Zwei Wahrheiten - Michael Connelly - E-Book

Zwei Wahrheiten E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Seit er zwei Jahre zuvor vom LAPD zwangspensioniert wurde, arbeitet Harry Bosch als Freiwilliger für das unterfinanzierte San Fernando Police Department im Los Angeles County. In einer zum Büro umfunktionierten Zelle voller Aktenberge löst er ungeklärte Fälle. Als in einer Apotheke zwei Mitarbeiter, Vater und Sohn, erschossen werden, wird Bosch an den Tatort gerufen. Alles deutet auf einen Rachemord hin. Bosch und seine Kollegin Bella Lour­des nehmen die Ermittlungen auf – und stoßen auf eine Pill Mill, eine Klinik, die illegale Betäubungsmittel und verschreibungspflichtige Medikamente verkauft. Zur selben Zeit wird beim LAPD ein alter Fall neu aufgerollt. Der verurteilte Mörder Preston Borders, der seit dreißig Jahren in der Todeszelle sitzt, erhebt schwere Vorwürfe: Bosch soll bei seinen Ermittlungen Beweise gegen ihn gefälscht haben. Für Bosch beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Ihm bleiben neun Tage bis zur Anhörung, und er muss neue Beweise finden – um seinen Ruf zu schützen und einen Mörder hinter Gittern zu halten.

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Michael Connelly

Zwei Wahrheiten

Der 20. Fall für Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für Heather Rizzo

Danke für den Titel und alles andere.

Teil 1Die Capper

1

Bosch sah gerade in Zelle 3 des alten Gefängnisses von San Fernando die Akten aus einer der Schachteln für den Fall Esme Tavares durch, als eine Textnachricht von Bella Lourdes drüben im Detective Bureau einging.

LAPD und D.A. kommen zu dir rüber. Trevino hat ihnen gesagt, wo du bist.

Bosch war da, wo er am Wochenanfang meistens war: an seinem provisorischen Schreibtisch, einer Holztür, die er sich im Bauhof geborgt und auf zwei Stapel aus Aktenschachteln gelegt hatte. Nachdem er Lourdes ein kurzes Danke geschickt hatte, öffnete er die Notizen-App und aktivierte die Aufnahmefunktion. Er legte das Handy mit dem Display nach unten auf den Schreibtisch und verdeckte es zum Teil mit einer Akte aus der Tavares-Schachtel. Für alle Fälle. Er hatte keine Ahnung, was die Staatsanwaltschaft und das Los Angeles Police Department, sein alter Arbeitgeber, an einem Montagmorgen schon in aller Frühe von ihm wollen könnten. Sie hatten nicht angerufen, um ihren Besuch anzukündigen. Fairerweise musste er zugeben, dass der Handyempfang hinter den Gitterstäben der Zelle praktisch gleich null war. Allerdings hatte so ein Überraschungsbesuch oft taktische Gründe. Nach Boschs Zwangspensionierung vor drei Jahren war sein Verhältnis zum LAPD, gelinde gesagt, angespannt, und sein Anwalt hatte ihm dringend geraten, zu seiner Absicherung alle Interaktionen mit der Polizei zu dokumentieren.

Während er auf seine Besucher wartete, befasste er sich mit der Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Er las die Aussagen durch, die in den Wochen nach Tavares’ Verschwinden zu Protokoll genommen worden waren. Er kannte sie bereits, glaubte aber, dass der Schlüssel für die Lösung eines alten Falls oft in den Ermittlungsakten zu finden war. Es war alles da, man musste es nur finden. Eine logische Diskrepanz, ein versteckter Hinweis, eine widersprüchliche Aussage, ein handschriftlicher Vermerk eines Ermittlers am Seitenrand – lauter Dinge, die Bosch in seinen mehr als vierzig Jahren bei der Polizei immer wieder bei der Aufklärung von Fällen geholfen hatten.

Obwohl Esme Tavares offiziell bloß als vermisst galt – was nur daran lag, dass nie eine Leiche aufgetaucht war –, hatten sich in den letzten fünfzehn Jahren drei Schachteln mit Akten zu dem Fall angesammelt.

Als Bosch zum San Fernando Police Department gestoßen war, um dort ehrenamtlich kalte Fälle zu bearbeiten, hatte ihm Chief Anthony Valdez, der schon fünfundzwanzig Jahre im Polizeidienst war, vor allem den Fall Esmeralda Tavares ans Herz gelegt; er meinte, er habe ihn schon damals als Ermittler nicht losgelassen und jetzt könne er sich als Polizeichef nicht mehr in dem Umfang damit beschäftigen, in dem er es gern täte.

In den zwei Jahren, die Bosch inzwischen Teilzeit in San Fernando arbeitete, hatte er eine ganze Reihe von Fällen neu aufgerollt und beinahe ein Dutzend davon aufgeklärt – darunter auch Serienvergewaltigungen und -morde. Auf Esme Tavares kam er immer dann zurück, wenn er ein paar Stunden Zeit fand, um ihre Akte durchzugehen. Inzwischen ließ der Fall auch ihn nicht mehr los. Eine junge Mutter, die spurlos verschwunden war und ein schlafendes Baby in seinem Bettchen zurückgelassen hatte. Auch wenn sie weiterhin nur als »vermisst« galt, war Bosch bald klar geworden, was für den Chief und alle Ermittler, die sich vor ihm mit dem Fall befasst hatten, längst Gewissheit war. Esme Tavares war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur vermisst, sondern tot.

Bosch hörte, wie die Tür zum Gefängnistrakt aufging und über den Betonboden vor den drei Gemeinschaftszellen Schritte näher kamen. Er traute kaum seinen Augen, als er sah, wer kurz darauf hinter den Gitterstangen auftauchte.

»Hallo, Harry.«

Es war seine ehemalige Partnerin Lucia Soto, die von zwei ihm unbekannten Männern in Anzügen begleitet wurde. Der Umstand, dass sie ihren Besuch nicht angekündigt hatte, verhieß jedoch nichts Gutes. Vom LAPD-Hauptquartier und vom D.A.’s Office Downtown waren es vierzig Minuten Fahrt nach San Fernando. Sie hätte also genügend Zeit gehabt, um ihm eine Nachricht zu schicken: Harry, wir kommen gleich bei dir vorbei. Daher nahm er an, dass ihr ihre zwei Begleiter einen Maulkorb angelegt hatten.

»Lange nicht mehr gesehen, Lucia«, sagte Bosch. »Wie geht’s, Partner?«

Es sah nicht so aus, als wollte einer von den dreien in Boschs Zelle kommen, selbst wenn sie nicht mehr als solche verwendet wurde. Er stand auf, fischte geschickt das Handy unter der Akte hervor und steckte es so in seine Hemdtasche, dass das Display seiner Brust zugewandt war. Er ging ans Gitter und streckte seine Hand hindurch. In den letzten zwei Jahren hatte er zwar immer wieder telefonisch oder per Textnachricht mit Soto kommuniziert, sich aber nie mit ihr getroffen. Ihr Aussehen hatte sich verändert. Sie hatte abgenommen und sah müde und ausgelaugt aus, ihre dunklen Augen wirkten bekümmert. Sie drückte seine Hand mehr, als dass sie sie schüttelte, und er fasste ihren festen Händedruck als Warnung auf: Sei vorsichtig.

Bosch konnte sich bereits denken, wer von den zwei Männern wer war. Beide waren Anfang vierzig und trugen Anzüge von der Stange, wahrscheinlich von Men’s Wearhouse. Das Nadelstreifenjackett des linken Mannes wirkte von innen abgenutzt. Das konnte nur heißen, dass er darunter ein Schulterholster trug und die scharfe Kante des Schlittens seiner Waffe ausgiebig am Stoff geschabt hatte. Das Seidenfutter war vermutlich schon ganz durchgewetzt. In einem halben Jahr würde er den Anzug wegwerfen können.

»Bob Tapscott«, stellte er sich vor. »Lucky Lucys neuer Partner.«

Tapscott war schwarz, und Bosch fragte sich, ob er mit Horace Tapscott verwandt war, dem verstorbenen Musiker aus South L.A., der sich sehr für die Erhaltung der dortigen Jazzszene eingesetzt hatte.

»Und ich bin Deputy District Attorney Alex Kennedy«, sagte der zweite Mann. »Wir würden gern mit Ihnen sprechen, wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten.«

»Aber klar doch«, sagte Bosch. »Kommen Sie in mein Büro.«

Er deutete auf die Umrisse der ehemaligen Gefängniszelle, die jetzt mit metallenen Aktenregalen ausgestattet war. Von ihrem früheren Dasein als Ausnüchterungszelle zeugte nur noch die lange Sitzbank an einer Wand. Um Platz für seine Besucher zu schaffen, machte sich Bosch daran, die darauf ausgebreiteten Akten aufeinanderzustapeln. Er war allerdings ziemlich sicher, dass sie sich nicht setzen würden.

»Wir haben schon mit Captain Trevino gesprochen«, sagte Tapscott. »Er hat uns angeboten, die Einsatzzentrale drüben im Detective Bureau zu benutzen. Dort ist es etwas komfortabler. Einverstanden?«

»Meinetwegen gern, wenn der Captain nichts dagegen hat«, sagte Bosch. »Worum geht es überhaupt?«

»Preston Borders«, sagte Soto.

Der Name ließ Bosch, der bereits auf die offene Tür der Zelle zusteuerte, kurz innehalten.

»Gehen wir erst mal nach drüben«, sagte Kennedy rasch. »Dann können wir reden.«

Soto bedachte Bosch mit einem Blick, der ihm zu vermitteln schien, dass in dieser Angelegenheit der D.A. das Sagen hatte. Bosch nahm seine Schlüssel und ein Vorhängeschloss vom Schreibtisch, verließ die Zelle und schob die Metalltür mit einem lauten Scheppern zu. Da der Schlüssel für die Zelle schon lange verschwunden war, schlang Bosch eine Fahrradkette um die Gitterstäbe und sicherte sie mit dem Vorhängeschloss.

Sie verließen das alte Gefängnis und gingen über den Bauhof zur First Street. Während sie auf eine Lücke im Verkehr warteten, zog Bosch beiläufig das Handy aus seiner Tasche und schaute, ob irgendwelche Nachrichten eingegangen waren. Vor dem Eintreffen der Truppe aus Downtown hatte er weder von Soto noch sonst jemandem eine erhalten. Er ließ die Sprachaufnahme weiterlaufen und steckte das Handy wieder ein.

Soto wandte sich an ihn, aber nicht wegen des Falls, der sie nach San Fernando geführt hatte.

»Ist das wirklich dein Büro, Harry?«, fragte sie. »Haben sie dich wirklich in einer Arrestzelle untergebracht?«

»Ja«, sagte Bosch. »Das war mal die Ausnüchterungszelle, und manchmal bilde ich mir ein, immer noch die Kotze riechen zu können, wenn ich sie am Morgen aufschließe. Angeblich haben sich dort im Lauf der Jahre fünf oder sechs Typen erhängt, weshalb es dort auch spuken soll. Aber weil sie die Akten der kalten Fälle in der Zelle aufbewahren, ist sie auch mein Arbeitsplatz. Die alten Beweismittelschachteln sind in den anderen beiden Zellen eingelagert. Ich komme also schnell an alles ran. Und normalerweise stört mich dort auch niemand.«

Er hoffte, seine Besucher verstanden, was er damit meinte.

»Haben sie hier denn gar kein Gefängnis?«, fragte Soto. »Bringen sie alle Verhafteten nach Van Nuys?«

Bosch deutete über die Straße auf die Polizeistation, zu der sie unterwegs waren.

»Nach Van Nuys kommen nur die Frauen«, sagte er. »Aber ein Männergefängnis haben wir. In der Station. Richtig gemütliche Einzelzellen. Ein paarmal habe ich schon in einer übernachtet. Deutlich besser als der Schlafraum im Police Administration Building, wo alle schnarchen.«

Der Blick, den sie ihm zuwarf, schien zu sagen, dass er sich verändert haben musste, wenn er bereit war, in einer Gefängniszelle zu schlafen. Er zwinkerte und sagte: »Ich kann überall arbeiten, und ich kann überall schlafen.«

Als sich im Verkehr eine Lücke auftat, überquerten sie die Straße und betraten die Station durch den Haupteingang. Zum Detective Bureau gab es auf der rechten Seite einen direkten Zugang. Bosch öffnete die Tür mit einem Kartenschlüssel und hielt sie den anderen auf.

Der Raum dahinter war nicht größer als eine Einzelgarage. In seiner Mitte befanden sich eng aneinandergerückt drei Arbeitsplätze. Sie gehörten den Vollzeit-Detectives: Danny Sisto, Oscar Luzon, der vor Kurzem zum Detective befördert worden war, und Bella Lourdes, die erst seit zwei Monaten wieder zurück war, weil sie im Einsatz verletzt und deshalb für längere Zeit beurlaubt worden war. Die Wände des Raums waren gesäumt von Aktenschränken, einer Ladestation für die Funkgeräte, einem Tisch mit einer Kaffeemaschine und einer Druckerstation, über der mehrere Anschlagtafeln mit Dienstplänen und Bekanntmachungen angebracht waren. Außerdem hingen dort zahlreiche Steckbriefe von gesuchten oder vermissten Personen, darunter auch mehrere von Esme Tavares, die alle aus den letzten fünfzehn Jahren stammten.

Ganz oben an der Wand war ein Poster von Donald Ducks Neffen Tick, Trick und Track, von denen die drei hier arbeitenden Detectives ihre Spitznamen hatten. Captain Trevinos Büro befand sich rechts von dem Büro, die Einsatzzentrale links. In einem dritten, an die Rechtsmedizin untervermieteten Raum waren zwei von deren Ermittlern untergebracht, die für das ganze San Fernando Valley und alle Bereiche nördlich davon zuständig waren.

Alle drei Detectives saßen an ihren Schreibtischen. Sie hatten vor Kurzem einen großen Autodiebe-Ring aus L.A. ausgehoben und waren vom Anwalt eines der Verdächtigen spöttisch als Tick, Trick und Track bezeichnet worden. Doch sie fassten ihre Spitznamen als Auszeichnung auf.

Bosch sah Lourdes über die Trennwand ihres Arbeitsplatzes linsen und nickte ihr zum Dank für die Warnung zu. Außerdem gab er ihr damit zu verstehen, dass bisher alles okay war.

Bosch führte die Besucher in die Einsatzzentrale. Die Wände des schalldichten Raums waren mit Whiteboards und Flachbildschirmen bepflastert. In der Mitte stand ein Konferenztisch mit acht Lederstühlen. Der Raum war als Befehlsstelle für größere Ermittlungsverfahren, Einsätze von Spezialeinheiten und Gegenmaßnahmen bei Naturkatastrophen oder Unruhen gedacht. Da solche Vorfälle jedoch eher selten waren, wurde der Raum mit seinem großen Tisch und den bequemen Stühlen vorwiegend als Aufenthaltsraum genutzt. Entsprechend stark roch es dort nach mexikanischem Essen. Die kostenlosen Mahlzeiten, die ihnen der Inhaber von Magaly’s Tamales oben in der Maclay Avenue regelmäßig vorbeibrachte, wurden meistens in der Einsatzzentrale verputzt.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Bosch.

Tapscott und Soto setzten sich auf eine Seite des Tisches, Kennedy nahm ihnen gegenüber Platz. Bosch ließ sich am Tischende nieder, von wo er alle drei Besucher im Blick hatte.

»So«, begann er. »Was gibt’s?«

»Zuerst sollten wir uns vielleicht in aller Form vorstellen«, ergriff Kennedy das Wort. »Detective Soto kennen Sie natürlich von Ihrer gemeinsamen Tätigkeit bei der Einheit Offen-Ungelöst. Detective Tapscott haben Sie gerade kennengelernt. Die beiden arbeiten mit mir an der Wiederaufnahme eines Mordfalls, für den vor fast dreißig Jahren Sie zuständig waren.«

»Preston Borders«, sagte Bosch. »Wie geht’s Preston? Immer noch im Todestrakt von Q?«

»Ganz genau.«

»Warum interessieren Sie sich dann für den Fall?«

Kennedy zog seinen Stuhl näher an den Tisch heran, verschränkte die Arme und stützte sich mit den Ellbogen darauf. Obwohl klar war, dass dieser Überraschungsbesuch bis ins Kleinste einstudiert war, begann er, mit den Fingern seiner linken Hand zu trommeln, als überlegte er, wie er Boschs Frage am besten beantworten sollte.

»Ich bin der Conviction Integrity Unit zugeteilt«, antwortete Kennedy schließlich. »Sicher haben Sie schon von dieser Einheit gehört. Sie befasst sich mit Urteilen, die nachträglich angefochten werden. Und in einigen dieser Fälle habe ich wegen ihrer Erfahrung mit kalten Fällen die Detectives Tapscott und Soto hinzugezogen.«

Bosch wusste, dass es die CIU, die erst nach seinem Ausscheiden beim LAPD ins Leben gerufen worden war, noch nicht lange gab. Ihre Gründung ging auf ein Wahlversprechen in einem erbittert geführten Wahlkampf zurück, in dem eine strengere Kontrolle der Polizei eine wichtige Rolle spielte. Daher hatte der neu gewählte D.A. – Tak Kobayashi – eine Einheit eingerichtet, die auf die augenscheinliche Zunahme von Fällen reagieren sollte, in denen wegen neuer forensischer Techniken überall im Land Hunderte von Häftlingen freigesprochen wurden. Während neue wissenschaftliche Erkenntnisse einerseits zu zuverlässigeren Ermittlungsmethoden führten, wurden zugleich bisher als unanfechtbar geltende alte Technologien zunehmend infrage gestellt, sodass sich für nicht wenige Unschuldige die Gefängnistüren wieder öffneten.

Sobald ihm Kennedy den Namen seiner Einheit nannte, war für Bosch der Fall klar. Er wusste sofort, was Sache war. Borders, der mutmaßlich drei Frauen getötet hatte, aber nur wegen eines Mordes verurteilt worden war, nahm nach beinahe dreißig Jahren im Todestrakt einen letzten Anlauf auf seine Freilassung.

»Soll das ein Witz sein?«, sagte Bosch. »Borders? Im Ernst jetzt? Sie nehmen sich diesen Fall tatsächlich noch mal vor?«

Er schaute von Kennedy zu seiner ehemaligen Partnerin Soto.

Er fühlte sich hintergangen.

»Lucia?«, sagte er.

»Harry«, sagte sie. »Hör dir erst mal an, was wir zu sagen haben.«

2

Bosch hatte das Gefühl, als rückten die Wände des Raums immer enger zusammen. Sowohl in seinen Gedanken als auch in der Realität hatte er Borders für immer aus dem Verkehr gezogen. Er rechnete zwar nicht damit, dass der sadistische Sexualmörder jemals die Giftspritze bekam, aber der Todestrakt war eine Hölle für sich, deutlich schlimmer, als unter gängigen Bedingungen einzusitzen. Borders verdiente die isolierte Unterbringung. Er war als Sechsundzwanzigjähriger nach San Quentin gekommen. Das bedeutete für ihn mindestens fünfzig Jahre Einzelhaft. Außer er hatte Glück. In Kalifornien starben im Todestrakt mehr Häftlinge durch Selbstmord als durch die Spritze.

»Es ist nicht so einfach, wie Sie glauben«, sagte Kennedy.

»Nein?«, sagte Bosch. »Und warum nicht?«

»Die CIU ist verpflichtet, alle rechtmäßigen Anträge zu prüfen. Erst nach diesem ersten, internen Schritt wird die Sache ans LAPD oder andere Polizeibehörden weitergeleitet. Nur wenn ein Fall über einen bestimmten kritischen Punkt hinausgeht, wird die Polizei damit beauftragt, die erforderlichen Nachermittlungen durchzuführen.«

»Und natürlich wird an diesem Punkt jeder Beteiligte auf strengste Geheimhaltung eingeschworen«, sagte Bosch und sah dabei Soto an. Sie wandte den Blick ab.

»Unbedingt«, sagte Kennedy.

»Ich weiß nicht, welche Beweise Ihnen Borders oder sein Anwalt vorgelegt haben«, sagte Bosch. »Aber sie sind nichts als Augenwischerei. Der Kerl hat Danielle Skyler umgebracht, alles andere ist Schwindel.«

Kennedy antwortete nicht, aber an seinem Blick erkannte Bosch, dass er überrascht war, dass er sich noch an den Namen des Opfers erinnerte.

»Ja, auch nach dreißig Jahren erinnere ich mich noch an ihren Namen«, sagte Bosch. »Auch an den von Donna Timmons und Vicky Novotney. Das sind die zwei Opfer, für deren Ermordung wir nach Auffassung Ihrer Kollegen von der Staatsanwaltschaft nicht genügend Beweise vorlegen konnten. Waren sie ebenfalls Teil dieser gründlichen Nachermittlungen, die Sie durchgeführt haben?«

»Harry …«, versuchte ihn Soto zurückzupfeifen.

»Borders musste keine neuen Beweise vorlegen«, sagte Kennedy. »Wir hatten sie bereits.«

Das traf Bosch wie ein Schlag in die Magengrube. Er wusste, dass Kennedy die Sachbeweise zu dem Fall meinte. Das konnte nur heißen, dass es Beweise vom Tatort oder sonst woher gab, die Borders’ Schuld infrage stellten. Und das wiederum hieß, dass Bosch Fehler gemacht oder – noch schlimmer – in böser Absicht gehandelt und Beweise übersehen oder wissentlich zurückgehalten hatte.

»Und worum geht es jetzt genau?«, fragte er.

»Die DNA«, sagte Kennedy. »Beim Prozess 1988 hat sie noch keine Rolle gespielt. Damals war in Kalifornien DNA bei Strafrechtsfällen noch nicht zugelassen. Sie wurde erst ein Jahr später von einem Gericht oben in Ventura zum ersten Mal als Beweismittel anerkannt. Und in L.A. County hat es noch einmal ein Jahr länger gedauert.«

»Wir haben keine DNA gebraucht«, sagte Bosch. »Wir haben Sachen des Opfers in Borders’ Wohnung gefunden.«

Kennedy nickte Soto zu.

»Wir waren in der Property Control und haben uns die Schachtel geben lassen«, sagte sie. »Den Ablauf kennst du ja. Wir haben Kleidungsstücke des Opfers zur serologischen Untersuchung ins Labor gebracht.«

»Das Gleiche wurde auch vor dreißig Jahren gemacht«, sagte Bosch. »Allerdings haben sie damals nicht nach DNA, sondern nach genetischen Blutgruppenmarkern gesucht – und nichts gefunden. Willst du mir etwa erzählen …«

»Sie haben Sperma gefunden«, sagte Kennedy. »Zwar nur eine sehr geringe Menge, aber trotzdem. Offensichtlich ist das Verfahren seit damals deutlich verbessert worden. Und was sie gefunden haben, stammt nicht von Borders.«

Bosch schüttelte den Kopf.

»Okay, ich sage erst mal nichts. Von wem dann?«

»Von einem anderen Sexualtäter«, sagte Soto. »Lucas John Olmer.«

Bosch hatte nie etwas von einem Olmer gehört. Er begann, fieberhaft nachzudenken, suchte nach einem Trick, einem möglichen Schwindel. Die Möglichkeit, er könnte falsch gelegen haben, als er Borders Handschellen anlegte, zog er keine Sekunde in Erwägung.

»Olmer sitzt doch sicher auch in San Quentin«, sagte er schließlich. »Das Ganze ist …«

»Nein, tut er nicht«, unterbrach ihn Tapscott. »Er ist tot.«

»Ein bisschen kannst du uns schon glauben, Harry«, fügte Soto hinzu. »Wir haben es keineswegs darauf angelegt, dass es so ist. Olmer war nie in San Quentin. Er ist 2015 in Corcoran gestorben und kannte Borders nicht.«

»Wir haben alles bis ins Kleinste nachgeprüft«, sagte Tapscott. »Die Gefängnisse sind fünfhundert Kilometer voneinander entfernt, und weder kannten sich die beiden, noch hatten sie eine Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren. Vollkommen ausgeschlossen.«

Das sagte Tapscott nicht ohne eine gewisse Da-siehst- du’s-Selbstgefälligkeit. Am liebsten hätte ihm Bosch eine aufs Maul gegeben. Soto kannte die Trigger ihres ehemaligen Partners und legte Bosch die Hand auf den Arm.

»Das ist doch nicht deine Schuld, Harry«, sagte sie. »Das geht einzig und allein aufs Labor. Die Befunde liegen uns alle vor. Du hast recht – sie haben damals nichts gefunden. Sie haben es übersehen.«

Bosch sah sie an und zog den Arm zurück.

»Und das glaubst du? Ich nämlich nicht. Da hat Borders seine Hand mit im Spiel – irgendwie. Da bin ich ganz sicher.«

»Wie denn, Harry? Auch wir haben uns den Kopf zerbrochen, wie er das hingekriegt haben könnte.«

»Wer hat nach dem Prozess in die Box mit den Kleidern geschaut?«

»Niemand. Der Letzte, der sie hatte, warst du. Die ursprünglichen Siegel mit deiner Unterschrift und dem Datum drauf waren noch intakt. Zeig ihm das Video.«

Sie nickte Tapscott zu, der sein Handy herausholte und das Video aufrief. Er hielt das Display Bosch hin.

»Das haben wir im Piper Tech aufgenommen«, sagte er.

Das Piper Tech war ein riesiger Gebäudekomplex Downtown, in dem neben der Fingerabdruckabteilung und der Hubschrauberstaffel auch die Property Control Unit, die Asservatenkammer des LAPD, untergebracht war und dessen footballfeldgroßes Dach als Heliport benutzt wurde. Bosch wusste, dass im Archiv strenge Sicherheitsvorschriften galten. Nur vereidigte Officers durften Beweise von einem Fall einsehen und mussten dafür Dienstausweise und Fingerabdrücke vorlegen. Die Beweismittelschachteln durften nur in einem eigens dafür vorgesehenen Bereich geöffnet werden, der rund um die Uhr unter Videoüberwachung stand. Aber das Video, das er jetzt sah, hatte Tapscott mit seinem Handy aufgenommen.

»Das war nicht das erste Mal, dass wir mit der CIU zu tun hatten«, sagte Tapscott. »Deshalb haben wir bei so etwas unsere eigenen Regeln. Einer von uns öffnet die Schachtel, die andere Person protokolliert alles. Uns interessiert nicht, dass sie dort ihre eigenen Kameras haben. Und wie Sie selbst sehen können, hat sich niemand an der Schachtel zu schaffen gemacht. Kein Siegel war verletzt.«

Das Video zeigte, wie Soto die Schachtel in die Kamera hielt und in alle Richtungen drehte, sodass deutlich zu erkennen war, dass ihre Flächen und Kanten intakt waren. Die Ritzen waren mit den in den achtziger Jahren üblichen Etiketten verschlossen. Seit mindestens zwanzig Jahren verwendete das LAPD rotes Beweismitteltape, das Risse bekam und sich ablöste, wenn man sich daran zu schaffen machte. 1988 waren von der Polizei zur Versiegelung von Beweismittelboxen noch rechteckige weiße Aufkleber mit dem Aufdruck LAPD-ANALYSIERTEBEWEISMITTEL verwendet worden, die mit Unterschrift und Datum versehen waren. Aus der lustlosen Art, mit der Soto mit der Schachtel hantierte, schloss Bosch, dass sie das Ganze für reine Zeitverschwendung hielt. Zumindest bis zu diesem Punkt war sie noch auf seiner Seite.

Tapscott ging mit der Kamera näher an die Siegel auf dem Kartondeckel heran. Auf dem mittleren Aufkleber konnte Bosch seine Unterschrift und das Datum sehen: 9. September 1988. Demnach musste das Etikett nach Prozessende angebracht worden sein. Bosch hatte damals alle Beweismittel in die Box zurückgelegt, diese versiegelt und für den Fall, dass das Urteil revidiert und die Sache neu aufgerollt wurde, in die Property Control zurückgebracht. Da bei Borders nie etwas in dieser Richtung unternommen worden war, hatte man die Schachtel vermutlich die ganze Zeit unangetastet an ihrem Platz im Regal gelassen und nie aussortiert. Bosch hatte sie nämlich deutlich sichtbar mit 187, dem kalifornischen Strafgesetzparagraphen für Mord, gekennzeichnet, was in der Asservatenkammer »Nicht wegwerfen« hieß.

Als Tapscott die Kamera weiter über die Schachtel bewegte, sah Bosch, dass alle Ritzen, auch die am Boden, mit Beweismitteletiketten versiegelt waren, wie er das bis zur Einführung des roten Beweismitteltapes immer gemacht hatte.

»Gehen Sie noch mal ein Stück zurück«, sagte Bosch zu Tapscott. »Ich würde gern die Unterschrift noch mal sehen.«

Tapscott spulte das Video zu der Nahaufnahme des von Bosch unterschriebenen Etiketts zurück, und Bosch beugte sich vor, um sie sich genauer anzusehen. Die Unterschrift war verblichen und kaum mehr zu erkennen, aber sie sah echt aus.

»Okay«, sagte Bosch.

Tapscott ließ das Video weiterlaufen. Jetzt war auf dem Display zu sehen, wie Soto mit einem Teppichmesser, das mit einem Draht an einem Arbeitstisch befestigt war, die Etiketten durchtrennte und die Schachtel öffnete. Als sie die einzelnen Beweisstücke herausnahm, darunter auch die Kleidung des Opfers und einen Umschlag mit seinen Fingernagelschnipseln, nannte sie jedes zu seiner vorschriftsmäßigen Dokumentierung beim Namen. Unter den aufgezählten Gegenständen war auch ein Seepferdchenanhänger, der als Hauptbeweis gegen Borders gedient hatte.

Schon bevor das Video ganz zu Ende war, zog Tapscott das Handy ungeduldig zurück, hielt die Aufnahme an und steckte es ein.

»So geht das noch endlos weiter«, bemerkte er dazu. »Niemand hat sich an der Schachtel zu schaffen gemacht, Harry. Es war alles schon drinnen, als Sie sie nach dem Prozess versiegelt haben.«

Bosch war sauer, dass er nicht die Gelegenheit erhielt, sich das Video in voller Länge anzusehen. Irgendetwas an Tapscott – einem Fremden, der ihn mit dem Vornamen ansprach – stieß ihm sauer auf. Aber er schluckte seinen Ärger hinunter und sagte eine Weile nichts. Gleichzeitig ließ er zum ersten Mal den Gedanken zu, dass er mit seiner langjährigen festen Überzeugung, einen sadistischen Mörder für immer aus dem Verkehr gezogen zu haben, falsch liegen könnte.

»Wo wurde sie gefunden?«, fragte er schließlich.

»Was?«, fragte Kennedy.

»Die DNA«, sagte Bosch.

»Ein winziger Punkt auf der Pyjamahose des Opfers«, sagte Kennedy.

»1987 war der natürlich leicht zu übersehen«, fügte Soto hinzu. »Wahrscheinlich haben sie damals nur Schwarzlicht verwendet.«

Bosch nickte.

»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte er.

Soto sah Kennedy an. Diese Frage musste er beantworten.

»Für Mittwoch in einer Woche ist in Saal eins-null-sieben eine Verhandlung über einen Haftprüfungsantrag angesetzt«, sagte der Staatsanwalt. »Zusammen mit Borders’ Anwälten werden wir einen Antrag an Judge Houghton stellen, das Urteil aufzuheben und Borders aus dem Todestrakt zu entlassen.«

»Das ist doch Wahnsinn«, stöhnte Bosch.

»Außerdem hat Borders’ Anwalt die Stadt in Kenntnis gesetzt, dass er eine Zivilklage einreichen wird«, fuhr Kennedy fort. »Wir haben uns bereits mit dem City Attorney’s Office in Verbindung gesetzt. Dort hoffen sie, sich auf einen Vergleich einigen zu können. Wir bewegen uns hier wahrscheinlich ziemlich weit oben im siebenstelligen Bereich.«

Bosch senkte den Blick auf den Tisch. Er konnte niemandem in die Augen schauen.

»Und ich muss Sie warnen«, fügte Kennedy hinzu. »Wenn es nicht zu einem Vergleich kommt und Borders vors Bundesgericht zieht, kann er Sie persönlich belangen.«

Bosch nickte. Das wusste er bereits. Wenn Borders eine Grundrechtsklage anstrengte und die Stadt nicht für Bosch einsprang, war er für sämtliche Schäden persönlich haftbar. Da Bosch vor zwei Jahren die Stadt verklagt hatte, ihm seine Pensionsansprüche wieder in vollem Umfang zuzuerkennen, war es sehr unwahrscheinlich, dass sich im City Attorney’s Office jemand finden würde, der sich dafür einsetzte, ihn von Borders’ Schadenersatzansprüchen zu entlasten. Bei all dem drängte sich immer mehr der Gedanke an seine Tochter in den Vordergrund. Bis auf eine Lebensversicherung, die ihr nach seinem Tod zustand, konnte ihm alles genommen werden.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte Soto. »Wenn es irgendeine andere …«

Sie sprach nicht weiter, und er schaute langsam zu ihr auf.

»Neun Tage«, sagte er.

»Neun Tage?«

»Dann ist die Verhandlung. So lange habe ich Zeit, um herauszufinden, wie er das geschafft hat.«

»Harry, wir arbeiten jetzt schon fünf Wochen an dieser Sache. Da gibt es nichts. Das alles ist schon passiert, bevor jemand Olmer überhaupt auf dem Schirm hatte. Wir wissen nur, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht im Gefängnis war und dass er sich in L.A. aufgehalten hat – wir haben entsprechende Beschäftigungsunterlagen gefunden. Aber DNA bleibt DNA. Auf ihrem Schlafanzug. DNA eines Manns, der später wegen mehrerer Entführungen und Vergewaltigungen verurteilt worden ist. In allen Fällen ist er in die Wohnungen seiner Opfer eingebrochen – wie im Fall Skylers. Nur ohne Mord. Nimm einfach nur mal die Fakten. Kein Staatsanwalt im Land würde sich damit die Finger schmutzig machen und anders an die Sache rangehen.«

Kennedy räusperte sich.

»Wir sind heute zum Zeichen unseres Respekts für Sie hergekommen, Detective. Und wegen der vielen Fälle, die Sie gelöst haben. Wir wollen uns in dieser Angelegenheit nicht gegen Sie stellen.«

»Und Sie glauben nicht, dass jeder andere Fall, den ich gelöst habe, davon betroffen sein wird?«, sagte Bosch. »Wenn Sie diesem Kerl die Gefängnistür öffnen, können Sie sie gleich jedem anderen aufmachen, den ich hinter Gitter gebracht habe. Selbst wenn Sie es aufs Labor schieben – es wird nichts an der Sache ändern. Es wird auch alles andere in Zweifel gezogen.«

Bosch lehnte sich zurück und sah seine alte Partnerin an. Er war einmal ihr Mentor gewesen. Sie musste wissen, was das für ihn bedeutete.

»Es ist, wie es ist«, sagte Kennedy. »Wir haben eine klare Richtlinie. ›Besser, hundert Schuldige kommen frei, als dass ein Unschuldiger im Gefängnis sitzt.‹«

»Verschonen Sie mich bloß mit diesem verhunzten Benjamin-Franklin-Scheiß«, sagte Bosch. »Wir haben Beweise gefunden, die Borders mit allen drei verschwundenen Frauen in Verbindung gebracht haben, und die Staatsanwaltschaft hat zwei davon fallen gelassen, weil irgendeine Rotznase von Ankläger gemeint hat, das würde nicht reichen. Irgendwas an der Sache ist faul. Ich möchte diese neun Tage, um meine eigenen Ermittlungen anzustellen, und ich möchte Zugang zu allem, was Sie haben, und wissen, wie Sie vorgegangen sind.«

Als er das sagte, sah er zwar Soto an, aber es war Kennedy, der ihm antwortete.

»Kommt überhaupt nicht in Frage, Detective. Wir tun Ihnen mit unserem Besuch nur einen Gefallen. Dieser Fall gehört Ihnen nicht mehr.«

Bevor Bosch etwas einwenden konnte, ertönte ein lautes Klopfen, und die Tür ging auf. Bella Lourdes stand da. Sie winkte ihn nach draußen.

»Harry«, sagte sie. »Wir müssen sofort reden.«

In ihrem Ton schwang eine Dringlichkeit mit, die Bosch nicht ignorieren konnte. Er schaute die anderen am Tisch Sitzenden an und stand auf.

»Augenblick noch«, sagte er. »Wir sind hier noch nicht fertig.«

Dann ging er zur Tür. Lourdes winkte ihn ganz nach draußen und schloss die Tür hinter ihm. Er stellte fest, dass der Bereitschaftsraum inzwischen leer war – niemand saß an seinem Schreibtisch, die Tür des Captains stand offen und sein Schreibtischstuhl war leer.

Und Lourdes war sichtlich aufgewühlt. Sie strich sich mit beiden Händen ihr kurzes dunkles Haar hinter die Ohren. Seit die kleine, stämmige Ermittlerin wieder in den Dienst zurückgekehrt war, machte sie das inzwischen immer, wenn sie nervös war.

»Was gibt’s?«

»Bei einem Raubüberfall auf eine Farmacia in der Ladenstraße hat es zwei Tote gegeben.«

»Zwei Tote? Kollegen?«

»Nein, Angestellte. Zwei Eins-acht-siebener. Der Chief möchte, dass alle hinfahren. Bist du hier fertig? Soll ich dich mitnehmen?«

Bosch schaute zur geschlossenen Tür der Einsatzzentrale zurück und dachte darüber nach, was dort drinnen gesagt worden war. Was sollte er deswegen unternehmen? Wie sollte er damit umgehen?

»Mach schon, Harry. Ich muss los. Kommst du mit oder nicht?«

Bosch sah sie an.

»Okay, lass uns fahren.«

Sie gingen rasch zu dem Ausgang, der direkt zum seitlichen Parkplatz hinausführte, wo Ermittler und Führungskräfte parkten. Er zog das Handy aus seiner Hemdtasche und schaltete die Sprachaufnahme aus.

»Willst du denen da drinnen nicht Bescheid sagen?«, fragte Lourdes.

»Die können mich mal«, sagte Bosch.

3

Die Kommune San Fernando war gerade mal sechs Quadratkilometer groß und von allen Seiten von der City of Los Angeles umgeben. Für Harry Bosch war sie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen, der winzige Ort und der Job, den er gefunden hatte, als seine Zeit beim LAPD zu Ende ging, obwohl er der festen Überzeugung war, dass er sehr wohl noch etwas zu bieten und eine Mission zu erfüllen hatte, nur anscheinend keinen Ort, an dem er das konnte. Nachdem wegen der Budgetkürzungen in den Jahren nach der Finanzkrise von 2008 ein Viertel seiner vierzig Officers entlassen worden war, bemühte sich das San Fernando Police Department aktiv um die Aufstellung einer Freiwilligentruppe aus pensionierten Polizisten, die in allen Einsatzbereichen aushelfen konnten, angefangen beim Streifendienst über die Kommunikation bis hin zu kriminalpolizeilichen Ermittlungen.

Als Chief Valdez sich mit Bosch in Verbindung setzte und ihm erzählte, dass er eine ehemalige Haftzelle voller kalter Fälle hätte, aber niemanden, der sie aufarbeitete, war das für ihn wie ein Rettungsring, der einem Ertrinkenden zugeworfen wurde. Bosch hatte damals allein gelebt und keinerlei Verpflichtungen gehabt, denn zum einen war damals seine Tochter gerade zu Hause ausgezogen, um aufs College zu gehen, zum anderen war er vom LAPD, dem er fast vierzig Jahre lang gedient hatte, mehr oder weniger vor die Tür gesetzt worden. Aber vor allem fand er, dass seine Tage noch keineswegs gezählt waren. Nach all den Jahren im Polizeidienst hätte er nie damit gerechnet, eines Abends beim LAPDzur Tür rauszugehen und am nächsten Morgen nicht wieder zum Dienst kommen zu dürfen.

In einem Lebensabschnitt, in dem die meisten Männer anfingen, Golf zu spielen, oder sich ein Boot zulegten, hatte Bosch noch nicht das Gefühl, mit seinem Berufsleben abgeschlossen zu haben. Er war jemand, der die Dinge zu Ende bringt. Er wollte unbedingt weiter Fälle aufklären und hätte es auf Dauer unbefriedigend gefunden, als Privatdetektiv oder Ermittler eines Strafverteidigers zu arbeiten. Er nahm Chief Valdez’ Angebot an und erwies sich rasch als wertvolle Verstärkung für das SFPD. Außerdem arbeitete er schon bald nicht mehr nur auf Teilzeitbasis kalte Fälle auf, sondern beriet das ganze Detective Bureau. Tick, Trick und Track waren gute, engagierte Ermittler, konnten aber zusammen nicht einmal zehn Jahre Erfahrung als Detectives aufweisen. Außerdem stand Captain Trevino der Einheit nur begrenzt zur Verfügung, da er auch für die Kommunikationsabteilung und das Gefängnis zuständig war. Die Aufgabe, Lourdes, Sisto und Luzon die wahre Mission eines Ermittlers beizubringen, fiel Bosch zu.

Die Ladenstraße erstreckte sich über zwei Blocks der San Fernando Road, die mitten durch die Stadt verlief und von kleinen Läden und Firmen, Bars und Restaurants gesäumt war. Sie lag im historischen Teil der Stadt, an dessen einem Ende sich ein großes Kaufhaus befand, das schon mehrere Jahre geschlossen war und leer stand, auch wenn an seiner Fassade immer noch das JC-Penney-Schild prangte. Die meisten anderen Schilder waren auf Spanisch, und die dazugehörigen Geschäfte waren auf die Bedürfnisse der mehrheitlich aus Latinos bestehenden Bevölkerung zugeschnitten: hauptsächlich Hochzeits- und Quinceañera-Salons, Secondhandläden und Geschäfte, die mexikanische Produkte verkauften.

Von der Polizeistation waren es drei Minuten zum Schauplatz der Schießerei. Lourdes nahm ihren zivilen Dienstwagen. Bosch versuchte sein Bestes, den Borders-Fall und alles, was in der Einsatzzentrale gesprochen worden war, aus seinen Gedanken zu verbannen und sich auf die anstehende Aufgabe zu konzentrieren.

»Was wissen wir bisher?«, fragte er.

»Zwei Tote in der Farmacia Familia«, sagte Lourdes. »Gemeldet hat es ein Kunde, der beim Betreten des Ladens eins der Opfer gesehen hat. Das zweite hat die Streife hinten im Laden gefunden. Beides Angestellte. Allem Anschein nach Vater und Sohn.«

»Der Sohn schon erwachsen?«

»Ja.«

»Verbindung zu einer Gang?«

»Nein.«

»Was noch?«

»Das ist alles. Als der Anruf einging, haben wir die Rechtsmediziner des Sheriff’s Department verständigt, und Gooden und Sanders sind sofort ausgerückt.«

Gooden und Sanders waren die zwei rechtsmedizinischen Ermittler, die in den untervermieteten Räumlichkeiten im Detective Bureau stationiert waren. Es war ein Glücksfall, sie in unmittelbarer Nähe zu haben. Als Bosch noch beim LAPD war, hatte er oft eine Stunde und länger auf die Rechtsmediziner warten müssen.

Bosch hatte zwar bereits drei kalte Mordfälle gelöst, seit er zum SFPD gestoßen war, aber jetzt stand er vor seinen ersten Live-Mordermittlungen in San Fernando. Er würde einen frischen Tatort mit echten Toten auf dem Boden begutachten, nicht nur Fotos aus einer alten Akte. Vorgehen und Tempo wären völlig anders, und die Aussicht darauf baute ihn nach dem deprimierenden Treffen, dem er gerade entflohen war, spürbar auf.

Als Lourdes in die Ladenstraße bog, sah Bosch sofort, dass es die Ermittler völlig falsch anpackten. Drei Streifenwagen standen direkt vor der Farmacia. Das war viel zu nah. Der Verkehr auf den zwei Fahrspuren war nicht gesperrt, und die Autofahrer fuhren langsam an dem Drugstore vorbei, um einen Blick auf den Grund des Polizeieinsatzes zu erhaschen.

»Halt hier an«, sagte Bosch. »Die Streifen sind zu nah dran. Ich werde ihnen sagen, sie sollen wegfahren und die Straße sperren.«

Lourdes parkte vor einer Bar, die sich Tres Reyes nannte. Bosch und Lourdes stiegen rasch aus und bahnten sich einen Weg durch die Gruppe Schaulustiger, die sich vor der Farmacia gebildet hatte. Zwischen den Streifenwagen war gelbes Flatterband gespannt, und zwei uniformierte Polizisten standen am Heck eines der Wagen und berieten sich, während sich ein Dritter in typischer Cop-Manier, mit den Händen an seiner Gürtelschnalle, vor der Farmacia aufgepflanzt hatte und den Eingang bewachte.

Die Tür zum Drugstore wurde von einem kleinen Sandsack offen gehalten, der vermutlich aus dem Kofferraum eines Streifenwagens stammte. Von Chief Valdez oder einem der anderen Ermittler war nichts zu sehen. Sie mussten alle drinnen sein.

»Scheiße«, fluchte Bosch, als er sich der Tür näherte.

»Wieso?«, fragte Lourdes.

»Zu viele Köche …«, sagte Bosch. »Warte kurz hier draußen.«

Bosch betrat die Farmacia. Es war ein kleiner Drugstore mit nur wenigen Regalreihen, die zu einem Ladentisch führten, hinter dem sich die eigentliche Apotheke befand. Dort standen Valdez, Sisto und Luzon und blickten auf etwas hinab, bei dem es sich, vermutete Bosch, um eine der Leichen handelte. Trevino war nirgendwo zu sehen.

Bosch machte sie mit einem kurzen leisen Pfiff auf sich aufmerksam und bedeutete ihnen, zum Eingang zu kommen. Dann drehte er sich um und ging wieder raus zu Lourdes.

Er wartete, bis auch die drei Männer nach draußen kamen, dann stieß er den Sandsack mit dem Fuß beiseite und ließ die Tür zufallen.

»Dürfte ich den Anfang machen, Chief?«, fragte Bosch.

Er sah Valdez an und wartete auf dessen zustimmendes Nicken. Er bat den Chief darum, die Leitung der Ermittlungen übernehmen zu dürfen, und wollte, dass es alle Beteiligten mitbekamen.

»Ja, übernehmen Sie, Harry«, sagte Valdez.

Bosch machte die Streifenpolizisten auf sich aufmerksam und winkte sie ebenfalls heran.

»Okay, dann mal alle herhören«, begann er. »Den Tatort zu sichern, hat absoluten Vorrang. Aber das tun wir bisher nicht. Deshalb fährt erst mal die Streife ihre Wagen weg und sperrt die Straße. An beiden Enden. Mit Flatterband. Ohne Genehmigung kommt niemand durch. Dann möchte ich an beiden Enden Officers mit Klemmbrettern postiert haben. Sie notieren sich den Namen jedes Cops oder Rechtsmediziners, der an den Tatort kommt. Auch die Nummernschilder aller Autos, die Sie rausfahren lassen, schreiben Sie auf.«

Niemand rührte sich.

»Habt ihr gehört?« Valdez blickte kurz in die Runde. »Dann an die Arbeit, Leute. Da drinnen haben wir zwei tote Bürger. Wir sind ihnen und dem SFPD verpflichtet.«

Die Streifenpolizisten gingen rasch zu ihren Autos und machten sich daran, Boschs Anweisungen umzusetzen. Bosch und die anderen Ermittler teilten sich auf und begannen, die Schaulustigen die Straße hinaufzutreiben. Einige riefen Bosch auf Spanisch Fragen zu, aber er antwortete nicht. Er musterte die Gesichter derer, die er zurückdrängte. Es war nicht auszuschließen, dass der Mörder unter ihnen war. Es wäre nicht das erste Mal.

Nachdem sie die Pufferzone für den Tatort eingerichtet hatten, kamen Bosch, der Chief und die drei Detectives wieder am Eingang des Drugstore zusammen. Da Bosch nicht damit rechnete, dass seine nächsten Anweisungen gut ankommen würden, sah er erneut Valdez an, damit dieser seine Befehlsgewalt bestätigte.

»Habe ich weiter das Kommando, Chief?«, fragte er.

»Auf jeden Fall«, sagte Valdez. »Wie wollen Sie weiter vorgehen?«

»Also, zuallererst müssen wir die Anzahl der Personen am Tatort begrenzen«, begann Bosch. »Wenn die Sache vor Gericht kommt und ein Strafverteidiger spitzkriegt, wie wir da drinnen auf engstem Raum herumtrampeln, bieten wir ihm damit nur die Möglichkeit, uns in die Parade zu fahren und die Geschworenen noch mehr in Verwirrung zu stürzen. Deshalb gehen nur zwei Leute rein, und zwar Lourdes und ich. Sisto und Luzon, ihr übernehmt die Pufferzone hier draußen. Ich möchte, dass ihr die Straße rauf- und runtergeht, in beiden Richtungen. Wir suchen nach Zeugen und Kameras. Wir …«

»Wir waren als Erste hier«, sagte Luzon und deutete auf sich und Sisto. »Es sollte unser Fall sein, und wir sollten nach drinnen gehen.«

Mit etwa vierzig war Luzon der älteste der drei Vollzeitermittler. Allerdings hatte er am wenigsten Erfahrung. Er war erst vor sechs Monaten zum Detective befördert worden, nachdem er vorher zwölf Jahre bei der Streife gewesen war. Ursprünglich hatte er diesen Karrieresprung dem durch Lourdes’ Freistellung entstandenen Personalengpass zu verdanken, doch später hatte Valdez im Budget das nötige Geld lockermachen können, um ihn weiter als Detective zu beschäftigen, da es wegen der SanFers, einer lokalen Gang, zu einem starken Anstieg der Eigentumsdelikte gekommen war. Bosch hatte Luzon seit seiner Beförderung im Auge behalten und war zu der Überzeugung gelangt, dass er ein guter und seriöser Ermittler war – Valdez hatte eine gute Wahl getroffen. Allerdings hatte Bosch noch nie mit Luzon gemeinsam ermittelt, mit Lourdes jedoch schon. Deshalb wollte er, dass sie in diesem Fall die Ermittlungen leitete.

»So funktioniert das aber nicht«, sagte Bosch. »Die Leitung übernimmt Lourdes. Sie beide, Sie und Sisto, gehen jeweils zwei Blocks die Straße rauf und runter und halten nach dem Fluchtfahrzeug Ausschau. Außerdem brauchen wir Videos von Überwachungskameras. Sehen Sie also zu, dass Sie welche beschaffen können. Das ist sehr wichtig.«

Bosch konnte sehen, dass es Luzon einige Überwindung kostete, sich seinen Anweisungen nicht zu widersetzen. Aber dann sah Luzon den Chief an, der mit über der Brust verschränkten Armen dastand und nicht den Anschein erweckte, als wäre er, der maßgeblich Verantwortliche, anderer Meinung als Bosch.

»Alles klar«, gab Luzon deshalb klein bei.

Er entfernte sich in der einen Richtung, Sisto in der anderen. Sisto beschwerte sich zwar nicht, wirkte aber auch nicht sehr glücklich über seine Aufgabe.

»He, Leute?«, rief ihnen Bosch hinterher.

Luzon und Sisto schauten zu ihm zurück. Bosch machte eine Geste, die auch Lourdes und den Chief einschloss.

»Ich will hier keineswegs den arroganten Arsch raushängen lassen«, sagte er. »Meine Erfahrung beruht auch auf einer ganzen Menge Fehler. Wir lernen aus unseren Böcken, und in meinen über dreißig Jahren als Mordermittler habe ich einige geschossen. Ich versuche lediglich, was ich gelernt habe, auf die harte Tour umzusetzen. Okay?«

Luzon und Sisto nickten widerstrebend und machten sich daran, ihre Anweisungen auszuführen.

»Notiert euch Autokennzeichen und Telefonnummern«, rief ihnen Bosch hinterher – merkte aber sofort, dass das nicht nötig war.

»Harry«, sagte der Chief, sobald sie weg waren, »lassen Sie uns kurz reden.« Er und Bosch entfernten sich ein Stück von Lourdes und ließen sie etwas verloren allein auf dem Gehsteig zurück.

»Hören Sie«, begann der Chief leise, »mir ist durchaus klar, worum es ihnen mit den beiden geht. Aber ich will, dass Sie die Ermittlungen leiten. Bella ist zwar gut, aber erst seit Kurzem wieder da und muss sich noch einfinden. Das hier – Mordermittlungen – ist, was Sie dreißig Jahre lang gemacht machen. Deshalb sind Sie hier.«

»Schon klar, Chief. Trotzdem ist es nicht gut, wenn ich die Ermittlungen leite. Wir müssen nämlich im Hinterkopf behalten, dass die Sache möglicherweise vor Gericht kommt. Letztlich geht es nur darum, den Fall für einen Prozess aufzubereiten, und da sähe es nicht gut aus, wenn ich als Teilzeitkraft die Ermittlungen leite. Deshalb sollte das unbedingt Bella machen. Die sollen nur versuchen, ihre Eignung infrage zu stellen – da werden sie auf Stein beißen, nach allem, was letztes Jahr passiert ist und was sie durchgemacht hat. Und sie ist trotzdem in den Dienst zurückgekehrt. Sie ist eine echte Heldin, und genau so jemanden brauchen Sie im Zeugenstand. Dazu kommt, dass sie gut ist und bereit, die Sache durchzuziehen. Außerdem könnte ich aus Downtown bald Ärger kriegen. Ärger, der nicht gerade förderlich wäre. Deshalb sollte ich möglichst nicht die Leitung der Ermittlungen übernehmen.«

Valdez sah ihn an. Er wusste, dass mit »Downtown« Behörden außerhalb des SFPD gemeint waren, Stellen aus Boschs Vergangenheit.

»Hab schon gehört, dass Sie heute Morgen Besuch bekommen haben«, sagte er. »Aber darüber können wir später reden. Was soll ich jetzt machen?«

»Kümmern Sie sich um die Medien«, sagte Bosch. »Sie werden sicher bald Wind von der Sache bekommen und hier aufkreuzen. Zwei Tote in der Main Street. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir. Sie müssen eine Kommandostelle einrichten und die Journalisten irgendwo zusammenpferchen, wenn sie eintrudeln. Wir müssen unbedingt die Kontrolle darüber behalten, was nach draußen dringt.«

»Alles klar. Und sonst? Für die Zeugenbefragungen werden wir mehr Leute brauchen. Ich könnte Leute von der Streife abziehen, jeweils einen Mann aus jedem Wagen, und die anderen dann solo Streife fahren lassen, bis wir alles im Griff haben.«

»Das wäre bestimmt gut. In den Geschäften hier waren jede Menge Leute. Da muss jemand was gesehen haben.«

»Auf jeden Fall. Wie wär’s, wenn wir den alten Penneys als Kommandoposten benutzen? Ich kenne den Typen, dem das Gebäude gehört.«

Bosch schaute schräg die Straße hinunter zur Fassade des schon lange geschlossenen Kaufhauses.

»Bestimmt wird es heute spät werden. Wenn Sie da drinnen Licht haben, würde ich es auf jeden Fall versuchen. Was ist eigentlich mit Captain Trevino? Ist er hier irgendwo?«

»Solange ich hier bin, hält er die Stellung in der Station. Brauchen Sie ihn?«

»Nein, ich kann ihn später briefen.«

»Dann überlasse ich erst mal alles Weitere Ihnen, Harry. Diese Sache sollten wir rasch aufklären – falls das überhaupt möglich ist.«

»Schon klar.«

Der Chief entfernte sich, worauf Lourdes auf Bosch zukam.

»Lass mich raten«, sagte sie. »Er wollte nicht, dass ich die Ermittlungen leite.«

»Er wollte, dass ich es mache«, sagte Bosch. »Aber das war nichts gegen dich. Ich habe Nein gesagt. Es ist dein Fall.«

»Hat das mit deinem Besuch heute Morgen zu tun?«

»Vielleicht. Und es hat damit zu tun, dass du das hinkriegst. Aber jetzt geh schon mal rein und schau, was Gooden und Sanders machen. Ich rufe inzwischen im Sheriff’s Lab an, ob sie mir schon eine Ankunftszeit sagen können. Als Erstes brauchen wir Fotos. Sieh zu, dass die zwei da drinnen die Leichen auf keinen Fall von der Stelle bewegen, bis wir nicht alles fotografiert haben.«

»Alles klar.«

»Und vergiss nicht: Die Leichen gehören der Rechtsmedizin, aber der Tatort uns.«

Lourdes ging zum Eingang der Farmacia, und Bosch holte sein Handy heraus. Das SFPD war so klein, dass es keine eigene Spurensicherung hatte. Deshalb war es auf die des Sheriff’s Department angewiesen und musste sich häufig erst einmal anstellen, bevor es an die Reihe kam. Doch als Bosch jetzt im Labor anrief, teilte man ihm mit, dass bereits ein Spurensicherungsteam nach San Fernando unterwegs war. Bosch wies sie darauf hin, dass es sich um einen Doppelmord handelte, und forderte ein zweites Team an, was jedoch mit der Begründung, dass sie kein zweites Team erübrigen konnten, abgelehnt wurde. Sie bekamen zwei Kriminaltechniker und einen Foto-/Videografen, und damit hatte es sich.

Als Bosch auflegte, sah er einen der Streifenpolizisten, denen er eben Anweisungen erteilt hatte, am Ende des Blocks Wache stehen, wo inzwischen gelbes Flatterband über die Ladenstraße gespannt war. Der Polizist hatte die Hände an seiner Gürtelschnalle und beobachtete Bosch.

Bosch steckte das Handy ein und ging zu ihm.

»Nicht nach drinnen schauen«, sagte Bosch. »Nach draußen.«

»Was?«, fragte der Streifenpolizist verständnislos.

»Sie beobachten die Ermittler. Aber Sie sollten die Straße im Auge behalten.«

Bosch legte die Hand auf die Schulter des Polizisten und drehte ihn zum Flatterband herum.

»Sehen Sie immer vom Tatort weg. Achten Sie auf Leute, die neugierig schauen, Leute, die nicht ins Bild passen. Sie würden sich wundern, wie oft der Täter zurückkommt, um die Ermittlungen zu beobachten. Außerdem sollen Sie den Tatort schützen, nicht beobachten.«

»Ach so, verstehe.«

»Gut.«

Wenig später traf das Spurensicherungsteam des Sheriff’s Department ein, und Bosch forderte alle auf, die Farmacia zu verlassen, damit der Fotograf reingehen und erst einmal Foto- und Videoaufnahmen vom Tatort machen konnte, auf denen nur die Toten zu sehen waren.

Während er draußen wartete, zog Bosch Handschuhe und Überschuhe aus Papier an. Als der Fotograf den Tatort schließlich freigab, ging das ganze Team durch den Plastikvorhang, den die Techniker an der Tür der Apotheke angebracht hatten, nach drinnen.

Gooden und Sanders teilten sich auf, und jeder nahm sich einer der Leichen an. Als Erstes gingen Lourdes und Bosch hinter den Ladentisch, wo Gooden und einer der Männer von der Spurensicherung die dort liegende Leiche untersuchten. Lourdes hatte ein Notizbuch herausgeholt und notierte sich darin, was sie sah.

Bosch neigte sich zum Ohr seiner Partnerin und flüsterte: »Schau erst mal nur. Notizen sind gut, aber wichtige visuelle Eindrücke vergisst man auch nicht, wenn man sich erst mal keine macht.«

»Okay. Alles klar.«

Als junger Mordermittler hatte Bosch einen Partner gehabt, der Frankie Sheehan hieß und immer einen leeren Getränkekasten im Kofferraum ihres zivilen Dienstwagens dabeihatte. Er nahm ihn an jeden Tatort mit und setzte sich an einer geeigneten Stelle darauf, um den Tatort auf sich wirken zu lassen. Er achtete auf alle Nuancen und versuchte, sich ein Bild vom Motiv und den Hintergründen der dort begangenen Tat zu machen. Sheehan hatte damals mit Bosch den Fall Danielle Skyler übernommen und in einer Ecke des Zimmers, in dem die nackte, übel zugerichtete Leiche auf dem Boden lag, auf seinem Getränkekasten gesessen. Sheehan war allerdings schon lange tot und würde nicht wie Bosch den Kopf für die neue Wendung hinhalten müssen, die der Fall nach so langer Zeit nahm.

4

La Farmacia Familia war ein kleiner Drugstore, der vor al- lem vom Verkauf rezeptpflichtiger Medikamente zu leben schien. Im vorderen Teil des Ladens gab es zwar auch drei kurze Regalreihen für rezeptfreie Arzneimittel und Pflegeprodukte in vorwiegend spanischsprachigen, aus Mexiko importierten Packungen, doch im Gegensatz zu den üblichen Drugstores der Stadt suchte man hier vergeblich nach Stellagen mit Glückwunschkarten, Vitrinen mit Süßigkeiten oder Kühlschränken mit Softdrinks oder Wasser.

Die eigentliche Apotheke befand sich im hinteren Teil des Geschäfts. Dort trennte eine lange Theke das Lager und einen Raum zum individuellen Mischen und Abfüllen von Medikamenten vom restlichen Bereich, der von den zwei Morden in keiner Weise in Mitleidenschaft gezogen schien.

Hinter der Theke kauerte Gooden neben dem ersten Toten, einem etwa fünfzigjährigen Mann. Er lag direkt hinter dem Ladentisch auf dem Rücken, die nach oben gerichteten Handflächen etwa auf Schulterhöhe. Er trug einen weißen, mit seinem Namen bestickten Apothekerkittel.

»Harry, darf ich vorstellen – José«, sagte Gooden. »Zumindest ist er so lange José, bis wir es anhand seiner Fingerabdrücke bestätigen können. Glatter Durchschuss, mitten in die Brust.«

Zur Illustrierung des Gesagten bildete er mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole und richtete sie auf die Brust des Toten.

»Aufgesetzt?«, fragte Bosch.

»Fast«, sagte Gooden. »Fünfzehn bis dreißig Zentimeter Abstand. Der Typ hat wahrscheinlich die Hände gehoben, erschossen haben sie ihn aber trotzdem.«

Bosch sagte nichts. Er verschaffte sich seinen eigenen Eindruck vom Tatort und würde selbst entscheiden, ob das Opfer die Hände oben oder unten gehabt hatte, als es erschossen wurde. Das musste er sich nicht von Gooden vorkauen lassen.

Bosch ging in die Knie und inspizierte den Boden neben der Leiche, dann beugte er sich weiter vor, um unter den Ladentisch zu schauen.

»Was ist?«, fragte Lourdes.

»Kein Messing«, sagte Bosch.

Das Fehlen einer leeren Patronenhülse konnte nur eins von zwei Dingen bedeuten. Entweder hatte sich der Mörder die Zeit genommen, die Hülse aufzuheben, oder er hatte einen Revolver benutzt – der die Patronenhülsen nicht auswarf. Beides fand Bosch bemerkenswert. Wenn ein wichtiges Beweisstück vom Tatort entfernt wurde, deutete das auf eine mit kühler Berechnung ausgeführte Tat hin. Die Verwendung eines Revolvers konnte das Gleiche bedeuten – weil bewusst eine Waffe gewählt wurde, die keine wichtigen Beweise hinterließ.

Bosch und Lourdes betraten den sechs Meter langen Gang hinter der Verkaufstheke, der zum Lager, zum Arbeitsbereich und zu einer Toilette führte. Am Ende war eine Tür mit zwei Schlössern, einem Schild mit der Aufschrift AUSGANG und einem Guckloch. Vermutlich führte sie in einen Hinterhof, in dem die Ware angeliefert wurde.

Kurz vor dieser Tür kniete Sanders, der andere Rechtsmediziner, neben einem zweiten Toten, der ebenfalls einen Apothekerkittel trug. Er lag, eine Hand nach der Tür ausgestreckt, auf dem Bauch. Lourdes achtete darauf, nicht in die Blutspur hinter ihm zu treten, als sie seitlich an ihm vorbeiging.

»Und hier ist José Jr.«, sagte Sanders. »Drei Einschüsse: Rücken, Rektum, Kopf – vermutlich in dieser Reihenfolge.«

Um einen besseren Blick auf die Leiche zu bekommen, stieg Bosch vorsichtig über die Blutspuren auf die andere Seite des Gangs. Die Augen von José Jr. waren halb offen, und er lag mit der rechten Wange auf dem Boden. Er war schätzungsweise Anfang zwanzig und hatte nur einen spärlichen Flaum am Kinn.

Das Blut und die Schusswunden erzählten schon die ganze Geschichte. Beim ersten Anzeichen, dass es Ärger geben würde, war Jose Jr. um sein Leben gerannt. Doch bevor er den Hinterausgang erreichte, hatte ihn ein Schuss in den Rücken zu Boden gestreckt. Als er sich daraufhin heftig blutend umblickte und den Schützen auf sich zukommen sah, versuchte er, zur Tür zu robben, und verschmierte dabei mit seinen Beinen das Blut auf dem Boden. Der Schütze holte ihn ein, schoss ihm erst ins Rektum und dann in den Hinterkopf.

Der Schuss ins Rektum gab Bosch zu denken. Das kannte er von früheren Fällen.

»Der Schuss in den Arsch – wie nah dran?«, fragte er.

Sanders zog mit einer behandschuhten Hand so am Hosenboden des Opfers, dass die Einschussstelle deutlich zu sehen war. Mit der anderen Hand deutete er auf die Stelle, wo der Stoff versengt war.

»Aus nächster Nähe«, sagte Sanders. »Aufgesetzt.«

Bosch nickte. Sein Blick wanderte zu den Wunden im Rücken und am Kopf. Er hatte den Eindruck, dass die zwei Einschüsse, die er sehen konnte, kleiner und sauberer waren als der eine Schuss in die Brust von José Sr.

»Was meinen Sie?«, fragte Bosch. »Zwei verschiedene Waffen?«

Sanders nickte.

»Ich denke, schon.«

»Und keine Hülsen?«

»Jedenfalls habe ich noch keine gefunden. Aber das wird sich zeigen, wenn wir die Leiche umdrehen – obwohl es ein Wunder wäre, wenn alle drei Hülsen unter ihm gelandet wären.«

Bosch nickte.

»Okay, dann machen Sie sich mal an die Arbeit.«

Er ging vorsichtig wieder den Gang hinunter und betrat den Lager- und Arbeitsraum der Apotheke. Als er dort zur Decke hochschaute, sah er sofort die Überwachungskamera über der Tür.

Als Lourdes hinter ihm in den Raum kam, deutete er zur Kamera hinauf und sagte:

»Ich möchte unbedingt die Aufnahmen sehen. Hoffentlich sind sie nicht hier irgendwo gespeichert, sondern auf einer Website.«

»Kann ich gleich checken«, sagte sie.

Bosch blickte sich im Raum um. Mehrere der Plastikschübe zur Aufbewahrung der Medikamente waren herausgezogen und auf den Boden geworfen worden. Er war von losen Pillen übersät. Es würde schwer festzustellen sein, wie viel von den Tablettenvorräten der Apotheke mitgenommen worden war. Einige der auf dem Boden liegenden Schübe waren größer als andere, und er vermutete, dass sie Medikamente enthalten hatten, die häufiger verschrieben wurden.

Auf dem Arbeitstisch standen neben einem Computer verschiedene Messbecher und andere Hilfsmittel zum Abfüllen der Pillen in Plastikfläschchen sowie ein Etikettendrucker.

»Könntest du kurz rausgehen und mit dem Fotografen reden?«, bat er Lourdes. »Ob er hier drinnen alles dokumentiert hat, bevor wir auf die Pillen treten und alles zerbröseln? Und sag ihm, dass er jetzt auch anfangen kann, den Tatort zu filmen.«

»Alles klar«, sagte Lourdes.

Als sie weg war, ging Bosch wieder in den Gang. Ihm war klar, dass sie jede Pille und jedes Beweisstück in der Apotheke einsammeln und dokumentieren mussten. Bei einem Mordfall begann man immer in der Mitte und arbeitete sich dann Schritt für Schritt nach außen vor.

Früher wäre er an diesem Punkt nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen und nachzudenken. Diesmal ging er nur zum Nachdenken nach draußen. Kaum war er durch den Plastikvorhang ins Freie getreten, vibrierte das Handy in seiner Tasche. Die Nummer des Anrufers war blockiert.

»Was sollte das eben, Harry?«, sagte Soto, als er dranging.

»Sorry, ein Notfall«, sagte er. »Ich musste sofort los.«

»Du hättest uns wenigstens Bescheid sagen können. Ich bin in dieser Sache nicht dein Feind. Ich versuche, dir hier den Rücken freizuhalten und zu verhindern, dass das Ganze an die große Glocke gehängt wird. Wenn du es richtig anstellst, wird die Schuld beim Labor oder bei deinem damaligen Partner gesucht – dem, der tot ist.«

»Sind Kennedy und Tapscott gerade bei dir?«

»Nein, natürlich nicht. Nur du und ich.«

»Könntest du mir eine Kopie des Berichts zukommen lassen, den du an Kennedy eingereicht hast?«

»Harry …«

»Hab ich mir schon gedacht. Lucia, erzähl mir hier nicht, dass du auf meiner Seite stehst und mir den Rücken freihältst, wenn es nicht so ist. Weißt du, was ich meine?«

»Ich kann dir unmöglich eine laufende Akte geben …«

»Ich habe hier gerade zu tun. Du kannst mich ja anrufen, wenn du es dir anders überlegst. Wenn ich mich recht erinnere, war da mal ein Fall, der dir sehr viel bedeutet hat. Wir waren Partner, und ich war für dich da. Aber inzwischen scheint das anders zu sein.«

»Das ist nicht fair, und das weißt du auch.«

»Und noch was. Ich würde niemals einen Partner hinhängen. Auch keinen toten.«

Er legte auf. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er Soto so hart anging, aber er glaubte, sie unter Druck setzen zu müssen, um von ihr zu bekommen, was er brauchte.

Da er in den letzten Jahren seiner Dienstzeit beim LAPD kalte Fälle bearbeitet hatte, war es einige Zeit her, dass er am Tatort eines Mordes gewesen war. Zusammen mit seinen Tatortinstinkten kamen auch die alten Gewohnheiten zurück. Er hatte starke Gelüste nach einer Zigarette. Als er nach jemandem Ausschau hielt, von dem er eine schnorren konnte, sah er Lourdes mit bedrückter Miene von der Absperrung am anderen Ende der Straße auf ihn zukommen.

»Was ist?«

»Als ich nach draußen gekommen bin, um mit dem Fotografen zu reden, haben sie gerade Mrs. Esquivel, die Ehefrau und Mutter unserer Opfer, an der Absperrung zurückgehalten. Sie war total aufgelöst. Ich habe sie einfach in einen Wagen gesetzt und auf die Station bringen lassen.«

Bosch nickte. Die Frau vom Tatort fernzuhalten, war das einzig Richtige gewesen.

»Traust du dir zu, mit ihr zu reden?«, fragte er. »Allzu lange können wir sie nicht allein lassen.«

»Ich weiß nicht«, sagte Lourdes. »Ich habe gerade ihr Leben ruiniert. Alles, was wichtig für sie war, ist mit einem Schlag weg. Ihr Mann und ihr einziges Kind.«

»Ich weiß. Trotzdem solltest du eine persönliche Beziehung zu ihr aufbauen. Man kann nie wissen. Die Ermittlungen könnten sich Jahre hinziehen. Deshalb ist es wichtig, dass sie der Person, die sie leitet, vertraut. Außerdem sprichst du Spanisch und hast noch einige Dienstjahre vor dir. Im Gegensatz zu mir.«

»Okay, ich werd’s versuchen.«

»Konzentrier dich auf den Sohn. Seine Freunde, was er in seiner Freizeit gemacht hat, Feinde, das Übliche eben. Versuche rauszufinden, wo er gewohnt hat, ob er eine Freundin hatte. Und frag die Mutter, ob José Sr. bei der Arbeit irgendwelche Probleme mit ihm hatte. Der Sohn dürfte der Schlüssel zu dieser Geschichte sein.«

»Und das weißt du wegen einem Schuss in den Arsch?«

Bosch nickte.

»Ist nicht das erste Mal, dass ich so was sehe. Wir haben mal mit einem Profiler darüber gesprochen. So ein Schuss ist ein Zeichen von großer Wut. Er stinkt förmlich nach Vergeltung.«

»Kannte er die Killer?«

»Auf jeden Fall. Entweder kannte er sie oder sie ihn. Oder beides.«

5

Bosch kam erst nach Mitternacht nach Hause. Nach dem langen Tag am Tatort und der schwierigen Koordinierung der Aufgaben von Ermittlern und Streife war er ziemlich erschlagen. Außerdem hatte er Chief Valdez über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen müssen, bevor dieser vor die Kameras und die in der Ladenstraße versammelten Reporter getreten war. Die neuen Informationen hielten sich in Grenzen: keine Verdächtigen, keine Festnahmen.

Obwohl der Chief nur wenige Infos an die Medien weitergab, hatten die Ermittler durchaus schon einige Anhaltspunkte zu dem Überfall auf die Farmacia. Die Morde und die anschließende Plünderung der Medikamente waren von drei Überwachungskameras im Innern des Geschäfts aufgezeichnet worden, und die farbigen Videoaufnahmen ließen keinen Zweifel, dass die Tat mit eiskalter Berechnung ausgeführt worden war. Es waren zwei Killer mit schwarzen Sturm- hauben und Revolvern gewesen. Sie erschossen José Esquivel Sr. und seinen Sohn mit einer Kaltblütigkeit, die auf sorgfältige Planung, Präzision und Vorsatz hindeuteten. Schon beim ersten Ansehen der Videos gewann Bosch den Eindruck, dass es zwei Auftragskiller waren. Der Diebstahl der Pillen diente nur zur Verschleierung des wahren Motivs. Leider zeigten die Videos kaum etwas, was zur Identifizierung der Schützen herangezogen werden konnte. Als einer der zwei Killer den Arm ausstreckte, um José Sr. zu erschießen, rutschte sein Ärmel zurück, sodass die weiße Haut seines Unterarms zu sehen war. Sonst war Bosch nichts aufgefallen.

Nachdem er den Wagen im Carport abgestellt hatte, ging Bosch nicht gleich durch den Seiteneingang nach drinnen, sondern nach vorne zur Haustür, um nach der Post zu sehen. Der Deckel des an der Hauswand angebrachten Briefkastens stand wegen eines dicken braunen Umschlags ein Stück offen. Er zog ihn heraus und hielt ihn unter die Lampe über dem Eingang, um zu sehen, von wem er war.

Der Umschlag war weder frankiert noch mit einem Absender versehen. Nicht einmal Boschs Adresse stand darauf, nur sein Name. Er ging nach drinnen, legte den Umschlag und die restliche Post auf die Arbeitsplatte in der Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

Nach dem ersten Schluck aus der bernsteinfarbenen Flasche riss er den Umschlag auf, und heraus glitt ein zwei Zentimeter dicker Packen Dokumente. Das oberste erkannte er sofort. Es war eine Kopie des ersten Ermittlungsberichts zum Mord an Danielle Skyler von 1987. Beim Durchblättern der restlichen Dokumente zeigte sich rasch, dass er eine Kopie der laufenden Ermittlungsakte in den Händen hielt.

Lucia Soto hatte eingelenkt.

Bosch war todmüde, wusste aber, dass er nicht so schnell schlafen gehen würde. Er kippte den Rest des Biers in den Ausguss und machte sich mit der Keurig, die ihm seine Tochter zu Weihnachten geschenkt hatte, eine Tasse Kaffee. Dann griff er nach den Unterlagen und machte sich an die Arbeit.

Nachdem seine Tochter ausgezogen war, um aufs College zu gehen, und gemeinsame Mahlzeiten eine Seltenheit geworden waren, hatte Bosch das Esszimmer des kleinen Hauses in ein Büro umgewandelt. Der Tisch wurde zum Schreibtisch, ideal, um Ermittlungsberichte darauf auszubreiten – Unterlagen von Fällen, die er aus der Gefängniszelle in San Fernando mitnahm oder an denen er privat arbeitete. Außerdem hatte er an zwei Wänden der Essnische mehrere Borde angebracht. Darauf standen weitere Akten, Bücher über rechtliche Verfahrensfragen und das kalifornische Strafgesetzbuch, außerdem Stapel von CDs und ein Bose-Player, der zum Einsatz kam, wenn seine Plattensammlung und sein Plattenspieler seine musikalischen Wünsche nicht erfüllen konnten.