Der Lincoln Lawyer - Michael Connelly - E-Book

Der Lincoln Lawyer E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

In seiner Lincoln-Limousine, das Telefon immer am Ohr, lässt sich der gewiefte Strafverteidiger Michael Haller zu Gefängnissen und Gerichtshöfen chauffieren, was ihm den Namen »Lincoln Lawyer« eingebracht hat. Sein derzeitiger Fahrer: ein ehemaliger Crackdealer, den Haller vor dem Knast bewahrt hat und der die Anwaltskosten abstottern muss. Solche kleinen Fische aus der Unterwelt von Los Angeles gehören zu Hallers Stammkundschaft. Um seine Honorare aufzubessern und die Alimente für seine achtjährige Tochter zu beschaffen, schreckt der zweifach geschiedene Strafverteidiger selbst vor Erpressung und Schmiergeldzahlungen nicht zurück. Ein Glück, dass endlich wieder ein lukrativer Auftrag winkt: Haller soll Louis Roulet verteidigen, einen jungen Playboy aus Beverly Hills, dessen Familie mit Luxusimmobilien handelt. Roulet, der nie zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, wird der Körperverletzung und Vergewaltigung beschuldigt. Man habe ihn in eine Falle gelockt, behauptet er. Doch bald muss Haller feststellen, dass sein Mandant ein Doppelleben führt. Und mit jedem dunklen Geheimnis, das Der Lincoln Lawyer enthüllt, wächst auch die Gefahr für sein eigenes Leben.

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Michael Connelly

Der Lincoln Lawyer

Der erste Fall

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für Daniel F. Daly und Roger O. Mills

Es gibt keinen beängstigenderen Mandanten als einen unschuldigen.

 

J. Michael Haller, Strafverteidiger,

Los Angeles, 1962

Teil EinsInterventionsmaßnahmen

Montag · 7. März

1

Im Spätwinter ist die Morgenluft aus der Mojave-Wüste das Frischeste und Sauberste, was man im Los Angeles County jemals zu atmen bekommt. Sie führt den Geschmack der Verheißung mit sich. Wenn sie so hereinzuwehen beginnt, lasse ich in meiner Kanzlei gern ein Fenster offen. Es gibt nur wenige Menschen, die von dieser Angewohnheit wissen. Fernando Valenzuela zum Beispiel – der Kautionsbürge, nicht der Baseballpitcher. Ich war gerade zu einer Neun-Uhr-Terminbesprechung ins Gericht von Lancaster unterwegs, als er mich anrief. Er muss den Wind in meinem Handy pfeifen gehört haben.

»Mick«, sagte er, »bist du heute Morgen im Norden oben?«

»Im Moment, ja«, sagte ich und fuhr das Fenster hoch, um ihn besser verstehen zu können. »Hast du was für mich?«

»Sieht so aus. Klingt nach einer richtig lohnenden Sache. Aber der Kerl wird schon um elf dem Richter vorgeführt. Schaffst du’s bis dahin zurück in die Stadt?«

Valenzuela hat ein Ladenbüro am Van Nuys Boulevard, nur einen Block vom Civic Center entfernt, zu dem auch zwei Gerichte und das Van-Nuys-Gefängnis gehören. Seine Firma nennt sich Liberty Bail Bonds. Seine Telefonnummer prangt in rotem Neon auf dem Dach seines Büros und ist vom Hochsicherheitstrakt im zweiten Stock des Gefängnisses aus zu sehen. Außerdem findet sie sich in sämtlichen Zellenblocks in die Wandfarbe neben den Münztelefonen gekratzt.

Fast ebenso unauslöschlich ist sein Name auf meiner Weihnachtsgrußliste verewigt. Am Jahresende schenke ich jedem auf dieser Liste eine Dose gesalzener Nüsse. Die Planters-Festtagsmischung. Jede Dose hübsch mit einem Band und einer Schleife versehen. Aber sie enthält keine Nüsse. Nur Bargeld. Ich habe eine Menge Kautionsbürgen auf meiner Weihnachtsgrußliste stehen. Und bis weit in den Frühling hinein esse ich dann aus Tupperware-Behältern Planters-Festtagsmischung. Seit meiner letzten Scheidung ist das manchmal alles, was ich zum Abendessen kriege.

Bevor ich Valenzuelas Frage beantwortete, dachte ich über die Terminbesprechung nach, zu der ich unterwegs war. Mein Mandant hieß Harold Casey. Würden die Namen auf der Prozessliste alphabetisch aufgerufen, könnte ich es bis elf Uhr problemlos zu einer Anhörung in Van Nuys schaffen. Aber Richter Orton Powell absolvierte gerade seine letzte Amtsperiode. Danach ging er in Pension. Das hieß, im Gegensatz zu seinen Kollegen musste er sich keine Gedanken mehr um seine Wiederwahl machen. Und um seine neu gewonnene Unabhängigkeit zu demonstrieren – und möglicherweise auch aus Rache an allen, denen er zwölf Jahre lang politisch verpflichtet gewesen war –, warf er in seinem Gerichtssaal gern alles über den Haufen. Manchmal ging er bei der Terminbesprechung alphabetisch vor, manchmal umgekehrt alphabetisch, manchmal nach dem Einreichungsdatum. Nach welchem Schema er sich richtete, erfuhr man erst, wenn man da war. Nicht selten standen sich Anwälte in Powells Gerichtssaal über eine Stunde lang die Beine in den Bauch. Das gefiel dem Richter.

»Ich glaube, ich schaffe es bis elf«, sagte ich, ohne mir wirklich sicher zu sein. »Worum geht’s?«

»Der Kerl muss ordentlich Kohle haben. Adresse in Beverly Hills, und gleich als Erstes kommt der Familienanwalt angerauscht. Ein richtig dicker Fisch, Mick. Sie haben die Kaution auf eine halbe Million festgesetzt, und heute ist der Anwalt seiner Mutter vorbeigekommen, um eine Immobilie in Malibu als Sicherheit zu hinterlegen. Hat erst gar nicht versucht, die Kaution runterzuhandeln. Schätze mal, sie sind sich ziemlich sicher, dass er freikommt.«

»Wegen was haben sie ihn hochgenommen?«, fragte ich.

Meine Stimme blieb ruhig. Ein lukrativer Fall wie dieser konnte in kürzester Zeit die Konkurrenz auf den Plan rufen, aber ich hatte Valenzuela an Weihnachten oft genug bedacht, um zu wissen, dass ich den Fall exklusiv am Haken hatte. Ich konnte die Sache ganz gelassen angehen.

»Die Cops haben ihn wegen schwerer Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung festgenommen«, antwortete der Kautionsbürge. »Der Staatsanwalt hat meines Wissens noch keine Anklage erhoben.«

Die Polizei fuhr bei den Anklagepunkten gern schwere Geschütze auf. Doch am Ende zählte nur, was die Ankläger tatsächlich einreichten und gerichtlich geltend machten. Ich sage immer, Fälle kommen anmarschiert wie Löwen und schleichen sich dann wie Lämmer. Ein Fall, der als schwere Körperverletzung mit versuchter Vergewaltigung daherkam, konnte sich am Ende als harmlose Tätlichkeit entpuppen. Es würde mich nicht groß wundern, und in dem Fall spränge nicht viel für mich heraus. Trotzdem, wenn ich das Mandat erhielt und ein Honorar auf Basis der ursprünglichen Anklagepunkte vereinbarte, stünde ich auch dann noch gut da, wenn sie die Staatsanwaltschaft später herunterstufte.

»Irgendwelche Einzelheiten?«, fragte ich.

»Man hat ihn gestern Nacht verhaftet. Klingt, als hätte er jemanden aus einer Bar abgeschleppt und die Sache wäre eskaliert. Der Anwalt der Familie behauptet, die Frau hätte es auf sein Geld abgesehen. Du weißt schon, Zivilklage im Anschluss an den Strafprozess. Aber ich wäre mir da nicht so sicher. Angeblich hat er sie ziemlich übel zugerichtet.«

»Wie heißt der Anwalt der Familie?«

»Augenblick. Ich hab seine Karte hier irgendwo rumliegen.«

Während ich wartete, dass Valenzuela die Visitenkarte hervorkramte, sah ich aus dem Fenster. Bis zum Gericht von Lancaster waren es noch zwei Minuten, bis zum Beginn der Terminbesprechung zwölf. Dazwischen brauchte ich noch mindestens drei Minuten, um mich mit meinem Mandanten zu besprechen und ihm die schlechte Nachricht zu überbringen.

»Ah, hier ist sie«, sagte Valenzuela. »Er heißt Cecil C. Dobbs, Esquire. Aus Century City. Hab ich’s nicht gesagt. Kohle.«

Valenzuela hatte recht. Aber es war nicht die Century-City-Adresse des Anwalts, die nach Geld roch. Es war der Name. Ich wusste, welcher Ruf C.C. Dobbs vorauseilte, und vermutlich gab es unter seinen Mandanten nur wenige, die keine Adresse in Bel-Air oder Holmby Hills vorzuweisen hatten. Orte, an denen die Menschen dem Himmel näher schienen als gewöhnliche Sterbliche.

»Und der Name des Mandanten?«, fragte ich.

»Louis Ross Roulet.«

Er buchstabierte, und ich notierte ihn auf einem Schreibblock.

»Fast wie Roulette, aber man spricht ihn Ru-lee aus«, erklärte er. »Schaffst du es rechtzeitig, Mick?«

Bevor ich antwortete, notierte ich noch den Namen C.C. Dobbs. Dann stellte ich Valenzuela eine Gegenfrage.

»Warum ich? Haben sie ausdrücklich nach mir verlangt? Oder hast du mich empfohlen?«

Ich musste vorsichtig sein. Womöglich gehörte Dobbs zu der Sorte, die schnurstracks zur Anwaltskammer rannte, wenn sie Wind davon bekam, dass ein Strafverteidiger Kautionsbürgen schmierte. Ich begann mich sogar zu fragen, ob Valenzuela nicht vielleicht in eine Falle der Anwaltskammer getappt war. Ich gehörte nicht gerade zu den Lieblingen der Kammer. Sie hatten mir früher schon am Zeug zu flicken versucht. Und das mehr als einmal.

»Ich hab Roulet gefragt, ob er schon einen Anwalt hat. Einen Strafverteidiger. Und er sagte Nein. Daraufhin hab ich ihm von dir erzählt. Ohne ihn irgendwie zu drängen. Ich hab nur gesagt, dass du gut bist. Auf die subtile Tour, verstehst du?«

»War das, bevor oder nachdem Dobbs ins Spiel kam?«

»Vorher. Roulet hat mich heute Morgen aus dem Gefängnis angerufen. Sie haben ihn rauf in den Hochsicherheitstrakt gebracht, und von dort aus hat er wahrscheinlich meine Reklame gesehen. Dobbs ist erst später aufgetaucht. Ich hab ihm von dir erzählt, von deinen Referenzen, und er war ganz angetan. Er wird auch um elf kommen. Dann kannst du dir ja selbst ein Bild von ihm machen.«

Ich schwieg eine Weile. Ich fragte mich, wie ehrlich Valenzuela war. Ein Typ wie Dobbs hatte sicher seinen eigenen Mann. Selbst wenn ihm so ein Fall nicht lag, hatte er entweder in seiner Kanzlei einen Strafrechtsspezialisten oder jemanden in der Hinterhand. Aber Valenzuelas Geschichte schien dem zu widersprechen. Roulet war mit leeren Händen zu ihm gekommen. Hinter der Sache steckte offensichtlich mehr, als ich im Moment überblickte.

»Was ist, Mick, bist du noch da?«, drängte Valenzuela.

Ich traf eine Entscheidung. Sie sollte mich auf den Fall Jesus Menendez zurückwerfen, und ich würde sie in vielerlei Hinsicht bereuen. Aber in dem Moment war es einfach nur eine weitere Entscheidung, getroffen aus finanziellen Zwängen und reiner Gewohnheit.

»Also gut«, sagte ich ins Telefon. »Bis um elf.«

Ich wollte das Handy schon zuklappen, da drang noch einmal Valenzuelas Stimme aus dem Hörer.

»Und ich kann davon ausgehen, dass du dich erkenntlich zeigst, ja, Mick? Ich meine, wenn bei der Sache was rausspringt.«

Es war das erste Mal, dass Valenzuela eine solche Zusicherung von mir verlangte. Das trug noch mehr zu meiner Paranoia bei, und ich legte mir die Antwort sehr sorgfältig zurecht, damit sie sowohl ihn als auch die Anwaltskammer zufriedenstellen würde – falls Letztere mithörte.

»Keine Sorge, Val. Du stehst auf meiner Weihnachtsliste.«

Bevor er noch mehr sagen konnte, klappte ich das Handy zu und wies meinen Fahrer an, mich zum Personaleingang des Gerichts zu bringen. Die Schlange vor dem Metalldetektor war dort kürzer, und die Sicherheitsbeamten drückten meist ein Auge zu, wenn sich Anwälte durchmogelten, um es rechtzeitig ins Gericht zu schaffen.

Während ich über den Fall Louis Ross Roulet nachdachte und die damit verbundenen potenziellen Reichtümer und Gefahren, ließ ich das Fenster wieder runter, um die letzte Minute sauberer, frischer Luft genießen zu können. Noch führte sie den Geschmack der Verheißung mit sich.

2

Der Gerichtssaal im Department 2A war bei meiner Ankunft bereits mit Anwälten bevölkert, die auf beiden Seiten der Schranke verhandelten und Kontakte knüpften. Die Sitzung würde pünktlich beginnen, denn der Gerichtsdiener saß bereits an seinem Schreibtisch. Der Richter würde also jeden Moment den Saal betreten.

Im Los Angeles County sind die Gerichtsdiener normalerweise dem Strafvollzug zugeteilte, vereidigte Deputy Sheriffs. Ich trat zum Schreibtisch des Gerichtsdieners, der direkt an der Schranke stand, damit Bürger Fragen stellen konnten, ohne dabei den Anwälten, Angeklagten und Gerichtspersonal vorbehaltenen Bereich betreten zu müssen. Ich sah die Liste der Angeklagten auf dem Klemmbrett vor ihm. Bevor ich ihn ansprach, warf ich einen Blick auf das Namensschild an seiner Uniform – R. Rodriguez.

»Roberto, haben Sie meinen Typ da drauf? Harold Casey?«

Der Gerichtsdiener begann, mit dem Finger die Liste entlangzufahren, hielt aber gleich wieder inne. Das hieß, ich hatte Glück.

»Ja, Casey. Ist als Zweiter dran.«

»Heute also alphabetisch. Gut. Reicht die Zeit noch, um nach hinten zu gehen und mit ihm zu sprechen?«

»Nein, sie bringen gleich die erste Gruppe rein. Hab sie gerade aufgerufen. Der Richter muss jeden Augenblick kommen. Wahrscheinlich können Sie im Käfig noch ein paar Minuten mit Ihrem Mann sprechen.«

»Danke.«

Ich ging bereits auf den Durchgang in der Schranke zu, als er mir hinterherrief.

»Und übrigens, ich heiße Reynaldo, nicht Roberto.«

»Ach ja, richtig. Entschuldigung, Reynaldo.«

»Wir Gerichtsdiener sehn doch alle gleich aus, was?«

Mir war unklar, ob das eine Spitze oder ein Witz sein sollte. Ich antwortete nicht. Ich lächelte bloß und trat durch die Schranke. Ich nickte einigen Anwälten zu, die ich kannte. Einer hielt mich an und fragte, wie lange ich mit dem Richter bräuchte, weil er wissen wollte, wann sein Mandant aufgerufen würde. Ich versprach ihm, es kurz zu machen.

Bei einer Terminfestlegung werden inhaftierte Angeklagte in Vierergruppen in den Gerichtssaal geführt und im sogenannten Käfig untergebracht, einem mit Wänden aus Holz und Glas abgetrennten Bereich. Dort haben die Angeklagten Gelegenheit, noch kurz mit ihren Anwälten zu sprechen, bevor ihr Fall aufgerufen wird.

Gerade als ich den Käfig erreichte, öffnete ein Deputy die Tür zur angrenzenden Zelle, und die ersten vier Angeklagten auf der Liste wurden herausgeführt. Als Letzter der vier betrat Harold Casey den Käfig. Ich postierte mich in einer Ecke, damit wir zumindest nach einer Seite hin etwas abgeschirmt waren, und winkte ihn zu mir.

Casey war groß und kräftig, eine der Grundvoraussetzungen für die Aufnahme bei den Road Saints, einer Motorradgang – oder einem »Club«, wie sie selbst lieber gesehen werden wollten. Auf mein Anraten hin hatte er sich während der Untersuchungshaft im Gefängnis von Lancaster die Haare geschnitten und den Bart abrasiert, sodass er bis auf die Tattoos, die sich um seine Arme rankten und unter seinem Kragen hervorlugten, ganz manierlich aussah. Aber gewisse Dinge lassen sich eben nicht verbergen. Ich habe keine genaue Vorstellung, welche Wirkung Tattoos auf Geschworene haben, aber vermutlich keine besonders vorteilhafte, und vor allem wenn dabei grinsende Totenköpfe im Spiel sind. Aber mit Sicherheit sind Geschworene normalerweise keine Freunde von Pferdeschwänzen – sei es bei Angeklagten oder deren Verteidigern.

Casey – oder auch Hard Case, wie er im Club hieß – war wegen Anbau, Besitz und Verkauf von Marihuana sowie verschiedener anderer Verstöße gegen Waffen- und Betäubungsmittelgesetze angeklagt. Bei einer frühmorgendlichen Razzia auf der Ranch, auf der er lebte und arbeitete, hatten Deputy Sheriffs eine Scheune und mehrere Wellblechhütten entdeckt, in denen Marihuana angebaut wurde. Neben zweitausend erntereifen Pflanzen wurden neunundzwanzig Kilo geerntetes Marihuana sichergestellt, das in unterschiedlichen Mengen in Plastiktüten abgepackt war. Neben dreihundertvierzig Gramm Methamphetamin in kristalliner Form, das die Packer um des zusätzlichen Kicks willen auf das geerntete Gras gestreut hatten, wurde außerdem ein kleines Waffenarsenal sichergestellt, das sich später größtenteils als gestohlen herausstellte.

Auf den ersten Blick sah es so aus, als könnte Hard Case einpacken. Der Fall schien klar. Er hatte bei seiner Festnahme in der Scheune keine zwei Meter vom Packtisch entfernt auf einem Sofa geschlafen. Außerdem war er früher bereits zweimal wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden, und die Bewährungsfrist für seine letzte Strafe war noch nicht abgelaufen. Und wenn man in Kalifornien das dritte Mal in die Fänge der Justiz gerät, hat man nichts mehr zu lachen. Realistisch betrachtet, musste Casey selbst bei guter Führung mit mindestens zehn Jahren rechnen.

Das Ungewöhnliche an Casey war jedoch, dass er seinem Prozess und sogar einer möglichen Verurteilung gelassen entgegensah. Er hatte auf sein Recht auf einen Schnellprozess bestanden und konnte es jetzt, keine drei Monate nach seiner Festnahme, kaum erwarten, dass sein Fall vor Gericht kam. Daran war ihm deshalb so viel gelegen, weil seine einzige Hoffnung die Revision seiner mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Verurteilung war. Dank seines Anwalts sah Casey noch einen Hoffnungsschimmer – diesen schmalen Silberstreifen am Horizont, den nur ein guter Verteidiger in das ausweglose Dunkel eines solchen Falles bringen konnte. Auf der Basis dieses winzigen Hoffnungsschimmers war eine Prozessstrategie entstanden, die möglicherweise zu Caseys Freispruch führen könnte. Die Sache war riskant und würde Casey einige Zeit kosten, da er auf die Revision warten musste, aber er wusste ebenso gut wie ich, dass es seine einzige reelle Chance war.

Die Lücke in der Beweisführung der Staatsanwaltschaft war nicht ihre Unterstellung, Casey hätte Marihuana angebaut, verpackt und verkauft. Damit hatte die Anklage vollkommen recht, und die Beweise dafür waren erdrückend. Fragwürdig war vielmehr, wie die Anklage an diese Beweise gekommen war, weshalb der Fall auf etwas wackligen Beinen stand. Meine Aufgabe war nun, diese Lücke bei der Verhandlung nachzuweisen, zu Protokoll zu geben und dann ein Berufungsgericht von etwas zu überzeugen, wovon ich Richter Orton Powell bei einem vorgerichtlichen Antrag auf Nichtzulassung des Beweismaterials nicht hatte überzeugen können.

Ihren Anfang hatte die strafrechtliche Verfolgung Harold Caseys im Dezember vergangenen Jahres genommen, als er in einen Baumarkt in Lancaster marschiert war und eine Reihe von harmlosen Käufen getätigt hatte, darunter auch drei Glühbirnen, wie sie für Hydrokultur-Pflanzen verwendet werden. Der Mann in der Kassenschlange hinter ihm war zufällig ein Deputy Sheriff, der in seiner Freizeit Weihnachtsdekoration für sein Haus kaufte. Der Deputy sah einige der Kunstwerke auf Caseys Armen – insbesondere das Tattoo eines Totenkopfs mit Heiligenschein, das Markenzeichen der Road Saints – und machte sich seinen Reim darauf. Obwohl nicht im Dienst, folgte der Deputy in vorbildlichem Diensteifer Caseys Harley zu der Ranch im nahen Pearblossom. Seine Informationen wurden an das Rauschgiftdezernat des Sheriffs weitergeleitet, das daraufhin einen Hubschrauber mit einer Wärmebildkamera zur Ranch schickte. Die bei dieser Gelegenheit aufgenommenen Fotos, auf denen über der Scheune und den Wellblechhütten deutlich rote Wärmeblüten zu erkennen waren, wurden zusammen mit einer eidesstattlichen Erklärung des Deputy, der Casey die Hydrokultur-Lampen hatte kaufen sehen, einem Richter vorgelegt. Und prompt wurde Casey am nächsten Morgen auf seiner Couch von Deputys mit einem Durchsuchungsbeschluss aus dem Schlaf gerissen.

Bei einer ersten Anhörung hatte ich ins Feld geführt, dass keiner der Beweise gegen Casey vor Gericht zugelassen werden dürfte, weil der berechtigte Grund für die Durchsuchung eine Verletzung von Caseys Persönlichkeitsrechten und Privatsphäre darstellte. Dass harmlose Einkäufe in einem Baumarkt als Anlass für massive Eingriffe in die Privatsphäre eines Menschen missbraucht wurden – in Form von Verfolgung auf dem Boden und aus der Luft mit Wärmebildkameras –, war wohl kaum im Sinne der Urheber der Verfassung.

Richter Powell wies meinen Antrag zurück, womit der Fall auf einen Prozess hinauslief; oder auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft, bei dem wir im Gegenzug für ein rasches Schuldgeständnis womöglich ein geringeres Strafmaß aushandeln konnten. Doch inzwischen waren neue, für Caseys Revisionsantrag positive Erkenntnisse an den Tag gekommen. Die Auswertung der beim Überfliegen von Caseys Haus aufgenommenen Fotos und die Aufnahmedaten der Wärmebildkamera ergaben, dass der Hubschrauber während dieses Einsatzes nicht mehr als sechzig Meter über dem Boden geflogen war. Laut einem Urteil des U.S. Supreme Court verletzte ein Erkundungsflug von Ermittlungsbehörden über dem Anwesen eines Verdächtigen sein Recht auf Privatsphäre nur dann nicht, wenn sich das Fluggerät im öffentlichen Luftraum aufhielt. Ich hatte meinen Ermittler Raul Levin gebeten, bei der Federal Aviation Administration entsprechende Erkundigungen einzuholen. Caseys Ranch lag nicht in der Einflugschneise eines Flughafens. Deshalb begann der öffentliche Luftraum über der Ranch erst in dreihundert Metern Höhe. Die Deputys hatten also eindeutig Caseys Privatsphäre verletzt.

Meine Aufgabe bestand jetzt darin, die Sache vor Gericht zu bringen und die Deputys und den Piloten im Zeugenstand aussagen zu lassen, in welcher Höhe sie über die Ranch geflogen waren. Sagten sie die Wahrheit, hatte ich sie im Sack. Logen sie, hatte ich sie ebenfalls im Sack. Ich bin keineswegs erpicht darauf, Polizisten vor Gericht bloßzustellen, aber dennoch hoffte ich, sie würden lügen. Wenn Geschworene einen Cop im Zeugenstand lügen sehen, kann man sich die restliche Verhandlung eigentlich schenken. Gegen ein Nicht-schuldig der Jury braucht man keine Berufung einzulegen. Und die Staatsanwaltschaft hätte keine Chance, das Verfahren noch mal aufzurollen.

Aus diesem Grund war ich mir meiner Sache ziemlich sicher. Wir mussten den Fall zur Verhandlung bringen, und es gab nur eins, was das verhindern konnte. Und genau darüber musste ich mit Casey sprechen, bevor der Richter auf der Bank Platz nahm und den Fall aufrief.

Mein Mandant kam in die Ecke des Käfigs geschlendert und machte keine Anstalten, mich zu grüßen. Ich machte ebenfalls keine. Er wusste, was ich wollte. Wir führten dieses Gespräch nicht zum ersten Mal.

»Harold, das ist jetzt die Terminfestlegung«, sagte ich. »Das ist der Moment, in dem ich dem Richter erkläre, ob wir bereit sind, vor Gericht zu gehen. Dass die Staatsanwaltschaft bereit ist, weiß ich bereits. Es kommt heute also nur auf uns beide an.«

»Ja, und?«

»Es gibt da ein kleines Problem. Als wir letztes Mal hier waren, haben Sie mir zugesichert, ich würde etwas Geld kriegen. Aber hier sind wir, Harold, und ich habe bisher keinen Cent erhalten.«

»Nur keine Sorge. Ich hab Ihr Geld.«

»Genau deshalb mache ich mir aber Sorgen. Mein Geld haben Sie, nicht ich.«

»Sie kriegen es schon. Ich hab gestern mit den Jungs gesprochen. Sie kriegen es.«

»Das haben Sie letztes Mal auch gesagt. Ich arbeite nicht umsonst, Harold. Und auch der Gutachter, den ich die Fotos habe auswerten lassen, arbeitet nicht umsonst. Ihr Vorschuss ist längst aufgebraucht. Ich will etwas mehr Geld, oder Sie müssen sich einen neuen Anwalt suchen. Einen Pflichtverteidiger.«

»Kein Pflichtverteidiger, Mann. Ich will Sie.«

»Es ist nur so, dass ich Ausgaben habe und von irgendetwas leben muss. Wissen Sie, was mich allein die Anzeige im Branchenbuch jede Woche kostet? Schätzen Sie mal.«

Casey schwieg.

»Einen Tausender. Kostet mich wöchentlich im Schnitt einen Tausender, nur damit meine Annonce da drinnen steht, und dann habe ich noch nichts gegessen oder die Hypothek und den Unterhalt für meine Tochter bezahlt oder den Lincoln aufgetankt. Ich arbeite nicht für leere Versprechungen, Harold. Ich brauche die Inspiration kleiner grüner Scheinchen.«

Casey schien unbeeindruckt.

»Ich habe mich umgehört«, sagte er. »Sie können mich nicht einfach fallen lassen. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Das würde der Richter nicht zulassen.«

Über den Gerichtssaal legte sich schlagartig Stille, als der Richter aus seinem Zimmer trat und die zwei Stufen zur Richterbank hinaufstieg. Der Gerichtsdiener rief den Saal zur Ordnung. Es konnte losgehen. Ich sah Casey nur lange an und entfernte mich dann. Er verfügte über gewisse im Knast erworbene Rechtskenntnisse. Er wusste mehr als die meisten. Trotzdem durfte er sich auf eine Überraschung gefasst machen.

Ich nahm an der Schranke hinter dem Tisch der Verteidigung Platz. Der erste Fall war eine nachträgliche Kautionsprüfung, die rasch erledigt war. Dann rief der Protokollführer den Fall »Kalifornien gegen Casey« auf, und ich trat vor an den Tisch.

»Michael Haller für die Verteidigung«, sagte ich.

Auch der Ankläger gab seine Anwesenheit bekannt. Er war ein junger Bursche namens Victor DeVries. Er hatte keine Ahnung, was auf ihn zukäme, falls wir vor Gericht gingen. Richter Orton Powell erkundigte sich wie üblich nach einer möglichen Einigung in letzter Minute. Jeder Richter hatte einen vollen Terminkalender und war angehalten, Fälle durch Absprachen zu regeln. Das Letzte, was ein Richter hören wollte, war, dass keine Hoffnung auf Einigung bestand und ein Prozess unausweichlich war.

Powell jedoch trug die schlechte Nachricht von DeVries und mir mit Fassung und fragte, ob wir mit einem Verhandlungsbeginn gegen Ende der Woche einverstanden wären. DeVries sagte Ja. Ich verneinte.

»Euer Ehren«, sagte ich. »Wenn möglich, würde ich die Angelegenheit gern auf nächste Woche vertagen.«

»Was ist der Grund für diesen Aufschub, Mr. Haller?«, fragte der Richter ungehalten. »Die Anklage ist bereit, und ich möchte diesen Fall vom Tisch haben.«

»Auch ich möchte ihn vom Tisch haben, Euer Ehren. Aber die Verteidigung hat Probleme, einen Zeugen aufzuspüren, der für unseren Fall unerlässlich ist. Ein absolut unverzichtbarer Zeuge, Euer Ehren. Ein Aufschub von einer Woche müsste genügen. Nächste Woche sind wir dann sicher bereit, vor Gericht zu gehen.«

Erwartungsgemäß erhob DeVries Einspruch gegen die Verzögerung.

»Euer Ehren, das ist das erste Mal, dass die Anklage etwas von einem unauffindbaren Zeugen hört. Mr. Haller hatte fast drei Monate Zeit, seine Zeugen aufzutreiben. Er war derjenige, der eine rasche Verhandlung wollte, und jetzt will er plötzlich warten. Ich glaube, das ist alles nur Hinhaltetaktik, weil hier eine Verhandlung auf ihn zukommt, die …«

»Den Rest können Sie sich für die Geschworenen aufsparen, Mr. DeVries«, fiel ihm der Richter ins Wort. »Mr. Haller, glauben Sie, eine Woche genügt zur Lösung Ihres Problems?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Gut, dann sehen wir Sie und Mr. Casey nächsten Montag, und dann sind auch Sie so weit. Ist das klar?«

»Ja, Euer Ehren. Danke.«

Der Gerichtsdiener rief den nächsten Fall auf, und ich entfernte mich vom Tisch der Verteidigung. Ich sah zu, wie ein Deputy meinen Mandanten aus dem Käfig führte. Casey wandte sich nach mir um, in seinem Gesicht spiegelte sich zu gleichen Teilen Wut und Verständnislosigkeit. Ich ging zu Reynaldo Rodriguez und fragte ihn, ob ich noch einmal Zutritt zur Arrestzelle erhalten könnte, um mit meinem Mandanten zu sprechen. Ein Privileg, das den meisten regelmäßig vertretenen Anwälten zugestanden wurde. Rodriguez stand auf, schloss eine Tür hinter seinem Schreibtisch auf und schob mich durch. Ich achtete darauf, ihn mit seinem richtigen Namen anzusprechen, als ich mich bedankte.

Casey teilte die Zelle mit dem anderen Angeklagten, dessen Fall vor seinem aufgerufen worden war. Die Zelle war geräumig, und an drei Seiten standen Bänke. Wer im Gerichtssaal früh an die Reihe kam, musste hier notgedrungen die Zeit absitzen, bis ausreichend Gefangene für eine Busladung zurück ins Bezirksgefängnis versammelt waren. Casey kam ans Gitter, um mit mir zu sprechen.

»Was ist das für ein Zeuge, von dem Sie da vorhin gesprochen haben?«, wollte er wissen.

»Mr. Green«, sagte ich. »Mr. Green ist alles, was wir jetzt noch brauchen, damit es mit diesem Fall vorangeht.«

Caseys Gesicht verzerrte sich vor Wut. Ich versuchte, ihm gleich von Anfang an den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Hören Sie, Harold, ich weiß, Sie wollen das hier zügig durchziehen, damit es zum Prozess und dann zur Berufung kommt. Aber damit sich was bewegt, müssen Sie den erforderlichen Fahrpreis zahlen. Aus langer, bitterer Erfahrung weiß ich, wie unerquicklich es ist, Leuten wegen des Honorars hinterherzurennen, nachdem die Sache erst mal gelaufen ist. Also, weitere Leistungen nur gegen Bares.«

Ich nickte und wollte mich schon der Tür zuwenden, die in die Freiheit führte. Aber dann fügte ich noch hinzu:

»Und glauben Sie mir, der Richter weiß genau, was hier gespielt wird. Sie haben einen jungen Ankläger, der noch grün hinter den Ohren ist und sich keine Sorgen zu machen braucht, ob und wann sein nächster Gehaltsscheck kommt. Aber Orton Powell hat vor seiner Zeit als Richter jahrelang als Strafverteidiger gearbeitet. Er kennt die Situation, wenn man hinter unerlässlichen Zeugen wie Mr. Green her ist, und hat wahrscheinlich nicht viel für Angeklagte übrig, die ihren Anwalt nicht zahlen. Ich habe ihm einen Wink gegeben, Harold. Wenn ich den Fall abgeben will, kriege ich ihn los. Lieber würde ich aber nächsten Montag hierherkommen und vortreten und ihm sagen, dass wir unseren Zeugen aufgetrieben haben und anfangen können. Ist das klar?«

Zunächst sagte Casey nichts. Er ging ans andere Ende der Zelle und setzte sich auf die Bank. Er sah mich nicht an, als er schließlich knurrte.

»Sobald ich irgendwo telefonieren kann.«

»Das hört sich schon wesentlich besser an, Harold. Ich werde einem der Deputys sagen, dass Sie dringend telefonieren müssen. Machen Sie Ihren Anruf, und halten Sie ansonsten die Ohren steif, dann sehen wir uns nächste Woche. Wir kriegen das schon geschaukelt.«

Mit raschen Schritten ging ich zur Tür. Ich halte mich nicht gern in Gefängnissen auf. Warum, weiß ich nicht so genau. Wahrscheinlich weil die Grenze zwischen einem Strafverteidiger und einem straffälligen Verteidiger gelegentlich so fließend erscheint. Manchmal bin ich nicht sicher, auf welcher Seite der Schranke ich eigentlich stehe. Für mich ist es immer ein unbegreifliches Wunder, das Gericht genauso unbehelligt verlassen zu dürfen, wie ich es betreten habe.

3

Vor dem Gerichtssaal schaltete ich mein Handy ein und verständigte meinen Fahrer, dass ich auf dem Weg nach draußen war. Anschließend hörte ich die Mailbox ab. Ich hatte eine Nachricht von Lorna Taylor und eine von Fernando Valenzuela. Ich beschloss, beide zurückzurufen, sobald ich im Auto saß.

Earl Briggs, mein Fahrer, hielt mit dem Lincoln direkt vorm Eingang. Er sprang nicht heraus, um mir die Tür aufzuhalten oder so was. Sein Job bestand lediglich darin, mich zu fahren. Auf die Art arbeitete er das Honorar ab, das er mir schuldete, seit ich für ihn eine drohende Haftstrafe wegen Kokainverkaufs auf Bewährung runtergehandelt hatte. Ich zahlte ihm zwanzig Dollar die Stunde, behielt aber die Hälfte davon ein. Das kam zwar nicht ganz an das heran, was er mit dem Verkauf von Crack verdient hatte, war aber eine sichere und völlig legale Form des Broterwerbs und machte sich auch in seinem Lebenslauf nicht schlecht. Earl sagte, er wolle wieder auf den geraden Weg zurückkehren, und ich nahm es ihm ab.

Ich konnte die wummernden Hip-Hop-Beats hinter den geschlossenen Fenstern des Town Car hören, als ich näher kam. Aber sobald ich die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, drehte Earl die Musik ab. Ich stieg hinten ein und bat ihn, mich nach Van Nuys zu fahren.

»Was haben Sie da gerade gehört?«, erkundigte ich mich.

»Ähm, das war Three Six Mafia.«

»Dirty South?«

»Genau.«

Im Lauf der Jahre hatte ich gelernt, bei Rap und Hip-Hop feine Unterschiede zu machen, regionale und sonstige. Die meisten meiner Mandanten hörten diese Musik, und viele bezogen auch ihre Lebensstrategien daraus.

Ich griff nach dem Schuhkarton mit den Kassetten des Boyleston-Falls und zog aufs Geratewohl eine heraus. Ich trug die Bandnummer und die Uhrzeit in das kleine Register ein, das ich im Karton aufbewahrte. Dann reichte ich Earl das Tape nach vorn, und er schob es in die Anlage. Ich brauchte ihm nicht eigens zu sagen, dass er es mit der Lautstärke eines Hintergrundgeräuschs abspielen sollte. Earl arbeitete schon drei Monate für mich. Er wusste, was zu tun war.

Roger Boyleston war einer der wenigen mir vom Gericht zugeteilten Mandanten. Er war auf Bundesebene verschiedener Drogendelikte angeklagt. Eine Telefonüberwachung durch die Drogen- und Rauschgiftbehörde hatte zu seiner Festnahme und der Beschlagnahmung von sechs Kilo Kokain geführt, die er über ein Dealernetz hatte vertreiben wollen. Es gab zahlreiche Tonbandaufnahmen – über fünfzig Stunden aufgezeichneter Telefongespräche. Boyleston hatte vielen Leuten gegenüber getönt, was er ihnen liefern würde und wann sie damit rechnen könnten. Für die Staatsanwaltschaft war der Fall ein gefundenes Fressen. Boyleston würde auf ewige Zeiten hinter Gittern verschwinden, und es gab fast nichts, was ich tun konnte, außer einen Deal auszuhandeln, damit Boyleston für seine Kooperation eine niedrigere Haftstrafe erhielt. Was mich allerdings wenig interessierte. Mich interessierten ausschließlich die Bänder. Nur ihretwegen hatte ich den Fall übernommen. Die Bundesregierung bezahlte mich dafür, dass ich mir bei der Vorbereitung auf die Verteidigung diese Kassetten anhörte. Das hieß, für mich sprängen mindestens fünfzig abrechenbare Stunden heraus, bevor die Sache zwischen Boyleston und dem Staat geklärt war. Deshalb sorgte ich dafür, dass immer eins der Bänder lief, wenn ich im Lincoln unterwegs war. Sollte ich irgendwann meine Hand auf die Bibel legen und schwören müssen, wollte ich guten Gewissens behaupten können, jedes einzelne der Uncle Sam in Rechnung gestellten Bänder abgespielt zu haben.

Dann rief ich Lorna Taylor zurück. Lorna ist mein Mädchen für alles. Die Telefonnummer in meiner Anzeige im Branchenbuch und an sechsunddreißig Bushaltestellen in Vierteln mit hoher Kriminalitätsrate im Süden und Osten des County gehört zum Arbeits- beziehungsweise Gästezimmer ihres Apartments in der Kings Road in West Hollywood; ebenso wie die Adresse, die ich bei der kalifornischen Anwaltskammer und am Gericht angegeben habe.

Lorna ist die erste Hürde, um an mich ranzukommen. Meine Handynummer kriegen nur wenige, und Lorna ist gewissermaßen die Türsteherin. Sie ist hart, clever, hochkompetent und schön. Letzteres zu verifizieren, habe ich jedoch nur noch ungefähr einmal im Monat Gelegenheit, wenn ich sie zum Mittagessen einlade und Schecks unterschreibe – sie ist nämlich auch meine Buchhalterin.

»Kanzlei Haller«, meldete sie sich auf meinen Anruf hin.

»Tut mir leid, aber ich war im Gericht«, sagte ich, um ihr zu erklären, warum ich ihren Anruf nicht entgegengenommen hatte. »Was gibt’s?«

»Du hast doch mit Val gesprochen, oder?«

»Sicher. Bin gerade auf dem Weg nach Van Nuys. Ich weiß, dass ich um elf da sein soll.«

»Er hat noch mal hier angerufen, um sicherzugehen, dass du auch wirklich kommst. Hat sich irgendwie ein bisschen hektisch angehört.«

»Er denkt, dass bei dem Typ ordentlich was abfällt, und von diesem Kuchen möchte er natürlich auch was abkriegen. Ich rufe ihn gleich noch mal an, um ihn zu beruhigen.«

»Ich habe schon erste Recherchen über Louis Ross Roulet angestellt. Was seine Kreditwürdigkeit angeht, ist er absolut top. Auch im Archiv der Times hatte ich ein paar Treffer. Immer in Zusammenhang mit größeren Immobiliengeschäften. Wie es aussieht, arbeitet er für ein Maklerbüro in Beverly Hills. Es nennt sich Windsor Residential Estates. Nur hochexklusive Objekte, die erst gar nicht auf dem freien Markt auftauchen – also nicht die Sorte Häuser, wo ein Verkaufsschild im Garten steht.«

»Sehr gut. Sonst noch was?«

»Diesbezüglich nicht. Und am Telefon bisher nur das Übliche.«

Das hieß, sie hatte die übliche Anzahl dank Branchenbuch und Bushaltestellen eingegangener Anrufe abgeschmettert. Bevor ein potenzieller Mandant auf meinem Radar auftauchte, musste er erst Lorna überzeugen, dass er für die gewünschte Leistung auch zahlen konnte. Sie ist gewissermaßen die Aufnahmeschwester am Schalter der Notaufnahme. Man muss ihr glaubhaft machen, dass man ausreichend versichert ist, bevor sie einen nach hinten zum Doktor schickt. Neben ihrem Telefon hat Lorna eine Honorarliste liegen, die mit einer Fünftausend-Dollar-Pauschale für eine Klage wegen Alkohol am Steuer beginnt und anschließend meine Stundenhonorare für Strafprozesse aufführt. Sie sorgt dafür, dass jeder potenzielle Mandant ein zahlungskräftiger Mandant ist und den Preis seiner Straftat kennt. Nicht umsonst heißt es: »Don’t do the crime, if you can’t do the time. Begeh kein Verbrechen, wenn du die Folgen scheust.« Lorna findet, bei mir sollte es heißen: »Don’t do the crime, if you can’t pay for my time. Begeh kein Verbrechen, wenn du dir mein Honorar nicht leisten kannst.« Sie akzeptiert MasterCard und Visa und holt erst eine Deckungsbestätigung ein, bevor sie einen Mandanten an mich ranlässt.

»War jemand darunter, den wir kennen?«, fragte ich.

»Gloria Dayton hat aus den Twin Towers angerufen.«

Ich stöhnte. Die Twin Towers waren das größte Gefängnis der Innenstadt. In einem der beiden Türme waren die Frauen untergebracht, im anderen die Männer. Gloria Dayton war eine Edelnutte, die ab und zu meinen rechtlichen Beistand benötigte. Das erste Mal lag bestimmt schon zehn Jahre zurück. Damals war sie jung, nicht drogenabhängig, und ihre Augen waren noch voller Leben gewesen. Inzwischen gehörte sie zu den Mandanten, die ich umsonst vertrat. Ich versuchte nur, sie zu überzeugen, mit dieser Art Leben Schluss zu machen.

»Wann ist sie eingelocht worden?«

»Gestern Nacht. Oder genauer, heute Morgen. Sie wird nach der Mittagspause dem Richter vorgeführt.«

»Wegen der Van-Nuys-Sache weiß ich nicht, ob ich es bis dahin schaffe.«

»Diesmal ist die Sache außerdem etwas komplizierter. Neben dem Üblichen auch noch Kokainbesitz.«

Gloria knüpfte ihre Kontakte ausschließlich übers Internet, wo sie auf einer Reihe von Websites als Glory Days firmierte. Sie ging nicht auf den Strich oder hing in Bars herum. Wenn sie festgenommen wurde, hatte in der Regel ein verdeckter Ermittler der Sitte ihr Warnsystem ausgetrickst und einen Termin mit ihr vereinbart. Dass sie bei dem Treffen Kokain bei sich gehabt hatte, sah ihr an sich nicht ähnlich, außer der Cop hatte es ihr untergeschoben.

»Okay, wenn sie noch mal anruft, sag ihr, ich versuche, rechtzeitig ins Gericht zu kommen, und wenn ich es nicht schaffe, sehe ich zu, dass sich jemand anders darum kümmert. Würdest du bitte im Gericht anrufen und den Anhörungstermin festmachen?«

»Bin gerade dabei. Aber, Mickey, wann willst du ihr endlich mal sagen, dass danach endgültig Schluss ist?«

»Keine Ahnung. Vielleicht heute. Sonst noch was?«

»Ist das für den Augenblick nicht genug?«

»An sich müsste es reichen.«

Wir sprachen noch kurz über meinen Zeitplan für den Rest der Woche, und ich öffnete auf dem Klapptischchen mein Notebook, um meinen Terminkalender mit ihrem abzugleichen. Ich hatte jeden Vormittag ein paar mündliche Verhandlungen und am Donnerstag einen eintägigen Prozess. Lauter South-Side-Drogengeschichten. Mein täglich Brot. Am Ende des Gesprächs versprach ich, nach der Van-Nuys-Anhörung kurz Bescheid zu geben, ob und wie sich der Roulet-Fall auf unsere Planung auswirkte.

»Noch ein Letztes. Du hast gesagt, Roulets Maklerbüro betreut nur hochexklusive Objekte?«

»Ja. Alle von ihm abgewickelten Geschäfte liegen deutlich im siebenstelligen Bereich. Einige sogar im achtstelligen. Holmby Hills, Bel-Air, nur das Feinste vom Feinen.«

Ich nickte und dachte, dass Roulets gesellschaftlicher Status ihn möglicherweise für die Medien interessant machte.

»Dann gib doch Sticks schon mal einen kleinen Tipp«, sagte ich.

»Meinst du wirklich?«

»Klar, da könnte durchaus was zusammengehen.«

»Okay.«

»Du hörst wieder von mir.«

Als ich das Telefon zuklappte, hatte Earl bereits den Antelope Valley Freeway erreicht und fuhr in Richtung Süden. Wir kamen gut voran und würden auf jeden Fall rechtzeitig zu Roulets Anhörung in Van Nuys eintreffen. Ich rief Fernando Valenzuela an, um ihm das mitzuteilen.

»Bestens«, sagte der Kautionsbürge. »Dann bis gleich.«

In dem Augenblick sah ich zwei Motorräder an meinem Fenster vorbeirauschen. Die Fahrer trugen schwarze Lederwesten, auf die hinten ein Totenkopf mit Heiligenschein genäht war.

»Sonst noch was?«, fragte ich.

»Ja, auf eine Sache sollte ich dich vielleicht noch hinweisen. Ich hab mir den Termin für seine erste Vorführung bestätigen lassen und bei der Gelegenheit erfahren, dass man den Fall Maggie McFierce zugeteilt hat. Keine Ahnung, ob das für dich ein Problem ist.«

Maggie McFierce, beziehungsweise Margaret McPherson, war eine der ausgekochtesten und unerbittlichsten Stellvertretenden Bezirksstaatsanwältinnen des Gerichts von Van Nuys. Und zufällig auch meine erste Ex-Frau.

»Für mich seh ich da kein Problem«, erwiderte ich ohne Zögern. »Eher schon für sie.«

Jeder Angeklagte hat das Recht, seinen Anwalt frei zu wählen. Besteht zwischen dem Verteidiger und dem Staatsanwalt ein Interessenkonflikt, muss der Ankläger gehen. Maggie würde mich natürlich persönlich dafür verantwortlich machen, dass ihr ein potenziell hochkarätiger Fall durch die Lappen ging, aber das war schließlich nicht meine Schuld. So etwas passierte nicht zum ersten Mal. In meinem Notebook hatte ich noch den Ablehnungsantrag vom letzten Fall, bei dem sich unsere Wege gekreuzt hatten. Gegebenenfalls musste ich nur den Namen des Angeklagten ändern und das Ganze ausdrucken. Dann hatte ich freie Bahn und sie das Nachsehen.

Die beiden Motorräder hatten sich jetzt vor uns geschoben. Ich drehte mich um und sah aus dem Rückfenster. Hinter uns fuhren drei weitere Harleys.

»Du weißt doch, was das bedeutet«, sagte ich zu Valenzuela.

»Nein. Was?«

»Sie wird beantragen, dass man ihm eine Entlassung auf Kaution verweigert. Das macht sie bei allen Straftaten gegen Frauen.«

»Scheiße. Hat sie Chancen, damit durchzukommen? Eigentlich hatte ich gehofft, bei dieser Sache fällt ordentlich was für mich ab, Mann.«

»Keine Ahnung. Du hast doch gesagt, der Kerl stammt aus betuchten Verhältnissen und hat C.C. Dobbs im Rücken. Daraus lässt sich bestimmt was machen. Wir werden sehen.«

»Scheiße.«

Valenzuela sah seine üppig sprudelnde Geldquelle bereits wieder versiegen.

»Bis gleich, Val.«

Ich klappte das Handy zu und wandte mich an Earl.

»Wie lange haben wir die Eskorte schon?«

»Sind gerade erst aufgetaucht«, sagte Earl. »Soll ich irgendwas unternehmen?«

»Warten wir erst mal ab, was sie …«

Ich musste nicht mal bis zum Ende des Satzes warten. Einer der hinteren Biker zog auf gleiche Höhe mit dem Lincoln und winkte uns auf die Ausfahrt zum Vasquez Rocks County Park. Es war Teddy Vogel, ein ehemaliger Mandant und gegenwärtig der ranghöchste auf freiem Fuß befindliche Road Saint. Möglicherweise auch der voluminöseste. Er wog mindestens hundertfünfzig Kilo und wirkte wie ein fetter Junge auf dem Fahrrad seines kleinen Bruders.

»Fahren Sie runter, Earl«, sagte ich. »Mal sehen, was er will.«

Wir fuhren auf den Parkplatz vor der zerklüfteten Felsformation, die nach einem Banditen benannt war, der sich dort ein Jahrhundert zuvor versteckt gehalten hatte. Auf einem der höchsten Grate sah ich zwei Leute sitzen und picknicken. Mich persönlich hätte keiner freiwillig dazu bekommen, mein Sandwich an einem so gefährlichen und exponierten Platz zu verspeisen.

Ich ließ mein Fenster herunter, während Teddy Vogel zu Fuß auf uns zukam. Die vier anderen Saints hatten die Motoren abgestellt, blieben aber auf ihren Maschinen sitzen. Vogel beugte sich zum Fenster herab und legte einen seiner mächtigen Unterarme in die Öffnung. Ich spürte, wie sich der Lincoln ein Stück zur Seite neigte.

»Na, alles klar so weit, Herr Anwalt?«, fragte er.

»Alles bestens, Ted.« Ich vermied es ganz bewusst, ihn mit seinem nicht gerade sehr originellen Gang-Spitznamen Teddybär anzusprechen. »Und bei Ihnen?«

»Was ist aus Ihrem Pferdeschwanz geworden?«

»Ein paar Leute haben sich daran gestoßen, deshalb habe ich ihn abgeschnitten.«

»Ein paar Geschworene, wie? Meine Fresse, muss das eine Bande Spießer sein.«

»Was gibt’s, Ted?«

»Ich hab einen Anruf von Hard Case gekriegt, aus Lancaster. Hat gemeint, ich müsste Sie eigentlich auf dem Weg nach Süden runter treffen und dass Sie seine Verhandlung rauszögern, bis Sie ein paar grüne Lappen zu sehen kriegen. Stimmt das, Herr Anwalt?«

Es kam alles in ganz normalem Plauderton. Nichts Drohendes lag in seiner Stimme oder seinen Worten. Und ich fühlte mich auch nicht bedroht. Zwei Jahre zuvor hatte ich für ihn eine Anklage wegen Entführung und schwerer Körperverletzung auf öffentliche Ruhestörung heruntergehandelt. Er war Geschäftsführer eines Stripclubs der Saints am Sepulveda Boulevard in Van Nuys. Man hatte ihn verhaftet, nachdem eine seiner besten Tänzerinnen gekündigt hatte, um auf der anderen Straßenseite bei der Konkurrenz zu arbeiten. Vogel hatte die Straße überquert, sie von der Bühne geholt und in seinen Club zurückgetragen. Sie war nackt. Ein vorbeikommender Autofahrer rief die Polizei. Die Anklage so weit zu entschärfen war eine meiner Glanztaten, und Vogel war das sehr wohl bewusst. Ich hatte bei ihm einen Stein im Brett.

»Das sieht er genau richtig«, sagte ich. »Ich arbeite für meinen Lebensunterhalt. Wenn er will, dass ich für ihn arbeite, muss er mich zahlen.«

»Wir haben Ihnen im Dezember fünftausend gegeben«, sagte Vogel.

»Die sind längst aufgebraucht, Ted. Mehr als die Hälfte davon ging an den Gutachter, der das Verfahren auffliegen lassen wird. Der Rest ging an mich, und ich habe diese Stunden längst abgearbeitet. Wenn ich vor Gericht gehen soll, muss ich wieder tanken.«

»Wollen Sie noch mal fünftausend?«

»Nein, ich brauche zehntausend, und das habe ich Hard Case letzte Woche auch gesagt. Die Verhandlung dauert drei Tage, und ich muss meinen Gutachter aus Kodak, New York, einfliegen lassen. Ich muss sein Honorar zahlen, und er will erster Klasse fliegen und im Chateau Marmont absteigen. Offensichtlich glaubt er, dort an der Bar lauter Filmstars zu treffen. Selbst für ein billiges Zimmer verlangen die vierhundert die Nacht.«

»Sie ziehen mir das letzte Hemd aus, Anwalt. Was ist aus Ihrem Slogan im Branchenbuch geworden? ›Angemessene Vertretung für ein angemessenes Honorar.‹ Finden Sie zehn Riesen angemessen?«

»Ich fand den Slogan gut. Hat mir eine Menge Mandanten eingebracht. Die Anwaltskammer war allerdings weniger begeistert und hat mir die Benutzung untersagt. Zehntausend ist der Preis, und er ist angemessen, Ted. Wenn Sie das nicht zahlen können oder wollen, reiche ich noch heute einen entsprechenden Antrag ein. Ich steige aus, und er kann sich einen Pflichtverteidiger nehmen. Ich übergebe alles, was ich habe, meinem Nachfolger. Der Pflichtverteidiger wird allerdings wahrscheinlich nicht über das Budget verfügen, um den Fotogutachter einzufliegen.«

Vogel veränderte die Haltung seines Arms auf dem Fenster, und das Auto erbebte unter seinem Gewicht.

»Nein, wir wollen Sie. Uns liegt was an Hard Case, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich brauche ihn draußen, damit er wieder für uns arbeitet.«

Mit einer Hand, so fleischig, dass an den Knöcheln Vertiefungen waren, langte er in seine Weste. Als sie wieder zum Vorschein kam, befand sich darin ein dicker Umschlag, den er mir in den Wagen reichte.

»Ist das Bargeld?«, fragte ich.

»Klar. Wollen Sie kein Bargeld?«

»Doch, doch. Aber ich muss den Empfang quittieren. So will es das Finanzamt. Sind es die ganzen zehntausend?«

»Klar, der ganze Betrag.«

Ich nahm den Deckel von der Pappschachtel mit Akten, die immer neben mir auf dem Sitz steht. Mein Quittungsblock war hinter den Ordnern mit den laufenden Verfahren. Ich fing an, die Quittung auszuschreiben. Die meisten Anwälte werden wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten von der Kammer ausgeschlossen – Annahme von Schwarzgeld, Steuerhinterziehung, Veruntreuung. Daher führte ich penibel Buch und sah zu, dass ich für alles Belege hatte. In der Hinsicht wollte ich der Anwaltskammer keine Angriffsfläche bieten.

»Sie hatten die zehntausend also schon eingetütet«, sagte ich beim Schreiben. »Und wenn ich auf fünftausend runtergegangen wäre? Was hätten Sie dann gemacht?«

Vogel grinste. Ihm fehlte unten ein Schneidezahn. Wahrscheinlich eine Schlägerei im Club. Er tätschelte die andere Seite seiner Weste.

»Hier drin hab ich einen Umschlag mit fünftausend, Herr Anwalt«, sagte er. »Ich hab an alles gedacht.«

»Das gefällt mir jetzt aber gar nicht, Sie mit so viel Geld in der Tasche ziehen zu lassen.«

Ich riss seinen Durchschlag vom Quittungsblock und reichte ihn durchs Fenster.

»Ich habe die Quittung auf Casey ausgestellt. Er ist der Mandant.«

»Meinetwegen.«

Er schnappte sich die Quittung und nahm den Arm vom Fenster, als er sich aufrichtete. Das Auto kehrte wieder in seine Ausgangslage zurück. Ich hätte Vogel gern gefragt, woher das Geld kam. Aus welchen krummen Geschäften der Saints es stammte. Ob vielleicht hundert Mädchen hundert Stunden lang getanzt hatten, damit er mich bezahlen konnte. Aber für mich als Anwalt war es ohnehin besser, das alles nicht zu wissen. Vogel schlurfte zu seiner Harley zurück und schwang mühsam ein mülltonnendickes Bein über den Sattel. Dabei fielen mir zum ersten Mal die doppelten Stoßdämpfer am Hinterrad auf. Ich wies Earl an, wieder zurück auf den Freeway und weiter nach Van Nuys zu fahren, wo ich zwischendurch noch kurz auf eine Bank müsste, bevor ich mich mit meinem neuen Mandanten im Gericht traf.

Während der Fahrt öffnete ich den Umschlag und zählte das Geld – lauter Zwanziger, Fünfziger und Hunderter. Der vollständige Betrag. Der Tank war wieder voll, und ich konnte mit Harold Casey vor Gericht ziehen. Ich würde es auf einen Prozess ankommen lassen und dem jungen Ankläger eine Lektion erteilen. Wenn schon nicht den Prozess, so würde ich mit Sicherheit das Berufungsverfahren gewinnen. Casey würde in den Schoß der Road Saints zurückkehren. Ob er die ihm angelasteten Straftaten tatsächlich begangen hatte, kümmerte mich nur wenig, als ich den Einzahlungsbeleg für die zehntausend Dollar meines Mandanten ausfüllte.

»Mr. Haller?«, sagte Earl nach einer Weile.

»Ja, Earl?«

»Dieser Gutachter aus New York? Soll ich ihn vom Flughafen abholen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es kommt kein Gutachter aus New York, Earl. Die besten Kamera- und Fotoexperten sind hier in Hollywood.«

Jetzt nickte Earl und sah mich im Rückspiegel eine Weile an. Dann blickte er wieder nach vorn auf die Straße.

»Verstehe«, sagte er und nickte wieder.

Und ich nickte mir selbst zu. Keine Zweifel an meinen Äußerungen und Taten zuzulassen gehörte zu meinem Job. So lief es nun mal. Nach fünfzehn Jahren Anwaltstätigkeit beschränkte sich für mich alles auf ein paar simple Grundsätze. Das Recht war eine riesige, rostige Maschinerie, die Menschen und Leben und Geld verschlang. Ich war nur ein Mechaniker. Ich war Experte darin geworden, in diese Maschine zu steigen, Dinge zu reparieren und im Gegenzug alles für mich Lebensnotwendige aus ihr herauszuholen.

Ein Großteil der Gesellschaft sah in mir den Teufel, aber da täuschten sie sich. Ich war ein schmieriger Engel. Ich war der wahre Road Saint, der Straßenheilige. Ich wurde dringend gebraucht. Von beiden Seiten. Ich war das Öl im Getriebe. Ich sorgte dafür, dass die einzelnen Rädchen sauber ineinandergriffen und sich drehten. Ich hielt die Maschine des Rechtssystems am Laufen.

Aber mit dem Roulet-Fall sollte sich das alles ändern. Für mich. Für ihn. Und ganz sicher für Jesus Menendez.

4

Louis Ross Roulet teilte sich die Zelle mit weiteren sieben Männern, die man ebenfalls mit dem Bus das kurze Stück vom Van-Nuys-Gefängnis zum Gericht geschafft hatte. Es waren nur zwei Weiße in der Zelle, und sie hockten nebeneinander auf einer Bank, während die sechs Schwarzen die gegenüberliegende Seite in Beschlag nahmen. Es war eine Form darwinistischer Rassentrennung. Keiner kannte den anderen, aber die Gruppenbildung verlieh ein gewisses Gefühl der Überlegenheit.

Da Roulet angeblich aus einer reichen Beverly-Hills-Familie stammte, betrachtete ich die zwei Weißen, und die Wahl zwischen ihnen fiel nicht schwer. Einer war zaundürr und hatte die verzweifelten Triefaugen eines Fixers, der längst für den nächsten Schuss fällig war. Der andere sah aus wie das sprichwörtliche Reh im Scheinwerferlicht. Ich entschied mich für ihn.

»Mr. Roulet?« Ich sprach den Namen so aus, wie Valenzuela es mir erklärt hatte.

Das Reh nickte. Ich winkte ihn ans Gitter, damit ich leise mit ihm sprechen konnte.

»Ich bin Michael Haller. Aber alle nennen mich Mickey. Ich werde Sie heute bei Ihrer ersten Anhörung vertreten.«

Wir befanden uns im Arrestbereich hinter dem Gerichtssaal, in dem sich die Anwälte üblicherweise vor Sitzungsbeginn mit ihren Mandanten besprechen durften. Auf dem Boden vor den Zellen befand sich eine blaue Linie. Die Ein-Meter-Linie. Das war der Abstand, den ich zu meinem Mandanten halten musste.

Roulet umklammerte die Gitterstäbe vor mir. Wie die anderen in der Zelle hatte er Ketten um Bauch, Hände und Fußgelenke. Sie würden ihm erst abgenommen, wenn er den Gerichtssaal betrat. Er war Anfang dreißig und wirkte schmächtig, obwohl er mindestens eins achtzig groß und schätzungsweise achtzig Kilo schwer war. Dafür hatte das Gefängnis gesorgt. Seine Augen waren hellblau, und in ihnen war ein Ausdruck solch verzweifelter Panik, wie ich ihn nur selten zu sehen bekam. Die meisten meiner Mandanten befanden sich nicht das erste Mal in Haft und hatten den eiskalten Blick eines Raubtiers. Auf die Art überlebten sie im Gefängnis.

Aber Roulet war anders. Er wirkte wie ein Beutetier. Er hatte Angst, und es war ihm egal, ob es jemand mitbekam.

»Das ist ein übles Komplott«, sagte er laut und mit Nachdruck. »Sie müssen mich hier rausholen. Ich bin bei dieser Frau einfach an die Falsche geraten, mehr nicht. Sie will mir was anhängen, was ich …«

Ich hob die Hände, um ihn zum Schweigen zu bringen.

»Passen Sie auf, was Sie hier drinnen sagen«, warnte ich ihn. »Passen Sie grundsätzlich auf, was Sie sagen, bis wir hier rauskommen und uns ungestört unterhalten können.«

Er sah sich verständnislos um.

»Man kann nie wissen, wer mithört«, sagte ich. »Und man kann nie wissen, wer behaupten wird, Sie hätten irgendwas gesagt, auch wenn Sie gar nichts gesagt haben. Am besten, Sie reden überhaupt nicht über den Fall. Haben Sie verstanden? Am besten, Sie reden mit niemandem über irgendwas, Punkt.«

Er nickte, und ich winkte ihn zu der Bank direkt am Gitter. An der gegenüberliegenden Wand stand ebenfalls eine Bank, und ich setzte mich.

»Ich bin nur gekommen, damit wir uns kurz bekannt machen können«, fuhr ich fort. »Über den Fall sprechen wir, sobald wir Sie hier rausgeholt haben. Ich habe draußen bereits mit Mr. Dobbs gesprochen, dem Anwalt Ihrer Familie, und wir werden dem Richter erklären, dass wir Kaution für Sie stellen wollen. Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich etwas Falsches sage.«

Ich öffnete eine Mont-Blanc-Mappe aus Leder, um mir auf einem Block Notizen zu machen. Roulet nickte. Er lernte dazu.

»Gut«, sagte ich. »Ich brauche verschiedene Angaben von Ihnen. Ihr Alter, ob Sie verheiratet sind, Ihr berufliches und soziales Umfeld.«

»Also, ich bin zweiunddreißig. Ich habe immer hier gelebt – auch während des Studiums an der UCLA. Ledig. Keine Kinder. Ich arbeite …«

»Geschieden?«

»Nein, ich habe nie geheiratet. Ich arbeite in der Firma meiner Mutter. Windsor Residential Estates. Die Firma ist nach dem zweiten Mann meiner Mutter benannt. Ein Maklerbüro. Wir verkaufen Immobilien.«

Ich machte mir Notizen. Mit gesenktem Kopf fragte ich leise: »Wie viel haben Sie letztes Jahr verdient?«

Als Roulet nicht antwortete, blickte ich zu ihm auf.

»Wieso wollen Sie das wissen?«, fragte er.

»Weil ich Sie hier rausholen werde, bevor heute die Sonne untergeht. Aber dazu muss ich alles über Ihre gesellschaftliche Stellung wissen. Unter anderem auch Ihre finanzielle Situation.«

»Wie viel ich genau verdient habe, weiß ich nicht. Viel davon waren Firmenanteile.«

»Haben Sie keine Steuererklärung gemacht?«

Roulet blickte sich über die Schulter nach den anderen in der Zelle um und flüsterte dann seine Antwort.

»Doch, natürlich. Dort betrug mein Einkommen eine Viertelmillion.«

»Aber mit den Firmenanteilen haben Sie in Wirklichkeit mehr verdient.«

»Genau.«

Einer von Roulets Zellengenossen kam zu ihm ans Gitter. Der andere Weiße. Er wirkte fahrig und nervös, seine Hände waren ständig in Bewegung und zupften hektisch an Hüften, Taschen und den eigenen Fingern herum.

»Hey, Mann, ich brauch auch ’nen Anwalt. Haben Sie ’ne Visitenkarte?«

»Nicht für Sie, Chef. Für Sie gibt es da draußen einen Anwalt.«

Ich sah wieder zu Roulet und wartete, dass der Junkie verschwände. Was er aber nicht tat. Ich warf ihm einen Blick zu.

»Hören Sie, wir haben hier was zu besprechen. Könnten Sie uns bitte allein lassen?«

Der Junkie machte mit den Händen eine unbestimmte Bewegung und schlurfte zurück in die Ecke, aus der er gekommen war. Ich wandte mich wieder Roulet zu.

»Wie sieht’s mit Wohltätigkeitsorganisationen aus?«, fragte ich.

»Was meinen Sie damit?«

»Beteiligen Sie sich an karitativen Aktivitäten? Spenden Sie an solche Organisationen?«

»Ja, die Firma tut das. Wir spenden für Make a Wish und für ein Haus für minderjährige Ausreißer in Hollywood, My Friend’s Place oder so ähnlich.«

»Okay, gut.«

»Holen Sie mich hier raus?«

»Ich werde es versuchen. Es werden schwerwiegende Vorwürfe gegen Sie erhoben – ich habe mich eben noch kurz erkundigt –, und vermutlich wird die Staatsanwältin beantragen, Sie keine Kaution stellen zu lassen. Aber mit dem hier lässt sich durchaus was anfangen.«

Ich deutete auf meine Notizen.

»Keine Kaution?«, stieß Roulet mit panischer Stimme hervor.

Die anderen in der Zelle starrten in seine Richtung, denn was er gerade gesagt hatte, war ihr kollektiver Albtraum. Keine Kaution.

»Nur keine Aufregung«, beruhigte ich ihn. »Ich habe lediglich gesagt, sie wird einen entsprechenden Antrag stellen. Ich habe nicht gesagt, dass sie damit auch durchkommt. Wann wurden Sie zum letzten Mal verhaftet?«

Das ließ ich immer völlig unerwartet einfließen, damit ich die Augen des Mandanten beobachten und abschätzen konnte, ob ich mich vor Gericht auf eine Überraschung gefasst machen musste.

»Noch gar nicht. Ich bin noch nie verhaftet worden. Die ganze Geschichte ist …«

»Ich weiß, aber darüber wollten wir hier nicht sprechen, schon vergessen?«

Er nickte. Ich sah auf die Uhr. Die Verhandlung würde jeden Moment losgehen, und ich musste noch kurz mit Maggie McFierce reden.

»Ich muss jetzt los«, sagte ich. »Wir sehen uns in ein paar Minuten da draußen wieder und dann werden wir zusehen, wie wir Sie hier rausbekommen. Wenn wir im Saal sind, sagen Sie nichts ohne vorherige Absprache mit mir. Selbst wenn Sie der Richter nur fragt, wie es Ihnen geht, besprechen Sie das vorher mit mir. Alles klar?«

»Aber soll ich denn nicht auf die einzelnen Anklagepunkte mit ›Nicht schuldig‹ antworten?«

»Nein. Das wird man Sie auch gar nicht fragen. Alles, was heute passiert, ist, dass die Anklagepunkte verlesen werden, wir über die Kaution verhandeln und einen Termin für die Anklageerhebung festsetzen. Erst bei der Gelegenheit sagen wir dann ›Nicht schuldig‹. Aber heute sagen Sie überhaupt nichts. Keine Zwischenrufe, keine Gefühlsausbrüche, gar nichts. Haben Sie das verstanden?«

Er nickte und runzelte die Stirn.

»Sonst so weit alles okay, Louis?«

Er nickte dumpf.

»Nur zu Ihrer Information. Für die erste Anhörung und die Kautionsverhandlung nehme ich zweitausendfünfhundert Dollar. Sind Sie damit einverstanden?«

Er nickte. Mir gefiel, dass er nichts sagte. Die meisten meiner Mandanten redeten zu viel. Normalerweise redeten sie sich um Kopf und Kragen.

»Gut. Alles Weitere besprechen wir, wenn Sie hier raus sind und wir uns ungestört unterhalten können.«

In der Hoffnung, sie würde Eindruck auf ihn machen, klappte ich meine Ledermappe zu und stand auf.

»Noch ein Letztes«, sagte ich. »Wie sind Sie auf mich gekommen? Es gibt eine Menge Anwälte in L.A. Warum ausgerechnet ich?«

Das war eine Frage, die für unser Verhältnis keine Rolle spielte, aber ich wollte Valenzuelas Vertrauenswürdigkeit prüfen.

Roulet zuckte mit den Achseln.

»Keine Ahnung. Ich glaube, ich habe Ihren Namen irgendwann mal in der Zeitung gelesen.«

»Was haben Sie dort über mich gelesen?«

»Es ging dabei um einen Fall, bei dem das Beweismaterial gegen irgend so einen Kerl nicht zugelassen wurde. Irgendwas mit Drogen, glaube ich. Sie haben den Prozess gewonnen, weil die hinterher keine Beweise mehr hatten.«

»Der Hendricks-Fall?«

Es war der einzige, der mir einfiel, über den in den letzten Monaten etwas in der Zeitung gestanden hatte. Hendricks war ein weiterer Road-Saints-Mandant gewesen. Das Sheriff’s Department hatte einen winzigen GPS-Sender an seiner Harley angebracht, um sich Aufschluss zu verschaffen, an wen er Stoff lieferte. Solange er auf öffentlichen Straßen unterwegs war, war daran nichts auszusetzen. Aber als er seine Maschine nachts in der Küche seines Hauses abstellte, stellte diese Wanze einen Hausfriedensbruch seitens der Polizei dar. Der Fall wurde vom Richter schon bei der Vorverhandlung abgeschmettert. Das sorgte in der Times für einiges Aufsehen.

»Den Namen des Mandanten weiß ich nicht mehr«, sagte Roulet. »Ich konnte mich nur an Ihren erinnern. Zumindest an Ihren Nachnamen. Als ich heute den Kautionsbürgen anrief, nannte ich ihm den Namen Haller und bat ihn, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen und meinen eigenen Anwalt zu verständigen. Warum fragen Sie?«

»Nur so. Aus reiner Neugier. Jedenfalls danke für Ihr Vertrauen. Dann bis gleich im Gerichtssaal.«

Ich legte die Abweichungen zwischen Roulets und Valenzuelas Darstellungen ins virtuelle Fach für spätere Erledigung und kehrte in den Gerichtssaal zurück. Dort saß Maggie McFierce am Tisch der Anklage zusammen mit fünf anderen Anklägern. Der Tisch war groß und L-förmig, damit eine möglichst große Zahl wechselnder Anwälte mit Blick auf die Richterbank sitzen konnten. Die meisten der Vorführungen und Anklageverlesungen, die hier routinemäßig über die Bühne gingen, erledigte ein für den Gerichtssaal abgestellter Ankläger. Ungewöhnliche Fälle lockten jedoch die hohen Tiere aus der Staatsanwaltschaft im ersten Stock des angrenzenden Gerichtsgebäudes an. Fernsehkameras übten auf sie die gleiche Wirkung aus.

Als ich durch die Schranke trat, entdeckte ich einen Mann, der neben dem Tisch des Gerichtsdieners eine Videokamera auf ein Stativ baute. Weder auf der Kamera noch auf der Kleidung des Mannes war das Logo eines Senders. Demnach handelte es sich bei dem Mann um einen Freien, der Wind von der Sache bekommen hatte und die Verhandlung aufzeichnen wollte, um sie anschließend an den Nachrichtenchef eines Lokalsenders zu verkaufen, der einen Dreißig-Sekunden-Bericht brauchte. Laut dem Gerichtsdiener, den ich kurz zuvor wegen Roulets Platz auf der Liste gesprochen hatte, waren die Filmaufnahmen vom Richter genehmigt.

Ich ging von hinten auf meine Ex-Frau zu und beugte mich hinab, um ihr ins Ohr zu flüstern. Sie sah sich gerade Fotos in einem Ordner an. Sie trug ein marineblaues Kostüm mit grauen Nadelstreifen. Ihr pechschwarzes Haar war mit einem farblich abgestimmten grauen Band nach hinten gebunden. Ich mochte es, wenn sie ihr Haar so trug.

»Hattest du bis jetzt den Roulet-Fall?«

Sie erkannte die flüsternde Stimme nicht gleich und blickte auf. Unwillkürlich verzog sich ihr Gesicht zu einem Lächeln, das sich jedoch in ein Stirnrunzeln verwandelte, als sie mich erkannte. Sie wusste genau, warum ich die Vergangenheitsform verwendet hatte, und klappte den Ordner zu.

»Sag bloß.«

»Tut mir leid. Offensichtlich hat ihm gefallen, wie ich bei Hendricks vorgegangen bin, und er hat mich deshalb angerufen.«

»Mist. Ich bin scharf auf diesen Fall gewesen, Haller. Das ist schon das zweite Mal, dass du mir in die Quere kommst.«

»Diese Stadt ist einfach nicht groß genug für uns beide«, sagte ich in einer müden Cagney-Imitation.

Sie stöhnte.

»Na schön.« Sie kapitulierte rasch. »Ich ziehe mich freiwillig aus dem Fall zurück, sobald die Anklage verlesen worden ist. Außer du erhebst sogar dagegen Einspruch.«

»Kann durchaus sein. Wirst du dich gegen eine Freilassung auf Kaution aussprechen?«

»Allerdings. Aber daran wird sich auch unter einem neuen Ankläger nichts ändern. Strikte Anweisung aus dem ersten Stock.«

Ich nickte. Das hieß, eine Freilassung auf Kaution war von höherer Stelle abgelehnt worden.

»Er hat ein intaktes soziales Umfeld. Und wurde bisher noch nie verhaftet.«

Ich achtete sehr genau auf ihre Reaktion, da ich nicht die Zeit gehabt hatte, nachzuprüfen, ob Roulets Behauptung auch den Tatsachen entsprach. Es erstaunte mich immer wieder, wie viele Mandanten bezüglich früherer Konflikte mit dem Gesetz logen, auch wenn sich eine solche Lüge niemals aufrechterhalten ließ.

Maggies Reaktion deutete nicht darauf hin, dass ihr andere Informationen vorlagen. Vielleicht stimmte es also. Womöglich hatte ich es diesmal tatsächlich mit einem aufrichtigen Ersttäter zu tun.

»Es spielt keine Rolle, ob er zuvor schon was ausgefressen hat«, sagte Maggie. »Es zählt, was er gestern Nacht getan hat.«

Sie schlug den Ordner auf und sah rasch die Fotos durch, bis sie das gesuchte fand. Sie nahm es heraus.

»Hier siehst du, was deine tragende Säule der Gesellschaft gestern Nacht vollbracht hat. Deshalb interessiert mich seine Vorgeschichte auch nicht sehr. Ich will nur, dass er keine Gelegenheit erhält, so was noch mal zu tun.«

Bei der Achtzehn-mal-vierundzwanzig-Vergrößerung handelte es sich um die Nahaufnahme eines weiblichen Gesichts. Das rechte Auge war vollständig zugeschwollen. Die Nase war gebrochen und seitlich verschoben. Aus jedem Nasenloch stand blutgetränkte Gaze. Über der rechten Augenbraue verlief ein tiefer Schnitt, der mit neun Stichen genäht war. Die Unterlippe war aufgeplatzt und wies ebenfalls eine murmelgroße Schwellung auf. Das Schlimmste an dem Foto war das unverletzte Auge. Mit einem unleugbaren Ausdruck der Angst, des Schmerzes und der Demütigung blickte die Frau aus dem tränennassen Auge in die Kamera.

»Falls er es getan hat«, sagte ich, weil von mir erwartet wurde, dass ich das sagte.

»Richtig«, sagte Maggie. »Natürlich nur, falls er es getan hat. Er wurde zwar mit ihrem Blut an den Händen in ihrer Wohnung festgenommen, aber du hast natürlich vollkommen recht, das ist eine berechtigte Einschränkung.«

»Ich mag es, wenn du so sarkastisch wirst. Hast du das Festnahmeprotokoll hier? Ich würde es mir gern kopieren.«

»Du kannst es von dem Kollegen haben, der den Fall von mir übernimmt. Keine Gefälligkeiten, Haller. Diesmal nicht.«

Ich wartete auf weitere Spitzen, weitere Entrüstungsbekundungen, vielleicht auch auf einen weiteren Schuss vor den Bug, aber sie schwieg. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass nicht mehr über den Fall aus ihr herauszubekommen war. Ich wechselte das Thema.

»Und«, fragte ich. »Wie geht es ihr?«

»Sie hat schreckliche Angst und höllische Schmerzen. Wie sollte es ihr sonst gehen?«

Sie blickte zu mir auf, und in ihren Augen spiegelte sich ihr plötzliches Begreifen und dann das Urteil.

»Die Frage galt gar nicht dem Opfer, habe ich recht?«

Ich antwortete nicht. Ich wollte ihr nichts vormachen.