Der fünfte Zeuge - Michael Connelly - E-Book

Der fünfte Zeuge E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Eine Wirtschaftskrise erschüttert die USA. Michael Hallers Job als Strafverteidiger besteht kaum mehr darin, Verbrecher vor dem Gefängnis zu bewahren. Stattdessen vertritt er insolvente Hausbesitzer und wendet Zwangsvollstreckungen ab. In besseren Zeiten wurden ihnen Hypotheken gewährt, die sie nach dem Bankencrash nicht mehr bedienen können. Hallers Mandantin Lisa Trammel aber hat noch weit größere Sorgen: Der Bankangestellte Mitchell Bondurant wurde erschlagen, Lisa gilt als Hauptverdächtige. Für Haller deutet alles darauf hin, dass jemand anderes hinter Gitter gehört. Doch erst als er überfallen wird, wird ihm klar, wie skrupellos seine Gegenspieler wirklich sind. Die Beweise gegen Lisa sind erdrückend, aber sie beteuert, nichts mit Bondurants Tod zu tun zu haben. Was, wenn ihre Unschuldsmiene trügt?

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Seitenzahl: 712

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Michael Connelly

Der fünfte Zeuge

Ein Fall für den Lincoln Lawyer

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für Dennis Wojciechowski, mit einem großen Dankeschön.

Teil 1Die magischen Worte

1

Mrs. Pena saß neben mir auf dem Rücksitz und sah mich mit flehentlich erhobenen Händen an. Um ihren letzten Appell direkt an mich zu richten, schaltete sie auf Englisch um. Sie hatte einen starken Akzent.

»Bitte, Sie mir helfen, Mr. Mickey?«

Ich sah Rojas auf dem Fahrersitz an, der sich immer noch nach hinten gedreht hatte, obwohl ich ihn nicht mehr zum Dolmetschen brauchte. Dann schaute ich über Mrs. Penas Schulter aus dem Autofenster und auf das Haus, das sie unbedingt behalten wollte. Es war ein verblichen rosafarbenes Dreizimmerhaus mit einem kahlen Vorgarten hinter einem Maschendrahtzaun. Die auf die Betonstufe des Türpodests gesprayten Graffiti waren bis auf die Zahl 13 unentzifferbar. Die 13 war nicht die Hausnummer, sondern eine Loyalitätsbekundung.

Schließlich kehrte mein Blick zu Mrs. Pena zurück. Sie war vierundvierzig Jahre alt und auf eine verlebte Art attraktiv. Sie war die alleinerziehende Mutter dreier halbwüchsiger Jungen und hatte neun Monate lang ihre Hypothekenzinsen nicht mehr bezahlt. Jetzt wollte ihr die Bank das Haus wegnehmen und es zwangsversteigern lassen.

Die Versteigerung war in drei Tagen angesetzt. Dass das Haus wenig wert war und in einem von Gangs kontrollierten Viertel von South L.A. lag, spielte keine Rolle. Irgendjemand würde es kaufen, und Mrs. Pena würde Mieterin statt Eigentümerin – es sei denn, der neue Eigentümer setzte sie per Zwangsräumung vor die Tür. Jahrelang hatte sie sich auf den Schutz der Florencia 13 verlassen. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Jetzt konnte ihr keine Gang mehr helfen. Sie brauchte einen Anwalt. Sie brauchte mich.

Ich wandte mich Rojas zu. »Sagen Sie ihr, ich werde alles versuchen. Sagen Sie ihr, ich bin ziemlich sicher, dass ich die Versteigerung verhindern und die Rechtmäßigkeit der Zwangsvollstreckung anfechten kann. Das wird das Ganze zumindest ein wenig aufhalten. Und wir gewinnen Zeit, um uns etwas Längerfristiges zu überlegen. Ihr vielleicht wieder auf die Beine zu helfen.«

Ich nickte und wartete, während Rojas übersetzte. Seit ich ein Werbepaket für die spanischsprachigen Radiosender gekauft hatte, setzte ich ihn als meinen Fahrer und Dolmetscher ein.

Das Handy in meiner Tasche begann zu vibrieren. Mein Oberschenkel deutete es als eine eingehende SMS. Ein Anruf wurde durch ein längeres Vibrieren angezeigt. Egal, was es war, ich ignorierte es. Als Rojas zu Ende übersetzt hatte, schaltete ich mich wieder ein, bevor Mrs. Pena antworten konnte.

»Sagen Sie ihr, sie muss sich darüber im Klaren sein, dass damit ihre Probleme nicht aus der Welt sind. Ich kann die Zwangsversteigerung hinausschieben, und wir können mit ihrer Bank verhandeln. Aber ich kann ihr nicht versprechen, dass sie das Haus nicht verlieren wird. Genau genommen hat sie es bereits verloren. Ich werde es ihr wiederbeschaffen, aber dann muss sie trotzdem noch eine Einigung mit der Bank finden.«

Rojas dolmetschte und machte Handbewegungen, wo ich keine gemacht hatte. Tatsache war, dass Mrs. Pena irgendwann ausziehen musste. Die Frage war nur, wie weit sie gehen wollte. Eine Privatinsolvenz würde ein weiteres Jahr an eine einstweilige Einstellung der Zwangsversteigerung hängen. Aber das musste sie jetzt noch nicht entscheiden.

»Und jetzt sagen Sie ihr, dass sie mich für meine Arbeit auch bezahlen muss. Erklären Sie ihr die Standardregelung. Tausend im Voraus und dann die Monatsraten.«

»Wie hoch sind die monatlichen Zahlungen? Und wie lang?«

Ich schaute wieder zum Haus. Mrs. Pena hatte mich nach drinnen eingeladen, aber ich hatte es vorgezogen, im Auto mit ihr zu reden. In dieser Gegend kam es immer wieder zu Drive-by-Shootings, und ich hatte einen Lincoln Town Car BPS. Letzteres stand für Ballistic Protection Series. Ich hatte ihn von der Witwe eines ermordeten Killers des Sinaloa-Kartells. Die Türen waren mit Panzerplatten verstärkt, und die Fenster waren aus dreischichtigem Verbundglas. Sie waren kugelsicher. Das waren die Fenster von Mrs. Penas rosafarbenem Haus nicht. Die Lektion, die es von dem Sinaloa-Mann zu lernen gab, lautete, dass man aus seinem Auto nur ausstieg, wenn es unbedingt sein musste.

Mrs. Pena hatte mir erklärt, dass die Monatsraten für das Haus, deren Zahlung sie vor neun Monaten eingestellt hatte, siebenhundert Dollar betrugen. Wenn ich mich der Sache annahm, bräuchte sie auch weiterhin keine Zahlungen an die Bank zu leisten. Solange ich ihr die Bank vom Hals hielt, hätte sie also keine finanziellen Belastungen. Deshalb war hier Geld zu holen.

»Sagen wir, zweihundertfünfzig im Monat. Sie erhält die ermäßigte Rate. Aber machen Sie ihr auch klar, dass sie dabei sehr gut wegkommt und dass sie mit den Zahlungen auf keinen Fall in Verzug geraten darf. Wir akzeptieren auch eine Kreditkarte, falls sie eine hat, die gedeckt ist. Aber achten Sie darauf, dass sie mindestens bis 2012 gültig ist.«

Rojas übersetzte, allerdings mit mehr Gesten und viel mehr Worten, als ich gemacht hatte. Währenddessen holte ich mein Handy heraus. Die SMS war von Lorna Taylor.

RUFBALDMÖGLICHSTAN.

Ich würde sie nach dem Mandantengespräch zurückrufen. Eine normale Anwaltskanzlei hatte in der Regel eine Sekretärin und Telefondame. Da ich aber außer dem Rücksitz meines Lincoln kein Büro hatte, schmiss Lorna den Laden von ihrer Eigentumswohnung in West Hollywood aus, die sie sich mit meinem Chefermittler teilte.

Meine Mutter war gebürtige Mexikanerin, und ich verstand ihre Muttersprache besser, als ich jemals durchblicken ließ. Als Mrs. Pena antwortete, verstand ich, was sie sagte – zumindest sinngemäß. Trotzdem ließ ich mir von Rojas alles übersetzen. Sie versprach, die tausend Dollar Vorschuss aus dem Haus zu holen und die monatlichen Zahlungen pünktlich zu leisten. An mich, nicht an die Bank. Wenn es mir gelang, die Zwangsversteigerung ein Jahr hinauszuzögern, sprängen für mich viertausend Dollar heraus. Für das, was ich dafür tun musste, war das nicht schlecht. Wahrscheinlich würde ich Mrs. Pena nie wiedersehen. Ich würde gegen die Zwangsversteigerung klagen und die Vollstreckung hinausschieben. Die Chancen standen gut, dass ich nicht einmal vor Gericht erscheinen musste. Den Gerichtskram würde meine junge Partnerin erledigen. Mrs. Pena wäre zufrieden und ich auch. Irgendwann wäre dann allerdings Schluss mit lustig. Das war immer so.

Ich fand, das war ein vertretbarer Fall, auch wenn Mrs. Pena keine Mandantin war, der viel Verständnis entgegengebracht werden würde. Die meisten meiner Mandanten stellen ihre Zahlungen an die Bank ein, weil sie ihren Job verloren oder ein medizinisches Desaster erlitten haben. Mrs. Pena hatte sie eingestellt, weil ihre drei Söhne wegen Drogenhandels ins Gefängnis gekommen waren und ihre wöchentliche finanzielle Unterstützung mit einem Schlag ausfiel. Deshalb konnte sie nicht allzu viel Mitgefühl erwarten. Aber die Bank hatte übel getrickst. Ich hatte mir auf meinem Laptop ihre Akte angesehen. Dort war alles nachzulesen: die zahlreichen Zahlungsaufforderungen und schließlich die Androhung der Zwangsversteigerung. Nur behauptete Mrs. Pena, die Zahlungsaufforderungen nie erhalten zu haben. Und ich glaubte ihr. Das Viertel, in dem sie wohnte, war keins von denen, in denen viele Gerichtszusteller unterwegs waren. Ich hatte den Verdacht, dass die Zahlungsaufforderungen im Müll gelandet waren und der Gerichtszusteller schlicht und einfach gelogen hatte. Wenn es mir gelang, das nachzuweisen, konnte ich es als Druckmittel benutzen, um Mrs. Pena die Bank vom Hals zu halten.

Ich würde geltend machen, die arme Frau sei auf die Gefahr, in der sie schwebte, nie hingewiesen worden; die Bank habe sich ihre Situation zunutze gemacht und ein Zwangsversteigerungsverfahren eingeleitet, ohne ihr eine Gelegenheit zu bieten, die Rückstände zu begleichen, und solle deshalb vom Gericht für ihr Vorgehen gerügt werden.

»Okay, dann wäre das also geklärt«, sagte ich zu Rojas. »Sagen Sie ihr, sie soll jetzt das Geld holen. Ich drucke inzwischen einen Vertrag und die Quittung aus. Wir werden uns gleich heute an die Arbeit machen.«

Ich nickte und lächelte Mrs. Pena an. Rojas übersetzte, dann stieg er aus und ging auf die andere Seite, um ihr die Tür aufzumachen.

Sobald Mrs. Pena ausgestiegen war, öffnete ich auf meinem Laptop die spanische Vertragsvorlage und trug die entsprechenden Namen und Zahlen ein. Dann schickte ich alles an den Drucker, der auf der Elektronikplattform auf dem Beifahrersitz stand. Anschließend schrieb ich die Quittung für die auf mein Mandantenanderkonto einzuzahlenden Beträge. Alles, wie es sich gehörte. Ohne Ausnahme. Das war die beste Möglichkeit, sich die kalifornische Anwaltskammer vom Hals zu halten. Auch wenn ich ein kugelsicheres Auto hatte, am meisten nahm ich mich vor der Anwaltskammer in Acht.

Es war ein schwieriges Jahr gewesen für Michael Haller and Associates, Attorneys-at-Law. Im Zug des wirtschaftlichen Abschwungs war der Markt für Strafverteidiger buchstäblich ausgetrocknet. Die Kriminalität war natürlich nicht zurückgegangen. Sie florierte in Los Angeles bei jeder Wirtschaftslage. Aber die zahlenden Mandanten waren dünn gesät. Es schien, als hätte niemand mehr Geld, um einen Anwalt zu bezahlen. Folglich erstickten die Pflichtverteidiger in Arbeit, während Leute wie ich am Hungertuch nagten.

Ich hatte laufende Kosten und eine vierzehnjährige Tochter, die auf eine Privatschule ging und unbeirrbar von der USC redete, wenn das Thema College zur Sprache kam. Ich musste also etwas tun, und deshalb tat ich, was ich einmal für undenkbar gehalten hatte. Ich machte Zivilrecht. Die einzige Wachstumsbranche für Juristen waren Zwangsversteigerungen. Ich nahm an ein paar Fortbildungsseminaren der Anwaltskammer teil, brachte mich auf den neuesten Stand und begann, neue zweisprachige Anzeigen zu schalten. Ich richtete ein paar Websites ein und kaufte in der Verwaltungsstelle des County die Listen für eingeleitete Zwangsversteigerungsverfahren. So hatte ich Mrs. Pena als Mandantin bekommen. Per Post. Ihr Name hatte auf der Liste gestanden, und ich hatte ihr – auf Spanisch – einen Brief geschickt, in dem ich ihr meine Dienste anbot. Daraufhin erzählte sie mir, sie habe erst aus meinem Schreiben erfahren, dass eine Zwangsversteigerung gegen sie eingeleitet worden war.

Wie heißt es so schön? Man muss nur den Einstieg schaffen, dann läuft der Laden von allein. Das kann ich nur bestätigen. Ich hatte mehr Arbeit, als ich bewältigen konnte – allein an diesem Tag hatte ich noch sechs weitere Termine –, und zum ersten Mal überhaupt hatte ich tatsächlich einen Partner für Michael Haller and Associates eingestellt. Die Zwangsversteigerungsepidemie ließ zwar nach, kam aber noch keineswegs zum Erliegen. In Los Angeles County hätte ich noch auf Jahre hinaus mein Auskommen.

Diese Zivilsachen trugen mir zwar jeweils nur vier- bis fünftausend Dollar ein, aber ich befand mich beruflich gerade in einer Phase, in der Quantität vor Qualität ging. Im Moment hatte ich über neunzig Zwangsvollstreckungsfälle. Meine Tochter konnte die USC also schon mal ins Auge fassen. Was sage ich, sie konnte sogar mit dem Gedanken spielen, ihren Master zu machen.

Es gab natürlich Leute, die fanden, ich sei Teil des Problems, weil ich den Losern half, das System auszutricksen, und dadurch die gesamtwirtschaftliche Erholung bremste. Auf einige meiner Mandanten traf dieser Vorwurf sicher zu. Die meisten von ihnen waren in meinen Augen jedoch Mehrfachopfer. Zuerst waren sie mit dem amerikanischen Traum vom eigenen Heim dazu verführt worden, Hypotheken aufzunehmen, die ihre finanziellen Möglichkeiten bei Weitem überschritten, um dann ein zweites Mal zum Opfer zu werden, als die Blase platzte und skrupellose Kreditgeber sie im Zug der daraus resultierenden Zwangsversteigerungswelle einfach plattwalzten. Den meisten dieser einst so stolzen Hauseigentümer ließen die in Kalifornien ausschließlich auf die Bedürfnisse der Kreditinstitute zugeschnittenen Zwangsversteigerungsbestimmungen keine Chance. Eine Bank brauchte nicht einmal eine richterliche Genehmigung, um jemandem das Haus wegzunehmen. Und das hielten unsere Wirtschaftsweisen auch noch für den vernünftigsten Weg. Alles, bloß kein Stillstand. Immer schön in Bewegung bleiben. Je früher die Krise ihren Tiefpunkt erreichte, desto früher begänne die Erholung. Da kann ich nur sagen, erzählen Sie das mal Mrs. Pena.

Es gab die Theorie, dass dies alles Teil einer gigantischen Verschwörung der Großbanken sei, um die Eigentumsrechte auszuhöhlen, das Rechtssystem zu untergraben und eine nie zum Stillstand kommende Zwangsversteigerungsmaschinerie zu kreieren, damit sie immer weiter an beiden Enden dieses Vorgangs kräftig mitverdienen konnten. Dieser Ansicht war ich zwar nicht unbedingt, aber ich hatte in der kurzen Zeit, in der ich mich mit diesem rechtlichen Spezialgebiet befasste, so viele halsabschneiderische und unethische Praktiken sogenannter seriöser Geschäftsleute mitbekommen, dass ich mich nach meinen guten alten Strafrechtsfällen zurücksehnte.

Rojas wartete neben dem Auto, dass Mrs. Pena mit dem Geld zurückkäme.

Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass wir es zu meinem nächsten Termin, einer gewerblichen Zwangsversteigerung drüben in Compton, nicht mehr rechtzeitig schaffen würden. Um Zeit, Sprit und Kilometer auf dem Tacho zu sparen, legte ich die Beratungsgespräche mit meinen Mandanten, wenn möglich, immer nach geographischen Gesichtspunkten. Heute war ich im South End unterwegs. Morgen war East L.A. an der Reihe. Zwei Tage die Woche war ich im Auto unterwegs und akquirierte neue Mandanten. Die restliche Zeit arbeitete ich an den Fällen.

»Jetzt kommen Sie schon, Mrs. Pena«, brummte ich. »Wir müssen los.«

Ich beschloss, die Zeit zu nutzen und Lorna anzurufen. Vor drei Monaten hatte ich begonnen, meine Rufnummer zu unterdrücken.

Als ich noch als Strafverteidiger praktizierte, hatte ich das nie getan, aber in der schönen neuen Welt der Zwangsversteigerungen wollte ich nicht unbedingt, dass die Leute meine Nummer kannten. Und das galt sowohl für die Anwälte der Gläubiger als auch für meine Mandanten.

»Anwaltskanzlei Michael Haller und Partner«, meldete sich Lorna. »Was kann ich …«

»Ich bin’s. Was gibt’s?«

»Mickey, du wirst dringend gebraucht. In der Van Nuys Division.«

Die Dringlichkeit in ihrem Ton war unüberhörbar. Die Van Nuys Division war die Kommandostelle des LAPD für das ausgedehnte San Fernando Valley am Nordrand der Stadt.

»Ich bin heute unten im Süden unterwegs. Wieso, was ist?«

»Sie haben Lisa Trammel dorthingebracht. Sie hat eben angerufen.«

Lisa Trammel war eine Mandantin. Genau genommen, meine erste Zwangsversteigerungsmandantin. Ich hatte erreicht, dass sie inzwischen schon acht Monate länger in ihrem Haus hatte bleiben können, und war zuversichtlich, mindestens noch einmal ein Jahr herausschinden zu können, bevor wir die Insolvenzbombe zünden mussten. Die Frustrationen und Ungerechtigkeiten ihres Lebens hatten ihr jedoch so zugesetzt, dass sie sich nicht mehr hatte beruhigen oder kontrollieren lassen. Sie hatte geglaubt, vor ihrer Bank demonstrieren und auf einem Schild deren betrügerische Praktiken und herzlose Aktionen anprangern zu müssen. Zumindest so lange, bis ihr die Bank das mittels einer einstweiligen Verfügung untersagte.

»Hat sie gegen die einstweilige Verfügung verstoßen? Haben sie sie festgesetzt?«

»Mickey, sie haben sie wegen Mordes verhaftet.«

Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Wegen Mordes? Wer ist das Opfer?«

»Sie sagt, sie ist des Mordes an Mitchell Bondurant angeklagt.«

Mir verschlug es zum zweiten Mal die Sprache. Ich schaute aus dem Fenster und sah Mrs. Pena aus ihrem Haus kommen. Sie hielt ein Bündel Geldscheine in der Hand.

»Okay, dann häng dich gleich mal ans Telefon und sag alle weiteren Termine für heute ab. Und sag Cisco, er soll nach Van Nuys hochfahren. Ich treffe mich dort mit ihm.«

»Alles klar. Soll die Nachmittagstermine Bullocks übernehmen?«

»Bullocks« war Jennifer Aronson, meine neue Partnerin. Sie hatte gerade ihr Jurastudium an der Southwestern Law School abgeschlossen. Das war eine juristische Privatuniversität, die sich im ehemaligen Bullocks-Kaufhaus im Wilshire Boulevard befand.

»Nein, ich will nicht, dass sie akquiriert. Leg die Termine bloß um. Ach, ich glaube, ich habe die Trammel-Akte sogar dabei, aber die Telefonliste müsstest du haben. Versuche, ihre Schwester zu erreichen. Lisa hat einen Sohn. Wahrscheinlich ist er im Moment noch in der Schule, aber irgendjemand muss sich um ihn kümmern, wenn Lisa es nicht kann.«

Wir ließen alle Mandanten eine ausführliche Kontaktliste ausfüllen, weil es manchmal schwierig war, sie für Gerichtstermine zu erreichen – oder dazu zu bringen, mich für meine Arbeit zu bezahlen.

»Ich mach mich gleich an die Arbeit«, sagte Lorna. »Viel Glück, Mickey.«

»Dir auch.«

Ich steckte das Handy weg und dachte an Lisa Trammel. Irgendwie überraschte es mich nicht, dass sie wegen der Ermordung des Mannes festgenommen worden war, der ihr ihr Haus wegzunehmen versucht hatte. Nicht, dass ich damit gerechnet hatte, dass es so weit kommen könnte. Nicht einmal annähernd. Aber dass es zu irgendetwas kommen würde, das hatte ich gewusst.

2

Ich nahm rasch Mrs. Penas Geld und gab ihr eine Quittung. Wir unterschrieben beide den Vertrag, und sie erhielt eine Kopie für ihre Unterlagen. Ich notierte mir eine ihrer Kreditkartennummern, und sie versicherte mir, sie wäre für monatliche Abbuchungen in Höhe von zweihundertfünfzig Dollar verwendbar, solange ich für sie tätig wäre. Dann bedankte ich mich bei ihr, schüttelte ihr die Hand und bat Rojas, sie zum Haus zurückzubegleiten.

Während er das tat, öffnete ich per Fernbedienung den Kofferraum und stieg aus. Der Kofferraum des Lincoln war so groß, dass er neben drei Aktenbehältern aus Pappe auch meine ganzen Büroutensilien fasste. Ich fand die Trammel-Akte in der dritten Schachtel und zog sie heraus. Außerdem griff ich mir den schnieken Aktenkoffer, den ich für Auftritte in Polizeiwachen verwendete. Als ich den Kofferraum schloss, sah ich die stilisierte 13, die auf den schwarzen Lack des Deckels gesprayt war.

»Verdammte Scheiße.«

Ich blickte mich um. Drei Häuser weiter spielten zwei Kinder, aber für Graffitikünstler sahen sie zu klein aus. Ansonsten war die Straße menschenleer. Das konnte ich mir nicht erklären. Der Anschlag auf mein Auto war erfolgt, während ich auf dem Rücksitz das Mandantengespräch geführt hatte. Ich hatte ihn nicht nur nicht gehört oder mitbekommen, er war auch nicht absehbar gewesen, denn es war auch erst kurz nach eins, und ich wusste, dass die meisten Gangmitglieder nicht vor dem späten Nachmittag aufstanden und den Tag begannen. Sie waren Nachtgeschöpfe.

Ich ging mit der Akte zu der offenen Autotür zurück. Rojas stand an der Eingangstreppe und unterhielt sich mit Mrs. Pena. Ich pfiff und winkte ihn zum Auto zurück. Wir mussten los. Ich stieg ein. Rojas kam prompt angetrabt und sprang auf den Fahrersitz.

»Nach Compton?«, fragte er.

»Nein, wir müssen nach Van Nuys hoch. Schnell.«

»Alles klar, Boss.«

Er fuhr in Richtung Freeway 110 los. Es gab keine direkte Freewayverbindung nach Van Nuys. Wir mussten den 110er zurück in Richtung Downtown nehmen und dann den 101er nach Norden. Wir hätten von keinem ungünstigeren Punkt der Stadt starten können.

»Was hat sie eben an der Tür noch gesagt?«, fragte ich Rojas.

»Sie hat sich nach Ihnen erkundigt.«

»Nach mir?«

»Ja. Sie meinte, Sie würden eigentlich aussehen, als bräuchten Sie gar keinen Dolmetscher.«

Ich nickte. Das bekam ich oft zu hören. Wegen der Gene meiner Mutter sah ich eher so aus, als wäre ich südlich und nicht nördlich der Grenze geboren.

»Außerdem wollte sie wissen, ob Sie verheiratet sind, Boss. Ich habe ihr gesagt, dass Sie’s sind. Aber wenn Sie darauf noch mal zurückkommen wollen, läuft Ihnen das sicher nicht davon. Aber wahrscheinlich möchte sie dafür einen Nachlass auf Ihr Honorar.«

»Danke, Rojas«, sagte ich trocken. »Sie hat sowieso schon einen Nachlass bekommen, aber ich werde es mir merken.«

Bevor ich die Akte aufschlug, scrollte ich die Kontaktliste in meinem Handy durch. Ich suchte den Namen eines Detectives in Van Nuys, von dem ich vielleicht ein paar Informationen über die Trammel-Geschichte bekommen konnte. Aber es gab niemanden. Ich musste mich blind in einen Mordfall begeben. Auch keine gute Ausgangssituation.

Ich klappte das Handy zu und steckte es ins Ladegerät, dann schlug ich den Ordner auf. Lisa Trammel war meine Mandantin geworden, nachdem sie auf das Standardschreiben geantwortet hatte, das ich allen Eigentümern eines zur Zwangsversteigerung ausgeschriebenen Hauses geschickt hatte. Vermutlich war ich nicht der einzige Anwalt in Los Angeles, der das tat. Aber aus irgendeinem Grund hatte Lisa Trammel auf meinen Brief reagiert und nicht auf einen anderen.

Als selbstständiger Rechtsanwalt muss man sich seine Mandanten meistens selbst aussuchen. Manchmal trifft man eine falsche Wahl. Lisa Trammel war so ein Fall. Ich hatte es kaum erwarten können, mich in mein neues Betätigungsfeld einzuarbeiten. Ich suchte nach Mandanten, die in der Klemme steckten oder übervorteilt worden waren. Leute, die zu unbedarft waren, um ihre Rechte und Möglichkeiten zu kennen. Ich suchte nach Underdogs und glaubte, in Lisa Trammel einen gefunden zu haben. Sie passte eindeutig ins Bild. Aufgrund einer Reihe unglücklicher Umstände, die eine Kettenreaktion ausgelöst hatten, drohte sie ihr Haus zu verlieren. Und ihr Kreditgeber hatte die Angelegenheit einer Zwangsversteigerungsfirma übergeben, die ein paar Abkürzungen genommen und sogar gegen die rechtlichen Bestimmungen verstoßen hatte. Ich übernahm das Mandat, arbeitete einen Zahlungsmodus mit Lisa aus und machte mich an die Arbeit. Es war ein guter Fall, und ich war zuversichtlich. Zu einer nervigen Mandantin wurde Lisa erst später.

Lisa Trammel war fünfunddreißig Jahre alt. Sie war die verheiratete Mutter eines neunjährigen Jungen, der Tyler hieß, und ihr Haus stand in der Melba Avenue in Woodland Hills. Als sie und ihr Mann Jeffrey das Haus 2005 gekauft hatten, hatte Lisa an der Grant High Sozialkunde unterrichtet und Jeffrey in einem Autohaus in Calabasas BMWs verkauft.

Ihr Vierzimmerhaus war bei einem Schätzwert von 900000 Dollar mit einer Hypothek von 750000 Dollar belastet. Damals hatte der Immobilienmarkt floriert, und Darlehen waren leicht zu bekommen gewesen. Die Trammels nahmen sich einen unabhängigen Hypothekenmakler, der mit ihren Unterlagen hausieren ging und ihnen ein günstiges Darlehen beschaffte, bei dem allerdings nach fünf Jahren eine sogenannte Ballonzahlung fällig war, die einmalige Tilgung des gesamten Restbetrags. Dieses Darlehen wurde dann zusammen mit zahlreichen anderen Hypotheken zu einem großen Investmentpaket geschnürt, das zweimal weiterverkauft wurde, bevor es schließlich bei WestLand Financial landete, einer Tochter von WestLand National, deren Stammsitz sich in Sherman Oaks befand.

Für die dreiköpfige Familie lief so lange alles bestens, bis Jeff Trammel beschloss, dass er nicht mehr länger Ehemann und Vater sein wollte. Wenige Monate bevor die 750000- Dollar-Tilgung für das Haus fällig wurde, machte sich der gute Jeff einfach aus dem Staub. Er ließ seinen BMW M3 Vorführwagen auf dem Parkplatz der Union Station und Lisa mit dem Ballon im Regen stehen.

Plötzlich in den Stand einer alleinerziehenden Mutter versetzt, die sich und ihren Sohn mit ihrem Einpersoneneinkommen durchbringen musste, gelangte Lisa zu einer realistischen Einschätzung ihrer Lage und traf eine Entscheidung. Die Wirtschaft war inzwischen ins Trudeln geraten wie ein Flugzeug, das zu wenig Speed hatte. Angesichts ihres Lehrerinneneinkommens war kein Geldinstitut bereit, den Ballon zu refinanzieren. Sie stellte die Hypothekenzahlungen ein und ignorierte sämtliche Mitteilungen seitens der Bank. Als die Gesamttilgung fällig wurde, wurde das Zwangsversteigerungsverfahren eingeleitet. Das war der Punkt, an dem ich ins Spiel kam. Ich schickte Jeff und Lisa einen Brief, ohne zu ahnen, dass Jeff Zigaretten holen gegangen war.

Lisa antwortete darauf.

Ein Stressmandant ist für mich jemand, der kein Gefühl für die Grenzen unseres Verhältnisses hat, selbst wenn ich sie ihm klipp und klar und zum Teil wiederholte Male aufgezeigt habe. Lisa kam mit ihrer ersten Zwangsversteigerungsbenachrichtigung zu mir. Ich übernahm den Fall und bat sie, erst einmal stillzuhalten und abzuwarten, während ich mich an die Arbeit machte. Aber Lisa konnte nicht stillhalten. Sie konnte nicht warten. Sie rief mich jeden Tag an. Nachdem ich eine Klage eingereicht und die Zwangsversteigerung einem Richter vorgelegt hatte, erschien sie für Routineeingaben und Aufschubanträge vor Gericht. Sie musste überall dabei sein, und sie musste jeden Schritt kennen, den ich unternahm, jeden Brief sehen, den ich abschickte, und den Inhalt jedes Anrufs geschildert bekommen, den ich erhielt. Oft rief sie mich an und schrie herum, wenn sie den Eindruck gewann, dass ich ihrer Sache nicht ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit schenkte. Ich begann zu verstehen, warum sich ihr Mann aus dem Staub gemacht hatte. Er hatte es nicht mehr mit ihr ausgehalten.

Ich begann, mir über Lisas Geisteszustand Gedanken zu machen, und tippte auf eine bipolare Störung. Die unablässigen Anrufe und Aktivitäten erfolgten in einer Art Zyklus. Es gab Wochen, in denen ich nichts von ihr hörte, und dann kamen Phasen, in denen sie täglich und notfalls auch so lange anrief, bis sie mich an den Apparat bekam.

Drei Monate nachdem ich den Fall übernommen hatte, eröffnete sie mir, dass sie wegen wiederholten unentschuldigten Fehlens ihren Job beim L.A. County School District verloren hatte. Von da an begann sie davon zu sprechen, von der Bank, die ihr Haus zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben hatte, Schadenersatz zu fordern. Zugleich schlich sich immer stärkeres Anspruchsdenken bei ihr ein. Die Bank war an allem schuld: dass ihr Mann sie verlassen hatte, dass sie ihren Job verloren hatte, dass ihr das Haus genommen wurde.

Ich machte den Fehler, ihr etwas von meinen Nachforschungen zu der Sache und von meiner Prozessstrategie zu erzählen. Das tat ich, um sie zu beschwichtigen und mir vom Hals zu halten. Unsere Prüfung der Darlehensunterlagen hatte eine Reihe von strittigen Punkten und Unstimmigkeiten zutage gefördert, zu denen es in Zusammenhang mit der wiederholten Überschreibung der Hypothek an die verschiedenen Holdings gekommen war. Es gab Anzeichen von Betrug, die ich mir zu Lisas Gunsten zunutze machen zu können glaubte, wenn der Moment käme, über einen Ausstieg aus dem Vertrag zu verhandeln.

Aber diese Auskünfte bestärkten Lisa nur in ihrem Glauben, von der Bank hintergangen worden zu sein. Sie war in keiner Weise bereit anzuerkennen, dass sie einen Kredit aufgenommen hatte und zu seiner Rückzahlung verpflichtet war. Sie sah in der Bank nur noch die Quelle all ihrer Schwierigkeiten. Ihre erste Aktion war, eine Website einzurichten. Sie rief über www.californiaforeclosurefighters.com eine Organisation ins Leben, die sich Foreclosure Litigants Against Greed nannte, Zwangsvollstreckungsprozessierende gegen Gier. Wesentlich besser hörte sich allerdings die Abkürzung an: FLAG. Dazu setzte sie auf ihren Demonstrationstransparenten sehr wirkungsvoll die amerikanische Flagge ein, womit sie zum Ausdruck bringen wollte, dass der Kampf gegen Zwangsversteigerungen etwas so typisch Amerikanisches sei wie Apple Pie. Dann ging sie dazu über, vor dem WestLand-Firmensitz im Ventura Boulevard zu demonstrieren. Manchmal allein, manchmal mit ihrem kleinen Sohn und manchmal mit Leuten, die sie für ihre Sache hatte gewinnen können. Dabei trug sie Schilder, die der Bank vorwarfen, an illegalen Zwangsversteigerungen beteiligt zu sein und Familien aus ihren Häusern zu vertreiben und auf die Straße zu setzen.

Es gelang ihr rasch, die lokalen Medien auf ihre Aktivitäten aufmerksam zu machen. Sie war mehrere Male im Fernsehen und hatte immer einen einprägsamen Spruch parat, der Menschen, die sich in derselben Lage befanden wie sie, eine Stimme verlieh und sie als Opfer der Zwangsversteigerungsepidemie hinstellte und nicht als Leute, die einfach ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkamen. Mir war aufgefallen, dass sie bei Channel 5 sogar zu einem festen Bestandteil des Standardbildmaterials aufgestiegen war, das eingespielt wurde, wenn es neue Meldungen und Zahlen zum Thema Zwangsversteigerungen gab. Kalifornien stand an dritter Stelle der amerikanischen Bundesstaaten, die am stärksten von Zwangsversteigerungen betroffen waren, und in Los Angeles grassierte die Epidemie besonders heftig. Wenn das Fernsehen darüber berichtete, waren auf dem Bildschirm häufig Lisa und ihre Anhänger mit ihren Transparenten zu sehen: LASSTMIRMEINZUHAUSE! SCHLUSSMITILLEGALENZWANGSVERSTEIGERUNGEN!

Mit der Begründung, ihre Proteste seien verbotene Ansammlungen, die den Verkehr behinderten und Passanten gefährdeten, erwirkte WestLand eine einstweilige Verfügung, die es Lisa untersagte, sich einer ihrer Bankfilialen und deren Angestellten auf mehr als hundert Meter zu nähern. Davon unbeeindruckt, zog Lisa mit ihren Transparenten und Gesinnungsgenossen einfach zum Bezirksgericht um, wo Tag für Tag gegen Zwangsversteigerungen geklagt wurde.

Mitchell Bondurant war bei WestLand Geschäftsbereichsleiter für Hypothekendarlehen. Daher stand sein Name auf den Darlehensverträgen für Lisa Trammels Haus und somit auch auf allen meinen Einreichungen. Außerdem hatte ich ihm einen Brief geschrieben, in dem ich ihn auf Anzeichen betrügerischer Praktiken seitens der Zwangsversteigerungsfirma hinwies, die WestLand damit beauftragt hatte, die Drecksarbeit für sie zu übernehmen, wenn säumigen Bankkunden die Häuser und andere Immobilien weggenommen werden sollten.

Lisa war berechtigt, sämtliche ihren Fall betreffenden Dokumente einzusehen. Sie war über den Brief und alle anderen Details genauestens im Bild. Obwohl Bondurant das menschliche Gesicht der Bemühungen war, Lisa ihr Zuhause wegzunehmen, blieb er bei den damit einhergehenden Auseinandersetzungen im Hintergrund und versteckte sich hinter der Rechtsabteilung der Bank. Er antwortete nie auf mein Schreiben, und ich begegnete ihm nie. Es entzog sich meiner Kenntnis, ob Lisa Trammel ihn jemals kennengelernt oder mit ihm gesprochen hatte. Aber jetzt war er tot und Lisa in Untersuchungshaft.

Wir verließen den Freeway 101 am Van Nuys Boulevard und fuhren in nördlicher Richtung weiter bis zu jenem Platz, der von zwei Gerichtsgebäuden, einer Bibliothek, der City Hall North und dem Valley-Bureau-Polizeikomplex umgeben war. In Letzterem war auch die Van Nuys Division untergebracht. Um diese Hauptbauten gruppierten sich noch verschiedene andere Behörden. Parken war hier immer ein Problem, aber deswegen machte ich mir keine Sorgen. Ich holte mein Handy heraus und rief meinen Ermittler Dennis Wojciechowski an.

»Cisco, ich bin’s. Wie lange brauchst du noch?«

In seinen jungen Jahren hatte Wojciechowski dem Motorradclub Road Saints angehört, und weil sie bereits ein Mitglied gehabt hatten, das Dennis hieß, und den Namen Wojciechowski kein Mensch aussprechen konnte, nannten sie ihn wegen seiner dunklen Haare und seines Schnurrbarts Cisco Kid. Der Schnurrbart war mittlerweile verschwunden, aber der Name war hängengeblieben.

»Bin bereits hier. Ich warte auf der Bank an der Eingangstreppe des PD.«

»Ich brauche noch etwa fünf Minuten. Hast du schon mit jemandem geredet? Ich bin total uninformiert.«

»Ja, die Ermittlungen leitet dein alter Freund Kurlen. Das Opfer, Mitchell Bondurant, wurde heute Morgen gegen neun in dem Parkhaus neben der WestLand-Zentrale im Ventura gefunden. Er lag zwischen zwei Autos auf dem Boden. Wie lang er dort schon lag, ist nicht klar, aber er war bereits tot.«

»Ist die Todesursache schon bekannt?«

»Da wird die Sache schon haarig. Zuerst hieß es, er sei erschossen worden, weil eine Bankangestellte, die auf einem anderen Parkdeck war, der Polizei erzählt hat, sie hätte ein zweimaliges Krachen gehört, wie Schüsse. Aber als sie die Leiche vor Ort untersucht haben, sah es so aus, als wäre das Opfer erschlagen worden. Mit einem Gegenstand.«

»Haben sie Lisa Trammel am Tatort verhaftet?«

»Nein, soviel ich weiß, wurde sie in ihrem Haus in Woodland Hills festgenommen. Ich warte noch auf ein paar Rückrufe, aber das ist alles, was ich bisher habe. Sorry, Mick.«

»Kein Problem. Wir werden noch früh genug alles erfahren. Ist Kurlen am Tatort oder bei der Verdächtigen?«

»Soweit ich weiß, haben er und seine Partnerin Trammel abgeholt und eingeliefert. Die Partnerin ist eine Cynthia Longstreth. Eine D-eins. Ich habe noch nie was von ihr gehört.«

Auch ich hatte noch nie etwas von ihr gehört, aber weil sie ein Einser-Detective war, nahm ich an, dass sie neu beim Morddezernat war und mit dem alten Haudegen Kurlen, einem D-drei, zusammengesteckt worden war, damit sie Erfahrungen sammeln konnte. Ich schaute aus dem Fenster. Wir fuhren gerade an einem BMW-Händler vorbei, und unwillkürlich musste ich an den verschwundenen Ehemann denken, der BMWs verkauft hatte, bevor er seiner Frau überdrüssig geworden war und sich aus dem Staub gemacht hatte. Ich fragte mich, ob Jeff Trammel jetzt auftauchen würde, nachdem seine Frau wegen Mordes verhaftet worden war. Würde er sich um den Sohn kümmern, den er zurückgelassen hatte?

»Soll ich Valenzuela sagen, dass er vorbeikommen soll?«, fragte Cisco. »Er ist nur eine Straße weiter.«

Fernando Valenzuela war ein Kautionsbürge, den ich bei Valley-Fällen hinzuzog. Aber ich wusste, dass er diesmal nicht gebraucht werden würde.

»Das hat Zeit. Wenn sie wegen Mordes in Haft ist, kommt sie nicht gegen Kaution raus.«

»Klar.«

»Weißt du, ob der Fall bereits einem DA zugeteilt wurde?«

Dabei dachte ich an meine Ex-Frau, die bei der Bezirksstaatsanwaltschaft in Van Nuys arbeitete. Möglicherweise war sie eine nützliche Quelle für inoffizielle Informationen – außer der Fall war ihr zugeteilt worden. Dann bestünde ein Interessenkonflikt. Es wäre nicht das erste Mal. Maggie McPherson wäre nicht begeistert.

»Keine Ahnung.«

Ich überlegte, wie wir angesichts des wenigen, was wir wussten, weiter vorgehen sollten. Mein Gefühl sagte mir, die Polizei würde nichts herausrücken und schnell alle Informationskanäle dichtmachen, sobald ihnen klar wurde, womit sie es hier zu tun hatten: mit einem Mord, der breite Aufmerksamkeit auf eine der großen Finanzkatastrophen unserer Zeit lenken würde. Wenn ich etwas unternehmen wollte, dann sofort.

»Cisco, ich hab’s mir anders überlegt. Warte nicht auf mich. Fahr gleich zum Tatort und sieh zu, was du rausfinden kannst. Rede mit den Leuten, bevor sie einen Maulkorb verpasst bekommen.«

»Meinst du wirklich?«

»Ja. Um das PD kümmere ich mich, und wenn ich was brauche, rufe ich dich an.«

»Okay. Viel Erfolg.«

»Dir auch.«

Ich klappte das Handy zu und schaute auf den Hinterkopf meines Fahrers.

»Rojas, biegen Sie an der Delano rechts ab und fahren Sie mich zur Sylmar hoch.«

»Okay.«

»Ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde. Aber wenn Sie mich abgesetzt haben, fahren Sie wieder zum Van Nuys Boulevard zurück und suchen dort eine Autolackiererei. Fragen Sie, ob sie diese Farbe vom Kofferraumdeckel abbekommen.«

Rojas sah mich im Rückspiegel an.

»Welche Farbe?«

3

Die Polizeizentrale von Van Nuys ist ein vierstöckiges Gebäude, das viele Funktionen erfüllt. Neben der Polizei von Van Nuys beherbergt es die Kommandozentrale des Valley Bureau und das größte Gefängnis im Norden von Los Angeles. Ich war früher schon des Öfteren hier gewesen und wusste, dass ich wie in den meisten LAPD-Polizeistationen, egal, wie groß sie waren, zahlreiche Hürden zu überwinden hätte, um zu meiner Mandantin zu kommen.

Ich habe den Verdacht, dass die Polizisten, die an der Aufnahme Dienst tun, von gerissenen Vorgesetzten wegen ihres Talents für Vernebelung und Desinformation ausgesucht werden. Sollten Sie das bezweifeln, gehen Sie in L.A. einfach mal in eine beliebige Polizeistation und erklären dem Officer am Aufnahmeschalter, dass Sie sich über einen Polizisten beschweren wollen. Und dann sehen Sie, wie lang er braucht, um das richtige Formular zu finden. Die Cops an der Aufnahme sind in der Regel entweder jung und unerfahren und unabsichtlich ahnungslos oder alt und stur und total vorsätzlich in allem, was sie tun.

In der Van Nuys Station wurde ich von einem Officer in Empfang genommen, auf dessen tadelloser Uniform der Name CRIMMINS stand. Er war ein grauhaariger Veteran und als solcher bestens bewandert in der Kunst, sein Gegenüber niederzustarren.

Ich bekam auch prompt eine Kostprobe seines Könnens geliefert, als ich mich als Strafverteidiger einer Mandantin vorstellte, die im Bereitschaftsraum des Morddezernats auf mich wartete. Seine Reaktion bestand darin, die Lippen zu spitzen und auf eine Reihe Plastikstühle zu deuten, damit ich dort geduldig wartete, bis er es für angezeigt hielt, oben anzurufen.

Männer wie Crimmins sind an eine kuschende Bevölkerung gewöhnt: an Menschen, die genau das tun, was die Polizei sagt, weil sie zu eingeschüchtert sind, um etwas anderes zu tun. Zu dieser Bevölkerungsgruppe gehörte ich nicht.

»So funktioniert das aber nicht«, sagte ich.

Crimmins kniff die Augen zusammen. Ihm hatte den ganzen Tag niemand widersprochen, schon gar nicht ein Strafverteidiger. Deshalb legte er zunächst die sarkastische Platte auf.

»Ach, tatsächlich?«

»Ja, tatsächlich. Deshalb nehmen Sie jetzt das Telefon und rufen oben bei Detective Kurlen an. Sagen Sie ihm, Mickey Haller ist auf dem Weg nach oben, und wenn ich nicht binnen zehn Minuten meine Mandantin zu sehen bekomme, gehe ich zu Richter Mills ins Gericht rüber.«

Ich machte eine Pause, um den Namen einwirken zu lassen.

»Sie kennen doch Richter Roger Mills, oder? Zum Glück war er Strafverteidiger, bevor er zum Richter gewählt wurde. Er hat sich schon damals nicht gern von der Polizei schikanieren lassen und findet das auch heute noch nicht gut. Er wird Sie und Kurlen vor Gericht zitieren und sich von Ihnen erklären lassen, warum Sie immer noch nicht von dieser alten Nummer lassen können, einen Bürger daran zu hindern, von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen, einen Anwalt zu konsultieren. Das letzte Mal, als das der Fall war, gefielen Richter Mills die Antworten nicht, die er bekam, und er brummte dem Mann, der da saß, wo Sie jetzt sitzen, fünfhundert Dollar Strafe auf.«

Crimmins sah aus, als hätte er Mühe, mir zu folgen. Wahrscheinlich war er ein Kurze-Sätze-Typ. Er blinzelte zweimal und griff nach dem Telefon. Ich hörte ihn mit Kurlen sprechen. Dann legte er auf.

»Sie wissen, wo Sie ihn finden, Mr. Oberschlau?«

»Ja, weiß ich. Und danke für Ihre Hilfe, Officer Crimmins.«

»Man sieht sich.«

Um das letzte Wort zu behalten und sich sagen zu können, dass er es diesem Scheißanwalt doch noch gezeigt hatte, deutete er mit dem Finger auf mich wie mit einer Pistole. Ich wandte mich vom Schalter ab und ging zum Lift.

Im zweiten Stock erwartete mich Detective Howard Kurlen mit einem hinterfotzigen Grinsen.

»Und, Spaß gehabt da unten, Counselor?«

»Aber sicher.«

»Tja, hier oben kommen Sie leider zu spät.«

»Wieso? Haben Sie sie schon eingeliefert?«

Er breitete in einer scheinheiligen Tut-mir-leid-Geste die Hände aus.

»Echt komisch. Meine Partnerin hat sie gerade in dem Moment weggebracht, als der Anruf von unten kam.«

»Was für ein Zufall. Ich will trotzdem mit ihr reden.«

»Das müssen Sie mit dem Gefängnis klären.«

Das kostete mich wahrscheinlich eine zusätzliche Stunde Warten. Und das war der Grund, warum Kurlen grinste.

»Sie können Ihrer Partnerin nicht sagen, sie soll noch mal umdrehen und sie zurückbringen? Ich bräuchte nicht lange.«

Ich sagte es, obwohl ich es für reine Zeitverschwendung hielt. Aber Kurlen überraschte mich. Er zog sein Handy vom Gürtel und drückte eine Schnellwahltaste. Entweder nahm er mich auf den Arm, oder er tat tatsächlich, worum ich ihn gebeten hatte. Ich war für Kurlen kein Unbekannter. Wir waren schon bei einigen Gelegenheiten aufeinandergetroffen, und ich hatte mehr als einmal versucht, im Zeugenstand seine Glaubwürdigkeit zu untergraben. Auch wenn mir das nie besonders gut gelungen war, hatte es nicht zur Herzlichkeit unseres Verhältnisses beigetragen. Trotzdem tat er mir jetzt einen Gefallen, und mir war nicht klar, warum.

»Ich bin’s«, sagte Kurlen ins Telefon. »Bring sie wieder her.«

Er lauschte kurz.

»Weil ich es sage. Und jetzt bring sie schon endlich.«

Er klappte das Handy ohne ein weiteres Wort zu und sah mich an.

»Jetzt sind Sie mir was schuldig, Haller. Ich hätte Sie ein paar Stunden aufhalten können. Früher hätte ich das auch getan.«

»Ich weiß. Danke.«

Er ging zum Bereitschaftsraum zurück und winkte mir, ihm zu folgen.

»Als sie uns gesagt hat, dass wir Sie anrufen sollen«, ließ er beiläufig fallen, »hat sie erzählt, Sie würden sie wegen ihrer Zwangsversteigerung vertreten.«

»Das stimmt.«

»Meine Schwester hat sich scheiden lassen, und jetzt steckt sie in einer ähnlichen Klemme.«

Da hatten wir es. Das Quid pro quo.

»Möchten Sie, dass ich mit ihr rede?«

»Nein, ich will bloß wissen, ob es besser ist, sich dagegen zu wehren oder es einfach hinter sich zu bringen.«

Der Bereitschaftsraum sah aus, als wäre er in einer Zeitschleife. Stilechter Siebziger-Jahre-Retrolook. Linoleumboden, die Wände in zwei verschiedenen Gelbtönen gestrichen und graue Einheitsschreibtische mit Gummileisten an den Kanten. Kurlen blieb stehen, während er wartete, dass seine Partnerin mit meiner Mandantin zurückkam.

Ich zog eine Visitenkarte aus der Hosentasche und reichte sie ihm.

»Sie haben eine Kämpfernatur gefragt, deshalb ist das meine Antwort. Allerdings könnte ich den Fall wegen des Interessenkonflikts zwischen Ihnen und mir nicht selbst übernehmen. Aber sie kann gern in der Kanzlei anrufen, dann empfehlen wir sie an einen guten Kollegen weiter. Und sie soll sich unbedingt auf Sie beziehen.«

Kurlen nickte und nahm eine DVD-Hülle von seinem Schreibtisch und reichte sie mir.

»Dann sollte ich Ihnen vielleicht auch das noch mitgeben.«

Ich schaute auf die Diskette.

»Was ist das?«

»Die Vernehmung Ihrer Mandantin. Darauf ist deutlich zu sehen, dass wir sofort aufgehört haben, mit ihr zu reden, sobald sie die magischen Worte gesagt hat: Ich will einen Anwalt.«

»Das werde ich mir auf jeden Fall ansehen, Detective. Würden Sie mir vielleicht sagen, warum Sie sie verdächtigen?«

»Klar. Wir haben sie als Verdächtige eingestuft und werden auch Anklage gegen sie erheben, weil sie es war und die Tat in gewisser Weise auch schon zugegeben hat, bevor sie nach einem Anwalt verlangt hat. So leid es mir tut, aber wir haben uns an die Spielregeln gehalten.«

Ich hielt die DVD hoch, als wäre sie meine Mandantin.

»Soll das heißen, sie hat zugegeben, Bondurant umgebracht zu haben?«

»Nicht mit so vielen Worten. Aber sie hat Eingeständnisse und widersprüchliche Aussagen gemacht. Mehr will ich dazu mal nicht sagen.«

»Hat sie vielleicht mit so vielen Worten auch gesagt, warum sie es getan hat?«

»Das musste sie nicht. Das Opfer wollte ihr das Haus wegnehmen. Das reicht locker als Motiv. Was das angeht, haben wir keine Probleme.«

Ich hätte ihm sagen können, dass er da falschlag, weil ich gerade dabei war, die Zwangsversteigerung zu stoppen. Aber ich hielt den Mund. Meine Aufgabe war, Informationen zu sammeln, nicht zu verteilen.

»Was haben Sie sonst noch, Detective?«

»Nichts, was ich Ihnen im Moment verraten möchte. Was alles Weitere angeht, müssen Sie schon warten, bis Sie Akteneinsicht erhalten.«

»Das werde ich. Wurde der Fall schon einem DA zugeteilt?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Kurlen deutete mit dem Kopf ins hintere Ende des Raums, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie Lisa Trammel zur Tür eines Vernehmungszimmers geführt wurde. Sie hatte den typischen Reh-im-Autoscheinwerfer-Blick.

»Sie haben fünfzehn Minuten Zeit«, sagte Kurlen. »Und auch das nur, weil ich mal nett sein will. Ich halte es nicht für sinnvoll, uns gegenseitig zu bekriegen.«

Zumindest noch nicht, dachte ich, als ich auf das Vernehmungszimmer zuging.

»Halt, nicht so schnell«, rief mir Kurlen hinterher. »Ich muss Ihren Aktenkoffer kontrollieren. Sie wissen schon, Vorschrift.«

Er meinte den lederbezogenen Alukoffer, den ich bei mir hatte. Ich hätte dagegen einwenden können, dass die Durchsuchung gegen die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht verstieß, aber ich wollte mit meiner Mandantin sprechen. Ich ging zu Kurlen zurück, schwang den Aktenkoffer auf einen Schreibtisch und öffnete ihn. Er enthielt nur die Lisa-Trammel-Akte, einen neuen Notizblock und die Verträge und Vollmachten, die ich unterwegs ausgedruckt hatte. Ich nahm an, dass ich Lisa noch einmal alles neu unterschreiben lassen musste, da ich sie jetzt auch noch strafrechtlich zu vertreten hatte.

Kurlen warf einen kurzen Blick hinein und nickte zum Zeichen, dass ich ihn wieder schließen konnte.

»Italienisches Leder«, sagte er. »Richtig schick, wie so ein typischer Dealerkoffer. Sie haben sich doch hoffentlich nicht mit den falschen Leuten zusammengetan, Haller?«

Er setzte wieder dieses hinterfotzige Grinsen auf. Polizistenhumor war wirklich eine Sache für sich.

»Er hat übrigens tatsächlich einem Drogenkurier gehört«, sagte ich. »Ein Mandant. Aber da, wo er jetzt ist, braucht er ihn nicht mehr, deshalb habe ich ihn sozusagen in Zahlung genommen. Möchten Sie das Geheimfach sehen? Es ist allerdings ziemlich schwer zu öffnen.«

»Ich glaube, das sparen wir uns. Sie können jetzt zu ihr reingehen.«

Ich schloss den Koffer und ging wieder zum Vernehmungszimmer.

»Es ist übrigens kolumbianisches Leder«, sagte ich.

Kurlens Partnerin wartete an der Tür. Ich kannte sie nicht, stellte mich aber nicht vor. Wir würden kaum warm miteinander werden. Außerdem schätzte ich sie als die Sorte Cop ein, die mir den Handschlag verweigern würde, um bei Kurlen Eindruck zu schinden.

Sie hielt mir die Tür auf, und ich blieb auf der Schwelle stehen.

»Sämtliche Ton- und Bildaufzeichnungsgeräte in diesem Zimmer sind doch aus, oder?«

»Selbstverständlich.«

»Sollte dem nicht so sein, wäre das eine Verletzung der …«

»Wir wissen, wie so was gehandhabt wird.«

»Schon, aber praktischerweise vergessen Sie es manchmal, oder nicht?«

»Jetzt haben Sie noch vierzehn Minuten, Sir. Wollen Sie mit ihr reden oder weiter mit mir?«

»Alles klar.«

Ich ging nach drinnen, und die Tür wurde hinter mir geschlossen. Das Zimmer war zwei auf drei Meter groß. Ich sah Lisa an und legte den Finger an die Lippen.

»Wie bitte?«, fragte sie verständnislos.

»Lisa, das heißt: Sagen Sie kein Wort, solange ich Sie nicht dazu auffordere.«

Ihre Reaktion darauf war, in einen Schwall Tränen und ein lautes, lang gezogenes Heulen auszubrechen, das in einen unverständlichen Satz überging. Sie saß an einem quadratischen Tisch. Ich setzte mich rasch auf den freien Stuhl, der ihr gegenüberstand, und legte meinen Aktenkoffer auf den Tisch. Ich wusste, dass sie die Detectives ganz bewusst so hatten Platz nehmen lassen, damit sie in die versteckte Kamera schaute. Deshalb machte ich mir erst gar nicht die Mühe, danach Ausschau zu halten. Ich klappte den Koffer auf und zog ihn in der Hoffnung, mein Rücken würde ihn vor der Kamera abschirmen, ganz nah an meinen Körper. Ich musste davon ausgehen, dass Kurlen und seine Partnerin uns belauschten und beobachteten. Ein weiterer Grund für seine »Nettigkeit«. Während ich mit der rechten Hand den Notizblock und meine Unterlagen herausnahm, öffnete ich mit der linken das Geheimfach des Koffers. Ich drückte den Einschaltknopf des Paquin 2000 Audioblockers. Das Gerät sendete ein niederfrequentes Funksignal aus, das jede Abhörvorrichtung in einem Umkreis von acht Metern mit elektronischer Desinformation blockierte. Wenn uns Kurlen und seine Partnerin unerlaubterweise zu belauschen versuchten, würden sie nur Rauschen hören.

Der Koffer mit dem eingebauten Gerät war fast zehn Jahre alt, und soviel ich wusste, war sein ursprünglicher Besitzer noch im Gefängnis. Ich hatte ihn vor mindestens sieben Jahren in Zahlung genommen, als meine Haupteinkommensquelle Drogenfälle waren. Ich wusste, dass die Exekutive immer bessere Mausefallen zu bauen versuchte und elektronische Abhörmaßnahmen in den letzten zehn Jahren wahrscheinlich mindestens zwei Revolutionen erlebt hatten. Deshalb war ich mir meiner Sache nicht ganz sicher. Ich müsste mit meinen Äußerungen vorsichtig sein und hoffte, meine Mandantin wäre es ebenfalls.

»Lisa, wir werden hier nicht so wahnsinnig viel reden, weil wir nicht wissen, wer alles zuhört. Verstehen Sie?«

»Ich glaube schon. Aber was soll das alles? Ich verstehe nicht, was das alles soll!«

Ihre Stimme war im Lauf des Satzes kontinuierlich lauter geworden, und das letzte Wort schrie sie geradezu. Dieses emotionale Sprechmuster kannte ich bereits von einigen Telefonaten mit ihr, in denen es nur um die Zwangsversteigerung gegangen war. Jetzt stand mehr auf dem Spiel, und ich musste dem ein Ende setzen.

»Damit ist ab sofort Schluss, Lisa«, erklärte ich bestimmt.

»Sie schreien mich nicht an. Haben Sie verstanden? Wenn ich Sie in dieser Sache vertreten soll, schreien Sie mich nicht an.«

»Okay, Entschuldigung, aber die behaupten, ich hätte etwas getan, was ich nicht getan habe.«

»Ich weiß, und dagegen werden wir uns wehren. Aber mit diesem Geschrei ist ab sofort Schluss.«

Weil sie Lisa zurückgebracht hatten, bevor der Einlieferungsprozess begonnen hatte, war sie noch in ihren eigenen Kleidern. Sie trug ein weißes T-Shirt mit einem Blütenmuster auf der Brust. Ich sah weder darauf noch sonst irgendwo Blut. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, ihr lockiges braunes Haar zerzaust. Sie war eine zierliche Frau, und im grellen Licht des Vernehmungszimmers sah sie noch zerbrechlicher aus.

»Ich muss Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen«, begann ich.

»Wo waren Sie, als die Polizei Sie gefunden hat?«

»Ich war zu Hause. Warum tun die mir das an?«

»Lisa, jetzt hören Sie gut zu. Sie müssen sich beruhigen und mich die Fragen stellen lassen. Das ist sehr wichtig.«

»Aber was soll das alles? Kein Mensch sagt mir etwas. Sie haben gesagt, ich wäre wegen Mordes an Mitchell Bondurant verhaftet. Wann und wie soll ich das gemacht haben? Ich bin doch gar nicht in seine Nähe gekommen. Ich habe nicht gegen die einstweilige Verfügung verstoßen.«

Ich merkte, es wäre besser gewesen, mir vor unserem Gespräch Kurlens DVD anzusehen. Aber es war ganz normal, dass man in einem solchen Fall erst mal im Nachteil war.

»Lisa, man hat Sie tatsächlich wegen Mordes an Mitchell Bondurant verhaftet. Detective Kurlen – das ist der Mann – hat mir gesagt, Sie hätten ihnen gegenüber gewisse Eingeständnisse ge…«

Mit einem lauten Aufheulen riss sie die Hände an ihr Gesicht. Ich sah, dass man ihr Handschellen angelegt hatte. Ein neuer Tränenschwall setzte ein.

»Ich habe nichts zugegeben! Ich habe nichts getan!«

»Beruhigen Sie sich, Lisa. Darum bin ich hier. Um Sie zu verteidigen. Aber im Moment haben wir nicht viel Zeit. Nur zehn Minuten, dann liefern sie Sie ein. Ich muss …«

»Ich komme ins Gefängnis?«

Ich nickte widerstrebend.

»Und wenn ich eine Kaution hinterlege?«

»Bei einem Mord ist es sehr schwer, gegen Kaution freigelassen zu werden. Und selbst wenn ich es irgendwie arrangieren könnte, haben Sie nicht die …«

Ein weiteres durchdringendes Heulen füllte den winzigen Raum. Mir riss der Geduldsfaden.

»Lisa! Lassen Sie das endlich! Und jetzt hören Sie gefälligst zu. Hier steht Ihr Leben auf dem Spiel, ja? Sie müssen sich beruhigen und mir zuhören. Ich bin Ihr Anwalt und werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Sie hier rauszuholen, aber das wird etwas dauern. Und jetzt hören Sie sich meine Fragen an und versuchen, sie so gut wie möglich zu beant…«

»Und was ist mit meinem Sohn? Was soll aus Tyler werden?«

»Eine Mitarbeiterin setzt sich mit Ihrer Schwester in Verbindung. Wir kümmern uns darum, dass er bei ihr bleiben kann, bis wir Sie hier rausgeholt haben.«

Ich hütete mich, hinsichtlich ihrer Freilassung eine drastischere Formulierung zu verwenden. Bis wir Sie hier rausgeholt haben. Das konnte Tage, Wochen oder sogar Jahre dauern. Vielleicht würde es auch nie dazu kommen. Aber ich brauchte mich ja nicht festzulegen.

Lisa nickte, als hätte die Gewissheit, dass ihr Sohn bei ihrer Schwester unterkäme, etwas Tröstliches.

»Was ist mit Ihrem Mann? Haben Sie eine Nummer, unter der er zu erreichen ist?«

»Nein. Ich weiß nicht, wo er ist, und ich möchte auch nicht, dass Sie Kontakt mit ihm aufnehmen.«

»Nicht einmal wegen Ihres Sohns?«

»Vor allem nicht wegen meines Sohns. Meine Schwester wird sich um ihn kümmern.«

Ich nickte und beließ es dabei. Das war nicht der Zeitpunkt, um sie nach ihrer gescheiterten Ehe zu fragen.

»Okay, und jetzt ganz ruhig. Lassen Sie uns über heute Morgen reden. Ich habe zwar die DVD mit Ihrer Einvernahme von den Detectives bekommen, aber ich möchte lieber selbst noch mal über alles mit Ihnen sprechen. Sie haben gesagt, Sie waren zu Hause, als Detective Kurlen und seine Partnerin zu Ihnen gekommen sind. Was haben Sie in diesem Moment gemacht?«

»Ich war … ich habe am Computer gesessen. Mails schreiben.«

»Aha. An wen?«

»An meine Freunde. An Leute von FLAG. Ich habe ihnen geschrieben, dass wir uns morgen um zehn vor dem Gericht treffen und dass sie die Transparente mitbringen sollen.«

»Okay. Und als die Detectives aufgetaucht sind, was genau haben sie zu Ihnen gesagt?«

»Geredet hat nur der Mann. Er …«

»Kurlen.«

»Ja. Er ist reingekommen und hat mich Verschiedenes gefragt. Dann hat er gefragt, ob ich was dagegen hätte, auf die Wache mitzukommen und ihnen dort eine Reihe von Fragen zu beantworten. Und als ich wissen wollte, weshalb, hat er gesagt, wegen Mitch Bondurant. Aber dass er tot ist und sogar umgebracht worden ist, darüber hat er kein Wort gesagt. Deshalb habe ich eingewilligt. Ich dachte, die Polizei würde endlich doch noch gegen ihn ermitteln. Ich wusste ja nicht, dass sie gegen mich ermitteln.«

»Und hat Sie Kurlen auf Ihre Rechte aufmerksam gemacht: dass Sie zum Beispiel nicht mit ihm sprechen müssten und einen Anwalt verlangen könnten?«

»Ja, es war wie im Fernsehen. Er hat mich auf meine Rechte aufmerksam gemacht.«

»Wann genau?«

»Als wir schon hier waren, als er mir gesagt hat, dass ich verhaftet bin.«

»Sind Sie mit ihm hierhergefahren?«

»Ja.«

»Und haben Sie im Auto mit ihm gesprochen?«

»Nein, er hat fast die ganze Fahrt über telefoniert. Er hat Dinge gesagt wie ›Ich habe sie dabei‹ und so.«

»Haben sie Ihnen Handschellen angelegt?«

»Im Auto? Nein.«

Clever von Kurlen. Damit sie keinen Verdacht schöpfte und er sie so weich bekam, dass sie sich bereit erklärte, mit ihm zu reden, hatte er riskiert, mit einer Mordverdächtigen im Auto zu sitzen, ohne ihr Handschellen anzulegen. Eine bessere Mausefalle konnte man nicht bauen. Außerdem ermöglichte es der Anklage, sich darauf zu berufen, dass Lisa zu diesem Zeitpunkt noch nicht verhaftet gewesen war und ihre Aussagen deshalb freiwillig gemacht hatte.

»Dann wurden Sie also hierhergebracht, und Sie haben sich bereit erklärt, mit ihm zu reden?«

»Ja. Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie mich festnehmen wollten. Ich dachte, ich sollte ihnen bei ihren Ermittlungen helfen.«

»Aber Kurlen hat Ihnen nicht gesagt, was das für Ermittlungen waren?«

»Nein, mit keinem Wort. Nicht, bis er gesagt hat, ich wäre verhaftet und dass ich einen Anruf machen könnte. Dann haben sie mir auch Handschellen angelegt.«

Kurlen hatte einige der ältesten Tricks aus der Trickkiste gezogen, aber sie waren genau deshalb noch in der Trickkiste, weil sie funktionierten. Um mir Klarheit zu verschaffen, was genau Lisa – wenn überhaupt – den Detectives gegenüber zugegeben hatte, musste ich mir die DVD ansehen. Hätte ich sie jetzt, in ihrem aufgelösten Zustand, danach gefragt, wäre das nicht die beste Nutzung meiner begrenzten Zeit gewesen. Wie um diesen Gedanken zu unterstreichen, ertönte unvermutet ein schroffes Klopfen, gefolgt von einer gedämpften Stimme, die mich darauf hinwies, dass ich noch zwei Minuten hätte.

»Also gut, Lisa, ich werde mich der Sache annehmen. Zunächst müssen Sie mir allerdings ein paar Dinge unterschreiben. Zuallererst einen neuen Vertrag, der auch Ihre strafrechtliche Verteidigung einbezieht.«

Ich schob ihr das einseitige Dokument zu und legte einen Stift darauf. Sie begann, es zu überfliegen.

»So viel Honorar?«, sagte sie. »Hunderttausend Dollar für einen Prozess? Das kann ich Ihnen unmöglich zahlen. So viel Geld habe ich nicht.«

»Das ist das Standardhonorar, und es ist nur fällig, wenn es zum Prozess kommt. Und was die Frage angeht, wie viel Sie zahlen können: Dafür sind die anderen Schriftstücke da. Dieses hier überträgt mir die Anwaltsvollmacht und ermöglicht mir, Buch- und Filmrechte und was sich sonst an Einkommensmöglichkeiten aus dem Fall ergibt zu akquirieren. Ich habe einen Agenten, mit dem ich in solchen Fällen zusammenarbeite. Wenn irgendwelche seriösen Angebote eingehen, leitet er die nötigen Schritte in die Wege. Der letzte Vertrag sichert mir das Pfandrecht auf jegliche derartigen Einkünfte zu; das heißt, die Verteidigung wird als Erste entschädigt.«

Ich wusste, dass der Fall für Aufsehen sorgen würde. Die Zwangsversteigerungsepidemie war zurzeit die größte finanzielle Katastrophe des Landes. Deshalb sprang dabei vielleicht ein Buch, wenn nicht sogar ein Film heraus, sodass ich am Ende doch zu meinem Geld käme.

Sie griff nach dem Stift und unterzeichnete die Dokumente, ohne sie zu lesen. Ich nahm sie wieder an mich und packte sie weg.

»So, Lisa. Was ich Ihnen jetzt sage, ist der wichtigste Rat überhaupt. Deshalb hören Sie mir bitte genau zu und sagen Sie mir zum Schluss, ob Sie alles verstanden haben.«

»Okay.«

»Sprechen Sie mit niemandem über diese Sache. Mit niemandem außer mit mir. Mit keinem Polizisten, keinem Gefängniswärter, keinem Mitgefangenen. Sprechen Sie nicht einmal mit Ihrer Schwester oder Ihrem Sohn darüber. Jedes Mal, wenn Sie jemand danach fragt – und glauben Sie mir, man wird Sie danach fragen –, sagen Sie einfach, Sie dürfen nicht über Ihren Fall sprechen.«

»Aber ich habe doch gar nichts getan. Ich bin unschuldig! Nichts sagen nur die Leute, die schuldig sind.«

Ich hob mahnend den Finger.

»Nein, da täuschen Sie sich, Lisa, und ich habe den Eindruck, dass Sie nicht ernst nehmen, was ich sage.«

»Nein, das stimmt nicht, das tue ich sehr wohl.«

»Dann tun Sie auch, was ich Ihnen sage. Reden Sie mit niemandem. Und das gilt auch für das Telefon im Gefängnis. Alle Telefongespräche werden aufgezeichnet, Lisa. Sprechen Sie auf keinen Fall am Telefon über diese Sache, auch nicht mit mir.«

»Schon gut, schon gut. Ich habe verstanden.«

»Wenn Sie meinen, Ihnen ist wohler bei der Sache, können Sie ja alle Fragen so beantworten: ›Ich bin in allen Anklagepunkten unschuldig, aber auf Anraten meines Anwalts werde ich mich nicht zu dem Fall äußern.‹ Wäre das okay für Sie?«

»Doch, ich glaube schon.«

Die Tür ging auf, und Kurlen stand da. Sein argwöhnischer Blick verriet mir, dass es gut gewesen war, den Paquin-Blocker mitzunehmen. Ich sah wieder Lisa an.

»So, Lisa, bevor es gut wird, wird es erst mal schlecht. Halten Sie also die Ohren steif und befolgen Sie die goldene Regel. Kein Wort zu niemand.«

Ich stand auf.

»Das nächste Mal werden wir uns wiedersehen, wenn Sie zum ersten Mal einem Richter vorgeführt werden. Dann können wir uns auch ausführlicher unterhalten. Und jetzt gehen Sie mit Detective Kurlen.«

4

Am nächsten Morgen wurde Lisa Trammel zum ersten Mal dem Los Angeles Superior Court vorgeführt. Die Anklage lautete auf Mord ersten Grades, und da die Staatsanwaltschaft als erschwerende Umstände aufgeführt hatte, dass sie dem Opfer aufgelauert hatte, musste sie mindestens mit einer lebenslangen Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung, wenn nicht sogar mit der Todesstrafe rechnen. Letztere setzte die Anklage als Druckmittel ein. Mir war klar, dass die Staatsanwaltschaft die Sache am liebsten mit einer Verständigung im Strafverfahren, einem sogenannten »Deal«, aus der Welt geschafft hätte, bevor die Sympathien der Öffentlichkeit zugunsten der Angeklagten umschlugen. Welche bessere Möglichkeit, dies zu erreichen, hätte es gegeben, als der Angeklagten mit »lebenslänglich« oder gar der Todesstrafe zu drohen?

Der Gerichtssaal war voll von Medienvertretern sowie FLAG-Mitgliedern und Sympathisanten. Über Nacht hatte sich in Windeseile herumgesprochen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft der Ansicht waren, der Auslöser für die Ermordung des Bankers könnte eine drohende Zwangsversteigerung gewesen sein. Das verlieh der landesweiten Finanzmisere eine blutrünstige Note, und das sorgte für ein volles Haus.

Nach fast vierundzwanzig Stunden im Gefängnis hatte sich Lisa merklich beruhigt. Sie stand abwesend im Sicherheitsbereich für die Angeklagten und wartete auf ihre zweiminütige Anhörung. Zuerst versicherte ich ihr, dass sich ihre Schwester um ihren Sohn kümmern würde, und dann, dass Haller and Associates alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um ihr die denkbar beste und effektivste Verteidigung zukommen zu lassen. Ihre vordringlichste Sorge war, aus dem Gefängnis zu kommen, um sich um ihren Sohn kümmern und ihr Anwälteteam unterstützen zu können.

Auch wenn die Anhörung in erster Linie nur der offiziellen Bestätigung der Anklagepunkte diente und das juristische Verfahren eröffnete, bot sie auch eine Gelegenheit, einen Antrag auf Haftbefreiung zu stellen. Und genau das hatte ich vor, denn meine Devise war, nichts unversucht und keinen strittigen Punkt unangefochten zu lassen. Hinsichtlich des Ausgangs war ich jedoch pessimistisch. Laut Gesetz musste eine Kaution festgesetzt werden. Tatsache war jedoch, dass sich in Mordfällen die Kaution in der Regel im siebenstelligen Bereich bewegte und somit für Normalsterbliche unerschwinglich war. Meine Mandantin war eine arbeitslose alleinerziehende Mutter mit einem zur Zwangsversteigerung ausgeschriebenen Haus. Eine Kaution in Millionenhöhe bedeutete, dass Lisa nicht aus dem Gefängnis kommen würde.

Um den Medien entgegenzukommen, hatte Richter Stephen Fluharty den Fall Trammel ganz oben auf die Liste der Anhörungen gesetzt. Staatsanwältin Andrea Freeman, die dem Fall zugeteilt worden war, verlas die Anklagepunkte, und der Richter beraumte die erste Verhandlung für die kommende Woche an. Bis dahin würde Trammel nichts gegen die Anschuldigungen vorbringen. Die Routineprozeduren waren rasch erledigt, und Fluharty wollte schon eine kurze Pause ansetzen, damit die Medien ihr Equipment zusammenpacken und den Saal verlassen konnten, als ich ihn unterbrach und den Antrag stellte, eine Kaution für meine Mandantin festzusetzen. Der zweite Grund für diese Maßnahme war, dass ich sehen wollte, wie die Anklage darauf reagieren würde. Hin und wieder hatte ich Glück, und der Staatsanwalt verriet etwas über die Beweislage oder seine Prozessstrategie, wenn er für eine hohe Kaution plädierte.

Aber Freeman war zu vorsichtig, um diesen Fehler zu begehen. Sie führte an, Lisa Trammel sei eine Gefahr für die Allgemeinheit und solle in Haft verbleiben, bis das Verfahren weiter gediehen sei. Sie machte geltend, das Opfer der Straftat sei nicht die einzige Person, die an der Zwangsversteigerung von Lisa Trammels Haus beteiligt sei, sondern nur ein Glied einer Kette. Würde Trammel von der Haft befreit, könnten andere Personen oder Einrichtungen in dieser Kette gefährdet werden.

Das war nichts großartig Neues. Von Anfang an hatte alles darauf hingedeutet, dass die Anklage die Zwangsversteigerung als das Motiv für die Ermordung Mitchell Bondurants anführen würde. Freeman sagte gerade genug, um die Ablehnung einer Kaution überzeugend zu begründen, und verriet zugleich wenig über die Strategie, die sie beim Prozess befolgen würde. Sie war gut, und wir waren schon in mehreren Verfahren gegeneinander angetreten. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich jedes Mal verloren.

Als ich an die Reihe kam, führte ich an, es gebe keine Anzeichen, geschweige denn Beweise, dass Trammel eine Gefahr für die Allgemeinheit sei oder dass ein Fluchtrisiko bestehe. In Ermangelung solcher Beweise könne der Richter der Mandantin eine Kaution nicht verwehren.

Fluharty fällte ein salomonisches Urteil. Er kam der Verteidigung entgegen, indem er die Festsetzung einer Kaution verfügte, und verhalf der Anklage zu einem kleinen Sieg, indem er sie auf zwei Millionen Dollar festsetzte. Das lief darauf hinaus, dass sich nichts an Lisas Situation ändern würde. Sie bräuchte zwei Millionen in Sicherheiten oder einen Kautionsbürgen. Ihr zehnprozentiger Anteil an der Bürgschaft würde sie zweihunderttausend Dollar in bar kosten, und das war utopisch. Sie würde im Gefängnis bleiben.

Schließlich setzte der Richter eine Pause an, und das verhalf mir zu ein paar zusätzlichen Minuten mit Lisa, bevor sie von den Deputys aus dem Saal gebracht wurde. Während die Journalisten abzogen, schärfte ich ihr noch einmal rasch ein, den Mund zu halten.

»Jetzt, wo sich die Medien auf den Fall stürzen werden, ist das sogar noch wichtiger, Lisa. Möglicherweise werden sie versuchen, im Gefängnis Kontakt mit Ihnen aufzunehmen – entweder direkt oder über andere Häftlinge oder über Besucher, von denen Sie glauben, Sie könnten ihnen vertrauen. Deshalb, immer daran denken …«

»Kein Wort zu niemand. Schon klar.«