Marconipark - Åke Edwardson - E-Book

Marconipark E-Book

Åke Edwardson

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Beschreibung

Göteborg in höchster Alarmbereitschaft: Mitten in der Stadt wird ein Toter gefunden. Inszeniert für die Polizei, im Marconipark. Hände und Füße gefesselt, um den Kopf eine Plastiktüte, platzierte Hinweise. Alles deutet darauf hin, dass weitere Morde geschehen. Und tatsächlich – fünf Tage später wird eine zweite Leiche gefunden. Kommissar Erik Winter vermutet Rache als Motiv. Für etwas, das in der Vergangenheit geschehen ist und die Kraft hat, Böses hervorzubringen. Der Täter geht mit einer besonderen Brutalität vor, doch auch die Opfer selbst waren alle auf die ein oder andere Art gewalttätig. Kommissar Winter wird plötzlich von Alpträumen gequält. Kindheitserlebnisse kehren zurück. Hatte er sie verdrängt? Als eine weitere Leiche auftaucht, droht der Kommissar unter der Last der Erinnerung zu zerbrechen. Erik Winter ist längst eine Legende. Seine Karriere ist einmalig, die Liste seiner Erfolge lang, und seine Methoden haben Schule gemacht. Doch nun drohen ihn die dunklen Seiten seiner Arbeit einzuholen. Eine Mordserie konfrontiert ihn mit seiner eigenen Vergangenheit. Plötzlich wird Kommissar Winter von Alpträumen gequält. Kindheitserlebnisse kehren zurück. Als eine weitere Leiche auftaucht, gerät der Kommissar unter Druck. Düster, dicht, unglaublich spannend.

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Das Buch

Göteborg in höchster Alarmbereitschaft: Mitten in der Stadt wird ein Toter gefunden. Inszeniert für die Polizei, im Marconipark. Alles deutet darauf hin, dass weitere Morde geschehen. Und tatsächlich – fünf Tage später wird eine zweite Leiche gefunden.

Kommissar Erik Winter vermutet Rache als Motiv. Für etwas, das in der Vergangenheit geschehen ist und Böses hervorbringt. Der Täter geht mit einer besonderen Brutalität vor, doch auch die Opfer selbst waren alle auf die ein oder andere Art gewalttätig. Erik Winter wird plötzlich von Alpträumen gequält. Kindheitserlebnisse kehren zurück. Hatte er sie verdrängt? Als eine weitere Leiche auftaucht, droht der Kommissar unter der Last der Erinnerung zu zerbrechen.

Der Autor

Åke Edwardson, geboren 1953, lebt mit seiner Frau in Göteborg. Einige Monate im Jahr verbringt das Ehepaar im Süden Spaniens, in Marbella. Bevor Edwardson einer der weltweit erfolgreichsten Krimiautoren wurde, arbeitete er als Journalist u. a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten.

Åke Edwardson

Marconipark

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen

von Angelika Kutsch

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2013

unter dem Titel Marconi Park

bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.

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ISBN 978-3-8437-1229-3

© 2013 by Åke Edwardson

© der deutschsprachigen Ausgabe

2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Getty Images (Mann), Demurez Coverarts (Steg)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Said I loved you … but I lied

Michael Bolton, Said I loved You … But I Lied

Für Hanna und Kristina

1

Kriminalkommissar Erik Winter roch den Duft des Frühlings, der auch in diesem Jahr wieder nahte, halleluja. Winter war plötzlich froh, wie jemand, der meinte, dieses Gefühl vergessen zu haben. Er machte ein paar Tanzschritte über den Kungstorget. Nein, das tat er nicht, er hätte gern getanzt, aber etwas hielt ihn zurück. Vielleicht das Paket, das er unterm Arm trug, mit einer Lammkeule und einer Büchse Sardellen. Winter war auf dem Heimweg, er würde allein sein, aber ein Mann am Herd ist eigentlich nie allein. Er würde ein Glas Whisky trinken, nur eins, während er das Lamm mit Kräutern und Knoblauch einrieb. Ein Mann mit einem Whiskyglas in Reichweite fühlt sich nie einsam.

Es war sechs, und es war immer noch hell. Allein das. Er dachte an Angela, Elsa und Lilly. Noch drei Monate, dann war die Familie wieder für immer vereint.

Das Handy vibrierte in seiner Hemdentasche. Er nahm es heraus, las die Nummer ab und hielt es ans Ohr; kein Headset für Señor Winter, nicht gut für seinen Tinnitus, aber für Tinnitus war nichts gut, nicht mal guter Whisky, nicht mal Coltrane.

»¡Hola!«, sagte er.

»Du scheinst ja richtig fröhlich zu sein.«

»Ich bin froh.«

»Das macht mich froh«, sagte sie.

»Das macht mich auch froh.«

»Es klingt, als würdest du dich draußen aufhalten.«

»Rate mal, wo.«

»Kungstorget?«

»Richtig.«

»Rotzunge?«

»Falsch.«

»Blutpudding?«

»Guter Versuch, aber falsch.«

»Lamm.«

»Das war nicht mal eine Frage«, sagte er.

»Hier regnet es«, sagte sie.

»In Göteborg wird es Frühling.«

»Wie schön für dich.«

»Jetzt klingt deine Stimme nicht mehr froh«, sagte er.

»Wer hat gesagt, dass ich froh bin?«

»Du, gerade eben.«

»Schon wieder vorbei.«

»Was ist los, Angela?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wir sehen uns bald.«

»Noch drei Monate«, sagte sie.

»Ich komme euch doch vorher besuchen.«

»Mal sehen«, sagte sie.

»Das klingt beunruhigend.«

»Etwas wird passieren, und irgendwann verschwindest du, Erik«, sagte sie.

»Ich verschwinde?«

»Du verschwindest in dir selbst.«

Es ist irgendwann im Lauf der Nacht geschehen, genau an dieser Stelle. Ungefähr das sagte Gerichtsmedizinerin Pia Fröberg zu Winter, als sie kurz vor der Morgendämmerung mitten im Gebüsch dieser Sahneschnitte der üppigen Vegetation unterhalb vom Kulturhaus von Frölunda standen. Auf der anderen Seite war das Straßenbahndepot, unterirdisch, es sah aus wie ein offener Tunnel. Die ersten Wagen des Tages waren gerade wieder angerollt. Alles um sie herum war Glas und Beton, alter Beton, neuer Beton.

Winter betrachtete die Gestalt auf der Erde. Ein Opfer. Es war ein Mann, da gab es keinen Zweifel, denn seine Hose und Unterhose, bis zu den Knien heruntergezogen, verdeckten nicht länger sein Geschlecht. Dem Toten waren die Hände auf dem Rücken, seine Fußknöchel mit einer Art Kordel verschnürt, und sein Kopf steckte in einer Plastiktüte, die um den Hals zugezogen war. Winter beugte sich über ihn und sah das ­Gesicht wieder im Profil, es war undeutlich durch das blaue Plastik, wie ein Gesicht unter Wasser. Winters Gehirn machte einen Sprung zurück in der Zeit, zwei Jahre innerhalb von Sekunden, sein Körper im Wasser, all das Undeutliche, das ihn umgeben hatte, während er dem Tod entgegensank. Aber er war nicht ertrunken, er stand jetzt hier, mit einem ständigen Brausen in den Ohren wie Meeresbrausen bei Sturm, Erinnerung an sein Erlebnis, als er dem Tod so nah gewesen war. Der Mann auf der Erde vor ihm war dem Leben nicht mehr nah. »Trauma«, hörte er Pia sagen und noch etwas, das er nicht verstand, er sah das Blut im Innern der Plastiktüte, es musste Blut sein, mehr schwarz als rot im bleiernen Licht des Himmels. Er schaute hinauf. Dort gab es nichts zu sehen. Er blickte wieder nach unten.

»Er war vermutlich bewusstlos, als ihm die Tüte über den Kopf gezogen wurde«, sagte er.

Fröberg antwortete nicht.

»Sonst wäre das schwer zu bewerkstelligen«, fügte Winter hinzu. »Jedenfalls wenn man allein ist.«

»Du meinst, er hat es selbst getan?« Sie drehte sich zu ihm um. Es sah nicht aus, als würde sie lächeln. Es war schwarzer Humor.

»Sehr zweifelhaft«, sagte Winter. Er spürte den Wind, der wie ein kalter Brand aus der Tunnelöffnung unterhalb von ihm kam.

Er betrachtete den Buchstaben, der auf dem Toten lag, die Versalie »R«, mit schwarzem Stift auf ein Stück Pappkarton geschrieben, das schief und hastig von etwas abge­rissenen war. Es könnte ein weißer Tortenkarton sein und der Buchstabe voller Zorn und mit einem breiten wütenden Pinselstrich hingeschmiert, die Farbe war verlaufen und sah aus wie das Schwarze, womit das Gesicht des Toten in der Plastiktüte bedeckt war. Winter kam es vor, als hätte er das Privileg, durch eine Fensterscheibe schauen zu dürfen, und er hatte das vertraute, verdammt unheimliche Gefühl, dass es nicht das letzte Mal sein würde. Der Wind im Tunnel drehte sich, kam ihm entgegen. Er würde darin verschwinden.

»Der Junge isst also gern Torte«, sagte Kriminalkommissar Fredrik Halders, als sich die Kerngruppe des Dezernats für Schwerstverbrechen zu einer ersten Besprechung traf.

»Wer von den beiden?«, sagte Kriminalkommissar Bertil Ringmar.

»Das ist nun wirklich der falsche Moment, um Witze zu reißen«, sagte Kriminalinspektorin Aneta Djanali.

»War doch nur schwarzer Humor«, sagte Halders.

»Die Pappe scheint von einem Tortenkarton zu stammen«, sagte Winter. »Öberg überprüft das gerade.«

»Siehst du wohl«, sagte Halders.

»Wie viele davon mag es in der Stadt geben?«, sagte ­Kriminalinspektorin Gerda Hoffner.

»Genauso viele, wie es Torten gibt«, sagte Halders. »Mein Vater war übrigens Konditor.«

»Dann verhörst du die Konditoren, Fredrik«, sagte Winter.

»Machst du Witze?«

»Schwarzer Humor.«

Hoffner lachte auf.

»Wenigstens einer unter uns hat Humor«, sagte Halders.

»Das ist nicht witzig«, wiederholte Djanali.

»Nein«, sagte Winter. »Das ist wirklich kein witziger Mord.«

Der Himmel vorm Fenster war blau, blau wie die Sünde, genauso alt. Darin war eine Antwort enthalten, etwas wie ein einsamer verzweifelter Ruf aus der Vergangenheit. Die Vergangenheit ist eine lange Höllenreise, dachte Winter und wandte sich vom Fenster ab, als Ringmar gegen die offene Tür klopfte.

»Permesso?«

»Na klar, komm rein, Bertil.«

Ringmar setzte sich in den Sessel vor Winters Schreibtisch. Winter blieb am Fenster stehen. Er spürte Sonne im Rücken, die genauso kalt war wie der Wind.

»Mit was haben wir es hier zu tun?«, fragte Ringmar.

»Racheakt«, sagte Winter.

»Rache wofür?«

Winter antwortete nicht. Er hörte Laute von draußen und drehte sich um. Drei schwarze Vögel flogen vorbei und schrien etwas in den Himmel.

»Rache wofür?«, wiederholte Ringmar.

»Irgendwas aus der Vergangenheit.« Winter war bereit für das Gespräch, ihre Methode, den Gedanken freien Lauf lassen, die Assoziationen, die sie voranbringen konnten, nachdem sie sie erst zurückgeführt hatten.

»Etwas, das schon lange vergangen ist?«, fragte Ringmar.

»Nicht gar so lange.«

»Vor zehn Jahren?«

»Kürzlich«, sagte Winter.

»Rache für etwas, das kürzlich passiert ist? Rache für eine Gewalttat?«

»Ja.«

»An der Frau eines anderen Mannes?«

»Ja.«

»Am Mann eines anderen Mannes?«

»Nein.«

»Könnte sein.«

»Ja.«

»Vielleicht handelt es sich auch um etwas ganz anderes.«

»Ja«, sagte Winter. »Und es liegt länger zurück.«

»Zehn Jahre«, sagte Ringmar. »Was ist damals geschehen?«

»Etwas, das eine Person nicht vergessen kann.«

»Das Opfer hatte einen nackten Hintern«, sagte Ringmar.

Das Opfer hieß Robert Hall. Er war erst bewusstlos geschlagen und dann in der blauen Plastiktüte erstickt worden. Vielleicht aus Barmherzigkeit.

»Er wurde niedergeschlagen, weil das die einzige Möglichkeit war«, sagte Ringmar.

Winter nickte.

»Hall war nicht gerade klein«, sagte Ringmar.

»Suchen wir nach einem kleinen Mann?«, sagte Winter.

»Oder nach einer Frau«, sagte Ringmar.

»Nein.«

»Nein?«

»Nein, wir suchen nicht nach einer Frau, jedenfalls nicht als Täterin.«

»Cherchez la femme«, sagte Ringmar. »So oder so.«

»Ich denke, wir sollten die Geldspur verfolgen.«

»Das auch.«

»Hier geht es nicht um Geld«, sagte Winter.

»Es geht um Wut«, sagte Ringmar.

»Große Wut.«

»Warum dort? Warum ausgerechnet dort?«

»Der einzige Ort, wo sie nicht gesehen werden konnten«, sagte Winter.

»War die Tat vorbereitet?«

»Ja.«

»Vorbereitet?«

»Ja.«

»Dann wohnt der Täter in der Nähe«, sagte Ringmar.

»Nicht unbedingt«, sagte Winter.

»Er wohnt in der Nähe.«

»Na, warten wir’s mal ab«, sagte Winter.

»Was?«

»Das nächste Opfer.«

Winter fuhr zurück in die Marconigatan und parkte südlich der Straßenbahnschienen. Es dämmerte wieder, ein matter Schein über dem Beton. Er stieg aus. Eine Schulklasse kam die Treppe vom Kulturhaus herunter, Schüler der Mittelstufe, sie blieben bei den Absperrbändern stehen, zeigten mit dem Finger hierhin und dorthin. Den Ausdruck ihrer Gesichter konnte Winter nicht deutlich erkennen, aber er wusste, dass die Kinder fasziniert waren. Dies war kein Film, nicht einmal ein Krimi. Der Lehrer versuchte, sie weiter die Treppe hinunterzuscheuchen, vielleicht zur Frölundaschule. Aber die Kinder konnten den Blick nicht von den Polizeiinspektoren in ihrer schwarzen coolen Lederkleidung hinter der Absperrung losreißen. Vielleicht würde einer von ihnen ein Autogramm geben. Die Männer der Spurensicherung wirkten nicht ganz so eindrucksvoll, sie wühlten im Hintergrund herum wie städtische Arbeiter.

Torsten Öberg schaute auf, als Winter neben ihm stand, über ihm aufragte.

»Brauchbare Abdrücke.«

»Abdrücke wovon?«, fragte Winter.

»Schuhen.«

»Aha.«

Öberg richtete sich auf. Er war kürzlich offiziell zum Chef der Spurensicherung befördert worden, nachdem er es inoffiziell schon seit Jahren gewesen war. Er schien größer geworden zu sein, fast genauso groß wie Winter.

»Er ist einige Meter tiefer in die Büsche geschleift worden.«

»Okay.«

»Ein Schlag gegen den Hinterkopf.«

»Nur einer, sagt Pia.«

»Und dann die Tüte drüber.«

»Nachdem er Hall die Unterhose runtergezogen hat.«

»Das klingt so persönlich.«

»Was?«

»Dass er Hall die Hose runtergezogen hat.«

»Dem Opfer die Hose heruntergezogen hat«, sagte Winter.

»Nein, ich glaube, er hat ihm erst die Tüte über den Kopf gestülpt. Ich weiß es nicht genau. Wir müssen den Mist rekonstruieren. Aber er wollte wohl sichergehen, dass der Mann wirklich tot war.«

Winter schwieg.

»Woran denkst du, Erik?«

»An den Wahnsinn«, antwortete Winter.

»Die Schrift wirkt aggressiv«, sagte Öberg.

»Was gibt es sonst noch dazu zu sagen?«

»Der Buchstabe R.«

»Das Alphabet kann ich auch«, sagte Winter.

»Kraftvoll ausgeführt«, sagte Öberg. »Das ist das Einzige, was wir bis jetzt darüber wissen.«

»Wir brauchen mehr Buchstaben«, sagte Winter.

»Ist das Wunschdenken?«

»Das ist Wahnsinn.«

2

Robert Hall hatte in einer Wohnung in Järnbrott gelebt. Sie lag nicht weit vom Fundort entfernt, der vermutlich auch der Tatort war.

Es war eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Die Fenster und Glas­türen in Küche und Wohnzimmer ließen viel Licht von Norden herein. Winter betrat den Balkon. Unten sah er zwei alte Tennisplätze, einen kleinen geschotterten Fußballplatz und Gebäude, vielleicht eine Schule. Klar ist das eine Schule, die Frölundaschule, und ich hab gelesen, dass der Schotterplatz verschwinden soll. Hier soll gebaut werden, zu viel Raum, Licht und Gras, abgesehen vom Fußballplatz.

Robert Hall war geschieden, seine Frau wohnte mit den Kindern in Borås. Sie ist nicht weit geflohen, dachte Winter und sog die Luft ein, die voller Frühling und Leben war. Linnea Hall hatte das Sorgerecht für die beiden halbwüchsigen Kinder bekommen, ein Junge und ein Mädchen, an ihre Namen konnte er sich im Augenblick nicht erinnern. Alleiniges Sorgerecht, das hatte natürlich etwas zu bedeuten. Aneta Dja­nali war auf dem Weg nach Borås. Dort bin ich noch nie gewesen, hatte sie bei der Morgenbesprechung gesagt. Himmel, hatte Halders gesagt, wie ist das möglich? Da gibt’s doch einen Zoo und alles.

Winter hörte die Schulglocke, einen Ton, den er noch nie gemocht hatte. Er stand für Unfreiheit wie alles, was mit der Schule zusammenhing. Nicht einmal, wenn es zum Schulschluss klingelte, hatte er sich frei gefühlt, nicht einmal nach dem letzten Klingeln des Tages, weil er wusste, dass es am nächsten Tag wieder klingeln würde. Es gab keinen Ausweg, so würden seine Kindheit und Jugend, sein ganzes Erwachsenenleben und sein Alter aussehen, er wusste es frühzeitig, viel zu früh, manchmal würde es zum Ende klingeln, aber die verdammte Glocke würde immer wieder klingeln. Vielleicht war er Polizist geworden, weil er damit die Chance hatte, nicht innerhalb von Mauern eingesperrt arbeiten zu müssen.

Aber eigentlich gab es nur eine Art, Frieden zu finden. Robert Halls Art. Außerdem war Hall Lehrer gewesen. Darin verbarg sich fast eine Symbolik, dachte Winter, als er sah, wie die Kinder das Schulgebäude beinah fluchtartig verließen.

Hinter sich hörte er die Männer von Öbergs Spurensi­cherung, die sich in der Wohnung bewegten. Sie suchten alles und nichts, nichts könnte sich als alles erweisen. Bei Winters erster Inspektion zusammen mit Ford und Brattling hatte die Wohnung ordentlich gewirkt, aufgeräumt und ­alles bereitgelegt, als hätte Hall damit gerechnet, bald wieder nach Hause zu kommen, aber trotzdem extra aufgeräumt für den Fall, jemand anders würde vor ihm die Wohnung betreten. Nichts Rätselhaftes, jedenfalls bis jetzt noch nicht. Das konnte sich ändern, wenn sie den Computer hochfuhren. Nonnen, die Papstpornos runterluden, Bischöfe, die Nonnenpornos runterluden, richtiger Nonnenporno, auf alles nur denkbar Grau­sige konnte man stoßen: gefilmte Volkstanzfestivals, Talk­shows über Literatur. Einmal hatte Winter in zwanzig Jahren gesammelte Schlagerfestivals ausgegraben, inklusive aller Vorentscheidungen der letzten Jahre.

Das Erlebnis hatte ihn erschüttert.

Er kehrte zurück in die Wohnung.

Ringmar kam aus der Küche.

»Hall scheint ein ordentlicher Mensch gewesen zu sein«, sagte er.

»Lehrer«, sagte Winter.

»Hat das etwas miteinander zu tun?«

Winter antwortete nicht. Auf dem Sofatisch lag ein Stapel Bücher. Er trat näher und las den obersten Titel. Es war ein Prachtband über Göteborg von gestern und heute.

»Das da hab ich auch.« Ringmar wies mit dem Kopf auf den Tisch.

»Bist du dabei?«, fragte Winter.

»Was?«

»Kommst du auch in dem Buch vor?«

»So weit reichen die Ausgrabungen nicht zurück«, antwortete Ringmar.

»Es ist also noch mehr zu erwarten.«

»Im Augenblick befinden wir uns erst in der äußersten Schicht«, sagte Ringmar.

»Dahin gehöre ich auch«, sagte Winter.

»Bist du deprimiert?«

»Ein bisschen. Ich war auf dem Balkon.«

Ringmar schaute aus den Fenstern. Die Sonne blendete ihn.

»Die Schule«, sagte er. »Ich verstehe.«

»Vielleicht verspüren alle Menschen Melancholie, wenn sie an einer Schule vorbeikommen«, sagte Winter. »Erst recht wenn sie in genau diese Schule gegangen sind.«

»Nein«, sagte Ringmar, »dann verspüren sie Hass.«

»Interessant«, sagte Winter.

»Ganz normal«, sagte Ringmar.

»Jemand hat Robert Hall also gehasst.«

»Lehrer führen ein gefährliches Leben, werden aber selten ermordet.«

»Aus irgendeinem Grund ist er ermordet worden.«

»Falscher Mann am falschen Ort.«

»Nein. Er war gemeint«, sagte Winter. »Er war als Opfer auserkoren.«

»Warum er?«

»Er hat irgendetwas getan.«

»Als junger Mensch?«

»Was ist jung?«

»Über zwanzig.«

Ringmar ging im Zimmer herum und schaute durch die Glaswand hinaus. Winter folgte seinem Blick. Draußen war jetzt kein Mensch zu sehen, nur Schotter, Gras und Schule.

»Dieser Fußballplatz da kommt weg«, sagte Ringmar.

»Das habe ich auch schon gehört.«

»Genau wie der Marconiplatz.«

»Ach?«

»Marconiplatz. Der ist schon weg. Dort haben sie eine Eissporthalle gebaut. Übrigens gar nicht weit von hier entfernt. Da! Mensch, man kann sie sogar von hier aus sehen.«

»Ich hab auf dem Marconiplatz Fußball gespielt«, sagte Winter.

»Wirklich?«

»FC Finter. Mit fünfunddreißig, glaub ich, vielleicht sechsunddreißig hab ich noch einen letzten Versuch unternommen. Aber meine Knie wollten nicht mehr.«

»Ich hab früh aufgehört«, sagte Ringmar. »Mir wurde klar, dass mein Talent nicht ausreicht. Ich wurde auch nicht oft genug verletzt.«

»Nein, dann ist es besser, aufzuhören.«

»Welche Fächer hat Hall unterrichtet?«

»Sport und Schwedisch.«

»Mehr braucht der Mensch nicht«, sagte Ringmar.

»Das hat ihm nicht das Leben gerettet. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, all seine Kollegen zu verhören.«

»Dann lass es doch. Aber du musst umdenken, Erik. Nicht alle Lehrer sind Schweinehunde. Du brauchst wirklich jemanden, mit dem du dich darüber aussprechen kannst. Und über noch so einiges.«

»Der Punkt steht ganz unten auf meiner Liste.«

»Was steht an oberster Stelle?«

»Das möchtest du lieber nicht wissen.«

»Du wirst nie in eine Gesprächstherapie gehen, was?«

»Doch.«

»Wie willst du das beweisen?«

»Durch die Art, wie ich bin.«

»Es dauert Jahre, ehe man sich verändert«, sagte Ringmar.

»Mit den Rechnungen, die sind Beweis genug.«

»Es ist verdammt teuer, das ist wahr«, sagte Ringmar. »Teurer als ein richtig guter Maltwhisky.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Als Birgitta mich verlassen hat, bin ich zu einem Therapeuten gegangen, bis ich es mir nicht mehr leisten konnte. Und als Martin so merkwürdig wurde. Da war ich auch in einer Therapie.«

»Schade«, sagte Winter.

»Was ist schade?«

»Dass du die Analyse nicht weitermachen konntest.«

»Vielleicht waren wir einem Durchbruch nahe.«

»Vielleicht hatte er schon stattgefunden.«

Ringmar antwortete nicht. Er wandte sich von der Glaswand ab und drehte sich zu Winter um.

»Warum Hall?«, sagte er.

»Das ist die beste Frage«, sagte Winter. »An welcher Stelle steht er in der Reihenfolge?«

»Ja.«

»Die Frage gilt auch dem Buchstaben.«

»Ja.«

»Hier gibt es keine Chronologie.«

»Nein.«

»Die Mitteilung fängt nicht mit R an.«

»Nein.«

»Aber sie kann auch mit R anfangen.«

»Ja.«

»Hall wurde als Erster ermordet, weil er der Erste sein sollte. Das hat etwas zu bedeuten.«

»Ja.«

»Oder auch nicht.«

»Nein. Grade das hat keine Bedeutung.«

»Aber irgendwo gibt es einen Sinn.«

»Ja.«

»Und der hängt mit Hall zusammen.«

»Ja.«

»Er ist nicht der Einzige. Wie sicher sind wir uns in diesem Punkt?«

»Sicher. Mehr als ziemlich sicher.«

»Warum sind wir sicher?«

»Der Buchstabe.«

»Kann alles Mögliche bedeuten. Kann alles Mögliche sein.«

»Es ist der Anfang einer Botschaft oder die Mitte oder das Ende, aber es ist eine Botschaft.«

»Der Täter hat Wert darauf gelegt, dass sie nicht weggeweht wird«, sagte Winter. »Er hat sie mit einer Sicherheitsnadel an Halls Hemd befestigt.«

»Vielleicht etwas übertrieben«, sagte Ringmar.

»Nein. Er wollte, dass der Buchstabe nicht verschwindet, aber er selbst wollte nicht in der Nähe bleiben. Er wollte weit weg sein.«

Aneta Djanali fuhr an der Abfahrt zum Landvetter Flughafen vorbei. Eine Sekunde lang erwog sie, abzubiegen, weich nach rechts zu gleiten und weiter den laaaangen Bogen hinauf zu der geraden Strecke, die zu den Terminals führte, das Auto abzustellen, in die Abflughalle zu gehen und sich das erstbeste Ticket zum erstbesten Ziel zu kaufen. Wie viele Menschen hatten diesen Gedanken schon einmal gehabt? War das praktisch überhaupt möglich? Konnte man einfach so ein ­Ticket kaufen? Wenn ja, dann stand einem die ganze Welt offen. Afrika zum Beispiel. Sie war schon seit Jahren nicht mehr in Ouagadougou gewesen. Ihr Vater lebte noch dort, in dem weißen Haus. Burkina Faso hatte es im letzten Jahr ins Finale der afrikanischen Fußballmeisterschaft geschafft. Ihr Vater hatte mit einer Flasche Dolo in der Hand wie verrückt gebrüllt. Fredrik jedenfalls hatte wie ein Verrückter gebrüllt, als Burkina Faso gegen Togo im Viertel­finale ein Tor geschossen hatte.

Es stimmte nicht, dass sie noch nie in Borås gewesen war, sie war schon viele Male durchgefahren, hatte aber nie an­gehalten. Die Autobahn zertrennte die Stadt wie ein Säbel. So etwas konnte doch eigentlich nur in einer afrikanischen Stadt passieren, nicht hier, niemals.

Bei einer Tankstelle unter der Autobahn hielt sie an, um auf die Karte zu sehen. Linnea Hall wohnte im Süden, Aneta schaute auf, sie musste die ganze Stadt durchqueren, startete den Motor und fädelte sich vorsichtig wieder in den Verkehr ein. Da draußen könnte es blinde Fahrer geben, Ray Charles hinter dem Steuer eines Busses; mit Schwedens mittelgroßen Städten war nicht zu spaßen. Sie war immer deprimiert, wenn sie an solchen Orten vorbeifuhr oder hineinfahren musste wie jetzt, niedergeschlagen, als würden mittelgroße schwedische Städte an den Tod erinnern, daran, dass die Wanderung über die Erde in den Vierteln des Mittelmaßes sinnlos war. Aber ich bin kein Mittelmaß, dachte sie, ich bin etwas anderes. Niemand ist Mittelmaß. Vielleicht nehme ich auf dem Rückweg einen Flug in die große weite Welt. Vielleicht machen wir das alle.

Sie parkte vor dem Haus, ein Haus aus den fünfziger Jahren, charmant im Geist der fünfziger Jahre.

Eine Frau öffnete die Haustür, ehe Djanali die Treppe ­hinaufgestiegen war. Eine Frau in Jeans und einem Pullover, anscheinend selbstgestrickt, der kuschlig wirkte. Sie war blond und blass wie Schnee in der Sonne. Die Sonne schien Djanali auf den Rücken, es war warm, bis jetzt der wärmste Tag des Jahres.

»Agneta Djanali?«

»Ja, Aneta Djanali.«

»Wie bitte?«

»Eigentlich heiße ich Aneta.«

»Ach?«

»In der Entbindungsstation falsch geschrieben.«

Linnea Hall lächelte nicht.

»Darf ich hereinkommen?«, fragte Aneta Djanali.

»Wie ist es passiert?« Wie eine Frage klang das nicht, Linnea Hall sah Aneta dabei nicht an. Ihr Blick war auf den Fußballplatz hinter Aneta Djanali gerichtet. Die konnte sich nicht erinnern, wie die Fußballmannschaft von Borås hieß, Fredrik hatte es ihr gesagt, als die Mannschaft irgendwann einmal gesiegt hatte.

»Darf ich hereinkommen?«, wiederholte Aneta.

»Was hat er getan?«, fragte Linnea Hall.

Aneta Djanali hielt mitten im Schritt inne.

»Wie meinen Sie das?«

»Er muss doch etwas verbrochen haben, um das zu verdienen, was jemand mit ihm gemacht hat.«

0

Er erträgt die Gerüche der Dämmerung nicht, hält sich bei geschlossenen Fenstern in der Wohnung auf, sieht durch die Scheibe alle, die das Leben da draußen genießen, Jungen und Mädchen, Männer und Frauen, Katzen, Hunde und Vögel. Sitzt da mit Kopfschmerzen, sie hören überhaupt nicht auf. Kann kein Wasser ertragen, nicht das Geräusch von Wellen, ist nie wieder dort gewesen, nie. Erträgt keine Stimmen, hört sie, als wäre es gestern gewesen, betrunken, laut, böse.

Wo bist du?

Wir haben hier was für dich.

Komm mal her und schau’s dir an.

Damals war es fast dunkel gewesen, der Mond war hinter Wolken verschwunden, und er hatte bei der Giebelwand gestanden, links davon, wenn man vorm Haus stand, jedes Mal, wenn er daran dachte, musste er genau das denken, und er denkt immer daran, immer.

Dann braucht man Hilfe, denkt er, als er eine Mutter und ein Kind im Sonnennebel in Richtung Frölunda torg verschwinden sieht, ich habe keine Hilfe bekommen, niemand wusste davon, es gab keinen einfühlsamen Menschen.

Jetzt weint er. Das geschieht immer öfter, ich weine wie ein Mädchen, denkt er. Niemand kann mich sehen, das freut mich, niemand hat mir erklärt, was dieses Wort bedeutet, sich freuen. Ich muss froher werden, be glad, fröhlicher, denkt er, ich bin auf dem Weg dahin, das fühle ich, ich weiß es, das Ziel ist nah.

Er blinzelt, sieht fast nichts, in seinen Augen ist nur Wasser, als würde er unter Wasser schwimmen. Hinterher habe ich versucht, mich zu ertränken, denkt er.

Jetzt kann er wieder sehen, weint nicht mehr. Bald wird er dorthin gehen. Jetzt fängt es an. Das Licht überm Platz ist schmutzig, klebrig nach einem langen Tag.

3

Linnea Hall saß in ihrem hellen Wohnzimmer. Aneta Djanali saß ihr gegenüber, in einem viel zu tiefen Sessel. Die beiden Kinder waren in der Schule. Der Frühling versuchte überall einzudringen, fast aggressiv. Das Licht brachte etwas Neues mit sich, vor allen Dingen in dieses Zuhause. Der Mann war hier nicht mehr zu Hause. Er war nirgends mehr zu Hause, nur auf der anderen Seite, und niemand auf der ganzen Welt wusste, wo sich diese andere Seite befand. Ich möchte es auch nicht wissen, dachte sie.

Robert Hall musste etwas getan haben, wofür er den Tod verdient hatte. Das hatte seine Exfrau gesagt, im Prinzip das Erste, was sie überhaupt gesagt hatte. Was hatte er ihr angetan?

In den Augen der Frau war ein Ausdruck, den Aneta Djanali sonst nicht in den Augen Trauernder gesehen, noch nie gesehen hatte. Das war keine Trauer. Sie würde bald dahinterkommen, vielleicht schon während der Vernehmung. Es war wichtig. Es war sehr wichtig.

»Sie sind der Meinung, er muss etwas getan haben, womit er seinen Tod verdient hat«, sagte Aneta Djanali.

»Es kann doch gar nicht anders sein«, antwortete Linnea Hall.

Ihr Gesicht verriet nicht, was hinter diesen überraschenden Worten lag.

»Das müssen Sie mir erklären«, sagte Aneta.

»Robert war kein sympathischer Mensch«, sagte Linnea Hall.

»Erzählen Sie.«

»Wo soll ich anfangen?«

»Wo Sie wollen.«

»Bei seiner Geburt?«

»Ist es so schlimm?«

»Wollen Sie mich nicht fragen, warum ich ihn geheiratet habe? Warum wir zusammen Kinder haben?«

»Sie waren verliebt«, sagte Aneta Djanali.

»Ist das eine Frage?«

»Was hat er Ihnen angetan?«

Linnea Hall blieb stumm. Sie schaute hinaus, zum Licht. Da draußen ist es furchtbar hell, heller, als es je war in diesem Jahr. Dann sah sie wieder Aneta Djanali an.

»Wenn die Kinder nicht wären, ich würde nicht zur Beerdigung gehen.«

»Erzählen Sie«, wiederholte Aneta. Offene Fragen so lange wie möglich.

»Was soll ich erzählen?«

»Warum Sie glauben, dass er seinen Tod verdient hat.«

»Ist das so ungewöhnlich?«

Djanali nickte, das konnte ja, nein oder vielleicht bedeuten. Aber seinen Tod verdienen? Das klang fast, als verdiene man nicht, geboren zu werden. Der Schaden für die Menschheit wäre geringer. Millionen hätten ebenso gut unge­boren bleiben können. Das galt nicht zuletzt all den bösen Schwarzköpfen in dem Teil der Welt, aus dem sie stammte. Ihr Vater hatte das oft gesagt und war dennoch dorthin zurückgekehrt. Und hier oben im Norden herrschte die weiße Macht, das Böse glühte und glänzte genauso hübsch.

»Er muss etwas getan haben«, sagte Linnea Hall wieder.

»Was zum Beispiel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was hätte er getan haben können?«

»Jemanden verletzen«, sagte Linnea Hall.

»Wie?«

Linnea Hall antwortete nicht. Sie schien nachzudenken, oder sie versuchte sich zu erinnern. Etwas legte sich über ihr Gesicht, es war kein Licht.

»Ich muss Genaueres wissen«, sagte Aneta Djanali. »Fangen Sie mit Ihrer Ehe an. Warum haben Sie sich scheiden ­lassen?«

»Er … Robert … war ein gewalttätiger Mensch. Er hat mich bedroht. Er hat die Kinder bedroht.«

»Auf welche Art?«

»Gewalttätig«, antwortete Linnea Hall.

»Hat er Sie geschlagen?«

»Nein …«

»Wie hat er Sie bedroht?«

»Es war schlimmer.«

»Jetzt verstehe ich Sie nicht.«

»Er hat nicht geschlagen … aber er ist ein Teufel geworden.« Linnea Hall sah Aneta an. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«

»Versuchen Sie es.«

»Er wurde … nein, nicht ein anderer. Er war der, der er immer war.«

»Wer ist er immer gewesen?«

»Ein Teufel.«

»Schon in seiner Jugend?«

»Ich glaube, ja.«

»Wissen Sie mehr darüber?«

»Eigentlich weiß ich gar nichts.«

»Und wissen es trotzdem?«

»Ich glaube, er hat etwas getan, dem er nicht entkommen konnte. Es war irgendetwas in seinem Innern. Etwas, das ihn nicht losließ. Das hat sich dann gegen alle anderen ­gerichtet. Ich wusste nichts, damals nicht, als wir uns kennengelernt haben. Er hatte … Charme. Wie alle Psycho­pathen.«

»Sie meinen, er war ein Psychopath?«

»Vielleicht ist es die falsche Bezeichnung. Jedenfalls konnte man nicht mit ihm zusammenleben.«

»Wann haben Sie sich scheiden lassen?«

»Vor vier Jahren.«

»Wann haben Sie sich das letzte Mal gesehen?«

»Seit der Scheidung habe ich ihn nicht mehr getroffen.«

»Und die Kinder?«

»Einmal in vier Jahren«, antwortete Linnea Hall. Sie verzog die Lippen, es konnte ein Lächeln sein, sah aber aus wie eine Grimasse. »Trotzdem wollen sie zu seiner Beerdigung. Kinder sind in mancher Beziehung komisch.«

»Haben Sie telefonisch Kontakt gehabt?«

»Nein.«

»Wie haben Sie dann Kontakt gehalten?«

»Ich habe doch schon gesagt, wir hatten keinen!«

Linnea Halls Stimme wurde lauter. Das wunderte Aneta. Sie war ruhig, kalt, kontrolliert gewesen. Es konnte Verzweiflung sein, Verzweiflung drückte sich auf viele Arten aus. Es konnte auch Angst sein.

Es ist Angst, dachte Aneta, das Gefühl, nach dem ich schon oft gesucht habe. Angst. Männer wie Frauen haben Angst. Der Schrecken wohnt in allen.

»Wann hat er seine Arbeit aufgegeben?«

»Wissen Sie das denn nicht?«

»Wissen Sie es?«

»Es ging einfach nicht«, sagte Linnea Hall. »Er konnte keinen Job behalten.«

»Sie sind auch Lehrerin«, sagte Djanali.

»Wir haben uns am Arbeitsplatz kennengelernt.«

»Ja?«

»Darüber gibt es nicht mehr zu sagen. Die Schule hat ihn rausgeschmissen.«

»Was ist passiert?«

»Das habe ich nie erfahren.«

Linnea Hall erhob sich. Aneta blieb in dem tiefen Sessel sitzen. Es war ein Fehler gewesen, sich ausgerechnet in diesen Sessel zu setzen. Sie fühlte sich schwer, unfähig, klar zu denken.

»Ich muss jetzt Tyra abholen«, sagte Linnea Hall. »Ich hole sie immer ab.«

»Könnten Sie Robert getötet haben?«, fragte Aneta.

»Nein.«

»Warum nicht?

»Ich habe nicht die Kraft. Und ich habe auch nicht solche Gedanken.«

»Empfinden Sie Trauer?«

»Seinetwegen?«

»Ja.«

»Ich empfinde Trauer darüber, dass alles so gekommen ist. Für ihn, für mich, für uns. Für unsere Familie. Aber ich vermisse ihn nicht. Da war nichts, was ich in der langen Zeit hätte vermissen können.«

»Hatte er näheren Umgang mit einem Kollegen?«

»Er wollte keinen Umgang«, sagte Linnea Hall. »Wo immer er konnte, hat er sich von Menschen ferngehalten. Keine gute Grundlage für den Lehrerberuf. Er hielt sich … es war fast so, als würde er sich von sich selbst fernhalten.«

»Von sich selbst?«

»Von dem, der er einmal gewesen ist. Von dem, der er geworden ist.«

Das sagt alles, dachte Djanali. Es hat ihn schließlich eingeholt.

»Wie … was ist eigentlich passiert?«, fragte Linnea Hall.

»Was meinen Sie jetzt?«

»Wie ist er … umgebracht worden? Auf welche Art?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Ist die Frage seltsam? Bin ich komisch?«

»Warum wollen Sie es wissen?«, wiederholte Djanali.

»War es ein gewaltsamer Tod?«

»Ja.«

»Das sagt eine ganze Menge, nicht wahr?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sagt die Art, wie Menschen umgebracht werden, nicht eine Menge darüber aus, wie sie im Leben waren? Das muss Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen, oder nicht? Den Täter zu finden?«

Winter öffnete die Tür zu Robert Halls Wohnung. Auf der Matte hinter der Tür häuften sich Zeitungen und Kuverts, er rührte nichts an. Das überließ er Öbergs Leuten.

Im Wohnzimmer sah er ein Fenster ohne Jalousien. Er sah eine Straßenbahn, einen Teil des Kulturhauses, die riesigen Parkplätze, die neuen Häuser, die alten Häuser. Das Gebüsch unterhalb des Kulturhauses. Den Tatort.

Wie oft mag Hall hier gestanden und all das gesehen haben, was Winter jetzt sah? Irgendetwas hatte ihn veranlasst, diesen Ort aufzusuchen, den letzten Ort.

Winter drehte sich um. Im Zimmer standen ein billiges Sofa, ein Sessel und ein Tisch. Alles wirkte wie gebraucht gekauft, eine armselige Möblierung. Auf dem abgenutzten Parkett lag ein Flickenteppich. Flickenteppich war eine gute Bezeichnung. Hatte er nicht einen Film mit dem Titel gesehen? Ein Buch gelesen? Der Flickenteppich. Lumpenpuppe. Nicht dass er gerade viel las. Das wäre zu anstrengend, zu ordentlich. Zu viele Fragen, über die er sich aufregen würde. Er regte sich ohnehin über alles Mögliche auf. Zum Beispiel darüber, dass Angela heute Morgen nicht angerufen hatte. Er hätte so gern ihre Stimme gehört, die Stimmen der Kinder. Er hatte schlecht geschlafen, am Abend vorher keinen Whisky getrunken, hatte mit dem Laptop auf den Knien dagesessen und Diagramme über Glas und Beton erstellt. Es war ein hübsches Bild geworden. Endlich hatte er auch etwas erschaffen.

Das Handy bebte in seiner Hemdentasche, als würde es frieren. Ihm kam es ungewöhnlich kalt in der Wohnung vor, als ob die Temperatur seit Halls Verschwinden um einige Grade gesunken wäre. Er schaute auf das Display. Endlich.

»Hallo«, sagte er.

»Wo bist du, Erik?«

»Im Zuhause eines Mordopfers. Wenn man es nun noch Zuhause nennen kann.«

»Habt ihr schon etwas gefunden?«

»Wir wissen nichts«, sagte er. »Wir wissen nur, dass das Opfer ein einfaches und armseliges Leben geführt haben muss.«

»Wie die meisten Menschen«, sagte sie.

»Darüber weißt du doch gar nichts«, sagte er.

»Soll ich den Hörer aufknallen?«, fragte sie.

»Es gibt keinen Hörer mehr«, sagte er. »Wir leben in einer anderen Zeit.«

Er hörte, dass sie auf Aus drückte. Das klang wie ein aufgeknallter Hörer. Es sauste und brauste wie gewöhnlich in seinen Ohren, im Raum zwischen ihnen, zwischen dem Eis- und dem Sonnenmeer. Er gab die Nummer ein, wartete, lauschte auf die Kombination aus Tinnitus und sphärischen Störungen, es klang wie immer, der gleiche Mist, auf diese Weise war er Teil des Universums, aber ein verdammt kleiner Teil.

Schließlich meldete sie sich.

»Entschuldige«, sagte er.

»Du weißt nicht, wie das ist«, sagte sie.

»Wie was ist?«

»Sieh mal einer an, du weißt nicht einmal, wovon ich rede.«

Er dachte nach, er dachte wirklich nach.

»Wovon rede ich, Erik?«

»Über dich und mich.«

»Ich spreche über unsere Familie.«

»Im Sommer sind wir wieder zusammen. Für immer, bis in alle Ewigkeit.«

»Wenn du versuchst, ironisch zu sein, knalle ich den sogenannten Hörer wieder auf.«

»Ich war nicht ironisch. Dies hier geht vorbei.«

»Heute hat Elsa gesagt, dass sie auf keinen Fall umziehen will. Sie will Siv nicht allein lassen, hat sie gesagt.«

Aber Siv war tot. Seine Mutter war schon länger als einen Monat tot. Sie war zur Ruhe gebettet worden, wie man sagte, neben Bengt, ihrem Mann, auf einem hübschen Friedhof, der von den weißen Bergen beschützt wurde, davor das Meer, ein Glitzern aus Gold und Silber. Es war ein vollkommener Platz.

»Ich verstehe«, sagte er.

»Ich bin diejenige, die versteht«, sagte sie.

»Was verstehst?«

»Ich versuche, dich zu verstehen«, sagte sie. »Ich versuche immer zu verstehen.«

»Du bist die Einzige, die versteht«, sagte er.

»Sagst du das allen Frauen?«

»Suchst du Streit?«, fragte er. »Wir streiten uns doch sonst nicht. Ich möchte Streit vermeiden. Es ist spießig, sich mit seinem Partner zu streiten. Wir machen das nicht. Wir sind großbürgerlich.«

»Du versuchst immer auszuweichen«, sagte sie. »Aber ich habe wieder dieses unheimliche Gefühl.«

Er wusste, welches Gefühl sie meinte. Es war echt, kein Gefühl, das man ignorieren sollte.

»Ich bin nicht mehr leichtsinnig«, sagte er.

»Das sagst du jedes Mal, jedes Jahr, jeden Monat.«

»Ich mache allein keine Dummheiten mehr«, sagte er.

»Vor einem Monat wärst du fast gestorben«, sagte sie. »Wenn dich nicht einer deiner Verdächtigen gerettet hätte.«

»Ich weiß«, sagte er.

»Von hier unten kann ich nicht auf dich aufpassen«, sagte sie.

»Wir sind bald zusammen.«

»Und wenn wir nicht nach Schweden zurückkommen?«

»Das habe ich nicht gehört, Angela.«

»Du hast es gehört.«

Er musste dem hier ein Ende machen. Nie würde es ihm gelingen, ein Gespräch mit Angela durch Diskutieren zu beenden. Deswegen nahmen gewisse Männer ihre Fäuste zu Hilfe. Es war die äußerste Form der Kommunikation, wenn Worte nicht mehr reichten, sie reichten nie.

»Darf ich kurz mit Elsa sprechen?«, fragte er.

»Sie ist auf dem Mercadon mit Maria und Lilly.«

»Wir reden heute Abend«, sagte er. »Ich muss mit den Kindern sprechen.«

»Vor dem Whisky«, sagte sie und beendete das Gespräch.

Er schaute auf das Display, als erwarte er, dass es wieder zum Leben erwachte, aber in seinen Ohren zischte nur Stille. Er steckte das iPhone in die Innentasche seines Jacketts und sah sich wieder im Zimmer um. An einer Wand stand ein unansehnlicher, alter bauchiger Fernseher. Auf dem Tisch lag eine Fernbedienung. Neben dem Fernseher auf dem Fußboden stand ein DVD-Spieler. Kein Getue mit Tischen und Regalen. Überhaupt kein Getue. Winter ging ins Schlafzimmer. Da gab es ein Einzelbett und nicht viel mehr, er hatte die Einmalschuhe aus Plastik übergezogen und bewegte sich vorsichtig durch den Raum, fasste nichts an.

Auf einem wackligen Tisch neben dem Bett stand ein alter Computer.

Staub schwirrte durch die Luft, glitzernde Partikel im Sonnenschein, der durch die vorhanglosen Fenster hereinfiel.

Die Küche war gewissermaßen auch dickbauchig, altmodische Herdplatten, ein überdimensionaler Kühl- und Gefrierschrank. Kein Mensch füllte mehr Gefrierschränke, niemand kaufte halbe Kühe, ganze Schweine und Lämmer. Niemand stand mehr rotbackig am Herd und kochte Gemüse oder Obst ein.

Der Küchentisch stammte wahrscheinlich aus derselben Quelle wie die anderen Möbel in der Wohnung, die Stühle auch. Alles in der Wohnung sah aus wie ein Leben, das gar nicht erst angefangen hatte, und nun schon wieder vorbei war. Immer kamen ihm die gleichen Gedanken, wenn er wie jetzt in so einer Wohnung stand.

Das Handy zuckte wieder, vibrierte auf seiner Brust. Es fühlte sich kalt an, als er es aus der Tasche zog, kalt wie seine Hand in der kalten Wohnung.

»Ja, Bertil?«

»Wo bist du?«

»In Halls Wohnung.«

»Es ist wieder passiert«, sagte Ringmar.

Seit dem ersten Mord waren fünf Tage vergangen.

4

Sein Name war Jonatan Bersér, einundvierzig Jahre alt. In der Jacke steckte noch die Brieftasche mit seinem Ausweis. Sein Schädel war eingeschlagen. Über dem Kopf hatte er eine Plastiktüte, und die Hosen waren heruntergezogen. Das nackte Gesäß leuchtete weiß in dem nackten Licht.

Pia Fröberg richtete sich auf und kam Winter und Ringmar entgegen.

»Irgendwann heute Nacht«, sagte sie. »Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen, aber vermutlich in der ersten Nachthälfte.«

»Können die Schläge gegen den Kopf tödlich gewesen sein?«, fragte Winter.

»Darauf habe ich noch keine Antwort.«

»Er kann also auch erstickt sein?«

Fröberg antwortete nicht. Winter hatte laut gedacht. Es war unwahrscheinlich, dass es sich hier um einen neuen Fall, einen weiteren Täter handelte, den sie von einem Ende zum anderen jagen müssten. Schließlich war auch auf Bersérs Rücken ein Stück Pappe befestigt, auf dem in schwarzer Farbe ein »O« stand. Winter dachte an Scrabble, das er früher mit Angela gespielt hatte, als sie noch sehr jung waren, Angela jedenfalls, und sehr glücklich und sehr arm, Angela jedenfalls; mit dem Spielen hatten sie aufgehört, als sie dahintergekommen war, dass er schummelte.

»Zwei Buchstaben, zwei Tote«, sagte Ringmar.

»Zwei Männer«, sagte Winter.

»Hall ist vierzig geworden, sie waren ungefähr gleich alt.«

»Das haben sie auch gemeinsam«, sagte Winter.

»Daran können wir uns schon mal halten«, sagte Ringmar.

»Gar nicht schlecht.«

»Das ist sehr gut«, sagte Ringmar.

Fröberg hatte sich entfernt und sprach mit Torsten Öberg. Der Chef der Spurensicherung wies mit dem Kopf in ihre Richtung.

»Torsten sieht wütend aus«, sagte Ringmar.

»Er kann es nicht leiden, wenn Leute mit uns spielen.«

»Du denn?«

»Das ist kein Spiel«, sagte Winter.

»Jedenfalls nicht für den Mann da«, sagte Winter.

»In der Nähe vom Jungfruplatsen.«

»Ein hübscher Name.«

Sie standen hinter dem Krankenhaus von Mölndal, westlich von den Gebäuden. Hier gab es genügend Vegetation, um Bersérs Leiche einigermaßen zu verstecken.

Eine Frau mit Hund hatte die Leiche gefunden, oder besser gesagt, der Hund hatte sie gefunden. So war das oft, Frau mit Hund. Winter hatte noch keinen von beiden getroffen. Zuerst wollte er mit Bersérs Angehörigen sprechen. So viel wusste er, es gab eine Frau und ein Kind. Sie warteten am Jungfruplatsen.

»Können wir was mit den verdammten Buchstaben anfangen?«, sagte Ringmar. »R und O.«

»Nein. Vielleicht finden wir über die Pappe eine Spur.«

»Du meinst, bei einer bestimmten Konditorei?«

»Alles ist möglich.«

»Vielleicht Ahlströms? So viele Napoleonschnitte, wie wir dort schon verdrückt haben. Das wäre nicht mehr als gerecht. In Napoleon ist übrigens ein o enthalten, ach nein, zwei.«

»Du bist ein scharfer Denker, Bertil.«

»Ich werde mit Torsten sprechen.«

»Worüber?«

»Natürlich über die Kartons.«

»Ich hoffe, du machst keine Witze.«

»Für Witze ist es weder der richtige Ort noch die richtige Zeit«, sagte Ringmar.

»Was hat er hier getan, Bersér?«

»War mit jemandem verabredet«, sagte Ringmar.

»Ja.«

»Jemand hat ihn angerufen.«

»Wir werden sehen.«

»Bersér hatte kein Handy bei sich.«

»Nein.«

»Das hat der Mörder.«

»Auch Robert Hall hatte keinen weiten Weg zu dem Ort, an dem er sterben sollte«, sagte Winter.

»Der Mörder bevorzugt Tatorte, die zu Fuß leicht zu erreichen sind.«

»Von wem?«

»Gute Frage, Erik.«

»Mölndal ist ein ganzes Stück von Frölunda entfernt.«

»Irgendwas steckt dahinter.«

»Aber was?«

»Zwischen den Opfern besteht ein Zusammenhang«, sagte Ringmar. »Dort müssen wir graben. Das ist nicht zum ersten Mal so.« Er machte eine Handbewegung in Richtung Süden und sagte: »Ich hasse die Vergangenheit«, als käme die Vergangenheit aus dem Süden.

»Halls Genitalien sind nicht verletzt«, sagte Winter. »Pia hat jedenfalls noch nichts entdeckt.«

»Aber seine Unterhose war heruntergezogen.«

»Das ist eine deutliche Information. Zwei deutliche Informationen.«

»Er ist furchtbar wütend.«

»Das hat lange gedauert.«

»Wütend zu werden? Manches braucht eben seine Zeit.«

»Vielleicht empfinden wir Sympathie«, sagte Winter.

»Bestenfalls«, sagte Ringmar.

»Das schönste Gefühl eines Jägers«, sagte Winter.

»Gefühle sind Frauensache«, sagte Ringmar.

»Den Satz hast du Halders geklaut.«

»Handelt es sich in diesem Fall nur um Männer?«, sagte Ringmar.

»Das erfahren wir, wenn wir den nächsten Buchstaben sehen.«

»Mal nicht den Teufel an die Wand.«

Winter sagte nichts mehr. Er spürte Wind im Gesicht, der zugenommen hatte, während sie hier standen, es war der Frühling, und der kam von Süden.

»Wir haben selten mit einem Serienmörder zu tun gehabt«, sagte Ringmar.

»Von einem Serienmörder spricht man bei drei Morden«, sagte Winter.

»Das sag ich doch.«

»Aber hier handelt es sich nicht um einen Serientäter, wie viele Morde es auch noch werden mögen«, sagte Winter.

»Klingt da deine Sympathie für den Mörder an?«

Winter sah, wie sich die Zweige der beiden Ahornbäume auf der anderen Straßenseite im Wind bewegten. In all diesen Jahren hatte er gelernt, die Bäume auch ohne Laub zu erkennen. Er wollte nicht zum Rest der Familie Bersér fahren, er wollte am Strand von Marbella spazieren gehen und den Südwind spüren. Er wollte mit einem Glas im Café Ancha sitzen. Er wollte seine Familie um sich haben, solange sie noch am Leben war. Dies hier war kein Leben.

»Gehen wir?«, sagte Ringmar.

Der Rest der Familie Bersér bestand doch nur aus einer Person. Sie hieß Amanda Bersér und war achtunddreißig Jahre alt. Das Paar hatte keine Kinder. Ein Segen, dachte er, die Trauer ist deswegen nicht kleiner, aber diesmal muss sie nicht geteilt werden.

Und Amanda Bersér wollte allein sein mit ihrer Trauer.

Sie hatten ihr erzählt, was sie morgens gesehen hatten, aber nicht alles. Es war eine zu drastische Nachricht.

»Haben Sie jemanden, den Sie anrufen und bitten können, zu Ihnen zu kommen?«, fragte Ringmar.

»Das möchte ich nicht«, sagte sie und wiederholte es noch einmal.

Sie saßen in der Küche, in die Amanda sie geführt hatte. Draußen sahen sie Häuser und Gebüsch, einen Himmel im Zwielicht.

»Wo waren Sie?«, fragte sie mit aggressiver Stimme.

»Wie bitte?«, sagte Winter.

»Ich habe heute Nacht die Polizei angerufen, als Jonatan nicht nach Hause gekommen ist.«

Winter wechselte einen Blick mit Ringmar. Sie hatten nichts von einer Anzeige gehört, aber es stimmte wohl. Jonatan war nicht nach Hause gekommen, nach Hause von was, von wem, woher?

»Herrgott.« Sie beugte sich vor und verbarg das Gesicht in den Händen. Sie weinte nicht.

»Wann ist er weggegangen?«, fragte Winter.

Sie murmelte etwas, das Gesicht immer noch in den Händen.

»Was haben Sie gesagt?«

Sie schaute auf.

»Ich war nicht zu Hause«, sagte sie. »Ich war nicht zu Hause!«

Sie sah aus, als müsste sie alle verdammte Schuld der Welt tragen.

Aber nicht diese. Sie hatte sich heute Nacht nicht vor dem Krankenhaus aufgehalten. Nicht einmal Winter würde das glauben, wenn er im Augenblick überhaupt etwas glaubte. Er versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, ihren Bewegungen, Augen, versuchte zu lesen, was sich hinter den Worten verbarg. Die Worte waren immer nur die äußerste Schicht. Sie waren Schutz, manchmal Schutz gegen ihn.

Wie lange mussten sie Amanda Bersér noch quälen?

»Was haben Sie gestern Abend gemacht?«, fragte Ringmar.

»Wann?«

»Erzählen Sie von dem Abend.«

»Ich war … in einer Bar. Mit einer Freundin.«

Ringmar nickte.

»Tara. Die ist in der Linnégatan in der Stadt.«

»Ich kenne sie«, sagte Ringmar.

»Dort waren wir.«

»Um welche Zeit?«

»Ich weiß es nicht … von halb acht bis so gegen zwölf. Ich habe heute frei …« Ihr Gesicht zog sich zusammen, als hätten die Worte ihre Nerven zusammengezogen, nein, die Wirklichkeit.

»Um wie viel Uhr ungefähr sind Sie nach Hause gekommen?«, fragte Winter.

»Gegen Viertel vor eins. Ich habe nicht auf die Uhr ge­sehen.«

»War Jonatan zu Hause?«

Sie sah ihn mit großen Augen an. Als hätte Winter etwas Idiotisches oder Provozierendes gesagt.

»Wie hätte er denn zu Hause sein können?«

»Er war also nicht zu Hause?«, sagte Ringmar.

»Er war nicht zu Hause!«

»War er da, als Sie weggefahren sind?«

»Ja.« Sie machte Anstalten aufzustehen, aber es war nur eine Bewegung. »Ja!«

»Wir versuchen zu verstehen, was passiert ist«, sagte Winter. Verstehen war der falsche Ausdruck, aber sie schien nicht zu reagieren. »Herauszufinden, was passiert ist. Darum ­sitzen wir hier. Wir wollen dem Mörder so schnell wie ­möglich auf die Spur kommen und haben keine Zeit zu verlieren.«

»Was hatte Jonatan gestern Abend vor?«, fragte Ringmar.

»Nichts, soviel ich weiß.«

»Hat er gesagt, was er tun wollte?«

»Lesen, fernsehen, ich weiß es nicht!«

»Hatte er die Angewohnheit, abends auszugehen?«, fragte Winter. »Ging er spazieren? Hat er gejoggt?«

»Er ist gelaufen«, sagte sie. »Er hat für den Göteborg-Marathon trainiert.«

Nicht am vergangenen Abend. Er hatte keine Joggingkleidung getragen, als er ermordet wurde, er war kaum bekleidet gewesen.

»War er … hatte er …?«

»Was?«, fragte Winter.

»Hat er trainiert?«

Es klang wie eine hoffnungsvolle Frage, als ob es besser gewesen wäre, wenn er seine Joggingrunde gelaufen war.

»Gestern Abend nicht«, sagte Winter. »Jedenfalls war er nicht dafür gekleidet.«

Sie sah ihn an, als wäre er der Mörder.

»Ich habe sein Handy angerufen«, sagte sie. »Er hat sich nicht gemeldet.«

»War das Handy eingeschaltet?«

Sie schien ihn nicht zu verstehen.

»Sind die Anrufe durchgegangen?«

»Ja. Der Anrufbeantworter war eingeschaltet. Ich habe ihm auch eine SMS geschickt.«

»Wann war das?«

»Sofort, als ich nach Hause kam und sah, dass er nicht hier war. Ich habe es mehrmals versucht.«

Winter nickte.

»Sie können mein Handy überprüfen«, sagte sie.

»Wann haben Sie die Polizei angerufen?«, fragte Ringmar.

»Danach, vielleicht gegen zwei. Sie … ich kann mein Handy überprüfen. Das habe ich für den Anruf benutzt.«

»Was für eine Antwort haben Sie bekommen?«, fragte Ringmar. »Von der Polizei.«

»Sie haben … die Angaben aufgenommen. Es war eine Polizistin. Sie wirkte nicht besonders interessiert.«

»Das tut mir leid«, sagte Winter.

Er sah einen Fußweg vor dem Fenster. Auch sie schaute zum Fußweg, als erwarte sie, dass Jonatan dort angejoggt käme und alles würde wieder sein wie früher.

Winter sah sie an. Ihr Blick war immer noch nach draußen gerichtet. Wie ist es früher gewesen? dachte er. Mit ihr stimmte irgendetwas nicht. Mit ihm hatte etwas nicht gestimmt. Winter hatte genügend Hinterbliebene getroffen, er konnte Nuancen im Bewegungsmuster ablesen und von der Sprache, hinter den Worten. Manchmal gab es gar nichts, nur Dunkelheit und Abgrund. Manchmal sah er ein kaltes Licht, manchmal ewige Wärme. Die gab es hier nicht, nicht in dieser Küche, bei ihr.

Die Intuition war stark. Sie war seine Wahrheit.

»Können Sie uns Namen von seinen Freunden und Bekannten nennen?«, hörte er Ringmar die Witwe fragen.

Die lustige Witwe, dachte er. Das war sie, sie war froh.

Das Leben ist wieder ein Spiel auf dem Jungfruplatsen.

Als sie im Auto auf dem Mölndalsvägen Richtung Norden fuhren, begann Ringmar den Kopf zu schütteln.

»Was ist, Bertil?«

»Was für eine verdammte Geschichte.«

»Diese oder beide?«

»Beide. Sie gehören zusammen, was meinst du? Ich habe Anetas Verhör gelesen.«

»Ja.«

»Robert wurde nicht geliebt. Hast du den Eindruck, dass Jonatan Bersér geliebt wurde?«

»Ja, als Toter«, sagte Winter.

»War er so schlimm?«

»Amanda hat mit der Trauer gekämpft«, sagte Winter. »Oder mit der Freude.«

»Warum hat sie sich nicht scheiden lassen?«

»Das ist eine Zehntausend-Kronen-Frage, Bertil.«

»Es ist kein Verbrechen, sich scheiden zu lassen.«

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