Tanz mit dem Engel - Åke Edwardson - E-Book

Tanz mit dem Engel E-Book

Åke Edwardson

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Beschreibung

London: Ein junger Schwede wird in einem Hotelzimmer brutal ermordet. Kurz darauf geschieht auf ähnlich sadistische Weise ein Mord in Göteborg. Welche Verbindung besteht zwischen den beiden Verbrechen? Und warum fand an beiden Tatorten eine Art Ritualtanz statt? Kommissar Erik Winter muss bald feststellen, dass der Mann, der den tödlichen Tanz mit dem Engel perfekt beherrscht, ihm nähersteht als erwartet.

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Das Buch

Ein junger schwedischer Tourist wird in einem Hotelzimmer im Londoner Süden brutal ermordet. Kurz darauf geschieht ein Mord in Göteborg. Das Opfer ist diesmal ein junger Engländer. Der Täter scheint in beiden Fällen nach demselben sadistischen Muster vorzugehen. Beide Opfer wurden erstickt und erstochen, anschließend muß eine Art Ritualtanz stattgefunden haben. Kriminalkommissar Erik Winter arbeitet zusammen mit seinem Londoner Kollegen Macdonald an der Aufklärung der grausamen Verbrechen. Doch schon bald ahnt Winter Schreckliches: Der Mörder ist kein Fremder.

Der Autor

Åke Edwardson, Jahrgang 1953, lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Göteborg. Bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete, arbeitete er als Journalist u.a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten, schrieb Sachbücher und unterrichtete an der Universität von Göteborg Creative Writing. Tanz mit dem Engel ist der erste Band der Erik-Winter-Reihe.

Von Åke Edwardson sind in unserem Hause bereits folgende Erik-Winter-Krimis erschienen:

Die Schattenfrau · Das vertauschte Gesicht · In alle Ewigkeit · Der Himmel auf Erden · Segel aus Stein · Zimmer Nr. 10 · Rotes Meer

Außerdem:

Allem, was gestorben war · Der Jukebox-Mann · Der letzte Abend der Saison · Geh aus, mein Herz · Samuraisommer · Winterland

Åke Edwardson

Tanz mit dem Engel

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Wolfdietrich Müller

Besuchen Sie uns im Internet:www.list-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,

wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,

Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Neuausgabe im List Taschenbuch

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.

1. Auflage März 2009

2. Auflage 2009

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004

© 2002 für die deutsche Ausgabe

by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München

© 2000 für die deutsche Ausgabe

by Econ Ullstein List GmbH & Co. KG, München

© 1999 für die deutsche Ausgabe by Verlagshaus Goethestraße, München

1997 by Åke Edwardson

First published by Norstedts Förlag, Stockholm

Titel der schwedischen Originalausgabe: Dans med en ängel

Umschlaggestaltung und Konzeption:

RME Roland Eschlbeck und Kornelia Rumberg

Titelabbildung: © Clive Druett, Papillo/CORBIS

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

eBook-Konvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

eBook ISBN 978-3-8437-0515-8

Meinen Brüdern

Dank an Bendix, Rita,

Dan, Tulle, Anders

Diese Bewegung, die der Junge nicht mehr machen konnte. Er erinnerte sich nicht, wann es schlimmer geworden war. Nun war die Bewegung wie ein Schatten.

Der Junge verstand. Er versuchte, auf die Südwand zuzugehen, aber seine Bewegung war vor allem eine Richtung in seinem Kopf, und als er das Kinn hob, um dorthin blicken zu können, woher der Laut kam …

Es wurde wieder kalt am Rücken, zwischen den Schultern und abwärts wurde es so kalt und dann wieder warm, und er glitt auf dem Boden aus und schlug mit der Hüfte auf, als er fiel. Er rutschte auf dem Boden. Sein Körper fand keinen Halt.

Er hörte eine Stimme.

In mir gibt es eine Stimme, die ruft mir zu, und das bin ich, dachte er. Ich verstehe. Jetzt entferne ich mich von der Wand, und wenn ich es leise und vorsichtig tu’, dann geschieht mir nichts.

Mama. Mama!

Ein Ton summte, als wäre Pause, und es geschähe nichts vor den Augen. Er kam nicht von dem Ton los. Er wußte, was es war.

Gehweg.

Geh weg von hier.

Ich verstehe. Jetzt spüre ich wieder Kälte, und ich blicke auf mein eigenes Bein hinunter, aber ich kann nicht sagen, welches es ist. Ich sehe es. Das Licht hier drinnen ist grell. Das war es vorher nicht, aber als die Kälte begann, wurde das Licht angemacht, und es ist so grell, daß es draußen vor den Fenstern Nacht wurde.

Ich kann ein Auto hören, aber es fährt von hier weg. Draußen hält nichts an.

Geh weg von mir. Geh weg!

Er konnte sich noch immer selbst helfen, und wenn er allein wäre, könnte er sich im Zimmer bewegen und die Tür erreichen. Er war dort hereingekommen, und der Mann war wieder hinausgegangen und hatte die Sachen geholt, dann war er zurückgekehrt und hatte die Tür geschlossen, und dann war die Nacht gekommen.

Noch immer hörte er die Musik, aber sie konnte von ihm selbst kommen, von innen heraus. Sie hatten Morrissey gespielt, und er wußte, der Name der Platte kam von dem Teil der Stadt, der auf dieser Seite des Flusses lag.

Es war nicht weit weg. Er wußte viele solche Dinge. Das war eine der Ursachen.

Er hörte die Musik wieder, lauter jetzt, und das Summen hörte er im Moment nicht.

Das Licht war noch an. Eigentlich müßte es ihm weh tun, im Körper.

Ich spüre nicht, daß es weh tut, dachte er. Ich bin nicht müde. Ich kann weggehen, wenn ich aufstehen kann. Ich versuche, etwas zu sagen. Jetzt ist eine Weile vergangen. Jetzt ist es, als wäre man im Einschlafen und zuckte plötzlich zusammen, und es ist, als würde man sich selbst aus einem tiefen Loch herausholen, und das ist das einzig Wichtige. Nachher hat man Angst, es fällt schwer, wieder einzuschlafen. Wenn man daliegt, kann man sich fast nicht bewegen, ja, genau, man will sich bewegen, aber es geht nicht.

Dann dachte er nicht soviel. Es war, als wäre das, was die Gedanken weiterleitete, die Kabel oder Leitungen, als wären sie abgeschnitten worden, als wären die Gedanken durch die Schnittflächen ausgeströmt und ohne Halt im Kopf verbreitet worden und nach nur einer kleinen Weile mit dem Blut ausgelaufen.

Ich weiß, daß es Blut ist und daß es mein eigenes ist. Ich verstehe. Nun fühle ich dieses Kalte nicht mehr, und vielleicht ist es vorbei. Ich denke an zukünftige Dinge.

Ich weiß, daß ich mich aufgerichtet habe, ein Knie in der Luft, das andere auf dem Boden. Ich blicke direkt ins Licht, und auf diese Weise schiebe ich meinen Körper fort, zur Wand und in die Schatten.

Währenddessen kommt etwas von der Seite, und ich bewege mich davon weg. Vielleicht werde ich damit fertig.

Er versuchte, sich in den Schutz zu retten, der irgendwo wartete, und die Musik wurde lauter. Es gab mehrere Bewegungen um ihn herum, in verschiedene Richtungen, und er fiel und wurde aufgefangen, und er spürte, daß er hinauf und zur Seite getragen wurde. Er sah die Decke und die Wände auf sich zukommen, und es ließ sich nicht feststellen, wo das eine endete und das andere anfing. Danach gab es keine Musik mehr.

Der letzte Faden, der die Gedanken zusammenhielt, zerriß und wurde von Träumen und einigen Erinnerungsresten ersetzt, die er mit sich nahm, als es vorbei war und still geworden war. Danach waren Geräusche von Schritten zu hören, die sich von der Stelle entfernten, wo er mit seinem mageren Körper an einen Hocker gelehnt saß.

1

Es war ein Jahr gewesen, das nicht lockerlassen wollte. Es hatte sich im Kreis gedreht, sich selbst in den Schwanz gebissen wie ein tollwütiger Satanshund. Wochen und Monate waren doppelt lang gewesen.

Von Erik Winters Standort aus schien der Sarg in der Luft zu schweben. Von links brach die Sonne durch ein Fenster, und das Licht hob den Sarg von der Bank dort auf dem Steinboden. Alles verwandelte sich in ein Rechteck aus Sonne, und das war das einzige, was er sah.

Er hörte die Lieder über den Tod, aber er bewegte die Lippen nicht. Ein Kreis aus Stille umgab ihn. Es war nicht die Fremdheit. Es war auch nicht die unmittelbare Trauer, wenigstens noch nicht. Es war ein anderes Gefühl; es gehörte zum Alleinsein und zu jenem Zwischenraum, der entsteht, wenn die Finger loslassen.

Die Wärme, die vom Blut kommt, gibt es nicht mehr, dachte er. Wie wenn ein Weg zurück zugewachsen wäre.

Erik Winter erhob sich mit den andern, verließ die Kirche und trat hinaus ins Licht, um dem Sarg zum Grab zu folgen. Als die Erde auf dem Holz landete, war es zu Ende, und er stand eine kleine Weile still, und dann spürte er die Wintersonne im Gesicht. Wie eine Hand, die man in lauwarmes Wasser taucht.

Er ging langsam durch die Straßen nach Westen, zur Anlegestelle der Fähre. Jetzt ist ein Krieg im Leib eines Menschen vorbei, und er findet Frieden. Alles ist Geschichte, und ich empfinde allmählich große Trauer. Am liebsten möchte ich mich über längere Zeit mit dem großen Nichts befassen, und dann möchte ich das Unkraut auf den Pfaden der Zukunft jäten, dachte er und richtete so etwas wie ein Lächeln zu dem niedrigen Himmel.

Er ging an Bord und die Treppen hinauf und stellte sich auf das Autodeck. Mit schwarzem Schnee bedeckte Autos fuhren herauf. Es polterte höllisch, und er hielt sich das linke Ohr zu. Die Sonne schien noch, deutlich, aber kraftlos über dem Meer. Er hatte die Lederhandschuhe abgestreift, als der Sarg in die Erde gesenkt wurde, und nun zog er sie wieder an. Es war kälter denn je.

Er stand allein an Deck. Die Fähre schob sich langsam von der Insel hinaus, und als sie einen kleinen Wellenbrecher passierte, dachte Winter kurz an den Tod und daran, daß das Leben weitergeht, lange nachdem der Sinn des Lebens aufgehört hat. Die Bewegungen sind die gleichen, aber der eigentliche Sinn bleibt zurück.

Er blieb stehen, bis die Häuser achteraus so klein wurden, daß er sie in der hohlen Hand unterbringen konnte.

In dem kleinen Lokal saßen Leute. Die Gesellschaft zu seiner Rechten sah aus, als wollte sie in ein Freiheitslied ausbrechen, aber statt dessen wanderte sie hinüber zu den großen Fenstern.

Winter trank zunächst nichts. Er beugte sich über den Tisch und wartete, daß die Kirchenlieder in seinem Kopf verstummten, und dann bestellte er eine Tasse Kaffee. Ein Mann setzte sich ihm gegenüber, und Winter reckte seinen langen Körper.

»Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?« fragte er.

»Selbstverständlich«, antwortete der Mann.

Winter machte ein Zeichen in Richtung Theke.

»Man muß es wohl selbst holen«, sagte der Mann.

»Nein. Sie kommt her.«

Die Frau nahm Winters Bestellung wortlos entgegen. Ihr Gesicht wirkte im Licht der tiefstehenden Sonne durchsichtig. Winter konnte nicht sehen, ob sie auf ihn blickte oder auf den Kirchturm in dem Dorf, das sie hinter sich gelassen hatten. Er fragte sich, ob man die Glocken auf der anderen Seite hörte oder auf der Fähre, wenn sie auf dem Weg zur Insel war.

»Sie kommen mir bekannt vor.« Er drehte sich auf dem Stuhl, so daß er dem Mann zugewandt saß.

»Ich muß in der Tat das gleiche sagen«, erwiderte der Mann.

Er hält die Beine in einer eigenartigen Stellung, dachte der Besucher. An solchen Kaffeetischen ist es nicht gut, groß zu sein. Es sieht aus, als hätte er Schmerzen, und ich glaube nicht, daß es am Licht auf seinem Gesicht liegt.

»Unsere Wege haben sich mehr als einmal gekreuzt«, sagte Winter.

»Ja.«

»Es hört nie auf.«

»Nein.«

»Hier kommt der Kaffee.« Winter betrachtete die Kellnerin, als sie die Tasse vor Kriminalkommissar Bertil Ringmar stellte. Es dampfte aus der Tasse, und der Dampf stieg vor Ringmars Gesicht auf, verdünnte sich auf Stirnhöhe und breitete sich in einem Kreis um seinen Kopf aus. Der Bursche sieht wie ein Engel aus, dachte Winter.

»Was machst du hier?« fragte er.

»Ich fahre mit einer Fähre und trinke Kaffee.«

»Warum achten wir immer auf unsere Worte, wenn wir miteinander sprechen?« sagte Winter.

Bertil Ringmar nahm einen Schluck Kaffee.

»Ich glaube, daß wir sehr empfänglich für die Farbtöne der Worte sind«, sagte er und stellte die Tasse auf die Tischplatte. Winter konnte sein Gesicht in der Platte gespiegelt sehen, verkehrt herum. Vorteilhaft für ihn, dachte er.

»Hast du Mats besucht?« fragte Ringmar.

»In gewisser Hinsicht.«

Ringmar sagte nichts.

»Er ist tot«, sagte Winter.

Bertil Ringmar umklammerte die Tasse. Er spürte eine Mischung aus Kälte und Wärme, aber er ließ nicht los.

»Es war eine schöne Feier«, erzählte Winter. »Ich wußte gar nicht, daß er so viele Freunde hatte. Er hatte nur einen Verwandten, aber er hatte viele Freunde.«

Ringmar sagte nichts.

»Ich hatte erwartet, vor allem Männer in der Kirche zu sehen, aber es waren auch viele Frauen da«, sagte Winter. »Es waren wohl sogar vor allem Frauen.«

Ringmar blickte durch das Fenster auf etwas hinter Winter, und er riet, daß es der Kirchturm war.

»Es ist eine verfluchte Krankheit«, sagte Ringmar und sah Winter an. »Du hättest anrufen können, wenn du gewollt hättest.«

»Mitten in deinem Gran-Canaria-Urlaub? Mats war ein guter Freund, aber ich habe die Trauerarbeit selbst bewältigt. Oder fange jetzt damit an«, sagte Winter.

Sie saßen stumm da und lauschten den Maschinengeräuschen.

»Es sind mehrere Krankheiten«, sagte Winter nach einer Weile. »Am Ende war es die Lungenentzündung, an der Mats gestorben ist.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ja.«

»Er hatte den Scheiß schon lange.«

»Ja.«

»Verdammt.«

»Einen Moment glaubte ich, daß er glaubte, er könne es schaffen.«

»Hat er das zu dir gesagt?«

»Nein. Aber ich habe es so aufgefaßt, daß er es einen Moment lang dachte. Der Wille kann genügen, wenn alles andere sich verabschiedet hat. Ein paar Minuten glaubte ich auch daran.«

»Ja.«

»Dann nahm er die kollektive Schuld auf sich. Danach war Schluß.«

»Hast du nicht gesagt, er hätte davon gesprochen, daß er Polizist werden wollte? Als er jung war?«

»Hab’ ich das gesagt?«

»Ich glaube schon.«

Winter strich sich das Haar aus der Stirn. Er hielt in der Bewegung inne, die Hand um die dicken Strähnen im Nacken gelegt.

»Vielleicht damals, als ich mit der Polizeischule anfing«, sagte er. »Oder als ich davon sprach, es zu versuchen.«

»Vielleicht.«

»Das ist ein Weilchen her.«

»Ja.«

Es rüttelte im Schiffsrumpf, als wäre er im Sund eingeschlafen und nun in seiner Ruhe gestört worden. Die Leute sammelten ihre Habseligkeiten ein und schlossen die Mäntel fester vor dem Aussteigen.

»Er wäre ja willkommen gewesen«, sagte Ringmar und blickte auf Winters Ellenbogen. Winter ließ seine Haare los und legte die Hände auf die Tischplatte.

»Ich habe gelesen, daß sie in England per Annonce homosexuelle Polizisten suchen«, sagte Ringmar.

»Sind das homosexuelle Polizisten, die sie für neue Stellen haben wollen, oder sind es Schwule, die sie zu Polizisten ausbilden wollen?« fragte Winter.

»Spielt das eine Rolle?«

»Entschuldigung.«

»Die kulturelle Vielfalt ist in England weiter entwickelt«, fuhr Ringmar fort. »Es ist eine rassistische und sexistische Gesellschaft, aber man sieht ein, daß man auch bei der Polizei verschiedene Sorten von Menschen braucht.«

»Ja.«

»Vielleicht bekommen wir auch bei uns einen Schwulen.«

»Meinst du nicht, daß wir den schon haben?«

»Einen, der es wagt, dazu zu stehen.«

»Wäre ich schwul, würde ich dazu stehen, nach dem, was ich heute erlebt habe«, sagte Winter.

»Mhm.«

»Vielleicht auch vorher. Ja, das glaube ich.«

»Ja.«

»Es ist falsch, sich herauszuhalten. Es ist nichts anderes, als an einer verdammten gemeinsamen Schuld zu tragen. Auch du trägst eine Schuld«, sagte Winter und sah den Kollegen an.

»Ja«, sagte Ringmar, »ich bin voller Schuld.«

Die Gesellschaft an den großen Fenstern sah wieder aus, als wolle sie ein kleines Lied an die Freiheit anstimmen, wenn sie nur nicht so vom Dasein bedrückt gewesen wäre. Die Fähre passierte einen Leuchtturm. Winter schaute durchs Fenster.

»Was hältst du davon, an Deck zu gehen und die Stadt zu begrüßen«, sagte er.

»Draußen ist es kalt«, sagte Ringmar.

»Ich glaube, ich brauche das.«

»Ich verstehe.«

»Wirklich?«

»Stell meine Geduld nicht auf die Probe, Erik.«

Der Tag war ältlich und grau. Das Autodeck schimmerte stumpf wie Kohle. Die Felsen um den Schiffsrumpf hatten die gleiche Farbe wie der Himmel. Es ist gar nicht leicht zu sagen, wo das eine aufhört und das andere anfängt, dachte Winter. Plötzlich ist man im Himmel, ohne es zu wissen. Ein Sprung von der Klippe, und schon ist man da.

Als sie unter der Brücke durchfuhren, war es Abend geworden. Die Lichter der Stadt waren überall. Weihnachten war vorbei, der Schnee stellenweise verschwunden. Die strenge Kälte hielt die Häßlichkeit wie auf einer Fotografie erstarrt fest.

»Wenn einen einer fragt, sagt man, Ende Januar sei die scheußlichste Zeit des Jahres, aber wenn es dann soweit ist, dann ist es auch nicht schlimmer als sonst«, sagte Ringmar.

»Nein.«

»Das bedeutet, daß es einem entweder das ganze Jahr über furchtbar schlechtgeht oder daß man sich die ganze Zeit wie ein Prinz fühlt«, sagte Ringmar.

»Ja.«

»Ich wäre gern ein Prinz.«

»So schlimm bist du doch wohl nicht dran?«

»Vor langer Zeit habe ich für einen Moment geglaubt, ich wäre ein Kronprinz, aber dem ist nicht so.«

Winter kommentierte es nicht.

»Der Kronprinz bist du«, sagte Ringmar.

Winter schwieg.

»Wie alt bist du? Siebenunddreißig? Kriminalkommissar und siebenunddreißig, oder fünfunddreißig, als du es geworden bist. Das ist doch nicht normal.«

Die Geräusche der Stadt waren jetzt deutlicher.

»Das ist gut, Erik«, fuhr Ringmar fort, »das ist gut. Aber wenn ich selbst eine Hoffnung hatte, dann verflüchtigte sie sich auf dieser kleinen Konferenz.«

»Was für einer Konferenz?«

»Auf der Konferenz für alle, die immer noch weiterkommen wollen.«

»Ach so, da«, sagte Winter.

»Du brauchtest ja nicht mehr hinzugehen.«

»Ja.«

Winter reihte sich in den Verkehr zur Autostraße hinunter ein. Die Bewegungen der Autos ließen ihn an ein gewundenes, lautes Glühwürmchen denken.

»Ich bin eigentlich kein Karrierist«, sagte Ringmar.

»Warum redest du dann soviel davon?«

»Ich verarbeite meine Enttäuschung. Das ist manchmal ganz natürlich, auch bei denen, die mit ihrem kleinen Los zufrieden sind.«

»Du bist doch auch Kriminalkommissar.«

Ringmar antwortete nicht.

»In deiner Rolle als Öffentlichkeitsreferent hast du doch einen hohen Posten«, sagte Winter. »Du bist kein Prinz, sondern ein Held«, fuhr er fort und sog die Abendluft durch die Nasenlöcher ein. Der Wind war wie grobes Salz auf seinem Gesicht. Die Fähre prallte gegen den Kai.

2

Er ging langsam die St.John’s Hill nach Osten, rings umgeben von den Geräuschen von Clapham Junction, aber er hörte fast nichts. Die Züge waren größer und schneller geworden, aber die Geräusche eher geringer, dachte er.

Er trat in ein Café, bestellte eine Kanne Tee und setzte sich dann ans Fenster. Er hörte die Stimmen der Bauarbeiter in der Ecke, die Männer nahmen lärmend ihr Frühstück zu sich, aber er lauschte nicht. Draußen gingen viele Leute vorbei, die meisten auf dem Weg nach Osten zur Lavender Hill und zum Kaufhaus. Arding and Hobbs ist immer ein Fest, dachte er. Das ist Harrods für die kleinen Leute, das wir hier geschaffen haben. Es sind die Einfachen und Armen, die südlich vom Fluß wohnen.

Draußen hatten alle gerötete Wangen. Auch drinnen spürte er den Winter, am Geruch der Kleider und am Zug von der Tür, wenn sie geöffnet und geschlossen wurde. Die Nordwinde fegten über Südlondon hinweg, und wie immer traf es die Menschen unvorbereitet.

Auf der ganzen Welt sind wir die Schlechtesten, wenn es gilt, vorbereitet zu sein. Uns hat die ganze Welt gehört, und wir haben nie etwas über Wind und Wetter gelernt. Wir glauben noch immer, daß das Wetter der Welt sich an britische Kleidung anpassen sollte, und wir werden uns nie ändern. Wir frieren uns blau.

Kriminalkommissar Steve Macdonald versuchte, den Tee zu trinken, aber der war zu stark geworden. Wir trinken den meisten Tee auf der Welt, aber wir können ihn nicht zubereiten. Am Anfang ist er immer zu schwach und am Schluß zu stark, und dazwischen ist er zu heiß zum Trinken, und heute habe ich eine scheußliche Laune, und da kommen solche schwarzen Gedanken.

»… und da hab’ ich gesagt, das kostet dich ein Bier, du Schuft«, sagte einer der Bauarbeiter als Schlußeffekt einer Geschichte.

Das ganze Café roch nach Fett, die Luft bestand aus Fett. Wenn Leute hereinkamen oder vom einen Ende zum andern gingen, hinterließen sie einen Abdruck. Das ist wie in Sibirien, dachte Steve Macdonald. Es ist nicht ganz so kalt, aber im übrigen ist der Widerstand in der Luft der gleiche.

Er ging hinaus auf die Straße und zog das Telefon aus der Innentasche seines Sakkos. Er tippte eine Nummer und wartete, die Augen auf dem kleinen Display des Apparats. Er hob den Blick und sah Reisende aus dem Steinportal des Bahnhofs kommen.

»Hallo«, war eine Stimme aus dem Telefon zu hören.

»Ich bin jetzt hier oben.«

»Ja?«

»Ich bleibe noch den ganzen Tag.«

»Du meinst den ganzen Winter.«

»Ist das ein Versprechen?«

Macdonald bekam keine Antwort.

»Ich fange oben in der Muncaster Road an.«

»Bist du um den Teich herumgegangen?«

»Ja.«

»Und?«

»Es ist möglich. Mehr kann ich im Moment nicht sagen.«

»Gut.«

»Ich glaube, ich gehe im Dudley vorbei.«

»Wenn du es schaffst.«

»Ich will eine Weile dort bleiben.«

»Wir müssen später darüber sprechen«, sagte die Stimme, und dann war die Leitung tot.

Macdonald steckte das Telefon wieder in die Innentasche und bog nach Süden in die St. John’s Road ein, wartete auf eine Lücke im Verkehr auf der Battersea Rise und ging auf der Northcote Road weiter nach Süden.

Dann ging er die Chatto Road nach Osten und betrachtete sehnsüchtig die Fassade des Pubs The Eagle. Später. Vielleicht viel später.

Er ging dreihundert Meter und bog in die Muncaster Road ein. Die Reihenhäuser glühten matt in der Januarsonne, Backstein und Putz flossen mit den Gehsteigplatten zu einer winterlichen Unfarbe zusammen. Der Kontrast wurde stark, als der Briefträger auftauchte, die Posttasche auf dem Wägelchen, eine rote Farbe, die in die Augen stach. Er sah ihn an einer Tür klingeln. Der Postmann klingelt immer mindestens zweimal, und Macdonald bog unter einen niedrigen Torweg ein, als er das Gittertor geöffnet hatte. Er griff den Türklopfer und hämmerte gegen die Tür. Eine brutale Art und Weise, seine Ankunft anzukündigen, dachte er.

Die Tür wurde so weit geöffnet, wie es die Sicherheitskette zuließ, und er ahnte ein Gesicht drinnen im Dunkeln.

»Ja?«

»Bin ich hier richtig bei John Anderton?« fragte Macdonald und suchte in der Innentasche nach seinem Ausweis.

»Wer bitte sind Sie?«

»Polizei«, sagte er und hielt seine Karte hin, »ich habe vorhin angerufen.«

»John ist beim Frühstück«, sagte die Frau, als ob dies den Besuch unmöglich machte. Sie will, daß ich gehe, damit sie ihre Kippers fertigbraten kann. Er roch den scharfen Duft von verkohltem Hering durch den Türspalt.

»Es dauert nicht lang«, sagte er.

»Aber…«

»Es dauert nicht lang«, wiederholte er und steckte den Ausweis weg. Er hörte Geklapper von innen, als die Frau die Sicherheitsvorrichtung abnahm. Er wartete. Das mußte ein Vermögen gekostet haben, dachte er. Da blieb kein Geld übrig, um die Tür selbst zu erhalten. Bald kracht die Tür unter dem Gewicht des ganzen Eisens da drinnen ein.

Sie machte auf, und sie war jünger, als er geglaubt hatte. Sie war nicht hübsch, aber sie war jung, und bald würde sie auch ihre Jugend verlieren. Vielleicht grämt es sie schon, dachte er.

»Bitte«, sagte sie und machte eine Bewegung ins Haus. »John kommt gleich.«

»Führ ihn herein, zum Kuckuck«, war eine Stimme über den Flur zu hören. Sie klang undeutlich und unnötig laut. Er hat den Mund voll Ei, dachte Macdonald. Oder es ist Speck.

Die Küche erinnerte an K & M’s Café in der St.John’s Hill, die Luft war dick vor Fett vom Hering in der Bratpfanne.

Der Mann war kräftig und rot im Gesicht.

Hoffentlich stirbt er nicht, während ich hier sitze, dachte Macdonald.

»Darf man die Staatsgewalt zu einem Heringsschwanz einladen?« sagte der Mann und zeigte auf seine Frau und zum Herd, als habe der Besucher die Wahl zwischen beiden.

»Nein, danke«, sagte Macdonald, »ich habe gefrühstückt.«

»Er ist mit Curry gebraten«, sagte John Anderton.

»Trotzdem.«

»Was wollen Sie dann haben?« fragte er, als ob der Polizist gekommen wäre, um seinen Hunger zu stillen. »Wollen Sie keinen Hamburger?« fuhr er fort und lachte mit Zähnen, die giftig und gelb glänzten. »Einen Big Mac?«

»Ich nehme gern einen Tee«, sagte Macdonald.

»Die Milch ist alle«, sagte die Frau.

»Das geht auch so.«

»Wir haben keinen Zucker«, sagte die Frau und sah ihren Mann an.

Wenn es überhaupt ihr Mann ist, dachte Macdonald.

Der Mann sagte nichts. Kritisch betrachtete er den Besucher. Ob die mich auf den Arm nehmen, dachte Macdonald. Ich kann sie bitten, mir ein bißchen Curry reinzutun.

»Bitte«, sagte die Frau und stellte ein Tasse vor ihn hin. Macdonald hob sie hoch und trank. Der Tee war gut, gerade richtig stark, nicht zu heiß.

»Wir hatten doch noch ein bißchen Zucker«, sagte die Frau.

»Es ist eine Ehre, Besuch von der Polizei zu bekommen«, sagte der Mann. »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie Hausbesuche machen, ich dachte, man wird mitten in der Nacht zum Yard geholt, auch wenn es nur um die Bestätigung geht, daß man seinen Hamster als vermißt gemeldet hat.«

Macdonald schwieg. Unser guter John ist nervös wie alle andern, dachte er. Geplapper ist die Mutter der Nervosität. Vielleicht ißt er diese grotesken Portionen, um mit der Aufregung fertig zu werden.

»Wir wissen es zu schätzen, daß Sie Kontakt zu uns aufgenommen haben, Herr Anderton«, sagte er und holte einen Notizblock und einen Stift aus der rechten Sakkotasche. Er hatte den Mantel in den Flur gehängt und nachgesehen, daß das Handy im Sakko und nicht im Mantel war.

»Ich bin ein verantwortungsbewußter Mitbürger wie alle andern«, sagte der Mann und breitete die Arme aus, als posierte er für eine Statue in The Common.

»Wir wissen es zu schätzen«, wiederholte Macdonald.

»Obwohl es nicht viel ist, was man liefern kann«, sagte der Mann mit einer Bescheidenheit, die nicht zu seiner Art paßte.

»Sie haben einen Mann gesehen«, begann Macdonald.

»Sagen Sie doch John.«

»Sie haben einen Mann gesehen, der einen Jungen ansprach, John.«

»Es war in der Dämmerung, und ich war unten im The Windmill gewesen, und als wir ein paar Glas getrunken hatten, sagte einer, daß der Abend …«

»Ich interessiere mich vor allem dafür, was am Mount Pond passiert ist«, ließ Macdonald einfließen.

»Wie ich gesagt habe«, fuhr der Man nach einer kurzen Pause fort. »Es war in der Dämmerung, und ich ging allein vom Pub am Windmill Drive weg und bog zum Teich ab.«

»Warum?«

»Ich verstehe die Frage nicht.«

»Wäre es nicht natürlicher gewesen, geradeaus über die Avenue zu gehen?«

»Spielt das eine Rolle?«

Macdonald sagte nichts.

»Wenn es so furchtbar wichtig ist: Ich mußte pissen«, sagte der Mann mit einem komischen Blick auf die Frau.

Die Frau war mit ihrem Gepussel am Herd fertig und blieb mit einem Handtuch in der Hand da. Sie stand am Fenster, das auf die Straße ging.

»Es gibt eine gute Stelle zwischen dem Teich und dem Bandstand, wenn man auf dem Weg vom Pub nach Hause in Verlegenheit kommt«, sagte Anderton.

»Sie standen am Teich.«

»Ich stand ziemlich nah am Teich, und als ich fertig war, sah ich diesen Typen da, mit dem Arm um den Jungen.«

»Er hielt ihn?«

»Der Typ hatte den Arm um den Jungen gelegt, ja.«

»Warum bezeichnen Sie ihn als Typ?«

»Er sah aus wie ein Typ.«

»Wie sehen die aus?«

»Wenn ich richtig ehrlich sein soll, sehen die ungefähr wie Sie aus«, sagte Anderton und grinste.

»Wie ich«, kam es von Macdonald.

»Haar, das geschnitten werden müßte, Lederjacke, groß und zäh mit einer Art dunkelhäutiger Fiesheit, die einem eine Heidenangst einjagen kann«, erklärte John Anderton.

»Mit andern Worten, wie ich«, sagte Macdonald.

»Ja.«

Dieser Mann ist ein Schnäppchen, dachte Macdonald. Sieht aus, als würde er in Cholesterin ertrinken, hat aber einen scharfen Blick.

»Sie standen still da und haben die beiden beobachtet?« fragte er.

»Ja.«

»Berichten Sie in Ihren eigenen Worten, was Sie sahen.«

»Was für Worte sollte ich sonst verwenden?«

»Berichten Sie nur.«

Der Mann kippte die Tasse vor sich, blickte hinein und reckte sich nach der Teekanne, um die Tasse mit einer Flüssigkeit zu füllen, die in der Zeit, die sie schon dasaßen, dunkel geworden war. Er trank und verzog das Gesicht. Er strich sich über die Glatze. Die Haut straffte sich und wurde leicht rot, und die Rötung blieb mehrere Sekunden zurück.

»Ich stand gewissermaßen einfach da und war nicht besonders neugierig. Außer den beiden gab es nichts zu sehen. Aber ich dachte, daß dieser Typ doppelt so groß und doppelt so alt wie der Junge ist und daß ich da nicht Vater und Sohn vor mir sehe.«

»Aber der Mann hatte den Arm um den Jungen gelegt?«

»Ja. Aber es ging mehr von ihm aus als von dem Jungen.«

»Wieso?«

»Wieso? Man sah, wer am meisten interessiert war.«

Macdonald blickte auf seinen Block. Er hatte noch nichts aufgeschrieben.

Je weniger ich schreibe, desto weniger brauche ich mich später während der Untersuchung darum zu kümmern, dachte er.

»Sah es irgendwie nach Gewalt aus?«

»Was ist Gewalt und was ist nicht Gewalt«, bemerkte Anderton, als hielte er eine Vorlesung an der London University.

»Kam es zu Gewaltanwendung von Ihrer Definition her?« fragte Macdonald.

»Er zerrte nicht an dem Jungen.«

»Haben Sie etwas gehört?«

»Ich habe halt die Stimmen gehört, aber sie waren zu weit weg, um etwas aufzuschnappen.«  Anderton stand auf.

»Wohin wollen Sie?« fragte Macdonald.

»Ich stelle noch ein bißchen Wasser auf, wenn ich darf.«

Macdonald antwortete nicht.

»Darf ich?«

»Selbstverständlich.«

»Sie haben nie überlegt, in welcher Sprache sie sich unterhielten?« fragte Macdonald, als der Mann vom Küchenherd zurückgekommen war und sich wieder gesetzt hatte.

»Nein. Ich habe einfach vorausgesetzt, daß es Englisch war. War es denn nicht Englisch?«

»Wir wissen es nicht«

»Warum sollte es nicht Englisch sein?«

»Schienen sie dieselbe Sprache zu sprechen?«

»Es schien mir, als hätte meist der Große gesprochen, aber doch, sie schienen sich zu verstehen. Aber es dauerte nicht lange, daß sie dastanden.«

»Nein.«

Es pfiff vom Herd, und Anderton ging hin und beschäftigte sich mit dem Tee, während er Macdonald den Rücken kehrte.

»Ich wollte gerade aus dem Gebüsch steigen, als sie fortgingen«, sagte Anderton, als er zurückkam.

»Haben die beiden Sie nicht gesehen?«

»Ich weiß nicht. Der Junge drehte sich um, vielleicht hat er mich gesehen, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig, oder?«

Macdonald antwortete nicht.

»Er ist ja tot, oder?«

»Wie lange haben Sie den beiden nachgesehen?«

»Ich blieb nicht stehen, bis der Horizont sie verschluckte, ich wollte heim und Eastenders sehen. Aber es wurde schnell dunkel, während ich dort stand.«

»In welche Richtung gingen sie?«

»Süden. Genau nach Süden über den Windmill Drive.«

»Wir werden Ihre Hilfe brauchen, um ein gutes Bild von diesem Mann zu bekommen.«

»Ein gutes Bild? Ich kann doch nicht lügen, so wenig wie ich gesehen hab’.«

Macdonald seufzte.

»Okay, okay, ich kann manchmal ein bißchen zu viele Witze machen.«

Macdonald schrieb etwas auf seinen Block.

»Klar, ich helfe mit, soviel ich kann. Es ist ja nicht so, daß ich den Ernst nicht einsehe. Verdammt armer Junge. Und seine Eltern.«

Macdonald sagte nichts.

»Ich habe doch angerufen, oder?« fuhr Anderton fort. »Gleich nachdem ich davon in der South London Press gelesen hätte.«

»Das wissen wir zu schätzen.«

»Ich hoffe, ihr locht den Teufel bald ein. Wir stehen alle hinter euch«, sagte John Anderton, und Macdonald bekam den Eindruck, daß er auch die Menschen in den ehemaligen Kolonien einbezog.

Der Tag war angenehm auf dem Gesicht, als er auf die Muncaster hinauskam. Er ist so klar, wie es in Südlondon werden kann, dachte er. Ich brauche etwas nach dem ganzen verfluchten Tee. Der Hals fühlt sich pelzig an.

Er wanderte wieder nach Süden bis zur Chatto Road und ging in The Eagle. Es war eine halbe Stunde vor dem Lunchansturm. Der Barkeeper sah angespannt aus und beäugte Macdonald, wie man einen Gast betrachtet, der nicht bis zur verabredeten Zeit warten kann.

Macdonald ging zur Theke vor und bestellte ein Young’s Special. Der Barkeeper entspannte sich, als er merkte, daß der lange Kerl nicht essen wollte. Ich kann nicht dauernd die Nierenpastete aus dem Ofen holen und wieder reinschieben, dachte er. Wie stellen die Leute sich das vor?

Macdonald wartete, bis die Trübe im Glas klar geworden war. Das ist, wie wenn man einem winterlichen Weg südlich vom Fluß folgt. Alles klärt sich für den, der Geduld hat zu warten.

Er trank wie ein Verdurstender.

Alles hellt sich auf und wird klar, so daß man am Ende hindurchsehen kann, dachte er.

Er sah einige zeitige Gäste von der Straße hereinstiefeln. Der Barkeeper wurde noch steifer in seinen Bewegungen. Er mußte drei Sekunden länger auf ein zweites Pint warten.

Macdonald hatte es schließlich geschafft, trotz des Verkehrs auf die Südseite der Avenue zu kommen, und war ins Dudley Hotel an der Ecke der Cauley Avenue gegangen. 25 Pfund die Nacht. Im voraus bezahlt.

Er hatte die Versiegelung aufgebrochen und stand nun mitten im Zimmer. Der widerliche Geruch nach Blut war unverkennbar. Blutgeruch ist für uns nichts Fremdes, aber der hier ist der scheußlichste, den ich je gerochen habe, dachte er.

Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und habe gesehen, wie tausend Schweine geschlachtet wurden, aber es roch nicht so wie das hier. Es ist die Süße im Menschenblut, die einen schwindeln läßt.

Hierher waren sie gegangen. Es könnte unmittelbar, nachdem John Anderton sie gesehen hatte, geschehen sein, dachte er. Wenn es die beiden waren. Das hier war das Zimmer des Jungen. Hier hatte er zwei Tage gewohnt. Warum hatte er hier gewohnt? Warum wohnte ein junger Mann, der London besuchte, unten in Clapham? Clapham war schon in Ordnung, aber ein junger Besucher sollte eigentlich in einem der billigen Häuser in Bayswater absteigen. Oder rund um Paddington. Dort gab es andere junge Fremde. Die konnten Schutz geben.

Die Tapeten hatten einen unbestimmten gelblichen Ton gehabt, als der Junge das Zimmer bezog. Jetzt hatten sie eine andere Farbe.

Steve Macdonald schloß die Augen und versuchte, auf das zu lauschen, was an den Wänden hängengeblieben war. Nach einigen Minuten hörte er einen Schrei, der abgeschnitten wurde, und das furchtbare Rutschen eines menschlichen Körpers über den Fußboden.

Macdonald spürte einen stechenden Kopfschmerz unter dem rechten Auge, der ihn daran erinnerte, daß er am Leben war.

Was hatte den Jungen veranlaßt, den Mann mit heraufzunehmen? War es nur Sex? War es das Versprechen von Sex, oder war es etwas ganz anderes? Ging es um Drogen? Was zum Teufel war es, dachte Macdonald. Es würde entweder eine lange Ermittlung geben oder eine ganz kurze.

Warum hier? Kannte der Junge Leute in Clapham oder oben in Battersea? Oder drüben in Brixton?

Der Junge war ausgeraubt worden, aber das war kein Raubüberfall. Das alles war später passiert.

Er hatte keinerlei Identitätsnachweise mehr außer seinen Zähnen, und die waren nicht britisch, dachte Macdonald.

Der Junge hatte seinen Namen und seine Heimatstadt in das Gästebuch eingetragen, als er sich in diesem schäbigen Bed & Breakfast im südlichen Teil der Mitte der Welt anmeldete. Das waren die einzigen Anhaltspunkte. Er hieß Per Malmström, und er hatte angegeben, daß er aus Göteborg kam.

Das ist an der schwedischen Westküste, dachte Macdonald. Der Junge war blond wie alle andern aus Schweden. Warum sind die Briten nicht so blond? Es ist der gleiche harte Himmel, es sind die gleichen scharfen Winde.

Inzwischen hat die Nachricht die Polizei in Göteborg erreicht, dachte er. Wenn Interpol ihre Arbeit macht.

Er schloß wieder die Augen, lauschte auf das Heulen der Wände, auf den Ruf des Bodens.

3

Das Treffen hatte im Zentrum stattgefunden. Den genauen Ort festzustellen war nicht möglich, aber der Junge und der Mann waren im Brunnsparken gesehen worden. Niemand hatte ausgesagt, sie vorher zusammen gesehen zu haben. Noch hatte niemand darüber etwas ausgesagt.

Es waren vielleicht drei Personen, die sie nach dem Brunnsparken gesehen hatten, und das war unendlich viel, dem man nachgehen konnte. Vielleicht waren es mehr als drei.

Die zwei waren auf jeden Fall zusammengewesen, hatten aber nicht wie Vater und Sohn ausgesehen.

Das Haar des Jungen war dunkel gewesen und zu einem »eckigen Pony« geschnitten, das hatten zwei Personen beobachtet, und da Kriminalkommissar Erik Winter wußte, wie Zeugenaussagen im Verhältnis zur Wahrheit variieren konnten, notierte er, daß es hier einen Anhaltspunkt gab.

Es gibt immer einen Anhaltspunkt, dachte er, als er am Sportplatz Mossen vorbeiging. Es mag scheinen, daß man keinen Millimeter weiterkommt, aber das ist eine Frage der Erwartung.

Die Fußballplätze aus Schotter warteten unterhalb von ihm, sie brüteten über der Erinnerung an Bewegung; in drei Monaten würden die Spieler des Frühjahrs sich über den Platz scheuchen, und der gefrorene Schotter, der nun wie Stahl schimmerte, würde dann weich sein und duften und dampfen vor Lauge und Liniment.

Fußball ist kein Sport, dachte Winter. Das ist ein Knieschaden, und mir fehlt dieses Gefühl loser Knochensplitter in meinen Knien. Ich hätte etwas werden können, aber ich kam nicht oft genug zu Schaden.

Niemand erinnerte sich, wie der Mann aussah. Aber die Zeugen hatten ein sehr klares Bild von ihm. Er war groß gewesen, mittelgroß oder eher kurz. »Im Verhältnis zu dem Jungen?« hatte Winter gefragt. »Nee, im Verhältnis zur Straßenbahn«, hatte einer gesagt, und Winter hatte die Augen geschlossen, als würde dann alles Böse und Wichtigtuerische verschwinden.

Das Haar des Mannes war blond, schwarz und braun gewesen. Er war mit Anzug, Lederjacke und Tweedsakko bekleidet gewesen. Er trug eine Brille, er trug keine Brille, und er trug eine Sonnenbrille. Er ging mit krummem Rücken, er hielt sich gerade, er war O-beinig und hatte gerade, lange Beine.

Wie sähe die Welt aus, wenn alle dasselbe glaubten, alles auf dieselbe Weise sähen, hatte Winter gedacht.

Das Haar des Jungen war dunkel, das hatte Winter selbst sehen können. Ob zum »eckigen Pony« geschnitten, war nicht mehr zu erkennen. Auf dem zweiten Stock im vierten Zimmer links, vom Treppenhaus des Chalmers Studenthem gerechnet, war der Kriminalpolizist geblieben, nachdem die Techniker und der Gerichtsmediziner mit der ersten und unmittelbaren Arbeit fertig waren. Das war, nachdem die Leiche weggetragen worden war.

Er roch den Duft des Blutes auf den Wänden. Nein, es ist kein Duft, dachte er, es ist ein Gestank, der eher in der Vorstellung existiert als im wirklich Erlebten. Es ist die Farbe, die vor allem. Die verblaßte Farbe des Lebens, über diese pißgelben Wände verteilt.

Die Sonne fiel nach rechts herein und warf ein karges Licht auf die Wand vor ihm. Wenn er blinzelte, verschwanden alle Farben, und die Wand wurde mehr zu einem erleuchteten Rechteck. Er blinzelte. Er schloß die Augen und hörte, wie das Blut sich durch die kalte Wärme der Sonne auflöste und wie die Wand zu rufen begann, was hier vor weniger als zwölf Stunden geschehen war.

Die Rufe wurden allmählich stärker, und Winter hielt sich die Ohren zu und ging quer durchs Zimmer und öffnete die Tür zum Korridor. Als er die Tür hinter sich schloß, hörte er das Gebrüll drinnen, und er begriff, daß die Stille genauso ohrenbetäubend gewesen war, als es geschah.

Er war vorbeigegangen und umgekehrt und zurückgegangen. Es war Samstag. Der Nachmittag hatte keine Farben und bildete einen Kontrast zur Einrichtung in der Bar und dem Restaurant dahinter. Dort waren die Farben schwach und gedämpft, aber stark im Verhältnis zum Winter draußen. Im Sommer spendeten sie den Gästen Kühle. Nun boten sie Wärme an. Da hat Johan mit einem guten Innenarchitekten zusammengearbeitet, dachte Winter und setzte sich an einen der beiden Tische am Fenster. Ein Mädchen kam zu ihm, und er bestellte ein Glas Maltwhisky.

»Mit Eis?« fragte das Mädchen.

»Wie bitte?«

»Möchten Sie Eis im Whisky?« fragte sie noch einmal.

»Ich habe doch einen Lagavulin bestellt«, sagte er.

Das Mädchen sah ihn mit verständnislosen Augen an. Sie ist ganz neu, und sie ist nicht schuld, dachte er. Bolger ist nicht dazu gekommen, sie auszubilden. Ich sage nichts.

»Kein Eis«, sagte er, und das Mädchen entfernte sich vom Tisch und ging zur Theke. Nach fünf Minuten war sie mit dem Alkohol in einem breiten, dicken Glas zurück. Winter blickte hinaus auf die Bewegung in der Fußgängerstraße. Sie spielte sich im Zeitlupentempo ab, nicht eingefroren, aber auch nicht richtig frei, um ohne Leine zu gehen. Winter blickte vorwärts: Bald kommt das Frühjahr, und dann gehe ich ohne Socken und Schuhe.

»Es ist eine Weile her«, sagte Bolger, der zum Tisch gekommen war und gegenüber von Winter Platz nahm.

»Ja.«

Johan Bolger warf einen Blick auf Winters Whiskyglas.

»Hat sie gefragt, ob du Eis willst?«

»Nein«, sagte Winter.

»Nicht?«

»Soweit ich sehe, kann sie ihre Arbeit«, sagte Winter.

»Du lügst, du barmherziger Teufel, aber das spielt keine Rolle. Es ist eigentlich nicht ihr Fehler. Es gibt viele Gäste, die Eis im Maltwhisky wollen. Es sind nicht alle solche Snobs wie du.« Bolger lächelte Winter schief an.

»Probier es mit Schwenkern.«

»Ich hab’ sie im Schrank, aber es braucht etwas Zeit, bis das Routine wird«, erklärte Bolger.

»Maltwhisky kann in den neuen Whiskyschwenkern serviert werden«, sagte Winter. »Manche meinen vielleicht, es wäre albern, aber es ist eine Möglichkeit.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Dann löst du gleichzeitig das Problem mit dem Eis.«

»Das ist genial.«

Draußen rutschte eine ältere Frau auf dem vereisten Straßenpflaster aus. Sie glitt aus, ein Bein vom Körper abgewinkelt, und schrie, als etwas knackte. Sie verlor ihren Hut, und ihr Mantel verrutschte. Die Ledertasche, die sie in der Hand getragen hatte, sprang über mehrere Steine, riß auf und verbreitete ihren Inhalt in einem Halbkreis.

Sie konnten die Hilferufe der Frau von draußen hören. Ein Mann und eine Frau hatten sich neben sie gehockt, und Winter sah den Mann ins Handy sprechen. Ich könnte auch nichts anderes tun, dachte er. Wäre ich in Uniform, könnte ich die Neugierigen verscheuchen, aber so bin ich nicht dazu befugt.

Bolger und Winter schwiegen. Nach einer kleinen Weile fuhr ein Krankenwagen rückwärts von der Västra Hamngatan herein, die Frau wurde auf eine Trage gehoben, und das Auto fuhr los. Ohne Sirenen.

»Es wird schon wieder dunkel«, begann Winter.

Bolger sagte nichts.

»Und dabei hat sich das Blatt gewendet. Genau dann, wenn man sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt, wendet sich das Blatt«, sagte Winter.

»Macht dich das traurig?«

»Es macht mich hoffnungsvoll.«

»Das ist gut.«

»Ich glaube, daß etwas Grauenhaftes passieren wird und ich mittendrin lande«, sagte Winter. »Es wird wieder so kommen.«

»Das klingt wirklich hoffnungsvoll.«

»Es macht mich traurig.«

Bolger sagte nichts.

»Ich habe das hier gebraucht … den Glauben an das Gute … aber nun ist mir, als brauchte ich es nicht mehr«, sagte Winter.

»Das ist deine Therapie gewesen.«

»Hört sich das merkwürdig an?«

»Ja.«

»Dann habe ich wohl das Richtige getan.« Winter lächelte.

»Willst du als Ombudsmann aufhören?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, ich glaube, daß ich mit Glaubensfragen Schluß mache.«

»Ist das ein Unterschied?«

»Ein Polizist braucht nicht nur daran zu denken, die Schuldfrage zu untersuchen, wenn die Leute einander betrügen und schaden«, sagte Winter.

»Wer soll dann diese schmutzige, aber notwendige Arbeit tun?« fragte Bolger und machte ein Zeichen zur Theke.

Winter antwortete nicht. Das Mädchen kam zum Tisch, und Bolger bat um einen Knockando ohne Eis, in einem von den neuen länglichen Gläsern serviert.

»Sie hat diese Bestellung entgegengenommen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt«, sagte Winter.

»Es gibt noch Hoffnung«, meinte Bolger, »außer für den, der das schmutzige Handwerk nach dir oder neben dir machen soll.«

»Nennst du das Handwerk?«

»Du weißt, was ich meine.« Bolger nahm das Glas, mit dem das Mädchen kam.

»Ich habe einen neuen Trauerfall«, begann Winter zu berichten.

Bolger hörte zu.

»Trauer endet und wird zu etwas anderem«, sagte er, als Winter schwieg. »Du hättest mich bitten können, mit auf die Beerdigung zu gehen. Ich habe Mats auch ein wenig gekannt.«

»Ja.«

»Ich fühle mich fast… übergangen.«

»Das war nicht meine Sache, Johan. Vielleicht habe ich geglaubt, wir würden uns dort draußen treffen.«

»Das ist so schrecklich …«

»Was sagst du?«

»Nichts.«

»Was murmelst du vor dich hin?«

Bolger antwortete nicht. Er beugte sich vor, beschäftigte sich mit dem Glas. Von irgendwo im Lokal waren Stimmen zu hören.

Winter schwieg. Hatte er genug, wenigstens für den Moment? Was bedeutete das? Das bedeutete, daß er nicht mehr hineingezogen werden wollte, wenn Menschen verschwanden, gleich wie es zuging. Aber es war ein kurzer Gedanke. Er trank selten Alkohol, beinahe nie. Es lag am Schnaps. Der erzeugte die Gedanken hier in Bolgers Bar. Dabei hatte er noch gar nicht getrunken. Er sollte es lieber nicht tun. Er ließ das Glas los und stand auf, um zu gehen.

»Bis bald, Johan.«

»Wo gehst du hin?«

»Ins Büro.«

»Samstagabend?«

»Ich weiß nicht, ob ich vom Verschwinden die Nase voll habe«, sagte Winter. »Vielleicht ist dort jemand, der mich braucht.«

Die Mitteilung von Interpol wartete auf ihn. Das ist ein Englisch, das ich verstehe, dachte er, während er las. Hol’s der Teufel, nimmt das denn nie ein Ende. Er wußte, daß das eine naive Frage für einen fast 40jährigen Kriminalkommissar war. Er war jung, aber nicht so jung.

Er las. Es waren keine Details angegeben, und er hatte auch keine erwartet. Die Information genügte.

Per Malmström.

Was zum Kuckuck hattest du dort zu suchen?

Er hörte den eigenen schweren Atem und nahm den Telefonhörer ab. Einer würde gezwungen sein, es den Angehörigen mitzuteilen, die eventuell in der Stadt wohnten, und er wußte, daß er es war, Erik Winter, der den Auftrag auf sich nähme. Es war keine Selbstverständlichkeit, daß ein Fahndungsleiter den Hinterbliebenen die schwere Nachricht überbrachte. Wichtig war, daß es ein erfahrener Polizist machte. Winter nahm die Aufgabe auf sich wie einer, der einen schweren Mantel überzieht, wenn es draußen schüttet. Aber es mußte sein.

In der Polizeiarbeit gibt es so gut wie nichts, das glatt und sanft ist, und das hier ist das Schlimmste in dem Haufen Scheiße, dachte er.

Ich komme mit einer Nachricht.

Er bekam die Adresse von der Stimme am Telefon. Er kannte sie schon, er hätte sie nicht nachzuprüfen brauchen, aber es war wie ein Reflex, wie um ein wenig Zeit zu gewinnen.

Später würde er mit Hanne sprechen müssen. Er glaubte, daß er sie nun brauchte.

Drei Wohnungen durchgekämmt. Nicht die eigentliche Tat war es, was das Adrenalin im Körper so heftig brausen ließ. Er spürte den Sturm in sich, als das Schloß knackte, aber daran lag es trotzdem nicht.

Es war das ganze schreckliche Warten. Sich unsichtbar zu machen und gleichzeitig dazusein, ganz außerhalb, die Augen überall.

Jetzt ging er.

Jetzt ging sie.

Und dann das lange Warten. Die Gewohnheiten. Wann kamen die Leute zurück? Wer ging zur Arbeit und wer nur einmal um den Häuserblock? Wer glaubte, er hätte vergessen, den Herd auszumachen? Wer war sich sicher, daß das Licht in der Wohnung brannte, so daß er umkehren und nachsehen mußte, jeden Tag?

Über das alles mußte man als Profi Bescheid wissen. Er war kein richtiger Profi, aber auf dem besten Weg dahin. Er arbeitete allein, und das war von Vorteil. Die Jungs, die mit Autos arbeiteten, waren immer zu zweit, aber er wollte auf niemanden angewiesen sein.

Er verließ das Treppenhaus auf dem Stockwerk darunter, ging die halbe Treppe hoch und bekam die Tür in drei Sekunden auf und war drinnen. Er verstand es, keine Spuren auf dem Türrahmen zu hinterlassen.

Er spürte den warmen Druck im Körper. Er wartete im Flur und hörte den Puls langsamer werden.

Er wußte, daß die Stille hier ein Freund war und gleichzeitig ein Feind. Er machte nie Krach. Lag einer mit Grippe im Stock darüber, dann wollte er nicht stören.

Er begann mit dem Wohnzimmer, da es beim erstenmal so gewesen war, und dann hatte er weiter nach dieser Routine gearbeitet. Nach diesen vier Monaten kannte er sich mit den Wohnzimmern der Leute aus. Was für ein Glück, daß man nicht darauf aus ist, Bücher zu stehlen, dachte er. Die Leute haben nicht viele Bücher zu Hause. Ich bin Einbrecher, aber ich habe Bücher zu Hause. Ich bin Einbrecher, aber ich bin auch Ehemann und Vater.

Er hatte einmal eine andere Arbeit gehabt oder zwei, aber daran dachte er nicht mehr. Manche schaffen es, und andere schaffen es nicht, und er hatte seine Wahl getroffen.

Der Mann, der hier wohnte, besaß Bücher. Er wußte, daß der Mann las, aber nicht, welche Literatur. Sein Aussehen ist nicht einzigartig, aber man vergißt es auch nicht, dachte er.

Hätte ich mehr Zeit, würde ich gern die Titel durchsehen. Er ist gegangen und kommt lange nicht zurück, aber auf Risiken lasse ich mich nur zu meinen Bedingungen ein.

Er suchte in Schubladen und an den Wänden entlang, fand aber nichts, was mit seiner Arbeit zu tun hatte. Er ging auf den Flur zurück und quer hinüber in einen Raum, der das Schlafzimmer war.

Das Bett war nicht gemacht, und daneben, zwei Meter von der Tür, lag ein schwarzer Müllsack. Er war nicht leer. Er befühlte ihn von außen, und er faßte sich weich an. Er packte den Sack unten und leerte den Inhalt vorsichtig aus. Es waren ein Hemd und eine Hose, und die Kleidung war zum Teil mit etwas getränkt, das getrocknet war, und es sah aus, als wäre sie in ziegelrote Farbe getaucht.

Zu Hause war er zerstreut. Es mußte über etwas nachdenken, und so war er nach Hause gegangen, ohne weiter in der Wohnung zu suchen.

Draußen vor den Scheiben fiel Schnee, und er spürte einen Zug durch den Spalt im Fenster. Von seinem Platz aus konnte er einige Kinder sehen, die auf der Erde Schnee zusammenkratzten, bevor er sich richtig legen konnte. Er sah seinen Sohn mit einer Möhre in der Hand. Eine Nase sucht ihren Schneemann, dachte er. Da muß ich an Michael Jackson denken.

»Woran denkst du?« fragte sie.

»Was?«

»Du siehst aus, als wärst du tief in Gedanken.«

»Ich dachte an Michael Jackson.«

»Den Sänger?«

Er blickte weiter aus dem Fenster. Der Körper des Schneemanns nahm allmählich Form an. Er hatte einen Rumpf bekommen. Die Kinder hatten einen Unterleib gerollt, aber der Schneemann bekam keine Beine. Auf der ganzen Welt gibt es keine Schneemänner, die Beine haben, dachte er.

»Ist es der Sänger Michael Jackson, an den du gedacht hast?« fragte sie.

»Was?«

»Nee, jetzt bist du dran.«

Er wandte den Blick und sah sie an.

»Ja, der Michael Jackson. Ich sehe Kalle draußen mit der Möhre in der Hand, und er steht da und wartet, daß der Schneemann, den sie bauen, einen Kopf bekommt, damit er die Nase einsetzen kann«, sagte er und blickte wieder aus dem Fenster.

»Michael Jackson hatte doch vor ein paar Jahren Probleme mit der Nase«, fuhr er fort.

»Da weißt du mehr als ich.«

»Es stimmt. Hast du noch Kaffee?«

Sie stand auf und holte den Kaffee vom Spültisch neben dem Herd.

»Wie war es heute eigentlich?« fragte sie, als er Milch und dann Kaffee in die Tasse gegossen und getrunken hatte.

»Wieso?«

»Du warst so komisch, als du heimgekommen bist.«

»Aha?«

»Du warst nicht wie sonst.«

Er antwortete nicht. Draußen war der Kopf aufgesetzt worden, und Kalle hatte die Nase dorthin gesteckt, wo mit Steinen als Augen und Kies als Mund ein Gesicht entstehen sollte.

»Ist es schlimmer als sonst?«

»Nein.«

»Du hast sonst in letzter Zeit … munterer gewirkt.«

»Man gewöhnt sich schließlich an die Arbeitslosigkeit, und da wird man munterer.«

»Ich bin froh, daß du darüber Späße machen kannst.«

»Ich mache keinen Spaß.«

»Ich freue mich trotzdem«, sagte sie und lächelte.

»Bei der Arbeitsvermittlung sehen sie immer an mir vorbei«, sagte er nach zwei Minuten Schweigen.

»An dir vorbei?«

»Ich sitze da bei der Beamtin, und sie sieht mich nie an, wir führen eine Art Gespräch, aber sie blickt immer auf etwas hinter mir. Als ob hinter mir plötzlich ein verdammter Job angestiefelt käme. Oder sie sehnt sich von dort fort und durchs Fenster hinaus.«

»Es kommt bald ein Job angestiefelt«, sagte sie. »Ich spüre es in mir.«

Sie kennt mich gut, dachte er. Aber sie kann noch nichts ahnen. Wenn etwas mehr Geld kommt, ahnt sie vielleicht etwas, aber bis dahin ist noch lang.

Vielleicht bekomme ich vorher eine ordentliche Stelle. Es hat schon Wunder gegeben. Aber wenn es angestiefelt kommt, will ich es vielleicht nicht haben.

Er sah Blut vor sich. Als er mit den Kleidungsstücken vor sich dastand, war ihm, als bewegten sie sich, als schrien sie ihm zu.

So war es, verdammt noch mal. Daran dachte er jetzt, und so war es gewesen.

Er wußte nicht, wie er die Sachen wieder in den Sack bekommen hatte, aber es war gegangen, und als er das Schlafzimmer verließ, konnte er nur hoffen, daß es aussah wie zuvor. Warum hatte der Teufel sie nicht verbrannt? Ich habe nichts gesehen. Nichts habe ich gesehen.

4

Sonntagmorgen, und Erik Winter starrte in den Spiegel. Er beugte sich vor und suchte nach Falten um die Augen.

Ich bin ein eitler Mann. Oder grüble ich deshalb über mein Alter nach, weil ich immer so jung gewesen bin? Ich passe auf mich auf, weil ich für die Frauen schön sein will, so lange es geht.

Er hörte nichts vom Vasaplatsen, der fünf Stockwerke tiefer lag. Er wandte das Gesicht vom Spiegel ab und ging aus dem Bad. Die Wohnung war 136 Quadratmeter groß, bestand aus drei Zimmern und einer großen Küche, und er bezahlte dafür eine hohe Miete. Er lebte allein, und er hatte Geld. Jetzt war die Wohnung sehr hell vom Wintertag. Die Sonne hing draußen vorm Fenster. Er könnte die Tür zum Balkon öffnen und hinausgehen und sie anfassen.

Er war gerade zurückgekommen. Es war ein langer Morgen im Dienst gewesen.

Er ging zum Fenster und blickte nach Westen. Beinahe konnte er das Meer sehen. Er entschied sich, nachdem er schnell zu Mittag gegessen und gleichzeitig John Coltrane zugehört hatte.

Sie war aus dem Schlafzimmer gekommen, aber er wollte allein sein, und so war sie zur Spüle gegangen, hatte ein Glas Wasser getrunken und war wieder ins Schlafzimmer gegangen, um sich anzuziehen und nach Hause zu fahren.

»Ich habe ziemlich lange gewartet heute nacht«, hatte sie gesagt, bevor sie ging.

Er fuhr am Fluß entlang. Die Farben krochen in die Erde zurück, als die Abenddämmerung sich allmählich herabsenkte.

Es war, als führe man durch Ruß, der nicht haftete.

Plötzlich brannte die Sonne im Westen, und er setzte die Sonnenbrille auf. Die Kräne auf der anderen Seite des Flusses wurden schwarz in seinem rechten Augenwinkel. Die Häuser um ihn herum bekamen einen Farbton wie geschmolzenes Zinn.

Er fuhr, solange es möglich war, so nah ans Meer, wie es ging, dann stieg er auf die Klippen. Das Meer bewegte sich träge. Er folgte dem letzten Neigen einer Welle hinaus zur offenen See und sah, wie das Eis in das lebendige Wasser stieß.

Das Eis hatte sich über die Buchten gelegt. Er sah Bewegung draußen auf den Flächen, Menschen, die auf dem gefrorenen Wasser spazierengingen. Zwei Gruppen mit einem Kilometer zwischen sich versuchten, einander etwas zuzurufen, aber die Worte stießen irgendwo in der Mitte zusammen und fielen mit sprödem Klang aufs Eis hinunter.

Das Telefon in seiner Brusttasche klingelte. Der Laut wurde vom Stoff und vom weißen Wind ringsum gedämpft.

»Ja«, sagte er ins Mikrofon.

»Hier ist Lotta.«

»Ja?«

»Wo bist du, Erik?«

»Spielt das eine Rolle?« fragte er und bereute es.

»Ich frage, weil ich dich gern treffen möchte.«

»Jetzt?«

»So schnell wie möglich«, sagte sie mit einer Stimme, die schwer zu erkennen war. Seine Schwester. Eine Beziehung, die inniger hätte sein können. Jetzt wurde er unruhig.

»Ist irgendwas passiert?«

»Nein.«

»Worum geht es dann?«

»Wo bist du, Erik?« fragte sie noch einmal.

»Ich stehe draußen auf Amundön und schaue aufs Meer.«

»Kannst du kom…«

Die Stimme verschwand. Der Wind um ihn herum hatte zugenommen, er riß ihre Stimme vom Telefon und trug sie weg über die Eisflächen.

»Ich höre nicht, was du sagst.« Er zog die Jacke über die Ohren und kuschelte sich hinein.

»Kannst du hereinkommen?«

»Hereinkommen? Wohin?«

»Nach Hause«, sagte sie. »Hierher.«

Wieder packte der Wind ihre Stimme.

»Was?«

»… will, daß du kommst«, hörte er.

»Okay. Ich bin in einer halben Stunde da.«

Er drückte auf den roten Knopf am Apparat, und es wurde still. Die Sonne hatte sich durch die hundert Schichten Himmel hindurchgewunden, und ein neues Licht spritzte herab, wo er stand und schaute, bis hinüber zum Horizont.

Weit weg sah er ein Schiff über die letzte Linie biegen und dort im Unbekannten verschwinden.

Im Schein des Himmels bekamen Land und Meer plötzlich die gleiche Farbe, und als er sich umwandte und am gefrorenen Ufersaum entlang zurückwanderte, spürte er einen Stich in den Augen und setzte die Sonnenbrille auf. Das Licht sank um eine halbe Oktave.

Sie saßen in dem Zimmer, das auf den Garten ging. Die Balkontür stand drei Zentimeter auf, und Winter spürte einen schwachen Duft von der Kälte draußen.

Hier drinnen ist nicht viel geschehen. Es ist beinahe so, als wäre ich nur über den Vormittag fortgewesen, dachte er. Es ist nichts geschehen, als daß einige Bücher ausgetauscht sind und daß eine Schleife weißer Kälte in der Luft hängt, die es nicht gab, als ich zum letztenmal hier war. Ich komme so selten zu Besuch.

Lotta hatte das Haar zu einem Zopfkringel gelegt, und sie war schön, aber die Augen waren müde, und der Schock hatte ihr Gesicht hart gemacht. Es schimmerte im Weiß ihrer Augen. Sie trug schwarze Jeans und eine weiche Strickjacke über einem karierten Hemd, und sie würde bald vierzig sein. Es bereitete ihr keinen Kummer. Und das alles war nun bedeutungslos geworden, dachte er.

»Was hat er dort gemacht?« sagte er, aber mehr zu sich selbst.

»Er hatte es ›eine kurze Bildungsreise‹ genannt, es war ein plötzlicher Einfall«, sagte sie und legte das eine Bein über das andere, und er sah, wie der Stoff um die Hüften spannte.

Er sagte nichts. Er hatte es gewußt und war schon auf dem Weg gewesen.

»Sie sind völlig verstört«, sagte sie.

»Ja.«

»Ich fühle mich genauso.«

»Ja.«

Sie schaute ihn an.

»Dieser kleine Junge«, sagte er und bereute es zu spät.

Lotta begann zu weinen, leise und weich wie der gestrige Schneefall. Die Balkontür glitt auf, und ein scharfer Wind fuhr ins Zimmer. Winter stand auf, ging durchs Zimmer und schloß die Tür.

Sie hatte erzählt, und er hatte zugehört, wie es einer tut, der nichts hören will, aber keine andere Wahl hat. Der Junge im Nachbarhaus war 19 geworden, nach London gereist und ermordet worden. Er war ein Nachbar gewesen und etwas mehr.

Als Winter die Straße und das Leben hier verließ, war Per Malm ström ein paar Jahre alt gewesen. Jetzt hatte er gerade das Gymnasium abgeschlossen. Winter hatte ihn hin und wieder gesehen, und der Junge hatte den Babyspeck abgeschüttelt, und sein Gesicht hatte die richtigen Kanten bekommen.

Das hier ist die Wirklichkeit, dachte Winter.

»Du hast also mit Lasse und Karin gesprochen«, sagte er.

»Ich bin sofort rübergegangen.«

»Gut.«

Er glaubte nicht, daß jemand anderes sich getraut hätte. Er wußte, daß sie sich traute.

»Bist du dort gewesen?« fragte sie.

»Ja.«

Das war das einzige, was ihm zu sagen, zu antworten einfiel. Er war dort gewesen, und das änderte nichts, aber vielleicht hielt es für eine Weile die wahnsinnigen Gefühle auf, ließ sie nicht zur Tür herein.

»Wir haben nicht über irgendwelche … Einzelheiten gesprochen«, sagte sie. »Also ich und Lasse und Karin.«

Winter spürte einen Schmerz in der Handfläche, öffnete die Hand und blickte nach unten. Er sah, daß er seine stumpfen Nägel ins Fleisch gegraben hatte, und die Spur glühte, als er sie betrachtete.

Er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Ich werde noch einmal mit ihnen sprechen«, sagte er nach einer Weile.

»Karin sagt, sie wird es sich nie verzeihen.«

»Daß er fahren durfte?«

»Ja.«

»Er war 19, er war erwachsen.«

Lotta sah ihn an.

»Ich gehe noch mal rüber«, sagte er.

»Warte«, sagte sie. »Als ich dort war … hinterher dachte ich darüber nach, ob es einen Unterschied in den Gefühlen gibt, ob es auf… wenn es auf diese Weise geschieht oder ob es ein Unglück ist … oder eine Krankheit.«

»Der Schock ist stärker, aber der Verlust ist doch der gleiche«, sagte er. »Manchmal, kann es umgekehrt sein… wenn jemand von Gewalt betroffen wird, bewirkt das Unfaßbare der Tat, daß der Trauernde eigentlich nicht versteht, was geschehen ist. Es ist, als wäre es nicht geschehen … noch nicht, als wäre das Ganze nur eine Warnung.«

»Daran sind Lasse und Karin ja dann vorbeigekommen.«

»Ja.«

»Ich gehe«, sagte er noch einmal.

5

Die gedämpften Laute des Winters folgten den Polizisten ins Haus und hielten sich in den Kleidern im Fahrstuhl hinauf zum dritten Stock des Fahndungsdezernats.

Die Flure waren mit Fliesen verkleidet, und während der anderen Jahreszeiten prallten die Geräusche, die hereinkamen, hart gegen die Wände. Im Winter glitten sie nur vorbei wie weiche Schneebälle. Im Winter gibt es einen Kreis aus Stille rund um alles und alle, dachte Erik Winter, als er aus dem Fahrstuhl stieg und um die Ecke bog. Vielleicht ist der Januar ohnehin mein Monat.

Gerüche steckten in den Kleidern, als die Fahndungsgruppe im Sitzungsraum zusammenkam. Der massive Einsatz der ersten Tage ließ allmählich nach. Wie immer.

Noch immer waren fünfzehn Polizisten im Einsatz. Die meisten saßen nun hier. Es war eng. Es roch nach kalter Nässe und nach den Verbrennungsmotoren der Autos.

Bertil Ringmar war zweiter Fahndungsleiter, und er hatte nicht nur selbst nicht geschlafen, sondern dafür gesorgt, daß es auch kein anderer tat. Ringmar hatte sich vor der Sitzung nicht gekämmt, und das zeigte den Ernst der Lage. Wenn Krieg wäre und ich Zugführer wäre, würde ich Bertil als Stellvertreter anfordern, andernfalls würde ich in der Kantine sitzen bleiben, dachte Winter und nahm die Mappe entgegen, die der Registrator herüberreichte.

Wenn es ein anderer Krieg wäre, dachte er.

Der Registrator war ziemlich neu als Kriminalpolizist und ziemlich jung, und er hatte sich bei einigen früheren schwierigen Ermittlungen ausgezeichnet geschlagen. Deshalb hatte Fahndungsleiter Erik Winter sich für ihn entschieden.

Janne Möllerström wußte über alles Bescheid. Er schien nichts zu vergessen. Er hütete die Datenbank des Ermittlungsverfahrens wie sein Eigentum. Er konnte lesen, und er konnte schreiben.

Manchmal waren sie zu zweit, aber mit Janne kamen sie mit einem Registrator aus. Winter schluckte und spürte eine Reizung im Hals, die er schon am Morgen bemerkt hatte.

»Ich bitte um Wortmeldungen«, sagte er.

Sie schauten sich gegenseitig an. Winter war ein strenger Hund, und wenn er nun diesen Satz in den Raum warf, bedeutete das, daß Kreativität gefragt war, was diesen Mord anging. Oder die Morde.

Keiner sagte etwas.

»Lars?«

Der Kriminalinspektor kam in Bewegung. Es ist, als hätten seine Gesichtszüge Charakter bekommen, seit er Inspektor wurde, dachte Winter. Manchmal sind sogar unsinnige Reformen von Nutzen.

»Ich habe die Angaben aus London gelesen«, sagte Lars Bergenhem.

Sein Gesicht hatte Charakter bekommen. Er fühlte sich nun mehr wie ein richtiger Ermittler, da die Assistenten in der neuen Provinzialkriminalbehörde automatisch Kriminalinspektoren geworden waren. Inspektor. Inspector. I am an inspector. What are you? Are you talking to me? Shut up and listen when I’m talking.

»Ja?« sagte Winter.

»Da ist dieser Handschuh.«

»Wir hören«, sagte Winter.

»Die Kollegen in London fanden einen Abdruck von einem Handschuh in diesem Bed- and Breakfast-Zimmer, und soviel ich weiß, hat Fröberg einen ähnlichen in dem Studentenzimmer hier gefunden«, sagte Bergenhem.

»Das stimmt«, sagte Winter.

»Der Abdruck findet sich in beiden Zimmern an der gleichen Stelle.«

»Ja.«

»Das war’s«, sagte Bergenhem und sah aus, als ob er sich entspannte.

Das war’s, dachte Winter. Das war’s, ein schwedischer Junge ist in London ermordet worden, und fast gleichzeitig ist ein englischer Junge in Klein-London ermordet worden, der herkam, um Schwedisch und Wassertechnik zu studieren, und es ist auf ähnliche Weise geschehen, und vielleicht stelle ich bald fest, daß es auf die gleiche Weise geschehen ist, und dann setze ich mich eine Weile in die Kantine und zeichne Kreise in den Kaffee, der auf der Tischplatte verschüttet ist. Nur bis ich mich beruhigt habe.

Das wird eine merkwürdige Ermittlung.

»Es gibt noch was anderes«, meldete sich Ringmar aus seiner Lieblingsecke. Da stand er immer, die Finger in ewiger Bewegung über dem Schnäuzer; es sah aus wie eine Art Maniküre, aber es waren seine Gedanken, die sich in den Fingern regten.

»Die Abdrücke«, sagte er.

Keiner sagte etwas. Winter sah Ringmar an, wartete, schluckte und spürte wieder etwas unten links im Hals.

»Steht im letzten Bericht von Interpol oder aus England etwas über Abdrücke?« fragte Ringmar.

»Nein«, sagte Möllerström, »aber sie sagen, daß sie noch nicht einmal mit dem halben Zimmer fertig sind.«

»Das bedeutet, daß wir schneller sind«, bemerkte einer der Fahnder, der bald einer von denen sein würde, die die Kerngruppe verließen.

»Das bedeutet verdammt noch mal überhaupt nichts«, sagte Ringmar, »solange wir hier nicht die genauen Zeitpunkte festgestellt haben.«

»Ich möchte lieber nicht, daß das ein Wettkampf zwischen London und Göteborg wird«, sagte Winter.

»Genau«, meinte Ringmar. »Wo war ich?«

»Die Abdrücke«, sagte Möllerström.

»Ja«, fuhr Ringmar fort. »Die Techniker haben diese kleinen Abdrücke fast mitten im Zimmer gefunden, und jetzt glauben sie zu wissen, was es ist.«

»Sie sind sich ziemlich sicher«, ergänzte Winter.

»Sie sind sich einigermaßen sicher. Sie sind in diesem Moment mit den Vergleichen beschäftigt«, sagte Ringmar. »Ich habe gerade mit ihnen gesprochen. Oder mit Interpol.«

»Es wird Zeit, direkten Kontakt aufzunehmen«, sagte Winter.

»Sollen wir morgen herkommen, um den Rest zu hören?« war eine weibliche Stimme zu vernehmen; sie klang eisig, doch die Ironie war bei Ringmar vergeudet. Aber aus ihr kann etwas werden, dachte er.

Aneta Djanali war eine der wenigen Frauen im Fahndungsdezernat, und sie würde in Ringmars Nähe bleiben, wenn die Spur kalt zu werden begann. Sie war neu, und sie bat selten um Entschuldigung dafür, und Winter und Ringmar hatten darüber gesprochen. Sie blieb. Sie ist auch hübsch, hatte Ringmar gesagt.

»Es ist ein Stativ«, sagte Ringmar.

Die Stille lag schwer und spürbar im Zimmer.

»Es ist ein Stativ für eine Filmkamera oder eine normale Kamera oder auch für ein Fernglas, aber es ist ein Stativ.«

»Wie zum Kuckuck können wir das wissen?« fragte einer mitten im Zimmer.

»Wie bitte?«

»Wie können wir uns sicher sein, daß es ein Stativ ist?«

»Wir sind uns nicht sicher, wie wir gerade gesagt haben«, warf Erik Winter ein. »Aber das Labor ist dabei, alles andere auszuschließen.«

»Der Teufel hat es gefilmt«, sagte ein Ermittler an der Tür und blickte in die Runde.

»Darüber wissen wir nichts«, bemerkte Winter.

»Wir wissen nur, daß es im Blut Abdrücke eines Stativs gibt«, sagte Ringmar.

»Wissen wir, wann die dorthin gekommen sind?« fragte Bergenhem.

»Wie bitte?« sagte Aneta Djanali.

»Hat er das Stativ davor oder danach aufgestellt?« fragte Bergenhem.

»Das ist eine gute Frage«, sagte Ringmar, »und ich habe gerade Bescheid bekommen.«

»Ja?«