Der letzte Winter - Åke Edwardson - E-Book

Der letzte Winter E-Book

Åke Edwardson

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Beschreibung

Ein kalter Dezembertag. Völlig in sich versunken spielt Erik Winters Tochter am Strand. Da treibt plötzlich ein Toter im Wasser. Tagelang quälen die kleine Elsa Alpträume. An Heiligabend erhält Erik Winter eine DVD, mit der ihm der Killer einen weiteren Mord ankündigt. Hilflos muss Winter zusehen, wie das Böse in sein Leben eindringt.

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Åke Edwardson

Der letzte Winter

Kriminalroman

Aus dem Schwedischenvon Angelika Kutsch

Ullstein

Die Originalausgabe erschien2008unter dem TitelDen sista vinternbei Norstedts, Stockholm.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie

etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder

Übertragung können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

ISBN978-3-8437-0064-1

©2008und2009by Åke Edwardson

© der deutschsprachigen Ausgabe

2010by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

Für Rita

1

Der Notruf ging um05:32:18 Uhr ein: »Meine Lebensgefährtin reagiert nicht.« In diesem Augenblick war der exakte Zeitpunkt nicht von Bedeutung, er würde erst später wichtig, wenn die Ermittlung in die Phase Wann, Wie und Wer übergegangen war. Und möglicherweise Warum. Wenn überhaupt Ermittlungen nötig sein würden. Vielleicht waren die Umstände schon in dem Moment sonnenklar, als das Ereignis eintrat. Doch während der Streifenwagen in südlicher Richtung durch den Dezembermorgen fuhr, war noch alles unklar. Womöglich würde es ein schöner Tag werden, auch das konnte niemand mit Gewissheit vorhersagen. Der Meteorologe hatte sich nicht festgelegt. Die junge Polizistin Gerda Hoffner nahm einen Duft von Herbst wahr, der noch in der Luft hing, den süßen Duft von Oktober mitten im Dezember, wie ein Überbleibsel des Jahres, das bald zu Ende ging. Das neue Jahr würde vielleicht schön werden. Dieser Fall würde bald zu den Akten gelegt werden, wie man in der Ermittlungssprache sagte. Ihre Sprache war das nicht. Sie wollte die Sache nur so schnell es ging hinter sich bringen. Sie und Johnny, der neben ihr saß und die Hausfassaden nach der richtigen Nummer absuchte. Johnny Eilig, den Spitznamen hatten sie ihm innerhalb kürzester Zeit verpasst. Schnellstmöglich wollte sie in diese Wohnung, dann wollte sie nach Hause. Heute Nachmittag würde sie zehn Kilometer joggen, Påvelund, Ruddalen, langsam. Und danach würde sie sich hinlegen.

Sie hatte Angst. Zum ersten Mal würde sie dem Tod begegnen.

»Da!« Eilig zeigte auf eine Haustür mit zwei verschnörkelten Zahlen über dem Eingang, die wie aus Gold geschmiedet aussahen. Die Tür wirkte gleichzeitig einladend und abweisend. Einladend für diejenigen, die wussten, dass sie hier wohnten, und den Abschaum abweisend, der nach dem Freitagsbesäufnis von der Avenyn in diese Gegend gespült wurde. Ich gehöre nicht hierher, dachte sie, als sie aus dem Auto stieg. Ich habe nie hierher gehört, habe noch nie ein Haus in Vasastan betreten. In diesem Stadtteil macht die Polizei selten Hausbesuche.

Gerda Hoffner gab den Code ein, und irgendwo in der massiven Tür klickte es. Johnny drückte die Klinke herunter.

»Immerhin hat er sich an den Code erinnert«, sagte er.

»Warum sollte er nicht?«

»Neben sich die tote Freundin, da ist es nicht sicher, dass einem überhaupt noch was einfällt. Zum Beispiel der Türcode.«

Sie standen im Treppenhaus, das groß war wie ein Ballsaal. Gerda Hoffner sah sich um. Überall funkelte es golden und silbern. Aschenputtel auf dem Ball, dachte sie. Und ich hab jetzt schon aufgescheuerte Füße. Die neuen Stiefel sind zu klein, das habe ich sofort gemerkt. Warum habe ich nichts gesagt? Doch an so etwas sollte man in einem Augenblick wie diesem nicht denken. Andererseits ist es vielleicht ganz gut. Am liebsten würde ich an gar nichts denken. Das Treppenhaus ist unheimlich, kein angenehmer Aufenthaltsort. Ich habe noch nie solche Angst gehabt. Was erwartet uns? Sie schaute hinauf zur Decke über den Treppen. Was würden sie dort oben vorfinden? Sie lauschte, konnte aber keine Krankenwagensirene hören, auf der Straße war es still. In diesem Augenblick sehnte sie sich richtig nach dem Geheul, es würde den Morgen zerschneiden, in den Morgen kreischen, alle wecken, die in diesem hübschen Haus wohnten. Für sie wäre es ein beruhigendes Geräusch.

»Dritter Stock«, sagte Johnny. »Wollen wir den Fahrstuhl nehmen?«

Der Fahrstuhl sah aus wie aus dem vorvorigen Jahrhundert, und so war es sicher auch. Das ganze Haus stammte aus dem vorvorigen Jahrhundert. Es war für Reiche gebaut worden, und Reiche wohnten noch immer hier. Aber im dritten Stock hatte jemand alles hinter sich gelassen, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Die Wände waren mit Ornamenten bedeckt, hundert Jahre alte Muster, dieser Kunststil hatte einen Namen. Es war ein deutsches Wort, das in viele Sprachen übernommen worden war, etwas mit Jugend. Eine alte Kunst in einem alten Haus mit einem Namen, der etwas mit Jugend zu tun hatte. Die Ornamente glitten abwärts an den blassen Wänden, glitten aufwärts, kreisten um die Treppen und den Fahrstuhl.

»Kein Fahrstuhl«, sagte sie. »Ich will nicht auf halbem Weg stecken bleiben.«

Johnny, dieSIGSauer schon in der Hand, ging auf die Marmortreppen zu. Er hatte es wieder eilig. Sie folgte ihm. Sie trug den Werkzeugsatz für Polizisten und Kriminelle: Axt, Kuhfuß, Meißel, Stemmeisen, alles in einem. Einbrecher verwendeten ein neueres Modell. Von irgendwo hörte sie Geräusche, vielleicht eine Tür, die geöffnet wurde. Es klang, als käme es von ganz oben. Gerda Hoffner sah auf ihre Armbanduhr. Für manche begann der Morgen jetzt oder bald, womöglich auch in diesem Haus. Vor ihrem inneren Auge hatte sie jedoch ein Bild von langsam vergehenden Vormittagen in riesigen sonnendurchfluteten Zimmern, Morgenmäntel aus Seide, ein silbernes Teeservice auf einem silbernen Tablett, das auf einem silbernen Tischchen stand. Vielleicht hatte sie das Bild in einem Film gesehen, etwas Englisches. Englische Einflüsse gab es auch in dieser Stadt. London und Klein-London. Nicht, dass sie viel darüber wusste. Sie wusste mehr über Deutsches, doch davon gab es nicht mehr viel in ihrer Umgebung. Alles Deutsche war mit ihren Eltern verschwunden, als sie nach Leipzig zurückgekehrt waren. Klein-Leipzig. Ich muss jetzt alles richtig machen, dachte sie, während sie die Stufen hinaufstieg. Ganz wach sein. Ich muss genau hinschauen. Ich muss mehr sehen als hören. Jetzt muss ich mich auf meine Augen verlassen, sie dürfen mich nicht im Stich lassen.

Sie hatten den dritten Stock erreicht, wo es drei Türen gab. Eine von ihnen stand einen Spaltbreit offen. Sie wirkte genauso massiv wie die Haustür. Dunkles Holz, das wie Eisen aussah. Gerda Hoffner spürte einen Luftzug am Hinterkopf, als würde jemand ein Stück Stoff über ihren Schädel ziehen. Das war die Angst. Sie fühlte den Pistolenkolben in ihrer Hand. Er war kalt wie Eisen. Eisen kann einen beruhigenden Effekt haben.

Plötzlich verlosch das Licht im Treppenhaus.

Aus dem Türspalt sickerte ein Lichtstreifen.

Es sah sehr unheimlich aus. Wie eine Schlange, dachte sie, die sich auf uns zuschlängelt. Sie konnte Johnnys Profil sehen. Er scheint es nicht mehr eilig zu haben. Er hat genauso viel Angst wie ich. Sie hörte ein Geräusch aus der Wohnung.DieWohnung. Das da ist nicht irgendeine Wohnung, dachte sie. Das Geräusch klang wie Schluchzen oder ein tiefes Luftholen. Es sickerte heraus zusammen mit der elektrischen Schlange. Da war es wieder. Jetzt schwang etwas anderes darin mit, vielleicht ein langsamer Schrei. Es war Angst. Sie wusste, was Angst war.

»Er ist jedenfalls zu Hause«, sagte Johnny leise. Sie hörte die Nervosität in seiner Stimme. Es waren nassforsche Worte, aber die Stimme verriet ihn. So war es immer, die Stimme verriet alles. Johnny rührte sich nicht. Sie ging an ihm vorbei und schob die Tür mit dem Pistolenlauf etwas weiter auf. Das bösartige Licht wurde stärker, aber es blendete sie nicht. Sie sah den Vorraum, dort ein Stuhl, da ein kleiner Tisch, ein Stück entfernt etwas an der Wand, an der Decke ein Kristallleuchter. Es war genau so, wie sie es erwartet hatte, schon im Vorraum ein Kristallleuchter. Der Vorraum schien so groß wie ihre ganze Wohnung zu sein. Bis zu dem Zimmer, von dem sie einen Ausschnitt sah, waren es etwa fünfzehn Meter. Auf dem Fußboden spiegelte sich der Glanz einer Fensterscheibe. Auch in dem Zimmer brannte Licht, schwächer als das Licht im Vorraum. Wieder hörten sie das Geräusch, es klang nicht richtig menschlich. Was immer menschlich sein mochte. Auch das hatte sie schon in diesem Job erfahren, der schwerer war, als man ihnen an der Polizeihochschule erzählt hatte. Menschlichkeit trat in vielen verschiedenen Gestalten auf. Gewändern. Verschiedenen Schreien. Da war es wieder. Es war wie Gegenwind, der sie daran hinderte, sich von der Stelle zu rühren.

»Scheiße«, sagte Johnny, ging an ihr vorbei und weiter in die Wohnung hinein.

Der Schrei kam ihm entgegen, kam ihr entgegen. Jetzt war gar nichts Menschliches mehr darin. Sie machte einen Schritt vorwärts, gegen den Wind.

Er ließ sich in die Dunkelheit sinken. Er konnte nicht mehr sehen. Es gab kein Licht mehr. Bis in alle Ewigkeit würde er in Dunkelheit leben müssen. Und das war das Schlimmste von allem. Dass er leben würde.

»Erik? Erik?!«

Er hörte sie mitten in seinen eigenen Schreien rufen. Noch immer befand er sich tief am Grund seines Alptraums. Sie stand oben am Rand des Grabes und versuchte, ihn mit Rufen zu erreichen. Und er hatte es gehört. Ihr Rufen hatte ihn wieder hinaufgezogen. So war es gewesen.

»Erik, was ist? Erik?«

Und er war wieder zurück in der Welt. Danke, lieber Gott, danke für Alpträume, dachte er. Sie lassen einen aus der Hölle zum wirklichen Leben erwachen. Was für eine Erleichterung. Freu dich, dass du am Leben bist, Junge. Da unten ist es finster.

»Alles … okay«, sagte er.

Sie strich ihm über die Stirn. Er schwitzte wie ein Schwein. Alpträume waren Schwerstarbeit.Workoutin der Hölle.

»Das muss ja ein verdammt schlimmer Traum gewesen sein«, sagte sie und fuhr fort, ihm über die Stirn zu streichen. Angela fluchte selten, aber manchmal gab es keinen treffenderen Ausdruck.

»Ich muss von meiner eigenen Beerdigung geträumt haben«, sagte er und legte seine Hand auf ihre. »Sie hatten gerade den Sarg hinuntergelassen.«

Angela schwieg. Jetzt merkte er, dass seine Hand sehr kalt und ihre sehr warm war. All sein Blut war zu der Zentrifuge geströmt, die sein Herz war. Noch ein paar derartige Monsterträume, und er würde etwas gegen Bluthochdruck schlucken müssen.

»Ich war blind«, sagte er. »So eine Dunkelheit habe ich noch nie gesehen.« Er schaute sie an. »Falls man Dunkelheit sehen kann. Ich habe sie jedenfalls gesehen.« Er hörte seine eigene Stimme, sie klang sehr dünn, sehr fern. »Da unten war es schwärzer als schwarz. Und dann konnte ich gar nichts mehr sehen.«

Sie nickte.

»So ist das jetzt für Lars«, fuhr er fort. »Er kann nichts mehr sehen.«

Träume folgen keinem Drehbuch, darum sind es ja Träume. Sie sind die totale Improvisation. Aber sein Traum basierte auf der Wirklichkeit. Erst vor einigen Tagen, oder waren es Wochen, hatten sie Lars Bergenhem begraben. Erst vor einigen Monaten. Bergenhem war fast genauso lange Kriminalinspektor wie Erik Kriminalkommissar beim Fahndungsdezernat des Göteborger Landeskriminalamtes gewesen. Fast fünfzehn Jahre. Lange Jahre, kurze Jahre, schöne Jahre, hässliche Jahre. Dieses Jahr war ein hässliches, ein schreckliches Jahr gewesen. Bergenhem hatte gelebt, und dann war er gestorben. Er war in die Dunkelheit hinuntergezogen worden. Wirklich unter die Oberfläche. Winter hatte seine Leiche im Arm gehalten. Eine entsetzliche Minute lang. Und dann, Minuten, Stunden, Tage, Wochen danach hatte Winter sich wie betäubt gefühlt, aber er hatte gelebt.

Und alle hatten Bergenhem in seinem Sarg in der Erde versinken sehen. Immer wieder träumte Winter davon. Er hatte sich Vorwürfe gemacht. Da war etwas, das er nicht gesagt, nicht getan hatte. Etwas, das Lars hätte zurückhalten, vielleicht aufhalten können. Es hatte eine Sekunde oder eine Minute gegeben, in der Winter alles hätte verhindern können. Ein winziger Moment auf Erden. In Gedanken war er immer wieder zu diesem Moment zurückgekehrt. Er war in seinen Träumen zugegen. Aber er wusste, dass die Träume ihn irgendwann verlassen würden. Das wurde ihm allmählich klar. Er lebte, wo ein anderer sein Leben beendet hatte, und Bergenhems Tod hatte ihn selber erlöst. Auch das begriff er jetzt. In dem vergangenen furchtbaren Jahr hatte er eine Art Lebenskrise durchgemacht, das war ihm bewusst geworden. Er war zu etwas unterwegs gewesen, oder von etwas weg, und er hatte die Bewegung nicht stoppen können. Es war eine private Hölle gewesen, eine Hölle, die er für sich selbst und seine Nächsten erschaffen hatte: Angela, die seine beste Freundin und seit der ausgelassenen Trauung an der Costa del Sol auch seine Frau war, und seine beiden Kinder, Elsa und Lilly. Du lieber Gott. Er war auf dem besten Weg gewesen, sich sein eigenes Grab zu schaufeln. Über längere Zeit hatten ihn heftige Kopfschmerzen gequält, eine Art mystische Migräne. Vielleicht. Sie war in der Minute verschwunden, als er Bergenhems Körper gehalten hatte, und war nicht wiedergekommen. Sicherheitshalber hatte er sich hinterher untersuchen, seinen Schädel durchleuchten lassen. Es gab keine Tumore, weder gutartige noch bösartige. Keine Entzündungen im Gehirn, abgesehen von der, die er selbst verursacht hatte, die fiebrige Reise ins Nichts. Also hatte ihm Bergenhems Tod das Leben zurückgegeben. Als ihm die Erkenntnis zum ersten Mal aufgegangen war, war sie ihm melodramatisch vorgekommen, albern, pathetisch, aber es war die Wahrheit. Bergenhem hatte ihn erlöst und ihn durch seinen Tod wieder zu einem fast glücklichen Menschen gemacht. Sich dessen bewusst zu sein war das Schlimmste von allem. Er war kein fast toter Mann mehr. Er würde weiterleben, weiterarbeiten. Bergenhems Tod hatte nicht nur ihn erlöst. Alle seine Mitarbeiter der Fahndung hatten gleichzeitig die große Krise ihres Lebens durchgemacht. Hinterher war ihm klargeworden, dass das nichts Ungewöhnliches war. Ein seit langem zusammengeschweißtes Kollektiv entwickelt kollektive Krisen, jeder Einzelne auf seine eigene Weise. Wenn es bei dem einen schiefging, ging es auch bei allen anderen schief, aber auf unterschiedliche Art. Vielleicht trug er die größte Schuld. Er war mit schlechtem Beispiel vorangegangen. Er war der Chef. Doch jetzt hatte das alles ein Ende. Er hatte sein Leben zurückbekommen. Eher ein Melodram.

Er lächelte.

»Worüber lächelst du, Erik?«

»Dass ich ein begrabener Mann war«, sagte er.

»Darüber kann man sogar laut lachen.«

»Wir lachen viel zu selten«, sagte er.

»Es ist ja noch nicht zu spät.«

Noch nicht, dachte er, aber das waren genau die Art Gedanken, die er nicht denken sollte. Er müsste jeden Moment darüber jubeln, dass er noch lebte. Fast jeder Schmerz war besser als der Tod, aber die verdammten Kopfschmerzen wollte er trotzdem nicht wiederhaben. Er wollte Neues beginnen. Man sollte alles wenigstens einmal im Leben ausprobieren, außer Inzest und Volkstanz.

»Es ist nie zu spät«, sagte er. »Und jetzt schlafen wir noch ein bisschen. Ohne Träume.«

»Wollen wir nach dem Frühstück ans Meer fahren?«, fragte sie.

»Gute Idee.« Er dachte an den Wind, den Strand, den milden Himmel und den Duft von feuchtem Salz. Dezember war einer der schönsten Monate.

Gerda Hoffner und Johnny Eilig durchquerten den Flur. Sie kamen an der offenen Küchentür vorbei. Gerda Hoffner sah glänzende Flächen, Stahl, Holz, aber auch Ziegel: eine moderne Küche in einem alten Haus. Klar, so war es vermutlich immer gewesen. Die Reichen besaßen das Neueste stets als Erste. In der Küche brannte Licht, ein fast punktförmiges Licht, das von Spotlights an der Decke oder den Wänden zu kommen schien. Sie sah eine Flasche Wein auf einer Arbeitsplatte, daneben ein Weinglas. Sonst stand nichts herum. Das Licht strich durch den Wein in der Flasche, Gerda Hoffner musste an Bernstein oder Rubine denken. Sie hatte noch nie an Rubine gedacht. Sie trank selten Wein, und wenn, dann weißen.

Der Schrei war jetzt sehr nah. Sie näherten sich dem Zimmer am Ende der Diele.

»Hilfe!«, hörten sie. »Hilfe! Helft mir!«

Jetzt waren sie im Zimmer. Es war ein Schlafzimmer. Sie versuchte, alles auf einmal zu erfassen. Vielleicht würde sie später danach gefragt werden. Als sie den Notruf angenommen hatten, waren sie auf der Allén gewesen, mutterseelenallein auf sämtlichen Fahrspuren. Es war die Stunde vor der Morgendämmerung gewesen. Für die Allgemeinheit würde der Morgen in einer halben Stunde beginnen. Ein Notruf aus einer Wohnung in Vasastan. Ein Todesfall. Ein Mann hatte die Nummer 112gewählt. Wer ist gestorben? Das war noch unklar. Auch die Todesursache war unbekannt. Der Mann war erregt gewesen, so hatte es der Wachhabende ausgedrückt. Der Anrufer habe »verwirrt« gewirkt.

»Angeturnt?«, hatte Gerda Hoffner gefragt.

»Can’t say«, hatte der Wachhabende geantwortet, als ginge es hier um den Hill Street Blues. Als befänden sie sich im New York der siebziger Jahre. Gerda Hoffner war im letzten Jahr der Siebziger geboren, aber es war trotzdem ihr Jahrzehnt, alles war frecher gewesen in den Siebzigern. Jetzt, dreißig Jahre später, erlebten sie eine Renaissance. Wer hätte das gedacht?

Und nun sahen sie den Mann. Er saß kerzengerade auf der einen Seite des Doppelbettes, die Beine gekreuzt wie in Yogahaltung. Aber das war kein Yoga. Er starrte sie und Eilig wie die Fremden an, die sie waren. Ihre Uniformen spielten keine Rolle. Gerda Hoffner betrachtete das Wesen neben dem Mann. Es war eine Gestalt, ein Körper. Sie sah die Konturen unter dem Betttuch. Auf dem Fußboden lag eine Decke. Undeutlich nahm sie ein Gesicht wahr, die Umrisse eines Armes, einer Hand. Vielleicht sagte der Mann etwas, sie hörte es nicht. Rasch ging sie auf das Bett zu, um die Hand der Frau anzuheben und den Puls zu prüfen. Aber in dem Moment, als sie die Haut berührte, wusste sie, dass in diesem Körper kein Puls mehr schlug. Die Haut fühlte sich entsetzlich kalt an, wie Porzellan, obwohl es sehr warm im Zimmer war. Dieses Herz schlägt nicht mehr, dachte sie. Das Gesicht, du lieber Gott! Ich sehe die Leichenflecken! So sehen also Leichenflecken aus.

Ein Teil des Kopfes war mit einem Kissen bedeckt.

Der Mann am Bettrand streckte die Arme zur Zimmerdecke. Sie konnte nicht anders, sie musste hinaufschauen. Bis zur Decke waren es einige Meter. Da oben hing ein Kristalllüster. Er sah aus wie ein blitzendes Raumschiff, im Begriff, dieses Zimmer in Besitz zu nehmen. Es war ein enormes Zimmer. Das Doppelbett war nicht klein, aber es war nur eines der Möbelstücke im Raum, die sich gewissermaßen in alle Richtungen über den glänzenden Holzfußboden verteilten. Sie sah einen Tisch, einige Stühle, Bilder an den Wänden. Auf den Nachttischchen Bücher, ein Telefon, Leseleuchten. Sie sah die Flügeltür zum Balkon. Der auch nicht gerade klein zu sein schien. Draußen war es noch immer dunkel. Es war Winter. Auf der Fahrt durch die Stadt war ihr durch den Kopf gegangen, dass dies die erste Winternacht war, und bald würde der erste Wintertag anbrechen. Einmal musste der Winter ja beginnen, und das war jetzt.

Der Mann senkte die Arme.

»Ich war es nicht!«, sagte er. »Ich habe es nicht getan!« Er sah sehr jung aus, fast wie ein Oberschüler. Auch das tote Gesicht der Frau wirkte noch jung.

»Was getan?«, fragte Johnny.

Der Mann deutete mit zitterndem Finger auf die Gestalt, die neben ihm lag.

»Madeleine! Ich war es nicht! Sie war einfach … sie war … sie ist … sie ist …«

Er zitterte noch stärker, und plötzlich wurde sein Körper von Weinattacken geschüttelt.

»Madeleine! Madeleine!«, rief er.

Er hat ihr das Kissen aufs Gesicht gelegt, dachte Gerda Hoffner. Warum hat er das getan? Wieder zeigte der Mann auf die Frau. Oder das Kissen. Vielleicht wusste er, was Gerda Hoffner dachte. Vermutlich war er noch nicht einmal dreißig. Aus den achtziger Jahren oder wie sie aus den späten Siebzigern. Seine langen Haare fielen ihm in Strähnen ins Gesicht. Normalerweise trägt er es zurückgekämmt, dachte sie. So ein Typ ist er. Ein Totschlägertyp. Er hat es nicht geplant, oder vielleicht doch? Es geht um Macht. Diese Affäre hat vielleicht in einer Kneipe angefangen, vor einem Jahr oder zwei, oder im vergangenen Herbst. Mit Drinks, die er ihr spendiert hat. Immerhin kennt er ihren Namen.

»Das Kissen … es lag auf ihrem Kopf, als ich wach wurde.« Jetzt starrte der Mann Johnny an. Ein Mann, ein anderer Mann. Er würde ihn verstehen.

»Ich bin aufgewacht, und da lag sie dort! Mit dem Kissen auf dem Gesicht!«

»Klar«, sagte Johnny.

»Das ist wahr! Ich schwöre es!«

Der Mann stand auf, nein, er warf sich förmlich aus dem Bett. Er war nackt. Ihm war überhaupt nicht bewusst, dass er nackt vor zwei Fremden stand, es war ihm egal. Er war erregt, verwirrt, selbstverständlich war er das. In den Augen der Fremden war er schuldig, das spürte er. Ihre Uniformen waren Uniformen des Feindes.

»Haben Sie keine Unterhose?«, fragte Johnny.

»Was?« Der Mann hatte einen Schritt auf sie zu gemacht, jetzt blieb er stehen und sah an sich hinunter, auf sein Geschlecht, seine Nacktheit. »Äh … ja … klar.«

Er bückte sich und hob Boxershorts vom Boden auf, zog sie an.

Dann beugte er sich über das Bett und nahm das Kissen vom Gesicht der Gestalt.

»Lassen Sie das!«, rief Gerda Hoffner.

Der Mann schaute sie an, das Kissen in den Händen.

»Ich habe es vorhin schon einmal angefasst.« Seine Stimme klang plötzlich ruhiger. »Als ich aufgewacht bin. Als ich … bevor ich die Polizei angerufen habe. Sie lag da mit dem Kissen auf dem Gesicht, und ich habe es weggenommen. Es … es ist nicht gut, ein Kissen auf dem Gesicht zu haben. Man kann … man kann …« Er verstummte, und sein Körper bebte, als wäre er von einem schweren Schlag getroffen worden.

Er ließ das Kissen los. Lautlos fiel es auf das Bett. Nun sah Gerda Hoffner das ganze tote Gesicht. Sie hätte gern darauf verzichtet. Schließlich sah sie den bösen jähen Tod. Für sie: der erste Tod. Aber er war nicht jäh gekommen. Er sah nicht einmal böse aus. Das Gesicht war ruhig, still, friedlich, keine Aufregung, keine Verwirrung. Es war das Gesicht einer Frau. Madeleine. Es gab keinen Anlass zu glauben, dass sie nicht Madeleine hieß. Madeleine geheißen hatte. Aber ihren Namen hatte sie immer noch, den würde sie mit ins Grab nehmen und auch weiter behalten. Um die dreißig, gerade am Anfang des Lebens. Mein Alter, dachte Gerda Hoffner. Vielleicht sind wir gleich alt. Auch der Mann betrachtete das Gesicht, auch er plötzlich ganz ruhig. Hatte er sich mit dem abgefunden, was er getan hatte? Schon? Er schaute auf.

»Haben Sie Wiederbelebungsversuche unternommen?«, fragte Gerda Hoffner.

»Ich war es nicht«, sagte er. »Ich habe es nicht getan.«

Warum sagte er das? Was wusste er von dem, was in dieser Nacht passiert war? Warum sprach er davon, als wäre es Mord, keine Krankheit? Gerda Hoffner musterte Madeleines Hals. Er wirkte … unberührt. Weiß oder vielleicht schwach bräunlich auf dem weißen Laken. Sie konnte keine Flecken entdecken, aber es war ja nicht ihr Job, nach derartigen Spuren zu suchen. Ihr Job war jetzt im Großen und Ganzen erledigt. Vermutlich würde sie den Mann nie wiedersehen und Madeleine mit Sicherheit auch nicht.

»Wir wollten heiraten«, sagte der Mann.

Plötzlich hatte Gerda Hoffner genug von seiner Namenlosigkeit.

»Wie heißen Sie?«, fragte sie.

Johnny warf ihr einen raschen Blick zu.

»Martin Barkner«, antwortete der Mann wie aus der Pistole geschossen, als würde er sich in einer formellen Situation vorstellen. Es war eine formelle Antwort, als wäre alles zur Normalität zurückgekehrt, dorthin, in den vorherigen Zustand. Als würde er in Unterhosen in einer Bank stehen, halbnackt vor einem Bildschirm bei der Börse sitzen. Als würde alles normal werden in einer extremen Situation wie dieser, in der das Absurde und Normale zu einer Art Surrealismus zusammenflossen, ein verrückter Traum, der vollkommen normal wirkte, wenn man sich mittendrin befand.

»Martin Barkner«, wiederholte er. Er schaute sie an. »Was passiert jetzt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Kommt … kommt jemand und holt … Madeleine ab?«, fragte er, ohne die Leiche anzusehen.

Gerda Hoffner nickte.

»Bald werden viele Menschen hier sein«, sagte sie.

»Ich kann nach Hause zu meinen Eltern fahren«, sagte Barkner.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte Johnny.

»Wenn alle hier sind … kann ich zu meinen Eltern fahren«, wiederholte Barkner. »Ich habe dort ein Zimmer.«

Johnny Eilig sah Gerda Hoffner an und dann wieder Barkner.

»Sie müssen uns zur Kriminalpolizei begleiten«, sagte Johnny. »Das werden Sie doch verstehen?«

»Kriminalpolizei?«

»Zur Vernehmung«, sagte Johnny. Herrgott, langsam wird es albern. Barkner stellt sich dümmer, als er ist.

»Vernehmung?«

»Aber zum Teufel«, sagte Gerda Hoffner. »Sie ist tot!! Madeleine ist tot!! Haben Sie geglaubt, dass …«

Sie wurde von Lärm in der Diele unterbrochen, Stimmen, Werkzeug, ein Telefonklingeln. Die, die sich der Sache annehmen würden, waren endlich eingetroffen.

Martin Barkner setzte sich wie ein Zombie auf den Rücksitz des Streifenwagens. Es war, als hätte er innerhalb von Minuten, Sekunden mehrmals die Persönlichkeit gewechselt. Etwas war passiert zwischen ihm und Madeleine. Und dann war noch etwas passiert, etwas Ernsteres. Vielleicht ein Spiel. Gerda Hoffner hatte solche Spiele nicht gespielt, aber für manche waren sie normal. Alles war normal. Sie sah seine Augen im Rückspiegel. Draußen zog die Morgendämmerung herauf. Schließlich war sie gekommen. Für ihn würde es ein langer Morgen werden. Falls er nicht sofort auspackte. Vielleicht wollte er von allem wegschlafen. Niemals dorthin zurückkehren. Nur erzählen. Alles gestehen. So lief das ab. Ich weiß nicht, warum. Es ist einfach passiert. Es tut mir leid. Ich bin sehr traurig.

Im Schlafzimmer war Gerda Hoffner kein Alkoholgeruch aufgefallen. Barkner roch nicht nach Alkohol. Vielleicht hatte er irgendwas genommen, man würde eine Blutprobe nehmen, und dann würden sie erfahren, was es war, falls etwas war. Sie dachte an die Flasche Wein in der Küche. War sie überhaupt geöffnet gewesen? Sie hatte die Küche nicht betreten. Man hätte ihr die Hölle heißgemacht. Die Leute von der Spurensicherung hassten Polizisten, die vor ihnen an einem Tatort herumstolperten, na ja, hassten sie vielleicht nicht, es war jedenfalls verboten.

Verboten. Das war das erste deutsche Wort gewesen, das sie gelernt hatte,verboten. Ihre Eltern hatten es benutzt, als sie in Freiheit waren, zwei Jahre vor Gerdas Geburt. Es war ihnen gelungen, dieDDRzu verlassen, wo allesverbotenwar. Jetzt war alles erlaubt. Und sie waren wieder dort. Aber glücklich waren sie nicht. Vielleicht kommen wir zurück, hatte ihre Mutter kürzlich am Telefon gesagt. Sie hatte nicht »nach Hause« gesagt. Es war, als hätten sie nirgends mehr ein Zuhause. Sie können bei mir wohnen. Wieder sah sie Martin Barkners Augen im Rückspiegel. Die Eltern können bei ihrem Kind wohnen. Das Kind kann nicht bei den Eltern wohnen, er jedenfalls nicht. Es würde eine Weile dauern, bis er zu Mama und Papa heimkehren konnte.

Schweigend durchquerten sie die frisch renovierte Lobby. Früher hatte es Rezeption geheißen, aber Lobby klang besser. Teile des Polizeipräsidiums waren schließlich eine Art Hotel. Martin Barkner würde hierbleiben müssen, freie Kost und Logis, vielleicht auch Gymnastik, es gab alles. Oben im Kriminalkommissariat verabschiedeten sich Gerda und Johnny von ihm. Jetzt übernahm der Kommissar. Gerda kannte ihn nicht, aber sie kannte hier sowieso kaum jemanden. Sie war erst dreieinhalb Monate in Göteborg, war fast direkt von der Polizeischule hierhergekommen, nach einer kurzen Zwischenstation in Eskilstuna. Der Einzige, den sie aus Eskilstuna kannte, war Kent, aber er befand sich nicht mehr in der Stadt.

»Glaubst du, er hat es getan?«

Sie fuhren mit dem Lift nach unten. Johnny schaute sie im Spiegel an. Hier drinnen hatten seine Augen eine andere Farbe oder gar keine Farbe. Er sah müde aus. Sie sah auch müde aus. Heute konnten sie nichts mehr tun.

»Glaubst du, er hat sie erstickt? Wir haben doch keine Würgemale bemerkt.«

»Ich weiß es nicht, Johnny. Aber nach dem bisschen, was ich weiß, ist es nicht schwer, einen tief Schlafenden zu ersticken. Zum Beispiel mit einem Kissen. Es ist gar kein größerer Druck nötig. Und wenn man es richtig anstellt, hinterlässt man keine Spuren.«

»Klar hat er es getan. Wer denn sonst? Und die Tür zum Treppenhaus stand ja offen. Barkner hat sie geöffnet.«

»Woher weißt du das?«

»Er hat es selbst gesagt. Hast du das nicht gehört?«

»Nein.«

»Das war fast das Erste, was er sagte, als wir das Schlafzimmer betraten. Dass er die Tür geöffnet hat, nachdem er den Notruf gewählt hat.«

»Davon habe ich nichts mitgekriegt.«

Die Fahrstuhltüren glitten auf.

»Er hat es gesagt, als du den Puls des Mädchens fühlen wolltest. Das wolltest du doch?«

»Ich habe nichts gehört.«

»Wahrscheinlich hätte ich es in dem Moment auch nicht mitgekriegt.«

Sie verließen das Präsidium. Über dem Ullevi Stadion wurde es hell. Es würde ein schöner Tag werden, ein Wintertag. Die wenigen Autos, die nah beim Eingang parkten, waren wie von einer milchigen Haut mit Raureif überzogen. Gerda Hoffner schauderte nicht nur wegen der Kälte. Sie sah das Gesicht der toten Frau vor sich. Madeleine. So friedlich. War ihr Tod friedlich gewesen? Hatte sie sich gewehrt, als er ihr das Kissen auf das Gesicht drückte? War sie aufgewacht? Hatte sie geschlafen? Morgen würden sie es vielleicht wissen, die Leute von der Spurensicherung, die Fahnder. Oder schon in einer Stunde, oder in diesem Moment. Sie drehte sich um, schaute zu den oberen Stockwerken. Sie wusste nicht, in welchem Zimmer der Mann jetzt saß, zusammen mit dem Beamten, der ihn vernahm, aber in einem der Zimmer legte Martin Barkner vielleicht in diesem Augenblick ein Geständnis ab. Man hatte ihm eine Blutprobe abgenommen, und jetzt durfte er sich alles von der Seele reden.

Der diensthabende Kommissar war Bent Mogens. Er hatte gerade die letzten Neuigkeiten aus der Wohnung in Vasastan erhalten. Die Gerichtsmedizinerin hatte den Tod der Frau festgestellt, und dass sie zwischen vierundzwanzig und zwölf Stunden tot war, genau ließ sich das noch nicht mit letzter Gewissheit sagen. An ihrem Körper fanden sich keine direkten Anzeichen von physischer Gewalt, doch die Todesursache konnte Ersticken sein. Die jungen Polizisten hatten ja von dem Kissen auf ihrem Gesicht berichtet. Ohne das würde es schwer werden, die Todesursache festzustellen. Aber noch wusste niemand Genaueres. Pia Fröberg würde erst dann mehr sagen können, wenn sie die Leiche obduziert hatte. Vielleicht gab es innere Verletzungen. Und äußere Verletzungen, die ihr entgangen waren. Von dem Kissen hatte der Mann ja auch erzählt, ihr Lebensgefährte, falls er es war. Dies ist dein Job, Bent. Pia Fröberg hatte keine Tabletten oder andere Drogen neben dem Bett gefunden, und auch die Männer von der Spurensicherung hatten bei ihrer allerersten Überprüfung der Gesamtlage nichts entdeckt.

Eine Beziehungstat, dachte Mogens. Glasklar. Häusliche Gewalt, wenngleich nicht unmittelbar erkennbare Gewalt.

Es war an der Zeit, so schnell wie möglich noch mehr Glasklarheit in die Sache zu bringen. In diesem Fall würde es keinerlei Schwierigkeiten geben, einen Haftbefehl für den Verdächtigen zu erlangen.

Der Beamte, der die Klärung des Falles übernommen hatte, war Kriminalinspektor Sverker Edlund vom Ermittlungsdezernat, ein erfahrener Verhörleiter.

Vor ihm saß Martin Barkner. Der junge Mann sah so müde aus, als könnte er jeden Moment im Sitzen einschlafen. Seine Augen glänzten schwach fiebrig. So etwas hatte Edlund schon früher beobachtet. Der Junge wusste nicht genau, was passiert war oder was er getan hatte. Er sollte es jetzt erzählen.

Barkner hob den Blick zu etwas hinter Edlund, der wusste, was hinter ihm war, nämlich nichts. Der Raum war absichtlich so eingerichtet. Es sollte nichts anderes darin geben als die beiden Personen, die einander gegenübersaßen, und die Worte zwischen ihnen. Aber die unterschieden sich, jedes Verhör war anders.

»Ich habe es nicht getan«, sagte Barkner. »Falls Sie mich für den Täter halten, dann täuschen Sie sich.«

Seine Stimme klang merkwürdig hohl, aber gleichzeitig energisch. Edlund hatte viele Stimmen viele Worte aussprechen hören, und er hatte gelernt, sie zu unterscheiden, Unterschiede herauszuhören. Die Worte waren nur die oberste Schicht. Alles andere verbarg sich darunter.

»Was haben Sie nicht getan?«

Barkner antwortete nicht.

»Was haben Sie getan?«, fragte Edlund.

»Was? Wie bitte?«

»Erzählen Sie, was Sie heute Nacht getan haben. Dann können wir das hier abschließen. Sie möchten sich vermutlich ausruhen.«

»Ich muss mich nicht ausruhen! Warum sollte ich?«

»Erzählen Sie.«

»Was? Was soll ich erzählen?«

»Warum Sie sich ausruhen müssen.«

»Aber ich muss mich nicht ausruhen! Ich hab geschl… Ich habe fast die ganze Nacht geschlafen, verdammt.«

Das war ein starkes Wort. Aber der Junge wirkte nicht aggressiv. Er sah eher … erstaunt aus. Erstaunt darüber, dass er fast die ganze Nacht geschlafen hatte. Wie war das möglich gewesen?

»Was hat Sie geweckt, Herr Barkner?«

Martin Barkner antwortete nicht.

»Sie sind doch aufgewacht, oder?«

Barkner nickte.

»Was ist da passiert?«

»Ich … ich bin aufgewacht. Ich weiß nicht … ich bin einfach aufgewacht.«

Edlund nickte.

»Und … ich hab was zu Made… Madeleine gesagt. Sie lag … sie lag da … das Kissen üb… über …«

Seine Stimme versagte.

Edlund wartete.

Nach einigen Minuten putzte Barkner sich hörbar die Nase mit einem Papiertaschentuch, das er aus einem Kästchen auf dem Tisch nahm. Das Verhör war gut vorbereitet. Viele weinten bei Verhören, manchmal sogar der Verhörleiter, auch wenn Edlund noch nie von einem derartigen Fall in Schweden gehört hatte.

»Können wir weitermachen, Herr Barkner?«

Barkner nickte.

»Was ist passiert, als Sie wach wurden?«

»Ich … ich habe sie gesehen.«

»Was haben Sie gesehen?«

»Sie. Das habe ich gesehen.«

»Sie sagten etwas.«

»Wie bitte?«

»Sie haben sie angesprochen.«

»Ja … das stimmt. Das muss ich doch getan haben, oder?«

Edlund schwieg. Er nickte nicht.

»Sie lag da mit dem Kissen auf dem Kopf, über dem Gesicht.«

»Woher wissen Sie, dass sie ein Kissen über dem Gesicht hatte?«

»Wie bitte?«

»Es hätte auf ihrem Nacken liegen können. Sie könnte auf der Seite gelegen haben. Oder auf dem Bauch.«

»Nein. Ich sah … wie sie lag. Und ich …«

Er verstummte.

Edlund nickte. »Erzählen Sie, was Sie getan haben.«

»Ich habe das Kissen weggenommen.« Barkner beugte sich vor. Er sah plötzlich wichtig aus, als hätte er eine Botschaft, die die Wahrheit war. Edlund hatte auch das schon viele Male gesehen. Es war nicht die Wahrheit, jedenfalls noch nicht. Für die Wahrheit war es noch zu früh. »Es ist doch nicht verwunderlich, dass ich es weggenommen habe? Sie antwortete nicht! Ich wollte … wollte wissen, warum sie nicht antwortete.«

»Haben Sie nicht gedacht, dass sie schläft?«

Barkner schien die Frage nicht verstanden zu haben.

»Es war Nacht«, sagte Edlund. »Sie werden wach und sprechen Ihre Partnerin an, aber sie antwortet nicht. Ist es denn so merkwürdig, dass sie nicht antwortet?«

Barkner blieb stumm.

»Wollten Sie sie wecken?«

»Die Nacht war fast vorbei«, sagte Barkner. »Es war fast Morgen.«

»Warum wollten Sie sie wecken?«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Warum wollten Sie sie nicht weiterschlafen lassen?«

Barkner betrachtete wieder die Wand hinter Edlund. Dort gab es keine Antworten, viele hatten schon Antworten in dem stahlgrauen Licht mit den scharfen Schatten gesucht, aber in diesem Zimmer gab es keine Schrift an der Wand.

»Wir hatten uns gestritten. Abends … bevor wir eingeschlafen sind. Wahrscheinlich wollte ich darüber mit ihr reden. Ich wollte, dass alles wieder gut wird.«

Edlund wartete ab. Er wollte, dass alles wieder gut wird, aber es würde nie mehr gut werden. Von dieser Nacht an war das Wort »gut« aus Barkners Leben ausradiert.

»Worüber haben Sie sich gestritten?«, fragte Edlund.

»Ich … das habe ich vergessen. Es … fällt mir gerade nicht ein.«

»Aber Sie wollten im selben Moment mit Madeleine darüber sprechen, als Sie wach wurden.«

Barkner zuckte zusammen, als Edlund ihren Namen nannte. Er sah Edlund zum ersten Mal direkt in die Augen.

»Wäh… während wir hier darüber reden … läuft da draußen jemand herum … der es getan hat. Der es getan hat! Der … frei ist! Da draußen!« Er zeigte zum Fenster, nach »draußen«, aber das Fenster ging auf den Innenhof, der mehr drinnen als draußen war, wie ein Gefängnishof. Da unten gab es nicht viel Licht.

»Erzählen Sie von dem Abend«, sagte Edlund, »dem letzten Abend.«

Barkner heftete seinen Blick wieder auf Edlund.

»Es gibt … nichts. Es ist nichts Besonderes vorgefallen, falls Sie das denken. Wir hatten eine … kleine Auseinandersetzung darüber, was wir am Wochenende unternehmen wollten, glaube ich. Samstag. Morgen … Heute. Herr im Himmel.«

Er verstummte.

»Fahren Sie fort«, sagte Edlund.

»Ich wollte nicht zu ihren Eltern fahren. Es ging nur um ein Essen. Ein Essen, an dem ich nicht teilnehmen wollte. Herrgott. Darüber haben wir uns ein bisschen gezankt, dann haben wir das Licht ausgemacht und sind eingeschlafen. Mehr ist nicht passiert.«

Edlund nickte.

Barkner sah erstaunt aus. »Glauben Sie mir?«

»Sollte ich nicht?«

»Doch, doch.«

»Jemand hat heute Nacht ein Kissen auf Madeleines Gesicht gedrückt und sie erstickt«, sagte Edlund.

»Ja …?«

»Sie haben eben selbst von einem Mörder gesprochen.«

Barkner schwieg.

»Haben Sie von sich selber gesprochen?«

»Nein, nein, nein!«

»Es war keine Absicht«, sagte Edlund. »Es ist einfach so gekommen.«

»Nein, nein,NEIN!! Ich habe doch angerufen. Warum sollte ich anr… Warum sollte ich um Hilfe rufen, wenn ich es selbst getan habe?«

»Was hätten Sie sonst tun sollen?«

»Was?«

»Wenn Sie sie erstickt haben. Hätten Sie fliehen sollen? Wohin hätten Sie gehen sollen?«

»Ich habe sie nicht erstickt! Ich habe sie nicht umgebracht. Ich habe sie nicht angerührt!«

Barkner war im Begriff, aufzustehen.

»Setzen Sie sich«, sagte Edlund.

Barkner sank wieder zurück auf den Stuhl. Für einen Moment hatte er ein bisschen Kraft gehabt, aber sie war schon wieder verbraucht.

»Verstehen Sie das nicht?«, fragte er mit dünner Stimme.

»Was verstehe ich nicht, Herr Barkner?«

»Wie ist es möglich, dass wir geschlafen haben, als … jemand hereinkam und … sie erstickte? Jemand ist in unser Schlafzimmer eingedrungen. Wieso bin ich nicht aufgewacht? Verstehen Sie das? Während es … geschah. Ich hätte doch aufwachen müssen, als es geschah?« Er streckte Edlund flehend die Hände entgegen. »Wie konnte ich schlafen, während es geschah?«

2

Martin Barkner wollte nicht gestehen, was er getan hatte: seine Lebensgefährtin mit ihrem Kopfkissen erstickt. War sie überhaupt wach geworden, bevor der Tod eintrat? Bei der sogenannten erweiterten rechtsmedizinischen Obduktion am Morgen danach entnahm Pia Fröberg dem Körper Proben auf der Suche nach Spuren von Schlafmitteln oder anderen Drogen in Madeleines Blut. Sie wurden zur Analyse in die Kriminallabor geschickt. Auf die Antwort würden sie mindestens zwei oder drei Wochen warten müssen. In Barkners Blut hatten sie bis jetzt noch keine Spuren von Drogen gefunden, vielleicht würden sie sich später nachweisen lassen, aber das wusste in diesem Moment niemand, als Barkner von Sverker Edlund vernommen wurde.

Pia Fröberg hatte jedoch eine minimale punktförmige Blutung in einem Nasenloch der Frau gefunden. Punktblutungen entstehen immer bei Erdrosselung – im Augapfel, in den Ohren und Nasenlöchern – und wahrscheinlich auch bei Ersticken.

»Was haben Sie am Abend davor gemacht, Herr Barkner?«, fragte Edlund.

»Wie … meinen Sie das?«

»Waren Sie den ganzen Abend zu Hause? Oder waren Sie zum Beispiel im Kino? Sind Sie ausgegangen?«

»Nein … wir waren zu Hause. Erst wollten wir … irgendwo ein Glas Wein trinken gehen. Aber daraus ist nichts geworden.«

»Gab’s einen besonderen Grund dafür?«

»Wofür?«

»Dass nichts daraus geworden ist.«

»Nein … wir wollten eben keinen Wein trinken.«

»Haben Sie gestern Abend anderen Alkohol zu sich genommen?«

»Nein.«

»Und Madeleine?«

»Sie hat auch nichts getrunken.«

»Hatten Sie Besuch an dem Abend?«

»Nein.«

»Anrufe?«

Barkner schüttelte den Kopf. Edlund war nicht ganz klar, ob es die Antwort auf seine Frage war oder etwas anderes bedeutete. Barkner wirkte jetzt ruhiger, fast resigniert. Als hätte er sich mit seinem Schicksal abgefunden, aber es war kein Schicksal. Es war die Tat eines Menschen. Die man nicht auf das Schicksal schieben, an das man nicht einfach die Verantwortung abgeben konnte. Es war eine entsetzliche Tat. Eine schlimmere gab es nicht.

»Haben Sie im Lauf des Abends telefoniert?«

»Nur mit Madeleines Mutter. Madeleine hat mit ihr gesprochen.« Barkner schaute auf. »Wissen … sie es? Wissen sie es schon?«

»Wer?«, fragte Edlund.

»Ihre Eltern natürlich. Wissen sie, dass Madeleine … tot ist?«

»Bald erfahren sie es«, sagte Edlund.

»Herrgott.« Barkner verbarg sein Gesicht in den Händen. Dann sah er wieder auf. »Wie können Sie nur?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie zum Teufel halten Sie das aus? Mit diesem … mit dem Tod! Mit all den Toten! Wie ertragen Sie es, sich Tag für Tag mit dem Tod zu beschäftigen?!«

»Wir sind ja nicht die Mörder«, sagte Edlund nach einem kurzen Moment.

Erik Winter ließ Steine über die Wasseroberfläche hüpfen. Ein-, zwei-, drei-, viermal. Das Wasser war ein Spiegel des Himmels, und der Stein hüpfte in dem wunderbaren Blau davon. In der diesigen Herbstsonne verschwamm der Horizont über den südlichen Schären. Oder Wintersonne. Wann kam der Winter? In diesem Moment, ein unsichtbarer Übergang wie das Bild, das er vor sich sah. Es war nicht genau zu erkennen, wo das Meer endete und der Himmel begann.

»Ich will auch!«, rief Elsa.

»Wir brauchen mehr flache Steine«, sagte Winter.

»Ich such welche!«, rief die Siebenjährige.

»Guck mal da hinten, hinter dem Felsen.«

Er zeigte zu dem Felsen. Angela und Lilly waren schon auf dem Weg dorthin. Die kleine Lilly wollte auch flache Steine sammeln. Sie wollte auch werfen.

»Was ist dein Rekord, Papa?«

»Daran kann ich mich nicht genau erinnern.«

»Hast du es schon zehnmal geschafft?«

»Nein, so oft nicht.«

»Wieso können Steine überhaupt auf dem Wasser hüpfen?«

»Die Wasseroberfläche kann hart sein.«

»Aber der Stein ist doch viel härter?«

»Nicht immer.«

»Warum nicht?«

Ja, warum nicht? Wieso schwimmt die Fähre der Stena-Line auf dem Wasser? Warum schwamm die »Titanic« auf dem Wasser, bevor sie versank? Wieso kann sich ein Flugzeug von einer Wasseroberfläche erheben? Wieso sagte man, es habe einen Mann gegeben, der über das Wasser gehen konnte?

»Man braucht einen flachen Stein«, sagte Winter. »Wenn er die richtige Geschwindigkeit hat, kann er übers Wasser hüpfen. Dann fliegt er fast über das Wasser.«

»Ich hab mal drei Hüpfer geschafft«, sagte Elsa.

»Ich glaube, es waren sogar vier«, sagte Winter.

»Ich kann dich schlagen!«, sagte sie.

»Klar kannst du das, Schätzchen.«

»Ich hol mehr Steine.«

Er sah sie durch den Sand laufen. Es war ihr Sand. Es war ihr Strand, ein kleines Grundstück zwischen Billdal und Kullavik. Vor einigen Jahren hatte er die Chance gehabt, es günstig zu erwerben, inzwischen war es ein Vermögen wert. Damals hatten zwischen den Klippen überwiegend Sommerhäuschen gestanden, aber jetzt kroch die Besiedlung immer näher. Billdal war zu einer kleinen Ortschaft angewachsen, die offenen Felder waren verschwunden, bedeckt mit Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen. Kullavik hatte ein Einkaufszentrum. Die Leute bauten ihre Häuser von Haga kile bis Maleviksviken so nah am Meer, wie es eben erlaubt war. Dagegen war nichts einzuwenden. Wenn Winter auf seinem Grundstück stand, sah er keine Nachbarn, nur Felsen, Meer und Sand, aber manchmal trug der Wind Geräusche herüber, die es vorher nicht gegeben hatte. Die Stille war nicht mehr die gleiche.

Sie hatten aufgehört, von dem Haus zu sprechen, das hier hätte stehen sollen. Elsa hatte aufgehört zu fragen. Für sie war es ihr Strand, mehr nicht. Für Lilly war alles selbstverständlich. Vielleicht war es selbstverständlich. Ein eigener Strand, das war doch etwas. Warum ihn mit einem Haus verschandeln.

Er sah, wie Elsa sich in halber Höhe des Felsens aufrichtete.

»Was ist das da, Papa?«

Ihre helle Stimme kam wie ein flacher Stein über den Strand gehüpft. Er sah sie auf das Meer zeigen und folgte dem Blick seiner Tochter zum Horizont, der sich jetzt schärfer abzeichnete, nachdem die Sonne stärker geworden war. Er sah die Holme und Schären in der Bucht und die Kontur von Vrångö. Im Augenblick waren keine Boote unterwegs.

»Es sieht aus wie ein großer Stein, der oben schwimmt!«, rief Elsa.

Und dann hörte er auch Angelas Stimme. Sie hatte ebenfalls etwas gesehen. Sie stand höher als er und hatte einen besseren Überblick.

Sie rief wieder.

»Elsa, komm hierher!«

Jetzt sah er den Stein. Langsam trieb er an der Wasseroberfläche. Es war kein Stein, es war ein Stück Holz. Ein Baumstamm.

»Erik!«

Jetzt rief Angela nach ihm. In ihrer Stimme war etwas, das er nicht kannte. Er machte einige Schritte auf das Wasser zu. Der Baumstamm war näher gekommen. Er war schwarz im Sonnenlicht. Jetzt sah er etwas Weißes. Es bewegte sich langsam im Wasser, wandte sich ihm zu. Jetzt sah er das Gesicht.

Madeleine Holst war neunundzwanzig Jahre alt geworden. Im Juni hatte sie Geburtstag gehabt. Martin Barkner war im März achtundzwanzig geworden. Madeleines Eltern wohnten in einem älteren Haus in Hovås und Martins Eltern nicht weit davon entfernt, im südlichen Askim. Martins Eltern waren nicht in Schweden, sie hielten sich in ihrem Haus an der Costa del Sol auf. In Nueva Andalucia hob niemand das Telefon ab. Madeleines Eltern wurden morgens um neun vom diensthabenden Kommissar Bent Mogens informiert, nicht, weil er der Diensthabende war, sondern weil er am besten Nachrichten dieser Art überbringen konnte. Normalerweise wurde er von einem seiner Fahnder gefahren, aber diesmal brachte ihn ein Streifenwagen nach Hovås. Am Steuer saß Gerda Hoffner, neben ihr Johnny Eilig. Die Nacht war noch nicht ganz vorbei. Über dem Säröleden hingen Nebelschwaden. Gerda Hoffner war nicht müde. Sie fühlte sich wie ein Teil dieses Falles, der sie nicht losließ.

»In welcher Verfassung war der Mann, als ihr die Wohnung betreten habt?«, fragte Mogens.

»Er hat um Hilfe gerufen«, antwortete Johnny. »Bevor wir ihn sahen.«

»Durch die Tür? Als ihr noch im Treppenhaus wart?«

»Die Tür stand offen«, sagte Johnny. »Er hatte sie schon geöffnet. Für uns.«

»Das habe ich nicht gehört«, sagte Gerda Hoffner.

»Dass er die Tür geöffnet hat, oder was?«, fragte Mogens.

»Dass er das gesagt hat. Ich habe es nicht gehört.«

»Er hat es zu mir gesagt. Du warst ja … bei der Leiche, um den Puls zu fühlen«, sagte Johnny.

»Das habe ich nicht getan. Ich habe sie nicht angerührt.«

»Es sah aus, als hättest du es vor.«

Gerda Hoffner schwieg.

»Als wir ihn sahen … als wir das Zimmer betraten, schrie er, dass er es nicht getan habe«, fuhr Johnny fort. Er drehte sich zu Mogens um. »Hat er es getan?«

»Was getan?«

Gerda Hoffner war Johnny Eiligs Frage peinlich. Eine idiotische Frage.

»Wir wissen es nicht«, antwortete Mogens. »Es ist anzunehmen. Aber er hat noch nicht gestanden.«

»Legen die denn immer ein Geständnis ab?«

»In einem Fall wie diesem? Ja.«

»Was heißt das?« Gerda Hoffner suchte im Rückspiegel Blickkontakt zu Mogens. »In einem Fall wie diesem?«

»Tja … Beziehungstaten. Leidenschaftsdramen. Ich weiß nicht, wie wir es nennen sollen. Häusliche Gewalt.«

»Es scheint überhaupt keine Gewalt angewendet worden zu sein«, sagte Johnny. »Alles hübsch ordentlich. Ein paar Kleidungsstücke auf dem Fußboden und hier und da Sachen verstreut, aber sonst ziemlich aufgeräumt. Also keine zerschlagenen Gegenstände oder so.«

»Wie alt ist sie geworden?« Das rutschte Gerda Hoffner einfach so heraus. Sie hatte die Frage eigentlich gar nicht stellen wollen.

»Im Juni ist sie neunundzwanzig geworden«, antwortete Mogens.

»Ich auch«, sagte Gerda. Auch das war ihr so herausgerutscht. »Himmel. Was rede ich da für einen Blödsinn.«

»Wieso«, sagte Mogens, »deswegen brauchen Sie sich doch nicht zu schämen.«

»Ich bin dreißig«, sagte Johnny Eilig. »Wie alt ist der Mann?«

»Achtundzwanzig, ein Jahr jünger als die Frau«, sagte Mogens.

»Fast noch ein Kind«, sagte Gerda Hoffner.

»Hm.« Mogens lehnte sich zurück. »Wie war euer erster Eindruck von ihm?« Er schaute Gerda im Rückspiegel an. Sie hatte das Gefühl, als bohrten sich seine Augen in ihre. Er hatte einen scharfen Blick. Plötzlich bekam sie Kopfschmerzen. »Was meinen Sie, Frau Hoffner?«

»Der erste Eindruck? Ich weiß nicht. Er könnte es gewesen sein, aber er könnte es auch nicht gewesen sein. Vielleicht war es ein Unfall? Vielleicht ist sie krank geworden? Akut krank?«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht.«

»Klar war er es«, sagte Johnny. »Wer sonst sollte es getan haben?«

»Wer hat das getan?«, fragte Madeleines Mutter, Annica Holst. Ihr Mann stand neben ihr. Seine Augen waren leer, als warteten sie noch darauf, sich mit Trauer zu füllen. Bis zum Überlaufen mit Trauer gefüllt, dachte Mogens. Genau das hatte er viele Male gesehen. Zuerst eine Leere, dann akute Trauer, dann Schock, dann Zorn, und danach das Ganze immer wieder von vorn, in ungleichmäßigen Intervallen wiederholt, wie eine Art ewige Trainingsrunde in der Hölle, im Inferno. Es war ein Inferno. Er hatte das Inferno gebracht, war Bote der Hölle. Jetzt war er der Schuldige, jetzt war es seine Schuldigkeit, Fragen zu beantworten.

»Wer hat das getan?«, wiederholte Annica Holst. Ihre Augen waren ebenfalls trocken, als wäre Mogens’ Nachricht noch nicht bei ihnen angekommen.

»Wir wissen es noch nicht. Die Todesursache steht noch nicht fest.«

»Was meinen Sie damit? Dass Sie die Ursache nicht kennen?«

»Wie es sich zugetragen hat.«

»Ist sie plötzlich krank geworden? War es ein Unfall?«

»Das glauben wir nicht«, antwortete Mogens.

»Herr im Himmel, ist sie etwa ermordet worden?«

»Allem Anschein nach, ja«, sagte Mogens.

»Wo ist Martin?«, fragte sie. »Haben Sie mit Martin gesprochen? Was sagt er?«

»Ja. Wir haben mit ihm gesprochen.«

»Ist er … ist ihm auch etwas passiert?«

»Er wird gerade vernommen.«

»Ist er verletzt?«

»Nein.«

»Gott sei Dank.«

Mogens sah die Erleichterung in ihren Augen. Sie hatte es noch nicht begriffen. Es war natürlich überhaupt nicht zu begreifen. Sie glaubte noch immer, es gäbe Hoffnung. Sie griff nach allem, was nach Hoffnung aussah.

»Hat er etwas gesehen?«, fuhr sie fort. »Hat er jemanden gesehen?«

»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Mogens.

»Wir müssen in die Stadt fahren und ihn holen«, sagte Annica Holst. »Seine Eltern sind in Spanien. Er darf doch jetzt nicht allein bleiben. Nicht dort.« Sie wandte sich ihrem Mann zu. »Peder? Wir müssen ihn zu uns holen.«

Der Mann antwortete nicht. Mogens begegnete seinem Blick. Peder Holst hatte es begriffen.

»Peder? Was ist?« Annica Holst schaute ihren Mann an, dann Mogens.

»Was ist? Sie haben ihn doch wohl nicht … Sie glauben doch wohl nicht, dasseres getan hat? Dass Martin …«

Sie brach ab.

Und langsam begann sie zu begreifen, was geschehen war. Ihre Tochter war umgebracht worden. Bis zu diesem Moment des Gesprächs hatte sie nur daran gedacht, wer es getan haben könnte. Oder besser gesagt, nicht getan hatte. Wie es geschehen war. Doch jetzt begriff sie, dass es geschehen war. Dass es sich um eine Tat handelte, die sich nicht rückgängig machen ließ.

Sie ließ sich nicht rückgängig machen.

»Neeeeiiin!!!«, schrie sie, und Mogens wusste, dass es bis zu den Nachbarn zu hören war, auch wenn dieses große Haus dicke Mauern hatte und die Hecken um das Grundstück hoch waren. Als sie in die Straße eingebogen waren, hatte er hinter den Klippen das Meer schimmern sehen. Wer die Straße entlangging, hatte Meerblick. Bis zum Strand waren es nur wenige Hundert Meter. Im Lauf der Jahre war er häufig mit dem Rad daran vorbeigefahren. So sah es also hier oben aus. Er hatte zu den großen Häusern hinaufgespäht. Einige wirkten wie Schlösser, so unnahbar, es roch nach altem Geld, und nach einigem neuen Geld, vielleicht eine Mischung aus beidem. Trotzdem unerreichbar für ihn, er war ein einfacher Bote für die Mitbürger, häufig für die ganz einfachen.

Aber jetzt war er hier.

3

Martin Barkner telefonierte mit seiner Mutter. Er weinte. Jetzt war er ein kleiner Junge. Hätte immer einer bleiben sollen. Er hätte nie Mädchen treffen sollen. Vielleicht hatte sie ihn gewarnt. Edlund war von seiner Mutter gewarnt worden.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, sagte Martin Barkner.

Sverker Edlund konnte ihre Stimme durch das Telefon hören, den ganzen Weg vom Rand des Mittelmeeres bis hierher. Sie klang nicht aufgeregt, aber das war bei einer so großen Entfernung nicht auszumachen.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!«

Barkner senkte den Hörer und streckte ihn Edlund mit zitternder Hand entgegen.

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