwand brach. Dann ein unterdrückter Schrei. Ein Matrose ging auf die Felsen zu, nahm einen Stein, beugte sich nach vorn und wich so abrupt zurück, dass ihm der Stein aus der Hand fiel. Ein Schnabel hatte nach ihm geschnappt. Der Mann hob den Stein wieder auf, riss ihn in die Höhe und schleuderte ihn auf den Vogel. Ein dumpfes Geräusch folgte. Später auf dem Fischerboot würde er erzählen, dass ihn der Riesenalk, anstatt zu fliehen, regungslos angestarrt hatte, den krummen Schnabel über das Ei geschoben, das er ausbrütete. Der Mann bückte sich dann noch einmal und nahm den toten Vogel und das heil gebliebene Ei, das der Riesenalk mit seinem Körper geschützt hatte.

Nun gab es auf der Insel kein einziges lebendes Tier mehr. Wobei es natürlich nur eine kleine Kolonie von allenfalls dreißig Riesenalken gewesen war. Einige der Matrosen, die sie im Vorjahr schon gesehen hatten, sagten, seitdem seien es noch weniger geworden. Mit den toten Tieren beladen gingen die Männer wieder an Bord der Schaluppe. Man hörte sie singen. Sie wussten, dass an diesem Abend eine üppige Mahlzeit auf sie wartete, das zarte Alkenfleisch und die Proteine eines riesigen Omeletts, das sie hinunterschlingen würden.

Als die Schaluppe, von der aus Auguste das Geschehen beobachtet hatte, wieder zum Fischerboot fuhr, bemerkte er im Meer ein schwarzes Etwas, das an ihnen vorbeitrieb. Es erinnerte ihn an den Putzlappen, mit dem Mrs Bridge den Boden wischte. Er beugte sich vor, bekam den Riesenalk zu packen und spürte die Nervosität des Tiers, seine Kraft, selbst in diesem schwachen Moment – denn er war geschwächt, sonst hätte er sich nicht so treiben lassen. Als Gus den Vogel, dessen linker Flügelstummel gebrochen war und schlaff herabhing, ins Boot zog, gab das Tier einen Schrei von sich, riss dabei den gesunden Flügel hoch und versuchte, Gus zu beißen. Sein Körper, der Gus fast bis zur Taille reichte und ihm sofort aus den Händen glitt, war so fest wie ein Muskel. Doch wie alle Vertreter seiner Art war auch dieser Riesenalk außerhalb des Wassers unbeholfen und plump. Jemand warf ein herumliegendes Netz über ihn, mit dem er vergebens kämpfte, sich darin verhedderte und dabei in regelmäßigen Abständen einen krächzenden Schrei ausstieß, der an den einer Hexe erinnerte, wie einer der Matrosen bemerkte.

Auf dem Fischerboot sperrte man den Vogel in einen Käfig. Er hörte sofort auf zu schreien; als man ihm einen Fisch brachte, weigerte er sich, ihn anzunehmen. Hinter den Gitterstäben blickte er Gus so wütend, ja hasserfüllt an, dass Gus die Hand zitterte, als er ihm einen weiteren Fisch vor die Füße legte. Bis zu diesem Moment hatte er bei dem Tier keinerlei Mimik feststellen können. Er fragte sich, ob er dem Naturforscher, für den er arbeitete, sagen würde, dass der Blick eines Riesenalks anklagend sein konnte. Offen gestanden hätte Auguste niemals damit gerechnet, dass er die Chance haben würde, einen dieser Alkenvögel zu fangen. Er hatte eher damit gerechnet, dass er einen toten Vogel nach Lille schicken und man ihn dort ausstopfen würde. Dies war ja auch der Grund, warum er an Bord des Fischerboots gegangen war: weil die Route dieser Seeleute an Eldey vorbeiführte, wo im Sommer die letzte in der Region bekannte Kolonie nistete. Aber er hätte niemals gedacht, dass er mit einem lebendigen Tier an Land gehen würde oder zumindest mit einem Tier, das er gewiss noch umfassend untersuchen und beobachten konnte, ehe es in Gefangenschaft an Schwermut verenden würde – womit ja zu rechnen war.

Später schlief der Vogel oder gab vor zu schlafen. Gus beobachtete ihn durch die Gitterstäbe aus der Nähe und dachte darüber nach, dass er zwar vom Gefieder dieses Tiers immer gewusst hatte, seine Daunen ihn nun jedoch überraschten. Er hatte ihn bisher als ein eher öliges, der Robbe verwandtes Tier wahrgenommen. Als er beim Abendessen ein Stück Riesenalkfleisch aß, kam ihm dann auch der Gedanke, dass Robbenfleisch vermutlich ähnlich schmeckte wie das, woran er gerade herumkaute. Es war ein widerlich fettes Fleisch; er nahm nicht nach.

Die Rückreise zu den Orkney-Inseln dauerte fast zwei Tage. In dieser Zeit wandte sich der Riesenalk ununterbrochen zur Schiffsreling, sodass weder Gus, der sich dafür interessierte, noch die Matrosen, denen es gleichgültig war, mehr von ihm sahen als den Rücken, den eingezogenen Nacken, der das Trugbild erzeugte, dass er keinen Kopf besaß, und den reglosen Schwanz. Niemand fragte sich, ob der Käfig zu eng war, mit Ausnahme eines Matrosen, der sogar vorschlug, ihm eine Leine ums Bein zu binden und ihn im Meer schwimmen zu lassen, was Gus aber nicht wollte, weil er fürchtete, er könnte ausreißen. Zum Glück wurde das Tier durch den Regen, die Gischt und die Feuchtigkeit des kalten Meers immer wieder durchnässt.

In Stromness, der wichtigsten Stadt der Orkney-Inseln, wo sich Gus vor sechs Monaten, im Januar 1834, einquartiert hatte, um die Fauna zu erforschen, fand er einen etwas größeren Käfig, sperrte den Riesenalk darin ein und stellte ihn in eins der Zimmer des Hauses, das er gemietet hatte. Mrs Bridge, die für ihn kochte und putzte, war schockiert über die Anwesenheit eines Tiers, das sie in den Innenräumen eines Hauses als beängstigend, ekelerregend und anstößig empfand. Gus musste ihr versprechen, dass er niemals von ihr verlangen werde, sich in seine Nähe zu begeben. Nach zwei Tagen stellte er den Käfig in ein ausreichend großes Zimmer im Erdgeschoss und beschloss, von nun an dort außerhalb der Reichweite ihrer Putzlappen zu arbeiten. Er untersagte der alten Frau den Zutritt.

Tag für Tag kippte er kannenweise Wasser über den Käfig. Der Vogel breitete dann minutenlang seine Flügel aus, reckte den Hals und fuhr sich mit dem Schnabel über Rücken und Bauch. Es waren die einzigen Momente, in denen er sich bewegte, außer natürlich, um die Fische zu vertilgen, die Gus vor ihm auf den Boden legte. Dann wich der Riesenalk mit einem kleinen, etwas trägen Sprung zurück, senkte den Schnabel zwischen seine mit Schwimmhäuten versehenen Füße und schnappte nach den Fischen. Die restliche Zeit blieb er unbeweglich, den Schnabel an die Brust gedrückt, der Körper zusammengesunken und fest in den Füßen verankert. Manchmal, wenn Gus ihn im Profil sah, merkte er, dass ihn ein dunkelbraunes, nahezu schwarzes Auge mit unverhohlener Feindseligkeit fixierte. Gus hatte fast ein bisschen Angst vor ihm. Mrs Bridge hatte recht, dachte er, dieses Tier war gefährlich, und der Matrose hatte es ja gesagt: Mit seinem krummen Schnabel und dem krächzenden Schrei hatte es etwas von einer Hexe.

Der Schnabel war wirklich beeindruckend, er war Gus schon auf der einzigen Abbildung eines Riesenalks aufgefallen, die er bisher gesehen hatte – in einem Band des Naturforschers Buffon. Jene Radierung war nur nach Beschreibungen angefertigt worden, und nun würde Gus der Erste sein, der ihn nach der Natur zeichnete … Bei dem Gedanken wurde ihm ganz heiß, und sein Herz begann zu klopfen. Aus der Nähe betrachtet war dieser Schnabel noch seltsamer als alles, was er sich vorgestellt hatte. Er hatte zum Beispiel nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Papageienschnabel. Er war länger und ähnelte – aus zeichnerischer Sicht – eher einer an Stelle der Nase eingesetzten Krebszange. Natürlich war er schwarz und glänzte, aber er war eben auch von deutlich sichtbaren Rillen durchzogen, die weder schön noch hässlich waren und nicht minder beeindruckend als die Gesichtsmalereien der Wilden in Afrika oder Australien.

Er musste der Realität ins Auge blicken: In seinem Käfig siechte und welkte der Riesenalk dahin. Nach nur drei Tagen hing ein fauliger Geruch im ganzen Zimmer. Wenn Mrs Bridge an der Tür des Arbeitszimmers vorbeikam, um im oberen Stockwerk sauberzumachen, verzog sich ihr strenges, altes Frauengesicht zu etwas Spitzem, Zerknittertem, als wollte sie ihren Mund und alle sonstigen Öffnungen bestmöglich verschließen. Seit zwei Tagen trug sie im Übrigen ein gehäkeltes Häubchen, das ihre Ohren bedeckte, um auch sie vor den üblen Ausdünstungen zu schützen. Weil sie es zudem vermied, Gus anzusehen, hatte er schließlich das Gefühl, dass er derjenige war, der schlecht roch. Vielleicht hatte sich der Gestank nach verdorbenem Fisch, der sich mit den Gerüchen dicker Staubschichten vermischte, ja auf ihn übertragen, weil er sich die ganze Zeit mit dem Vogel im Arbeitszimmer einschloss.

Er musste schnell sein, so schnell, dass er sich bisher nicht einmal eine Minute Zeit genommen hatte, um Garnier, dem Naturforscher des Naturkundemuseums in Lille, für den er arbeitete, einen Brief zu schreiben und ihn über den sensationellen Fang dieses seltenen Vogels in Kenntnis zu setzen. Bevor der Riesenalk verendete, musste er ihn unbedingt aus allen nur denkbaren Blickwinkeln zeichnen. Das erforderte angesichts des regungslos in seinem Käfig hockenden Tiers natürlich einige Fantasie. Glücklicherweise hatte der Vogel wenigstens in den ersten Tagen eine natürliche Haltung eingenommen, wenn Gus ihm eimerweise Wasser über den Kopf goss. Doch inzwischen war da nichts mehr zu machen, er rührte sich nicht mehr, sondern kauerte sich sogar zusammen, wenn Gus ihn unter Wasser setzte. Denn genau das tat er: Um die Momente zu reproduzieren, in denen sich der Riesenalk ganz wie seine Artgenossen benahm, setzte Gus ihn buchstäblich unter Wasser. Kaum war ein Krug leer, holte er den nächsten, dann den Eimer. Er wusste selbst, wie dumm das war, aber wer hatte bis zum heutigen Tag schon einmal diesen Vogel gezeichnet, wie er sich mit verdrehtem Kopf den Rücken putzte?

Gus war ein guter Matrose und ein abenteuerlustiger Mann. Dass er nun als Erster so ausführlich einen lebenden Riesenalk beobachten durfte, machte ihn nicht nur zu einem einzigartigen Reisenden, sondern möglicherweise für das Naturkundemuseum auch zu einem wertvollen Assistenten (womit seine künftigen Reisen finanziert wären). Seine zoologischen Kenntnisse hielten sich im Rahmen – er hatte eigentlich Pharmazie studiert –, sie reichten aber, um zu wissen, dass dieser Vogel, der manchmal mit dem afrikanischen Pinguin in Verbindung gebracht wurde, obwohl er zu einer anderen Spezies gehörte und im Übrigen ja auch im Nordatlantik lebte, ein legendäres Tier geworden war, seit er an den Küsten Amerikas, wo einmal Hunderttausende Artgenossen gelebt hatten, verschwunden war.

Unterdessen schien dieses Exemplar eines Alkenvogels vor seinen Augen regelrecht zu verrotten, und das war eine Katastrophe. Er fluste und fusselte, alles an ihm war aus dem Lot geraten. Er verkörperte immer weniger das, was von einem Riesenalk erwartet wurde: glatt und glänzend wie der Stoff eines Zylinderhuts hatte er zu sein, und vor allem eine stattliche, würdevolle Erscheinung. Stattdessen flogen seine Federn büschelweise durchs Zimmer, und sein Körper ähnelte inzwischen einer Weltkarte, auf der von zerzausten Daunen bedeckte Kontinente an ozeanische Flächen aus glänzenden Federn grenzten, in einem Chaos ohne jede Logik, das ganz dem terrestrischen Chaos entsprach. Zwei Tage brauchte Gus, bis er begriff, dass sein Riesenalk in der Mauser war. Er hatte wirklich kein Glück. Der Vogel versauerte in seinem Käfig, ohne sich jemals in irgendeiner hübschen Pose zu zeigen, sei es bei der Gefiederpflege, sei es beim freudigen Hinunterschlucken eines zugeworfenen Fischs. Um genau zu sein, war er nur noch ein unförmiges Etwas, die Andeutung eines Vogels, womit kein Zeichner auch nur irgendetwas anzufangen vermochte.

Am vierten Tag weigerte sich der Riesenalk zu fressen.

Dieses Tier ist verstockt, dachte Gus, ihm fehlt es an Intelligenz und Weitsicht, dieses Tier ist dumm, ja, es stirbt lieber, als in einem Käfig weiterzuleben. Gus nahm ihm das übel. Würde ein Mensch denn aufhören zu essen, bloß weil er im Gefängnis saß? Nein. Wenn die Umstände widrig wurden, hatte der Riesenalk eben keine Widerstandskraft, er war defätistisch. Wenn er den Kopf in den Brustfedern vergrub, sah er fast aus wie ein Stück Holz, wie der kultische Gegenstand eines Druiden oder ein zu klein geratener Stein aus Stonehenge.

Jedes Mal, wenn Gus ihn morgens wiedersah, war er verblüfft über seine Größe, bis er sich wieder daran gewöhnt hatte. Er beobachtete ihn, doch erforschen ließ sich dieser Riesenalk nun nicht mehr. Wenn er sich gar nicht bewegte, würde Gus nie erfahren, wie er seine Füße oder Flossen, oder was es nun war, auf dem Boden aufsetzte, wie sich sein Hals beim Gehen verhielt; auch seinen Schrei könnte er nicht korrekt beschreiben. Er würde sich alles ausdenken müssen. Da hatte er nun ein Tier vor der Nase, an das so nah noch nie jemand herangekommen war, und würde, so wie es aussah, seine Beobachtungen manipulieren müssen. Garnier musste er trotzdem schreiben, ihn in Kenntnis setzen, ihn fragen, was er mit dem Vogelbalg tun sollte. Und er musste ihm schreiben, bevor der Vogel starb, sonst würde Garnier ihm womöglich nicht glauben oder ihm gar verübeln, dass er ihn nicht früher benachrichtigt hatte. Garnier könnte ihm sogar vorwerfen, sich nicht anständig um seinen Fund gekümmert zu haben. Gus musste ihm also gleich heute schreiben und den erbärmlichen Zustand des Riesenalks verschweigen oder zumindest nuanciert darstellen, ohne allzu großen Optimismus zu wecken.

Er öffnete den Käfig. Der Riesenalk würde in diesem elenden Zustand nicht fliehen. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch, um ihn in Ruhe zu lassen. Tatsächlich geschah nichts. Das Tier blieb in seinem Gefängnis. Gus ging wieder zu ihm, näherte seinen Zeigefinger einem der Flügel und schob ihn zwischen die kranken Federn, wie man etwas Fremdes, Unheimliches berührt: indem er ihn schnell wieder zurückzog. Aber er hatte die feine, spröde, knochige Struktur des Flügels gespürt. Jetzt erst fiel ihm wieder ein, dass der Vogel auf Eldey am Flügel verletzt worden war. Offenbar hatte er keine Schmerzen, denn er hatte sich nicht bewegt.

Gus begann, Geräusche zu machen, mit denen man Tauben anlockt. Der Riesenalk rührte sich nicht, den Kopf weiter in den Brustfedern vergraben. Leer, dachte Gus – ein leeres, lethargisches Wesen. Er war es leid, ihn zu betrachten, und kehrte an seinen Schreibtisch zurück.

Er schrieb gerade den Brief an Garnier, da ließ ihn ein Geräusch aufblicken. Gut zehn Zentimeter außerhalb des Käfigs war der Riesenalk umgekippt. Panisch zappelnd lag er auf den Tomette-Fliesen wie jemand, der schwimmt, ohne vom Fleck zu kommen. Gus stürzte hin; kaum war sein Fuß in Reichweite des Tiers, reckte es den Hals und versuchte, ihn oberhalb der Achillessehne in den Knöchel zu beißen. Mit leisen, beruhigenden Worten wich Gus zurück. »Ruhig, ganz ruhig.« Er hatte das Gefühl, mit einem Welpen zu sprechen. Das Tier gab krächzende, schrille Laute von sich, die sehr unangenehm waren. Mrs Bridge würde bestimmt in Panik geraten. Der Vogel wand sich auf dem Boden, rutschte von rechts nach links, ohne einen Millimeter voranzukommen. Hin und wieder geriet dabei sein verletzter Flügel unter den Körper, dann wurden die Schreie noch lauter, die Füße zappelten, und eine Kralle kratzte über den Boden.

Irgendwann kam Gus auf die Idee, das Tier von hinten zu packen und auf diese Weise ruhigzustellen, was nicht dumm war. Als er es tat, erschrak der Vogel so sehr, dass er verstummte und sich nicht mehr rührte, fast willenlos in Gus’ Händen, die ihn fest umklammerten. Wahrscheinlich rechnete er mit seinem Tod und hatte sich mit dem unbegreiflichen Schicksal abgefunden, das ihn aus seiner Wasserwelt gerissen und blind für Gefahren gemacht hatte, die tödlich enden konnten. Gus spürte das unter dem nachwachsenden Federflaum pochende Herz, spürte die Haut, deren samtige Textur ihn überraschte, so weich und so glatt wie Ziegenlederhandschuhe, aber vibrierend und bebend wie eine Lokomotive in voller Fahrt. »Ganz ruhig«, wiederholte er. Und dann stellte er den Riesenalk auf seine Füße; er schwankte. Die wenigen Tage in Gefangenschaft, dachte Gus, hatten seine Muskeln geschwächt. Er trug ihn wieder in seinen Käfig, brachte ihm Fische und ließ die Gefängnistür offen.

Auf den Brief konnte er sich jetzt nicht mehr konzentrieren. Wieder am Schreibtisch hörte er nicht auf, den Vogel zu beobachten. Er konnte nicht anders. Er versuchte, einen Satz zu schreiben, doch bevor er so weit war, einen Schlusspunkt zu setzen, betrachtete er schon wieder das Tier, und so kam es zu keinem Schlusspunkt, ja nicht einmal einem Gedankengang, der ihm hätte vorausgehen müssen. Er hörte Mrs Bridge im Haus rumoren, Türen knallen, Möbel verrücken, Teppiche ausschütteln, um ihrer Entrüstung darüber Ausdruck zu verleihen, dass sie gezwungen wurde, dieselbe Luft zu atmen wie dieses wilde Tier, das obendrein laut war. Sie hatte Angst, der Riesenalk hatte Angst, nur Gus blieb gelassen.

Er hatte seinen Brief beiseitegelegt; die Zeit verging, doch er merkte es nicht. Der Vogel streckte den Hals, rieb mit dem Schnabel über den Boden. Er schluckte, erstarrte, stieß einen Schrei aus und schwieg wieder. Gus saß da, neigte den Kopf nach links und nach rechts, während er die Bewegungen des Vogels verfolgte, und beugte den Oberkörper über den Tisch, um ihn aus größerer Nähe zu beobachten, ohne ihn zu stören. Plötzlich knallte die Haustür. Diesmal stand Gus auf und verließ sein Arbeitszimmer, doch das einzige, was er noch sah, war Mrs Bridges Kittel, der an der Klinke der Eingangstür hing wie eine vom Feind als Kriegserklärung gehisste Flagge. Am Fenster sah Gus die alte Dame energischen Schrittes durch die Eingangspforte marschieren. Die flatternden Spitzenbänder ihrer Haube erinnerten ihn an eine sturmgebeutelte Vogelscheuche.

Er kehrte wieder an seinen Schreibtisch zurück. Er hatte keine Zeit, ihr hinterherzulaufen; er konnte den Riesenalk ja nicht allein lassen. In Wirklichkeit stellte sich die Frage gar nicht: Kaum hatte er wieder den Blick auf das Tier gerichtet, beobachtete er wie gebannt jede noch so kleine Bewegung, auch wenn sie dem, was er schon gesehen hatte, ähnlich war, doch sobald sich das Licht veränderte, sobald der Schnabel mit größerem oder geringerem Nachdruck durch das Gefieder fuhr, war wieder alles anders. Zeit verging. Schließlich kam der Vogel aus seinem Käfig und machte erst zwei, dann drei seiner schaukelnden Schritte, den gesunden Flügel leicht abgespreizt. Ohne lange nachzudenken, griff Gus nach einem Fisch, trat näher und legte ihn in einem Meter Entfernung vor dem Riesenalk auf den Boden. Dann hockte er sich nieder. Das Tier wartete, tat einen Schritt, wartete wieder, tat noch einen Schritt.

Sein Schnabel zeichnete sich deutlich vor der weißen Zimmerwand ab. Damit ihm keine von Gus’ Bewegungen entging, hatte der Riesenalk ihm sein Profil zugewandt und fixierte ihn mit einem Auge, während der Körper ihm mehr oder weniger direkt zugewandt blieb. So hatte Gus seinerseits Gelegenheit, die Iris des Vogels zu betrachten, deren Braun ziemlich hell war, jedenfalls heller als die Pupille. Das überraschte ihn. Was die Augen des Tiers betraf, war er bisher von einem einheitlichen Dunkelbraun ausgegangen. Um die Iris herum zog sich zudem ein milchiges Band, das sich im Augenweiß auflöste, auch dies nur ein schmaler Ring. Das alles irritierte Gus immer mehr. Er entdeckte einen intelligenten, zwar misstrauischen, vor allem aber tiefgründigen Ausdruck im Blick dieses Vogels. Der Riesenalk schien nachzudenken, schien sein unbekanntes Gegenüber zu taxieren, ohne dabei zurückzuweichen, was zudem eine gewisse Courage verriet. Während Gus also forschend in das Auge eines durch und durch instinktgeleiteten Tieres blickte, hatte er dennoch das Gefühl, dass hier ein denkendes, mutiges Wesen vor ihm stand, ein Wesen, das die Rätsel und Gefahren zu bewerten schien, die er, Gus, für sein Leben darstellte. Und das alles nur wegen einer halbwegs hellen Iris, wie er sie schon hundertfach in den Augen von Freunden gesehen hatte, ohne je darüber nachzudenken.

Vielleicht machte ihm auch nur die Einsamkeit langsam zu schaffen, und dass ein Auge ihn derart beeindrucken konnte, lag einfach daran, dass dieses Auge lebte und ihn, Gus, wahrnahm. Plötzlich fiel ihm auf, dass die beiden weißen Flecken im Gefieder, die Flecken zwischen Schnabel und Augen, verschwunden waren. Es war ein Schock. Jetzt ging es nicht mehr um tiefgründige Blicke, um Wesen, die sich gegenseitig wahrnahmen und taxierten. Es ging jetzt um ein Tier, das sich verändert hatte, nicht um ein Tier, das in der Mauser war, sondern um ein Tier, dem ein grundlegendes Beschreibungsmerkmal abhandengekommen war. Gus ging zu seinem Schreibtisch, um diese Beobachtung in einem Heft zu notieren, doch während er noch schrieb, überlegte er sich schon, dass er seinen Riesenalk weiterhin mit den gut identifizierbaren Flecken zeichnen würde, diesen weißen Ovalen neben einer hellen Iris, die wie ein Ring die kleine, dunkle Pupille umschloss.

Es war schon fünf Uhr nachmittags und noch hell. Der Vogel war immer noch in Bewegung und watschelte nun an der hinteren Zimmerwand entlang. Wenn ihm dabei ein Gegenstand begegnete – eine Kommode oder ein Stuhl –, setzte er seinen Schnabel ein, als wollte er prüfen, aus welchem Material das Möbelstück gemacht war. Um halb sechs hatte er die sechs Breitenmeter des Zimmers durchkämmt. Zehn Minuten später klopfte es an der Tür. Durchs Fenster erkannte Gus den Notar von Stromness, Mr Buchanan. Der Riesenalk musste sofort in den Käfig. Gus stürzte sich auf ihn, packte ihn von hinten und hob ihn wie eine Ente vom Boden hoch. Es ging so schnell, dass der Vogel offenbar keine Zeit hatte, sich darauf einzustellen. Er gab einen leisen Schrei von sich, einen resignierten, fassungslosen Laut, während die Füße samt Krallen vor Gus’ Bauch ruderten.

Als an der Tür Buchanans zweite, glücklicherweise höfliche Klopfsalve ertönte, rief Gus: »Ich komme!« Er hielt das Tier immer noch fest, den einen Arm um die Flügel geschlungen, den anderen um den Hals. Er spürte das Zucken, das durch den angespannten Körper des Vogels ging und so schicksalsergeben war wie der leise Schrei. Vor der Käfigtür sah die Sache allerdings anders aus. Gus gelang es nicht, jedenfalls nicht schnell, den Riesenalk so zu verbiegen, dass er sich hindurchbugsieren ließ. Wahrscheinlich vor Angst, vielleicht auch absichtlich, um nicht verletzt zu werden, ließ der Vogel seinen Körper mit einem Mal so erschlaffen, dass es fast unmöglich wurde, dieses lappenartige Etwas, in das er sich verwandelt hatte, durch die Käfigtür zu schieben. »Ich komme!«, rief Gus noch einmal in Buchanans Richtung, aber langsam wurde er nervös und merkte, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Rasch stopfte er den Kopf des Vogels durch die Tür und schob das sich wehrende, zappelnde Gesäß hinterher. Der Riesenalk verharrte in einer erbärmlichen Haltung, als Gus die Käfigtür abschloss und Richtung Haustür hastete.

Sie saßen in der kleinen Wohnstube; ein Getränk hatte keiner der beiden vor sich. Die beiden Männer waren etwa gleich alt, worüber Gus sich ärgerte. Natürlich hatte Mrs Bridge Buchanan zu Hilfe gerufen, denn sie war höchst empört, einem Tier das Feld räumen zu müssen, noch dazu einem Tier mit Entenfüßen, einem Schnabel wie dem eines Adlers und einem Körper wie eine Suppenterrine, an der statt Griffen Flügel befestigt waren, kurzum eine Art Vogel, der nicht einmal fliegen konnte und boshaft zu sein schien. Aus ihrer Sicht hätte sie genauso gut einem Schnabeltier begegnen können, mit anderen Worten einem Tier, von dem sie sich niemals vorgestellt hätte, dass es überhaupt existierte.

»Sie sollten sie beruhigen und ihr zeigen, dass Sie sie respektieren«, sagte Buchanan, als könnte er mit seinen gerade mal fünfundzwanzig Jahren einem Dreiundzwanzigjährigen Ratschläge erteilen. »Alte Frauen können hier bemerkenswert viel Unheil anrichten, aber sie geben sich auch schnell geschlagen, das werden Sie sehen.«

Tief eingesunken in ihre Sessel saßen die beiden vor dem erloschenen Kamin. Buchanan drehte sich eine Zigarette, was seinen langen weißen Fingern eine Beschäftigung gab. Sie passten zu seinem nicht minder langen weißen, in Teilen rosafarbenen Gesicht, das nun über das Zigarettenblättchen gebeugt war. Gus fragte sich, ob er hergekommen war, um ihm Benimmregeln im Umgang mit den Bewohnern dieser abgelegenen Insel beizubringen, die so in Nebel gehüllt war, dass sie schwerelos über der Welt zu schweben schien. Allerdings wusste er ja, dass Buchanans langsame Gesten nur dazu dienten, Zeit und Sympathie zu gewinnen, bevor er das eigentliche Thema seines Besuchs anschneiden würde. Gus hätte es genauso gemacht, nur dass er in diesem Moment an sein Tier dachte, das so erbärmlich in dem abgeschlossenen Käfig lag. Er betrachtete es nicht als Verstoß gegen die guten Sitten dieser entlegenen, rückständigen Stadt, ein außergewöhnliches Vogelexemplar bei sich zu halten, und daraus machte er auch keinen Hehl. Er war der Meinung, dass Mrs Bridge keinen Grund hatte, sich verletzt oder schlecht behandelt zu fühlen. Aber er hatte auch keine Lust, der Neugierde einer infolge jahrhundertelangen Sonnenentzugs anämischen Standesperson nachzugeben.