Dunkle Stunden - Michael Connelly - E-Book

Dunkle Stunden E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

An Silvester ist in Hollywood die Hölle los: Beim traditionellen Bleiregen schießen um Mitternacht Hunderte Feiernde in den Himmel. Dabei spielt es keine Rolle, dass alles, was hoch geht, auch wieder runtermuss. Wenige Minuten später werden Renée Ballard, Detective der Nachtschicht beim LAPD, und eine ihrer wenig engagierten Kolleginnen, die sonst tagüber arbeitet, zu einem Tatort gerufen: Der Besitzer einer Autowerkstatt wurde inmitten einer überfüllten Straßenparty angeschossen und stirbt noch im Krankenwagen. Schnell steht fest: Diese tödliche Kugel ist nicht vomHimmel gefallen. Noch ein Fall beschäftigt Ballard: Die Midnight Men, eine Bande von Sexualstraftätern, haben in den vergangenen fünf Wochen zwei Frauen vergewaltigt – und nicht eine Spur hinterlassen. Hinzu kommt,dass die Pandemie und die jüngsten ProtesteBallards Arbeit von Grund auf verändert haben.Niemand glaubt mehr daran, dass die PolizeiGutes bewirkt – nicht mal sie selbst, befürchtetBallard, wenn sie sich die Moral im Kollegiumso ansieht. Fest entschlossen, beide Fälle aufzuklären, wendet sie sich an den einzigen Detective, auf den sie zählen kann: Harry Bosch.

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Michael Connelly

Dunkle Stunden

Ein Fall für Renée Ballard und Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Das ist für Robert Pepin,

Übersetzer, Lektor, Freund der ersten Stunde.

Merci beaucoup, mon ami.

Teil 1Die Midnight Men

1

Starker Regen war angesagt, und das hätte dem unausweichlichen Silvester-Bleihagel einen Dämpfer aufgesetzt. Aber die Wettervorhersage stimmte nicht. Der Himmel war blauschwarz und klar. Und um sich vor der Kanonade zu schützen, stellte sich Renée Ballard mit ihrem Wagen unter die Cahuenga-Überführung im Nordteil des Reviers. Lieber wäre sie allein gewesen, aber sie war mit einer Partnerin unterwegs – und einer lustlosen noch dazu. Detective Lisa Moore von der Einheit Sexualdelikte der Hollywood Division war eine Tagschicht-Veteranin, die viel lieber mit ihrem Freund zu Hause gewesen wäre. Aber an Silvester hieß es: Alle Mann an Deck. Alle mussten in Uniform Dienst tun und Zwölf-Stunden-Schichten fahren. Ballard und Moore waren seit sechs Uhr abends im Einsatz, und bisher war alles ruhig gewesen. Doch jetzt ging es am letzten Tag des Jahres auf Mitternacht zu, und bald würde die Hölle losbrechen. Dazu kam noch, dass irgendwo da draußen die Midnight Men ihr Unwesen trieben. Wenn der Einsatzbefehl kam, mussten Ballard und ihre unmotivierte Partnerin sofort los.

»Müssen wir wirklich hier herumstehen?«, fragte Moore. »Schau dir bloß mal die Leute an. Wie kann jemand so leben?«

Ballards Blick wanderte über die primitiven Unterkünfte aus weggeworfenen Planen und Bauschutt, die sich unter der Überführung drängten. Überall gingen Menschen herum, und auf ein paar offenen Feuern wurde gekocht. Es gab so wenig Platz, dass manche der provisorischen Schlafstätten direkt an die Dixi-Klos gebaut waren, die von der Stadt auf dem Gehsteig aufgestellt worden waren, um wenigstens einen gewissen Anschein von Würde und Hygiene zu wahren. Nördlich von der Überführung lag ein Wohngebiet, das Hollywood Dell. Nachdem es immer wieder Beschwerden gegeben hatte, dass Menschen in den Straßen dort ihre Notdurft verrichteten, kam die Stadt auf die Idee mit den Dixi-Klos. Das nannte sich dann »Humanitäres Engagement«.

»Du sagst das, als würdest du denken, diese Leute wollen unter einer Überführung leben«, sagte Ballard. »Als hätten sie groß eine Wahl. Wo sollen sie denn hin? Die Stadt stellt ihnen Toiletten hin und räumt ihre Scheiße weg, mehr aber auch nicht.«

»Trotzdem«, sagte Moore. »Ein richtiger Schandfleck – praktisch unter jeder Überführung sieht es so aus. Die Leute fangen noch an, deswegen aus L.A. wegzuziehen.«

»Tun sie doch längst«, sagte Ballard. »Aber egal, wir bleiben hier. Ich habe die letzten vier Silvesternächte hier drunter gestanden. Einen sichereren Ort gibt es nicht, wenn das Geballere losgeht.«

Darauf verfielen sie eine Weile in Schweigen. Auch Ballard hatte schon überlegt, aus Los Angeles wegzuziehen und vielleicht nach Hawaii zurückzugehen. Aber nicht wegen des hartnäckigen Problems der Obdachlosigkeit, das die Stadt nicht in den Griff bekam. Es lag an allem. An der Stadt, am Job, am ganzen Leben hier. Wegen der Pandemie und der sozialen Unruhen und der Gewalt war es ein schlimmes Jahr gewesen. Die Polizei war in den Schmutz gezogen worden und Ballard mit ihr. Sie war von den Leuten, für deren Schutz und Sicherheit sie einzustehen glaubte, im übertragenen wie im buchstäblichen Sinn bespuckt worden. Es war eine bittere Lektion gewesen, und das Gefühl von Vergeblichkeit, das sie deshalb überkommen hatte, hatte sich inzwischen tief in ihr festgesetzt. Sie brauchte eine Veränderung. Vielleicht sollte sie versuchen, in den Bergen Mauis ihre Mutter aufzuspüren und nach all den Jahren wieder eine Beziehung zu ihr aufzubauen.

Sie nahm eine Hand vom Lenkrad und hielt sich den Hemdsärmel an die Nase. Es war das erste Mal nach den Demonstrationen, dass sie wieder ihre Uniform trug. Sie konnte immer noch das Tränengas riechen. Sie hatte die Uniform zweimal in die chemische Reinigung gebracht, aber der Geruch hatte sich für immer darin festgesetzt. Er war eine sehr konkrete Erinnerung an das vergangene Jahr.

Die Pandemie und die Proteste hatten alles verändert. Die Polizei war von proaktiv zu reaktiv übergegangen. Und das hatte bei Ballard einiges ausgelöst. Sie hatte mehr und mehr mit dem Gedanken gespielt, alles hinzuschmeißen. Zumindest bis die Midnight Men auf den Plan getreten waren. Seitdem hatte sie wieder ein Ziel.

Moore schaute auf die Uhr. Ballard bekam es mit und warf einen Blick auf die Zeitanzeige im Armaturenbrett. Sie ging eine Stunde nach, aber sie brauchte nicht lange zu rechnen: Es war zwei Minuten vor Mitternacht.

»Jetzt aber«, sagte Moore. »Sieh dir mal den Typen da an.«

Sie schaute aus ihrem Fenster zu einem Mann, der auf ihr Auto zukam. Es war unter fünfzehn Grad, aber er trug kein Hemd und hielt sich mit einer Hand die schmutzstarrende Hose um den Bauch. Eine Maske trug er auch nicht. Moores Fenster stand einen Spaltbreit offen, aber jetzt drückte sie auf den Knopf und fuhr es ganz hoch.

Der Obdachlose klopfte an ihr Fenster. Sie konnten ihn durch die Scheibe hören.

»Ich habe hier ein Problem, Officers.«

Sie saßen in Ballards zivilem Dienstwagen, aber sie hatte die Warnlichter im Kühlergrill angemacht, als sie unter der Überführung parkten. Außerdem waren sie in Uniform.

»Wenn Sie keine Maske tragen, kann ich nicht mit Ihnen reden, Sir«, sagte Moore laut. »Holen Sie sich eine Maske.«

»Aber ich bin beklaut worden«, sagte der Mann. »Dieser Dreckskerl dort drüben hat meine ganzen Sachen genommen, als ich geschlafen habe.«

»Ich kann Ihnen erst helfen, Sir, wenn Sie sich eine Maske holen«, sagte Moore.

»Ich habe aber keine Maske«, sagte der Mann.

»Dann kann ich Ihnen leider nicht helfen, Sir«, sagte Moore. »Keine Maske, keine Hilfe.«

Der Mann schlug mit der Faust gegen das Fenster, direkt vor Moores Gesicht. Obwohl der Schlag nicht in der Absicht erfolgt war, die Scheibe einzuschlagen, zuckte sie zurück.

»Treten Sie vom Auto zurück, Sir«, befahl Moore.

»Sie können mich mal.«

»Sir, wenn ich aussteigen muss, kommen Sie ins Gefängnis. Wenn Sie nicht schon Corona haben, kriegen Sie es dort. Wollen Sie das?«

Der Mann entfernte sich langsam.

»Sie können mich mal«, sagte er noch einmal. »Scheißbullen!«

»Als ob ich das nicht schon genug gehört hätte«, sagte Moore.

Sie schaute wieder auf ihre Uhr, Ballard aufs Armaturenbrett. Die letzte Minute des Jahres 2020 war angebrochen, und für Moore und die meisten Menschen der Stadt und der Welt konnte das Jahr nicht schnell genug zu Ende gehen.

»Mein Gott, können wir uns nicht woanders hinstellen«, raunzte Moore.

»Zu spät«, sagte Ballard. »Ich hab dir doch gesagt, hier sind wir sicher.«

»Nicht vor diesen Leuten«, sagte Moore.

2

Es war wie eine Tüte Popcorn in der Mikrowelle. Vereinzeltes Knallen, als der Countdown fürs neue Jahr ablief, und dann das durchgehende Krachen, bei dem es unmöglich war, die einzelnen Schüsse zu unterscheiden. Eine Symphonie aus Schüssen. Geschlagene fünf Minuten lang ertönte eine ununterbrochene Salve, als die Feiernden in jahrzehntealter Tradition ihre Schusswaffen in den Himmel abfeuerten.

Dabei spielte es keine Rolle, dass alles, was hochging, auch wieder runterkommen musste. In der Stadt der Engel begann jedes Jahr mit einem Risiko.

In das Gewehrfeuer mischten sich natürlich die legalen Feuerwerkskörper und Kracher, und gemeinsam erzeugten sie ein Geräusch, das typisch war für die Stadt und genauso zum Jahreswechsel gehörte wie das Austauschen des Kalenders. Beim Appell war die Zahl der Einsätze in Zusammenhang mit dem Bleihagel auf durchschnittlich achtzehn geschätzt worden. Betroffen waren hauptsächlich Windschutzscheiben, aber ein Jahr zuvor hatte Ballard ausrücken müssen, weil eine Kugel durch ein Oberlicht schlug und auf der Schulter einer Stripperin landete, die direkt darunter auf der Bühne tanzte. Die herabfallende Kugel fügte ihr nicht einmal eine Schramme zu. Aber ein Stück der zerbrochenen Oberlichtverglasung verpasste einem direkt an der Bühne sitzenden Gast einen neuen Scheitel. Er verzichtete jedoch auf eine Anzeige, damit nicht herauskam, dass er sich nicht da aufhielt, wo er seiner Familie gesagt hatte.

Aber egal wie viele Einsätze es wurden, um die meisten würden sich Streifenpolizisten kümmern, soweit nicht die Anwesenheit eines Detective erforderlich war. Ballard und Moore warteten vor allem auf eine ganz bestimmte Durchsage. Die Midnight Men. Zu ihrem Leidwesen waren sie manchmal darauf angewiesen, dass Straftäter erneut zuschlugen und dabei vielleicht einen Fehler machten oder ein neues Beweisstück hinterließen, um ihnen auf die Spur zu kommen.

Midnight Men war der Name, den Ballard einem Duo von Sextätern gegeben hatte, die in den vergangenen fünf Wochen zwei Frauen vergewaltigt hatten. Zu beiden Überfällen war es an Feiertagen gekommen – an Thanksgiving und Heiligabend. Der Zusammenhang zwischen den zwei Vergewaltigungen war nicht über DNA, sondern über den Modus Operandi hergestellt worden. Die Midnight Men achteten nämlich sehr genau darauf, keine DNA zurückzulassen. Jeder Überfall erfolgte kurz nach Mitternacht und dauerte ganze vier Stunden, in denen die Täter ihr Opfer abwechselnd in dessen Bett vergewaltigten und ihm zum Abschluss mit dem Messer, das sie ihm die ganze Zeit an den Hals gehalten hatten, eine dicke Haarsträhne abschnitten. Dazu kamen noch andere Demütigungen, aufgrund derer sich neben dem Umstand, dass Vergewaltigungen durch zwei Täter sehr selten waren, eine Verbindung zwischen den Taten herstellen ließ.

Als Nachtschicht-Detective war Ballard in beiden Fällen zunächst die zuständige Ermittlerin gewesen, hatte sie dann aber an die Tagschicht-Detectives der Einheit Sexualdelikte der Hollywood Division abgegeben, der neben zwei männlichen Ermittlern auch Lisa Moore angehörte. Da Ballard in der Schicht, in der es zu den Vergewaltigungen gekommen war, Dienst gehabt hatte, wurde sie der Einheit formlos zugeteilt.

Noch vor wenigen Jahren hätte ein Zweierteam von Serienvergewaltigern die ganze Aufmerksamkeit der Einheit Sexualdelikte, die als Teil der renommierten Robbery-Homicide Division im Police Administration Building Downtown stationiert war, auf sich gelenkt. Aber infolge der seitens der Stadt verhängten Budgetkürzungen war die Einheit aufgelöst worden, und seitdem waren für Sexualdelikte die Ermittler des jeweiligen Polizeireviers zuständig. Das war ein gutes Beispiel dafür, wie Gruppen, die sich für eine Reduzierung der Polizeiausgaben starkmachten, ihr Ziel auf Umwegen erreichten. Der Antrag auf Budgetkürzungen war zwar von der Stadt abgeschmettert worden, aber die Polizei hatte im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Proteste, zu denen es nach dem Tod von George Floyd durch die Polizei von Minneapolis gekommen war, ihre finanziellen Mittel so stark strapaziert, dass ihr nach einem wochenlangen taktischen Alarm und den damit verbundenen Kosten das Geld ausging, was wiederum dazu führte, dass kein Personal mehr eingestellt wurde, Einheiten aufgelöst und viele neue Projekte abgeblasen wurden. In der Praxis resultierte das in einer drastischen Unterfinanzierung der Polizei in etlichen Schlüsselbereichen.

Lisa Moore war ein Paradebeispiel dafür, wie das alles zu einer Verschlechterung des Dienstes an der Allgemeinheit führte. Statt die Midnight-Men-Ermittlungen einer Spezialeinheit zu übertragen, die über entsprechende Ressourcen und Detectives mit spezieller Ausbildung und Erfahrung mit Serienstraftaten verfügte, war damit die überlastete und unterbesetzte Einheit Sexualdelikte der Hollywood Division betraut worden, die in einem flächenmäßig riesigen und dicht bevölkerten Gebiet für alle Vergewaltigungen und versuchten Vergewaltigungen, für sexuelle Übergriffe, Grabschereien und Pädophilie-Anschuldigungen zuständig war. Und Moore teilte die Einstellung, die bei der Polizei seit den Protesten viele hatten. Ihr ging es in erster Linie darum, nur noch möglichst wenig bis zu ihrer Pensionierung zu tun, wie weit diese auch noch vor ihr liegen mochte. Sie betrachtete den Midnight-Men-Fall als Zeitfresser, der den Rahmen ihrer von acht bis vier dauernden Dienstzeit sprengte, während der sie in der ersten Hälfte ihres Arbeitstags brav ihren Schreibkram erledigte und danach nur in sehr begrenztem Umfang Ermittlungsaufgaben nachging, für die sie die Station nur verließ, wenn sie sich nicht telefonisch oder am Computer erledigen ließen. Sie hatte es als Beleidigung und lästiges Ärgernis betrachtet, Ballard an Silvester für die Nachtschicht zugeteilt zu werden. Ballard dagegen hatte es als Chance gesehen, die zwei Sextäter bei ihrer Jagd nach wehrlosen Frauen zu erwischen.

»Hast du was wegen der Impfung gehört?«, fragte Moore.

Ballard schüttelte den Kopf.

»Wahrscheinlich dasselbe wie du. Wie kriegen sie nächsten Monat – vielleicht.«

Jetzt schüttelte Moore den Kopf.

»Diese Arschlöcher«, schimpfte sie. »Wir stehen voll in der Schusslinie und sollten sie zeitgleich mit der Feuerwehr kriegen. Stattdessen stellen sie uns auf eine Stufe mit den Supermarktkassiererinnen.«

»Die Feuerwehr wird dem Gesundheitssystem zugeordnet«, sagte Ballard. »Wir nicht.«

»Schon klar, aber mich nervt das Prinzip dahinter. Unsere Gewerkschaft ist einfach Scheiße.«

»Es ist nicht die Schuld der Gewerkschaft. Es liegt am Gouverneur, am Gesundheitswesen, an allem Möglichen.«

»Scheißpolitiker …«

Ballard ging nicht weiter darauf ein. Es war eine Klage, die man bei Appellen und in Polizeiautos in der ganzen Stadt zu hören bekam. Wie viele bei der Polizei hatte Covid-19 auch Ballard erwischt. Sie hatte im November drei Wochen flachgelegen und hoffte jetzt einfach, genügend Antikörper zu haben, um sich bis zur Impfung kein zweites Mal anzustecken.

In der grüblerischen Stille, die darauf eintrat, hielt auf einer der zwei Fahrspuren Richtung Süden ein Streifenwagen neben Moores Fenster an.

»Kennst du die Typen?«, fragte Moore, als sie die Hand nach dem Fensteröffner ausstreckte.

»Leider ja«, sagte Ballard. »Setz deine Maske auf.«

Es waren Smallwood und Vitello, zwei testosterongesteuerte P2S, die sich für »zu gesund« hielten, um sich das Virus einzufangen, und die bei der Polizei geltende Maskenpflicht ignorierten.

Moore zog ihre Maske über die Nase und ließ das Fenster runter.

»Und? Wie geht’s, Mädels?«, fragte Smallwood mit einem breiten Grinsen.

Auch Ballard zog ihre Maske hoch. Sie war dunkelblau, mit dem Schriftzug LAPD in Silberprägung.

»Ihr behindert den Verkehr, Smallwood«, sagte Ballard.

Moore drehte den Kopf zu Ballard und flüsterte: »Echt jetzt? Small wood – wie kleines Stöckchen?«

Ballard nickte.

Vitello drückte auf den Knopf für den Lichtbalken auf dem Dach des Streifenwagens. Das blinkende Blaulicht fiel auf die Graffitis an den Betonwänden über den Zelten und Hütten auf beiden Seiten der Überführung. Alle möglichen Versionen von Fuck the Police und Fuck Trump waren von Trupps der Stadtverwaltung überstrichen worden, aber in dem harten blauen Licht kamen die Schriftzüge wieder durch.

»Besser so?«, fragte Vitello.

»Gleich dort drüben ist übrigens ein Typ, der einen Diebstahl anzeigen will«, sagte Ballard. »Nehmt doch seine Anzeige auf, wenn ihr schon hier seid.«

»Träum weiter«, sagte Smallwood.

»Hört sich eher nach was für einen Detective an«, fügte Vitello hinzu.

Die Unterhaltung, wenn man es so nennen wollte, wurde von einer Durchsage aus der Kommunikationszentrale unterbrochen, die in beiden Autos reinkam. Sie forderte eine William-6-Einheit an. »6« war die Bezeichnung für Hollywood, »William« für einen Detective.

»Du bist gefragt, Ballard«, sagte Smallwood.

Ballard zog das Funkgerät aus der Ladestation in der Mittelkonsole und antwortete: »6-William-26. Ich höre.«

Es ging um eine Schießerei mit Verletzten in der Gower Street.

»Der Gulch«, rief Vitello zu ihnen herüber. »Braucht ihr Unterstützung, Ladys?«

Die Hollywood Division war in sieben Zonen unterteilt, die sogenannten Basic Car Areas. Smallwood und Vitello waren für das Gebiet zuständig, zu dem auch die Hollywood Hills gehörten, wo die Kriminalitätsrate niedrig und die meisten Bewohner, mit denen sie zu tun hatten, weiß waren. Dahinter stand die Absicht, die beiden aus der Schusslinie zu nehmen und eskalierende Konfrontationen mit Minderheiten zu vermeiden. Das funktionierte aber nicht immer. Ballard hatte gehört, dass sie Teenager vermöbelt hatten, die am Mulholland Drive an Stellen, wo man nachts einen tollen Blick auf die Stadt hatte, im Halteverbot geparkt hatten.

»Das kriegen wir schon hin«, rief Ballard. »Fahrt ihr doch zum Mulholland Drive hoch und passt auf, dass die Kids keine Kondome aus dem Fenster werfen. Sorgt ein bisschen für Sicherheit da oben, Jungs.«

Sie legte den Gang ein und stieg aufs Gas, bevor Smallwood oder Vitello kontern konnten.

»Der arme Kerl«, sagte Moore ohne Mitgefühl. »Officer Stöckchen.«

»Tja«, sagte Ballard. »Und das versucht er jede Nacht auf Streife wettzumachen.«

Moore lachte, während sie auf dem Cahuenga Pass nach Süden brausten.

3

Gower Gulch war nach alter Hollywood-Tradition der Name der Kreuzung von Sunset Boulevard und Gower Street, an der vor fast hundert Jahren Arbeit suchende Tagelöhner für Engagements als Statisten in den Western anstanden, die damals die Filmstudios im Wochenrhythmus abdrehten. Da viele der Hollywood-Cowboys bereits in voller Montur an der Kreuzung warteten – staubige Stiefel, Chaps, Lederwesten und Cowboyhüte –, wurde sie als Gower Gulch bekannt. Es hieß, dass hier auch ein junger Schauspieler namens Marion Morrison, besser bekannt als John Wayne, Arbeit suchte.

Inzwischen war der Gulch ein Einkaufszentrum mit den verblichenen Fassaden einer alten Westernstadt und den Porträts von Filmcowboys – von Wayne bis Gene Autry – an den Außenwänden des Rite-Aid-Drugstore. Südlich vom Gulch war die Ostseite der Straße bis hinunter zu den Paramount Studios, dem Kronjuwel Hollywoods, lückenlos von turnhallengroßen Aufnahmestudios gesäumt. Das berühmte Studio war von dreieinhalb Meter hohen Mauern und Eisentoren umgeben. Wie ein Gefängnis. Nur dienten sie hier dazu, die Menschen draußen zu halten, nicht drinnen.

In krassem Gegensatz dazu stand die Westseite der Gower Street. Sie war gesäumt von Kfz-Werkstätten und alternden Wohnblöcken, deren Türen und Fenster mit Eisengittern gegen Einbrecher geschützt waren. Während hier die Gebäude übersät waren von den Graffiti einer lokalen Gang, die sich Las Palmas 13 nannte, waren die Studiomauern auf der Ostseite unangetastet, als spürten die Jungs mit den Spraydosen, dass man sich mit der Branche, die Hollywood großgemacht hatte, lieber nicht anlegte.

Ballard und Moore erreichten die Adresse, zu der sie gerufen worden waren. Eine Autowerkstatt, auf deren Abstellplatz ein Straßenfest stattfand. Kaum jemand von den Schaulustigen trug eine Maske. Sie verfolgten neugierig, wie die Besatzungen von zwei Streifenwagen auf dem asphaltierten und durch Tore gesicherten Hof, wo etliche zu reparierende Fahrzeuge standen, mit Flatterband einen Tatort absperrten.

»Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, hm?«, sagte Moore.

»Mir jedenfalls nicht«, sagte Ballard.

Sie öffnete die Tür und stieg aus. Ihre Antwort ließ Moore eigentlich keine andere Wahl, als ihr zu folgen, und Ballard war ziemlich sicher, dass sie hier auf Moores Hilfe angewiesen war.

Sie duckte sich unter dem gelben Absperrband durch und vergewisserte sich zunächst, dass das Opfer der Schießerei bereits vom Tatort weggebracht worden war. Sie sah, dass Sergeant Dave Byron und ein anderer Streifenpolizist versuchten, eine Gruppe potenzieller Zeugen in einer der offenen Garagen des Betriebs zusammenzutreiben. Zwei weitere Uniformierte zogen eine Absperrung um den eigentlichen Tatort, der an einer Blutlache und den von den Sanitätern zurückgelassenen Abfällen zu erkennen war. Ballard ging auf Byron zu.

»Und? Was hast du für mich, Dave?«, fragte sie.

Byron drehte den Kopf in ihre Richtung. Er trug eine Maske, aber seine Augen verrieten, dass er lächelte.

»Ein richtiges Shitsandwich, Ballard«, sagte er.

Sie winkte ihn von den anderen fort, um ungestört mit ihm reden zu können.

»Alle schön hierbleiben«, sagte Byron zu den wartenden Zeugen und machte eine entsprechende Geste. Daraus schloss Ballard, dass viele von ihnen wahrscheinlich kein Englisch sprachen.

Ballard und Byron stellten sich vor einen verrosteten VW-Bus. Byron zog sein kleines Notizbuch zu Rate.

»Das Opfer ist vermutlich Javier Raffa, der Inhaber der Werkstatt. Wohnt nur eine Straße weiter.«

Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung des Viertels westlich der Werkstatt.

»Falls dir das weiterhilft«, fügte Byron hinzu. »Er hatte Kontakte zu Las Palmas.«

»Okay«, sagte Ballard. »Wo haben sie ihn hingebracht?«

»Ins Hollywood Presbyterian. Er war schon am Abnippeln.«

»Was haben die Zeugen erzählt?«

»Nicht viel. Die hab ich dir aufgespart. Anscheinend stellt Raffa sein Gelände jedes Silvester für ein Straßenfest zur Verfügung, und es gibt Freibier. Eigentlich ist es für die Leute aus dem Viertel, aber es kommen auch viele Las Palmas. Um zwölf haben dann einige in den Himmel geballert, und plötzlich lag Raffa auf dem Boden. Bisher haben wir niemand gefunden, der gesehen hat, wie er angeschossen wurde. Und der Boden ist übersät mit Patronenhülsen. Viel Glück also, was das angeht.«

Ballard deutete mit dem Kinn auf eine Kamera auf dem Dach über dem Werkstatteck und fragte:

»Wie sieht’s mit Überwachung aus?«

»Die Außenkameras sind Attrappen, aber innen hängen richtige. Allerdings habe ich sie mir noch nicht angesehen. Wie es aussieht sind sie an Stellen angebracht, wo sie uns nicht groß weiterhelfen.«

»Okay. Wart ihr vor den Sanis hier?«

»Ich nicht, aber eine 79. Finley und Watts. Sie sagen, es war ein Kopfwunde. Sie sind dort drüben. Wenn du willst, kannst du mit ihnen reden.«

»Mach ich, wenn nötig.«

Ballard schaute, ob einer der Streifenpolizisten, die den Tatort absperrten, aussah, als spräche er Spanisch. Sie konnte zwar ein wenig Spanisch, aber nicht gut genug, um eine Zeugenbefragung vorzunehmen. In einem der Polizisten – er brachte am Außenspiegel eines alten Pick-up gerade Absperrband an – erkannte sie Victor Rodriguez.

»Was dagegen, wenn ich V-Rod zum Dolmetschen hierbehalte?«, fragte Ballard.

»Wie lang?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Für eine vorläufige Befragung der Zeugen und dann vielleicht noch der Familie. Wenn wir jemanden auf die Station bringen müssen, soll das einer der Kollegen dort übernehmen.«

»Meinetwegen, aber wenn sich was anderes tut, muss ich ihn wieder abziehen.«

»Schon klar. Ich mach schnell.«

Ballard ging zu Rodriguez, der vor einem Jahr von der Rampart Division nach Hollywood gekommen war.

»Victor, du gehörst jetzt mir«, sagte Ballard.

»Echt?«, sagte er.

»Ja, Zeugen vernehmen.«

»Cool.«

Als Ballard gerade zu den Zeugen gehen wollte, tauchte Moore neben ihr auf.

»Wolltest du nicht im Wagen bleiben?«, fragte Ballard.

»Was soll ich tun?«, fragte Moore.

»Ich könnte jemanden brauchen, der im Hollywood Presbyterian nach dem Opfer sieht. Willst du den Wagen nehmen und rüberfahren?«

»Na super«, maulte Moore.

»Sonst kann auch ich fahren, und du redest mit den Zeugen und den Angehörigen.«

»Gib mir den Schlüssel.«

»Hab ich mir fast gedacht. Der Schlüssel steckt noch. Gib mir Bescheid, was du rausfindest.«

Ballard erteilte Rodriguez flüsternd Anweisungen, als sie auf die Zeugen zugingen.

»Keine Suggestivfragen«, sagte sie. »Wir wollen bloß wissen, was sie gesehen oder gehört haben, was immer ihnen aufgefallen ist, bevor sie Mr. Raffa auf dem Boden liegen sehen haben.«

»Alles klar.«

Die Befragung dauerte etwa vierzig Minuten, doch niemand hatte gesehen, wie das Opfer angeschossen wurde. Jede der einzeln vernommenen Personen berichtete, es habe aufgeregtes Gedränge geherrscht, als Schlag Mitternacht alle zu den Feuerwerkskörpern und Kugeln hinaufsahen, die durch den Nachthimmel rauschten. Obwohl niemand zugab, sich selbst an dem Geballere beteiligt zu haben, leugnete auch niemand, dass einige aus dem Viertel ihre Schusswaffen abgefeuert hatten. Keiner der Zeugen hatte etwas zu berichten, was gerechtfertigt hätte, ihn für eine eingehendere Befragung in die Station mitzunehmen. Ballard notierte sich ihre Adressen und Telefonnummern und wies sie darauf hin, dass sie in Kürze zwecks weiterer Fragen von Mordermittlern kontaktiert würden.

Dann winkte Ballard Finley und Watts beiseite, um sich nach ihren ersten Eindrücken von der Tat zu erkundigen. Sie erzählten ihr, das Opfer sei bei ihrer Ankunft nicht ansprechbar gewesen und anscheinend von einer herabfallenden Kugel oben am Kopf getroffen worden; hauptsächlich seien sie allerdings damit beschäftigt gewesen, die Leute vom Opfer fernzuhalten und für die Rettungssanitäter Platz zu schaffen.

Ballard dankte ihnen gerade für die Auskünfte, als Moore sie aus dem Hollywood Presbyterian Medical Center anrief.

»Seine ganze Familie ist hier«, sagte Moore. »Sie werden ihnen gleich mitteilen, dass er nicht durchgekommen ist. Was soll ich jetzt tun?«

Dich wie ein ausgebildeter Detective verhalten, dachte Ballard, ohne es auszusprechen.

»Sieh zu, dass sie bleiben«, sagte sie stattdessen. »Bin gleich da.«

»Ich werd’s versuchen«, sagte Moore.

»Versuch’s nicht nur«, sagte Ballard. »Tu es. In zehn Minuten bin ich da. Weißt du, ob sie Englisch sprechen.«

»Ich bin nicht sicher.«

»Dann finde es raus und schreib mir. Notfalls bringe ich jemanden mit.«

»Wie sieht es bei euch aus?«

»Um das zu sagen, ist es noch zu früh. Wenn es ein Unfall war, ist der Schütze nicht hiergeblieben. Und wenn nicht, gibt es keine Kameras und keine Zeugen.«

Ballard legte auf und ging zu Rodriguez.

»Victor, kannst du mich ins Hollywood Pres fahren?«, fragte sie ihn.

»Klar, kein Problem.«

Ballard gab noch kurz Byron Bescheid und bat ihn, den Tatort bis zu ihrer Rückkehr zu sichern.

Als sie Rodriguez zu seinem Wagen folgte, sah sie die ersten Regentropfen zwischen den Patronenhülsen auf den Asphalt fallen.

4

Um schneller ins Krankenhaus zu kommen, machte Rodriguez das Blaulicht an, aber nicht die Sirene. Ballard nutzte die Zeit, um ihren Lieutenant zu Hause anzurufen und ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Derek Robinson-Reynolds, der Stationsleiter des Detective Bureau der Hollywood Division, hatte Ballard geschrieben, dass er umgehend informiert werden wollte, und ging sofort dran.

»Ballard, eigentlich hätte ich erwartet, früher von Ihnen zu hören.«

»Sorry, L.T. Wir mussten erst mit mehreren Zeugen sprechen, um uns einen groben Eindruck zu verschaffen. Und eben habe ich erfahren, dass das Opfer bei der Ankunft im Krankenhaus bereits tot war.«

»Dann muss ich das West Bureau einschalten. Wegen eines Doppelmords gestern sind sie allerdings bereits voll ausgelastet.«

Für Morde war das West Bureau zuständig. Robinson-Reynolds wollte den Fall an das West Bureau abgeben, wusste aber, dass das von seinem Amtskollegen beim West Bureau Homicide nicht gut aufgenommen würde.

»Das können Sie selbstverständlich machen, Sir, aber ich konnte noch nicht feststellen, womit wir es genau zu tun haben. Hier waren eine Menge Leute, die um Mitternacht in den Himmel geschossen haben. Noch lässt sich nicht sagen, ob es ein Unfall war oder Absicht. Ich bin gerade auf dem Weg ins Krankenhaus, um mir das Opfer anzusehen.«

»Hat denn keiner von den Zeugen was mitbekommen?«

»Jedenfalls keiner von denen, die dageblieben sind. Sie haben nur gesehen, dass das Opfer plötzlich auf dem Boden lag. Falls jemand mitbekommen hat, wie es passiert ist, hat er sich aus dem Staub gemacht, bevor die Streifen eingetroffen sind.«

In der Leitung wurde es still. Der Lieutenant überlegte, wie er jetzt vorgehen sollte.

Eine Straße weiter tauchte bereits das Krankenhaus vor ihnen auf.

»Lassen Sie mich einfach machen, L.T.«, sagte Ballard, bevor Robinson-Reynolds antworten konnte.

Der Lieutenant schwieg weiter, und Ballard brachte ihre Argumente vor.

»Im West Bureau haben sie mit dem Doppelmord genug zu tun. Und wir wissen noch nicht mal, worum es sich hier handelt. Lassen Sie mich die Sache weiterverfolgen, bis wir morgen früh genauer wissen, wo wir stehen. Dann rufe ich Sie noch mal an.«

»Ich weiß nicht, Ballard, ob ich Sie da wirklich allein rumgeistern lassen soll«, sagte der Lieutenant schließlich.

»Ich bin nicht allein. Ich habe Lisa Moore dabei.«

»Ich weiß, ich weiß. In der anderen Sache hat sich heute nichts getan?«

Er erkundigte sich nach den Midnight Men.

»Bisher nicht. Wir sind jetzt im Hollywood Pres. Die Familie des Opfers ist hier.«

Das drängte den Lieutenant zu einer Entscheidung.

»Na schön, dann warte ich mit dem West Bureau noch. Vorerst. Aber halten Sie mich auf dem Laufenden. Egal, wie spät es ist, Ballard.«

»Roger.«

»Gut.«

Robinson-Reynolds legte auf. Gerade als Rodriguez hinter Ballards Wagen parkte, den Moore in einer Rettungswagenbucht abgestellt hatte, ging auf Ballards Handy eine Textnachricht ein.

»War das Dash?«, fragte Rodriguez. »Was hat er gesagt?«

Er verwendete den Spitznamen des Lieutenant, wie fast alle in der Hollywood Division, wenn sie ihn nicht direkt ansprachen. Ballard checkte die Textnachricht. Sie war von Moore: Niemand spricht hier Englisch.

»Er hat uns grünes Licht erteilt«, sagte Ballard.

»Uns?«, sagte Rodriguez.

»Ja, wahrscheinlich brauche ich dich hier auch.«

»Sergeant Byron hat aber gesagt, ich soll sofort zurückkommen.«

»Das hat Sergeant Byron nicht zu bestimmen. Und solange ich dich nicht zurückschicke, bleibst du bei mir.«

»Verstanden – solange du es ihm sagst.«

»Werde ich.«

Ballard fand Moore im Wartezimmer der Notaufnahme. Vor ihr saßen eine Gruppe weinender Frauen und ein halbwüchsiger Junge. Raffas Angehörige hatten gerade die traurige Nachricht über ihren Ehemann und Vater erhalten. Die Ehefrau, die drei erwachsenen Töchter und der Sohn befanden sich alle in unterschiedlichen Zuständen von Schock, Trauer und Wut.

»O Mann«, seufzte Rodriguez, als sie sich ihnen näherten.

Niemand platzte gern in die traumatische Erfahrung, die ein unerwarteter Tod mit sich bringt.

»Ich hab gehört, du willst mal Detective werden, V-Rod«, sagte Ballard.

»Unbedingt«, sagte Rodriguez.

»Gut, dann hilfst du jetzt Detective Moore bei der Befragung der Familie. Und dolmetsche nicht bloß. Stell auch selber Fragen. Hatte er Feinde, wie sahen seine Kontakte zu Las Palmas aus, wer war heute Abend alles auf dem Werkstattgelände? Sieh zu, dass du Namen kriegst.«

»Okay, und was ist mit dir? Wo …«

»Ich muss mir die Leiche ansehen. Dann komme ich zu euch.«

»Alles klar.«

»Gut. Sag schon mal Detective Moore Bescheid.«

Ballard wandte sich von Rodriguez ab und steuerte auf die Rezeption zu. Von dort wurde sie rasch zum Notaufnahmeschalter gebracht, der von vielen mit Vorhängen abgetrennten Untersuchungs- und Behandlungsbereichen umgeben war. Sie fragte eine Schwester, ob das Opfer mit der Schussverletzung noch hier sei, und erhielt die Auskunft, dass die Klinik bereits die Rechtsmedizin benachrichtigt hatte, damit sie den Toten abholten. Die Schwester deutete auf einen pastellgrünen Vorhang.

Ballard zog den Vorhang zurück, betrat den Untersuchungsbereich und schloss den Vorhang wieder. Javier Raffa lag mit dem Gesicht nach oben auf der Liege. Er war nicht zugedeckt worden. Sein Hemd – ein blaues Arbeitshemd, darauf ein ovaler Aufnäher mit seinem Namen – stand offen, und auf seiner Brust waren noch Gelspuren zu sehen. Vermutlich stammten sie von den Elektroden eines Defibrillators, mit dem man versucht hatte, ihn wiederzubeleben. Außerdem wies die braune Haut von Raffas Brust und Hals weißliche Verfärbungen auf. Seine Augen waren offen, und aus seinem Mund stand ein Stück Gummi, das ihm vor dem Einsatz des Defibrillators zwischen die Zähne geschoben worden war.

Ballard zog ein Paar schwarze Latexhandschuhe aus einer Tasche an ihrem Ausrüstungsgürtel und streifte sie über. Dann drehte sie den Kopf des Toten mit beiden Händen vorsichtig so, dass sie die Eintrittswunde sehen konnte. Raffa hatte langes lockiges Haar, und die Eintrittswunde befand sich unter einem blutverklebten Nest oben an seinem Hinterkopf. Daraus schloss sie, dass es keine Austrittswunde gab. Die Kugel befand sich noch in Raffas Kopf, was aus forensischer Sicht sehr hilfreich war.

Um sich die Wunde genauer anzusehen, beugte sie sich tiefer über die Liege. Allem Anschein nach stammte sie von einem kleinkalibrigen Projektil, und das Haar um die Eintrittsstelle war versengt. Das hieß, dass die Schusswaffe höchstens dreißig Zentimeter von Raffas Kopf entfernt abgefeuert worden war. Ballard sah verbrannte Schießpulversprenkel im Haar.

In diesem Moment wurde Ballard klar, dass es kein Unfall gewesen sein konnte. Raffa war ermordet worden. Sein Mörder hatte den Moment, als das Geballere losging und aller Blicke in den mitternächtlichen Himmel gerichtet waren, dazu genutzt, seine Waffe ganz nah an Raffas Kopf zu halten und abzudrücken. Gleichzeitig wusste sie, dass sie den Fall nicht abgeben wollte. Sie würde ihre Schlussfolgerung so lange für sich behalten, bis sie zu tief in die Ermittlungen verwickelt war, um von ihnen abgezogen zu werden.

Vielleicht war das der Fall, den sie brauchte, um sich selbst zu retten.

5

Ballard zog den Vorhang wieder zu, als sie das Behand- lungsabteil verließ, und ging zum Schalter vor dem Schwesternzimmer, um in der Notaufnahme niemandem im Weg zu stehen. Sie holte ihr Handy heraus und rief das Gang Enforcement Detail der Hollywood Division an. Niemand ging dran. Daraufhin versuchte sie es im Büro des Schichtleiters. Als sich Sergeant Kyle Dallas meldete, fragte ihn Ballard, wer vom GED gerade Dienst hatte.

»Janzen und Cordero«, sagte Dallas. »Und Sergeant Davenport auch, glaube ich.«

»Sind sie da oder unterwegs?«

»Cordero habe ich gerade im Aufenthaltsraum gesehen«, sagte Dallas. »Könnte also sein, dass alle in die Station gekommen sind, als die Geisterstunde um war.«

»Okay, sag ihnen, sie sollen dort bleiben, wenn du sie siehst. Ich komme gleich zurück und muss mit ihnen reden.«

»Alles klar.«

Ballard ging durch die automatische Tür zum Wartezimmer, wo Moore und Rodriguez in einer Ecke mit der Familie Raffa zusammensaßen und alle zusammen befragten. Ballard ärgerte sich, dass Moore keine Einzelgespräche führte, doch dann fiel ihr ein, dass Moore normalerweise bei Sexualdelikten ermittelte und dabei gewöhnlich Opfer vernahm. Mit Zeugenbefragungen hatte sie hingegen kaum Erfahrung, und für Rodriguez galt das umso mehr.

Ballard sah, dass der Sohn etwas abseits saß und über die Schultern zweier seiner Schwestern Moore ansah. Er war jung genug, um noch zur Schule zu gehen, und konnte deshalb wahrscheinlich Englisch. Das hätte Moore merken müssen.

Ballard ging zu ihm und tippte ihm auf die Schulter.

»Sprichst du Englisch?«, flüsterte sie.

Der Junge nickte.

»Dann komm bitte mit«, sagte Ballard.

Sie führte ihn in eine andere Ecke. Das Wartezimmer war erstaunlich leer. Das wäre an jedem Abend erstaunlich gewesen, aber ganz besonders in der Silvesternacht. Sie bedeutete dem Jungen, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, dann zog sie sich einen zweiten Stuhl heran und stellte ihn so hin, dass sie einander gegenübersaßen.

»Wie heißt du?«, fragte Ballard, nachdem sie sich gesetzt hatten.

»Gabriel«, sagte der Junge.

»Bist du Javiers Sohn?«

»Ja.«

»Tut mir wirklich leid, was mit deinem Vater passiert ist. Wir werden herausfinden, wie es dazu gekommen ist und wer es getan hat. Ich bin Detective Ballard. Aber du kannst mich gern Renée nennen.«

Gabriel musterte ihre Uniform.

»Detective?«, fragte er.

»An Silvester müssen wir Uniform tragen«, sagte Ballard. »Alle, die im Außendienst sind. Wie alt bist du?«

»Fünfzehn.«

»Auf welche Schule gehst du?«

»Hollywood.«

»Und du warst um Mitternacht auf dem Werkstattgelände?«

»Ja.«

»Warst du bei deinem Vater?«

»Äh, nein, ich war … drüben bei dem Caddy.«

Am Tatort hatte Ballard einen rostigen alten Cadillac gesehen, in dessen offenem Kofferraum ein Bierfass in einem Eisbett gestanden hatte.

»War irgendjemand bei dir?«, fragte Ballard.

»Meine Freundin«, sagte Gabriel.

»Wie heißt sie?«

»Ich möchte nicht, dass sie Ärger kriegt.«

»Sie kriegt keinen Ärger. Wir versuchen bloß festzustellen, wer heute Nacht auf der Feier war, mehr nicht.«

Ballard wartete.

»Lara Rosas«, sagte der Junge schließlich.

»Danke, Gabriel. Kennst du Lara aus der Schule oder aus dem Viertel?«

»Äh, beides.«

»Und sie ist nach Hause gegangen?«

»Ja, sie ist gegangen, als wir hierher gefahren sind.«

»Hast du gesehen, was mit deinem Vater passiert ist?«

»Nein, erst danach. Als er auf dem Boden lag.«

Gabriel zeigte keinerlei Emotionen, und Ballard sah keine Tränenspuren in seinem Gesicht. Sie wusste, dass das nichts bedeutete. Menschen verarbeiteten und zeigten Schock und Trauer auf unterschiedliche Weise. Ungewöhnliches Verhalten oder das Fehlen sichtbarer Emotionen mussten nicht verdächtig sein.

»Hast du auf dem Fest jemanden gesehen, der dir eigenartig vorkam oder nicht dazugehört hat?«, fragte Ballard.

»Eigentlich nicht«, sagte Gabriel. »Am Bierfass stand ein Typ, der nicht so ausgesehen hat, als würde er dazugehören. Aber es war immerhin ja auch ein Straßenfest.«

»Wurde er weggeschickt?«

»Nein, er war einfach da. Er hat sich ein Bier geholt, und dann ist er wahrscheinlich gegangen. Jedenfalls habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»War er aus dem Viertel.«

»Eher nicht. Ich habe ihn vorher nie gesehen.«

»Wieso hattest du das Gefühl, dass er nicht dazugehört hat?«

 

»Na ja, er war ein Weißer, und irgendwie hat er dreckig gewirkt, wissen Sie. Seine Klamotten und so.«

»Glaubst du, es war ein Obdachloser?«

»Keine Ahnung, vielleicht. Das habe ich jedenfalls gedacht.«

»Und das war, bevor das Geballere losgegangen ist, als du ihn gesehen hast?«

»Ja, davor. Eindeutig. Es war, bevor alle in den Himmel geschaut haben.«

»Du hast gesagt, er trug schmutzige Sachen. Was hatte er an?«

»Einen grauen Hoodie und Jeans. Seine Hose war schmutzig.«

»Richtig dreckig oder nur länger nicht gewaschen.«

»Nein, richtig dreckig, würde ich sagen.«

»Hatte er die Kapuze über den Kopf gezogen? Oder konntest du seine Haare sehen?«

»Er hatte sie hochgezogen. Aber es sah so aus, als ob er sich den Kopf rasiert hätte.«

»Okay. Und seine Schuhe? Erinnerst du dich an die?«

»Nein. Auf die habe ich nicht geachtet.«

Ballard versuchte, sich die Beschreibung des Mannes einzuprägen. Sie notierte sich nichts. Sie hielt es für besser, den Blickkontakt mit dem Jungen aufrechtzuhalten und ihn nicht zu verunsichern, wenn sie Block und Stift herausholte.

»Ist dir sonst noch jemand aufgefallen, der nicht dazugehört hat?«, fragte sie.

»Nein, sonst niemand.«

»Und du bist nicht sicher, ob der Typ mit dem Hoodie geblieben ist, nachdem er sein Bier bekommen hat?«

»Jedenfalls habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Okay. Als du ihn das letzte Mal gesehen hast – wie lang war das vor Mitternacht, als das Geballere losging?«

»Keine Ahnung, eine halbe Stunde vielleicht.«

»Hast du irgendwas mitbekommen, dass ihn zum Beispiel dein Dad gefragt hat, was er hier will, oder dass er ihn weggeschickt hat?«

»Nein. Es war ja ein Straßenfest. Da konnte jeder kommen.«

»Hast du noch andere Weiße auf dem Fest gesehen?«

»Ein paar, ja.«

»Aber die waren nicht verdächtig?«

»Nein.«

»Aber dieser Typ schon.«

»Na ja, es war eigentlich ein Fest, und dieser Typ war ganz schön dreckig. Und er hat sich die Kapuze über den Kopf gezogen.«

»Dein Vater hatte ein Arbeitshemd an. War das normal?«

»Ja, weil sein Name draufstand. Er wollte, dass alle aus dem Viertel wissen, wer er ist. Das hat er immer gemacht.«

Ballard nickte. Jetzt kamen die heikleren Fragen an die Reihe, und dafür musste sie den Jungen so lange wie möglich bei der Stange halten.

»Hast du heute Nacht eine Schusswaffe abgefeuert, Gabriel?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte der Junge.

»Okay, gut. Bist du bei Las Palmas 13?«

»Wie kommen Sie denn darauf? Ich bin kein Gangster. Mein Dad hat immer gesagt, so was kommt überhaupt nicht infrage.«

»Das war gar nicht böse gemeint. Ich versuche mir nur einen Eindruck zu verschaffen. Du bist jedenfalls nicht bei der Gang, das ist gut. Aber dein Vater schon, oder?«

»Mit dem Scheiß hat er schon lange aufgehört. Er hatte nichts mehr mit diesen Leuten zu tun.«

»Okay. Gut zu wissen. Ich habe aber gehört, dass ein paar Las-Palmas-Typen auf dem Fest waren. Stimmt das?«

»Keine Ahnung, vielleicht. Mein Vater kennt diese Leute von klein auf. Zu einigen hatte er noch Kontakt. Aber mit der Gang hatte er nichts mehr zu tun, er hat keine krummen Geschäfte gemacht und hatte sogar einen Weißen als Partner. Fangen Sie also nicht mit irgendwelchem Gang-Scheiß an. Das ist alles Quatsch.«

Ballard nickte. »Umso besser, Gabriel. Kannst du mir sagen, wer sein Partner war?«

»Er war nicht auf dem Fest. Sind wir jetzt endlich fertig?«

»Noch nicht ganz, Gabriel. Wie heißt der Partner?«

»Keine Ahnung. Er ist ein Doktor, irgendwo oben in Malibu, glaube ich. Ich habe ihn nur ein Mal gesehen – als er einen gestauchten Rahmen in die Werkstatt gebracht hat.«

»Einen gestauchten Rahmen?«

»Seinen Mercedes. Er hat rückwärts irgendwas gerammt und dabei den Rahmen gestaucht.«

»Okay, verstehe. Aber ich müsste noch zwei Dinge von dir wissen, Gabriel.«

»Was?«

»Ich brauche die Handynummer deiner Freundin, und ich muss dich bitten, kurz nach draußen zu meinem Wagen mitzukommen.«

»Warum soll ich mit Ihnen kommen? Ich will meinen Vater sehen.«

»Sie werden dich deinen Vater nicht sehen lassen, Gabriel. Jedenfalls vorerst nicht. Ich will dir helfen. Ich möchte, dass das das letzte Mal ist, dass du mit der Polizei über diese Geschichte sprechen musst. Aber dazu muss ich deine Hände abwischen – um sicherzugehen, dass du die Wahrheit sagst.«

»Was?«

»Du hast gesagt, du hast heute Nacht keine Schusswaffe abgefeuert. Ich werde dir mit etwas die Hände abwischen. Dann haben wir Gewissheit. Danach hörst du erst wieder von mir, wenn ich komme, um deiner Familie zu sagen, dass wir den Mörder deines Vaters gefasst haben.«

Ballard wartete, während der Junge über seine Optionen nachdachte.

»Wenn du dich nicht dazu bereiterklärst, muss ich davon ausgehen, dass du mich belogen hast. Das willst du doch sicher nicht, oder?«

»Na gut, wenn es unbedingt sein muss. Meinetwegen.«

Ballard ging zum Rest der Gruppe, um Moore um die Autoschlüssel zu bitten. Als sie sagte, sie seien noch im Auto, ging Ballard mit Gabriel zu den Stellplätzen für die Rettungswagen hinaus. Dort zog sie ein Notizbuch aus ihrer Gesäßtasche. Nachdem ihr Gabriel die Nummer seiner Freundin gegeben hatte, notierte sie sich die Beschreibung des Mannes mit dem Hoodie. Dann öffnete sie den Kofferraum und nahm eine Packung Tücher für die Abnahme von Schmauchspuren heraus. Sie wischte die Hände des Jungen mit separaten Tüchern ab und verschloss sie in zwei Plastiktüten, um sie ins Labor zu geben.

»Ist doch kein Schießpulver drauf, oder?«, sagte Gabriel.

»Das wird das Labor bestimmt bestätigen«, sagte Ballard. »Aber ich glaube dir auch so, Gabriel.«

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Du kannst jetzt wieder zu deiner Mutter und deinen Schwestern reingehen. Sie werden dich jetzt brauchen – jemanden, der stark ist.«

Gabriel nickte, aber sein Gesicht verzog sich. Es war, als hätte ihm der Hinweis, dass er jetzt stark sein musste, den letzten Rest Stärke geraubt.

»Glaubst du, das schaffst du?« Ballard legte ihm kurz die Hand auf die Schulter.

»Sie werden diesen Typen doch fassen, oder?«, fragte er.

»Ja«, sagte Ballard. »Das werden wir.«

6

Ballard kehrte erst kurz vor drei in die Station zurück. Sie ging die Treppe hoch in den Raum, den sich Sitte und Bandenkriminalität teilten. Er war lang und rechteckig und normalerweise leer, weil beide Einheiten hauptsächlich im Außendienst unterwegs waren. Doch jetzt war dort richtig was los. Officers beider Einheiten, die wie Ballard alle Uniform trugen, saßen an den Schreibtischen entlang der Seitenwände des Raums. Die meisten ohne Maske. Für die hohe Anwesenheitsrate gab es alle möglichen Erklärungen. Zum einen war es schwer, bei Sitte und Bandenkriminalität, wie bei einem taktischen Alarm vorgeschrieben, in voller Uniform Dienst zu tun. Was eigentlich dem Zweck diente, in der Silvesternacht möglichst große Polizeipräsenz zu zeigen, hätte also die genau gegenteilige Wirkung gehabt. Möglicherweise waren aber auch einfach alle nach der Geisterstunde zwischen Mitternacht und zwei Uhr auf eine Pause in die Station gekommen. Doch Ballard wusste, dass es höchstwahrscheinlich an der neuen LAPD-Politik lag – die Polizisten durften nicht mehr proaktiv handeln, weshalb sie jetzt darauf warteten, reaktiv einzugreifen. Sie traten nur dann in der Öffentlichkeit auf, wenn es erwünscht und erforderlich war, und beschränkten ihr Einschreiten auf ein Minimum, um keine Beschwerden oder Kontroversen zu provozieren.

In Ballards Augen hatte die Polizei die Haltung eines Bürgers eingenommen, der in einen Banküberfall geriet: Kopf gesenkt, Blick abgewandt, alles in strikter Befolgung der Warnung: Niemand bewegt sich, dann passiert auch niemandem was.

Sie entdeckte Sergeant Rick Davenport an einem der Tische und steuerte auf ihn zu. Er blickte von seinem Handy auf, und über seine Züge legte sich ein Lächeln. Er war Mitte vierzig und schon über zehn Jahre bei der Abteilung für Bandenkriminalität.

»Ballard«, sagte er. »Hab schon gehört, heute Nacht hat’s El Chopo erwischt.«

»El Chopo?«

»So haben wir Raffa damals genannt«, sagte Davenport. »Als er noch ein Gangster war und im Betrieb seines Vaters gestohlene Autos ausgeschlachtet hat.«

»Und das tut er jetzt nicht mehr?«

»Angeblich ist er auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt, als seine Frau angefangen hat, Kinder zu werfen.«

»Ich habe mich schon gewundert, dass Sie heute nicht am Tatort waren. Ist das der Grund?«

»Das und verschiedene andere Dinge. Ich mache nur, was die Leute wollen.«

»Sprich: dass Sie sich nicht auf der Straße blicken lassen?«

»Tja, wenn sie uns schon nicht die Gelder entziehen können, sollen wir wenigstens unsichtbar sein, richtig, Cordo?«

Davenport schaute Unterstützung suchend zu Cordero, einem seiner Kollegen.

»Allerdings, Sergeant«, sagte Cordero.

Ballard zog sich den freien Stuhl neben Davenport heran und setzte sich. Sie beschloss, sofort zur Sache zu kommen.

»Was können Sie mir über Javier erzählen?«, sagte sie. »Glauben Sie, er ist tatsächlich ausgestiegen? Hätte das Las Palmas überhaupt zugelassen?«

»Es heißt, er hat sich vor zwölf, fünfzehn Jahren freigekauft«, sagte Davenport. »Und soweit wir wissen, ist er seitdem sauber.«

»Oder zu clever für euch?«

Davenport lachte.

»Diese Möglichkeit besteht natürlich auch.«

»Haben Sie noch eine Akte über ihn? Filzkarten oder irgendwas?«

»Eine Akte haben wir natürlich. Hat aber wahrscheinlich schon etwas Staub angesetzt. Hol doch Detective Ballard mal die Akte über Javier Raffa, Cordo.«

Cordero stand auf und ging zu den Aktenschränken, die eine Seite des Raums säumten.

»Das mit dem Typ ist so lange her, dass wir seine Akte noch auf Papier haben«, sagte Davenport.

»Also eindeutig nicht mehr aktiv?«, hakte Ballard nach.

»Nein. Und wenn doch, wüssten wir es. Wir observieren einige der Gangsterbosse. Wenn sie sich getroffen hätten, wüssten wir es.«

»Wie weit oben war Raffa, als er ausgestiegen ist?«

»Nicht besonders hoch. Er war ein Soldat. Wir haben nie gegen ihn ermittelt, obwohl wir wussten, dass er Autoschieber für Las Palmas war.«

»Woher wissen Sie, dass er sich freigekauft hat?«

Davenport schüttelte den Kopf, als könnte er sich nicht erinnern.

»Über die üblichen Kanäle eben«, sagte er. »Aus dem Stegreif könnte ich Ihnen den Informanten nicht nennen – ist schon zu lange her. Jedenfalls hieß es das damals, und soweit wir mitbekommen haben, stimmte es auch.«

»Wie teuer ist ihn das etwa gekommen?«, fragte Ballard.

»Da bin ich überfragt. Könnte aber in der Akte stehen.«

Cordero kam zurück und gab Davenport eine Akte. Der reichte sie an Ballard weiter und sagte: »Viel Spaß.«

»Kann ich die mitnehmen?«, fragte sie.

»Solange Sie sie zurückbringen.«

»Alles klar.«

Ballard nahm die Akte, stand auf und ging. Sie hatte das Gefühl, dass mehrere der Männer sie beobachteten, als sie den Raum verließ. Nachdem sie ein Jahr lang Leute, die so wenig wie möglich tun wollten, erst um Informationen und Hilfe gebeten und sie dann eingefordert hatte, war sie bei dieser Einheit nicht sehr beliebt.

Sie ging einen Stock tiefer ins Detective Bureau, wo Lisa Moore an ihrem Schreibtisch vor dem Computer saß.

»Da bist du ja«, sagte Ballard.

»Aber dir habe ich das nicht zu verdanken«, maulte Moore. »Du hast mich einfach mit den Angehörigen und diesem Baby-Cop zurückgelassen.«

»Mit Rodriguez? Er ist schon gut und gern fünf Jahre dabei. Er war bei der Rampart Division, bevor er zu uns gekommen ist.«

»Egal. Er sieht aus wie ein Milchbubi.«

»Hast du aus der Frau und den Töchtern irgendwas Brauchbares rausbekommen?«

»Nein, ich schreibe es gerade auf. An wen soll es überhaupt gehen?«

»Eine Weile behalte ich den Fall noch. Schick alles, was du hast, an mich.«

»Nicht ans West Bureau?«

»Die sind mit einem Doppelmord gerade voll ausgelastet. Bis sie übernehmen können, bin ich zuständig.«

»Und Dash ist einverstanden?«

»Ich habe mit ihm geredet. Kein Problem.«

»Was ist das?«

Sie deutete auf die Akte in Ballards Hand.

»Eine alte Gang-Akte über Raffa«, sagte Ballard. »Davenport meint, er ist schon vor Jahren ausgestiegen. Hat sich freigekauft, als er eine Familie gegründet hat.«

»Wie rührend«, sagte Moore.

Der Sarkasmus war unüberhörbar. Ballard hatte längst gemerkt, dass Moore keinerlei Empathie mehr hatte. Das war wahrscheinlich unausweichlich, wenn man ständig Sexualdelikte bearbeitete. Keine Empathie mehr für Opfer zu empfinden, diente dem Selbstschutz, aber Ballard hoffte, dass es bei ihr nie so weit käme. Die Polizeiarbeit konnte einen schnell aushöhlen. Doch sie war der festen Überzeugung, dass man seine Seele verlor, wenn man seine Empathie verlor.

»Schick mir den Bericht, wenn du ihn fertig hast«, sagte Ballard.

»Alles klar.«

»Und über die Midnight Men nichts?«

»Bisher nicht. Vielleicht halten sie ja heute Nacht still.«

»Es ist noch früh. An Thanksgiving wurden wir erst bei Tagesanbruch gerufen.«

»Super. Kann’s kaum erwarten.«

Wieder der Sarkasmus. Ballard ignorierte ihn und setzte sich an einen freien Schreibtisch in der Nähe. Weil sie die Late Show hatte, war ihr kein fester Arbeitsplatz zugeteilt. Man erwartete von ihr, dass sie sich einfach einen freien Schreibtisch suchte, wenn sie einen brauchte. Nach einem kurzen Blick auf die wenigen persönlichen Dinge auf dem einzigen Bord an dem Arbeitsplatz wusste sie, dass sie an Tom Newsomes Schreibtisch saß, einem Tagschicht-Detective von Crimes Against Persons, der Abteilung für Körperverletzung. Er war ein großer Baseballfan, und auf dem Bord standen mehrere Souvenirbälle auf kleinen Sockeln. Sie waren von verschiedenen aktiven und ehemaligen Dodgers-Spielern signiert. Das Glanzstück der Sammlung befand sich in einem kleinen Plexiglaswürfel und trug das Autogramm eines Mannes, der in Funk und Fernsehen über fünfzig Jahre lang die Dodgers-Spiele kommentiert hatte. Vin Scully wurde als die Stimme der Stadt verehrt, weil seine Bedeutung weit über Baseball hinausging. Sogar Ballard wusste, wer er war, und sie fand, dass Newsome riskierte, den Ball gestohlen zu bekommen, sogar in einer Polizeistation.

Als sie die Akte aufschlug, blickte sie auf ein Karteifoto von Javier Raffa als junger Mann. Er war im Alter von achtunddreißig Jahren gestorben, und das Foto stammte von einer Festnahme wegen der Annahme von Diebesgut aus dem Jahr 2003. Sie las das Festnahmeprotokoll durch, das an das Foto geheftet war. Dort stand, dass Raffa in einem 1977er Ford Pick-up angehalten worden war, auf dessen Ladefläche sich mehrere gebrauchte Autoteile befanden, darunter eine Transaxlewelle mit einer Seriennummer, durch die sich das Teil auf einen Mercedes-Geländewagen zurückverfolgen ließ, der einen Monat davor im San Fernando Valley gestohlen gemeldet worden war.

Laut Akte handelte Raffas Anwalt, Roger Mills, einen Vergleich aus, bei dem sich der einundzwanzigjährige Javier schuldig bekannte und dafür eine Bewährungsstrafe in Verbindung mit hundertzwanzig Stunden gemeinnütziger Tätigkeit erhielt, die darin bestand, an Freeway-Überführungen Gang-Graffitis zu übermalen. Anschließend wurde die Sache aus seinem Vorstrafenregister gelöscht.

Es war die einzige Festnahme in der Akte, die allerdings mehrere mit einer Büroklammer zusammengehaltene Field-Interview-Karten enthielt. Auf diesen im Polizeijargon auch als Filzkarten bekannten Kurzprotokollen notierten Streifenpolizisten die Angaben verdächtiger Personen, die sie auf offener Straße informell vernahmen. Die Karten stammten alle aus der Zeit vor Raffas Festnahme und reichten bis in die Zeit zurück, als er sechzehn war. Die meisten dieser informellen Vernehmungen waren durchgeführt worden, wenn die Polizei Partys oder Autoblockaden durch Gangs auf dem Hollywood Boulevard auflöste. Bei solchen Gelegenheiten notierten die Officers neben den Namen der Vernommenen auch die der Freunde sowie Tattoos und andere besondere Kennzeichen, die dann in die entsprechenden Gang-Akten und -Datenbanken eingespeist wurden. Als Sohn eines Autowerkstattbesitzers fuhr Raffa immer restaurierte Oldtimer oder tiefergelegte Autos, die in den Filzkarten ebenfalls vermerkt waren.

Schon bald bekam Raffa auf den Filzkarten den Spitznamen El Chopo. Das geschah in Anspielung auf den Beinamen des bekannten Kartellbosses El Chapo, Spanisch für »Der Kleine«. Ein Detail, das auf allen vier aus der Zeit zwischen 2000 und 2003 stammenden Karten vermerkt war, war die Beschreibung eines Tattoos auf der rechten Seite von Raffas Hals. Eine weiße Billardkugel mit einem orangen Streifen und der Zahl 13 – das Logo von Las Palmas 13, mit dem sie ihre Verbindung zu und ihren Respekt vor La eMe zeigte, der Gefängnisgang, die auch als Mexikanische Mafia bekannt war. Die 13 stand für M, den dreizehnten Buchstaben des Alphabets.

Ballard musste an die Verfärbung denken, die sie an Raffas Hals gesehen hatte. Anscheinend hatte sich Raffa das Tattoo weglasern lassen.

Die Akte enthielt die Fotokopie eines Berichts vom 25. Oktober 2006, in dem stichwortartig alle möglichen Gerüchte und Informationen aufgeführt waren, die von einem als LP3 bezeichneten Informanten stammten. Ballard vermutete, dass dieser Informant ein Las-Palmas-Mitglied war. Sie überflog die verschiedenen Einträge, bis sie den über Raffa fand.

Javier Raffa (El Chopo) geb. 14.02.82 – hat angeblich Humberto Viera 25000 Dollar in bar bezahlt, um ohne weitere Bedingungen aus der Gang aussteigen zu können.

Ballard hatte noch nie gehört, dass sich jemand mit Geld aus einer Gang ausgekauft hatte. Sie kannte nur das unumstößliche Gang-Gesetz »Blood in, Blood out, verschworen auf Leben und Tod«. Sie griff nach dem Hörer des Tischtelefons. Newsome hatte mit Klebstreifen eine Liste mit Stationsnummern daran befestigt. Sie wählte den Anschluss der Bandenkriminalität und verlangte Sergeant Davenport. Während sie wartete, dass er ans Telefon kam, nahm sie einen Baseball vom Sockel und versuchte die Unterschrift darauf zu entschlüsseln. Sie wusste kaum etwas über Baseball und ehemalige oder aktive Spieler. Für sie sah der Vorname wie Mookie aus, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass das stimmte.

Davenport kam an den Apparat.

»Hier Ballard. Ich hätte eine Frage.«

»Klar.«

»Humberto Viera von Las Palmas, gibt es den noch?«

Davenport lachte leise.

»Hängt ganz davon ab, was Sie mit ›Gibt’s den noch?‹ meinen. Er sitzt schon seit mindestens acht, zehn Jahren oben in Pelican Bay ein. Und er kommt nicht mehr zurück.«

»Ihr Fall?«, fragte Ballard.

»Ich war dran beteiligt, ja. Hab ihm zwei Eins-acht-siebener an White-Fence-Typen angehängt. Wir haben den Fluchtwagenfahrer zum Reden gebracht, und das war’s dann für Humberto.«

»Okay. Gibt es sonst jemanden, mit dem ich darüber reden könnte, wie sich Javier Raffa aus der Gang freigekauft hat?«

»Hmm. Wohl eher nicht. Soweit ich mich erinnere, ist das schon ziemlich lange her. Irgendwelche alten Hasen gibt es in den Gangs natürlich immer, aber die sind nur deshalb so lange im Geschäft, weil sie bedingungslos spuren. Meistens haben Gangs ihre Mitglieder nach acht bis zehn Jahren komplett ausgetauscht. Da gibt es niemanden mehr, der mit Ihnen über Raffa reden wird.«

»Und LP3?«

Diesmal antwortete Davenport erst nach einer kurzen Pause, und Ballard wurde klar, dass er gelogen hatte, als er vorher behauptet hatte, sich nicht an den Informanten zu erinnern.

»Was glauben Sie denn von ihr erfahren zu können?«

»Es ist also eine Frau?«

»Das habe ich nicht gesagt. Was glauben Sie, von ihm erfahren zu können?«

»Keine Ahnung. Ich suche nach einem Grund, weshalb jemand Javier Raffa erschossen hat.«

»LP3 gibt es schon lange nicht mehr. Da kommen Sie nicht weiter.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Danke, Sergeant. Ich melde mich später noch mal.«

Ballard legte das Telefon in die Station zurück. Für sie ließ Davenports Versprecher keinen Zweifel daran, dass LP3 eine Frau war und möglicherweise immer noch als Informantin arbeitete. Sonst hätte er nicht versucht, seinen Versprecher so plump auszubügeln. Ballard wusste nicht, inwiefern es für den Fall relevant war, da Raffa anscheinend vor vierzehn Jahren bei den Las Palmas ausgestiegen war. Wenn jedoch die Gang ins Spiel kommen sollte, war es bestimmt nicht von Nachteil, dass die Bandenkriminalität/GED eine Person hatte, die Insiderinformationen über Las Palmas beisteuern konnte.

»Worum ging’s da gerade?«, fragte Moore.

Sie saß an einem Schreibtisch auf der anderen Seite des Gangs.

»Die Bandenkriminalität«, sagte Ballard. »Sie wollen nicht, dass ich mit ihrem Las-Palmas-Informanten rede.«

»Das sieht ihnen ähnlich«, sagte Moore.

Ballard war nicht sicher, was das bedeuten sollte, ging aber nicht darauf ein. Sie wusste, dass die Nachtschicht für Moore abgehakt war. Sie würde ihre Beteiligung an den Ermittlungen für beendet betrachten, wenn bei Sonnenaufgang der taktische Alarm endete und alle Officers sich wieder ihren eigentlichen Aufgaben zuwandten. Moore würde die Frühschicht machen, und Ballard konnte in den dunklen Stunden wieder allein Dienst tun.

Das war genau, was sie wollte.

7

Ballard machte sich daran, das Mordbuch für den Fall Raffa zusammenzustellen. Das begann mit dem lästigen Verfassen eines Tatberichts, in dem der Tathergang beschrieben und das Opfer identifiziert wurde, in den aber auch so banale Einzelheiten gehörten wie der Zeitpunkt des Anrufs, mit dem die Tat gemeldet wurde, die Namen der beteiligten Streifenpolizisten, die Außentemperatur, die Benachrichtigung der Angehörigen und andere Details, die nur für die Dokumentierung wichtig waren, aber nicht für die Lösung des Falls. Als Nächstes schrieb sie Zusammenfassungen der Zeugenbefragungen, die sie oder Lisa Moore durchgeführt hatten, deren Berichte allerdings kurz und auf das Wesentlichste beschränkt waren. Der über ihr Gespräch mit Raffas jüngster Tochter bestand aus einem einzigen Satz: Dieses Mädchen weiß nichts und kann nichts zu den Ermittlungen beitragen.

Das alles kam in einen Ringordner. Zum Schluss machte sich Ballard an die Erstellung einer Chronologie, in die sie ihre Ermittlungsschritte und das Gespräch mit Davenport eintrug. Dann kopierte sie die GED-Akte und heftete sie ebenfalls ein. Als sie um fünf Uhr damit fertig war, stand sie auf und ging zu Moore, die auf ihrem Handy E-Mails checkte. Ihre Schicht war in einer Stunde um, aber das war Ballard egal.

»Ich fahre nach Downtown zur Spurensicherung, um zu sehen, was sie alles haben«, sagte sie. »Bleibst du hier, oder willst du mitkommen?«

»Ich glaube, ich bleibe hier«, sagte Moore. »Bis sechs bist du doch sicher nicht zurück.«

»Nein, sicher nicht. Könntest du dann vielleicht Davenport die GED-Akte zurückbringen?«

»Klar doch. Warum machst du das eigentlich?«

»Warum mache ich was?«

»Dich weiter um den Fall kümmern. Das ist ein Mord. Du musst ihn doch nur dem West Bureau übergeben, sobald dort alle wach sind.«

»Vielleicht. Aber vielleicht überlassen sie ihn mir auch.«

»Damit rückst du den Rest von uns in ein schlechtes Licht, Renée.«

»Wieso?«

»Bleib einfach bei deinen Leisten. Niemand bewegt sich, dann passiert auch niemandem was.«

Ballard zuckte mit den Achseln.

»Als ich bei den Midnight Men mitmachen wollte, hast du das nicht gesagt.«

»Dabei geht’s um Vergewaltigung«, sagte Moore. »Das hier ist ein Mordfall.«

»Wo soll da der Unterschied sein? Es gibt ein Opfer, und es gibt einen Fall.«

»Lass es mich einfach mal so ausdrücken: Fürs West Bureau besteht da schon ein Unterschied. Sie sind bestimmt nicht begeistert, wenn du ihnen einen ihrer Fälle wegschnappen willst.«

»Das wird sich zeigen. Jedenfalls fahre ich jetzt los. Gib mir Bescheid, wenn unsere zwei Arschlöcher wieder zuschlagen.«

»Darauf kannst du dich verlassen. Und du umgekehrt auch.«

Ballard kehrte an ihren geborgten Schreibtisch zurück, klappte ihren Laptop zu und packte ihre Sachen zusammen. Der Weg über den hinteren Gang zum Ausgang war kurz, aber sie zog trotzdem ihre Maske über die Nase. Dort stand eine Bank für frisch eingelieferte Häftlinge, weshalb sie sich zusätzlich schützen wollte. Man konnte nie wissen, was die Verhafteten in die Station einschleppten.

Sie ging nach draußen zu ihrem Wagen und nahm den Freeway 101 nach Downtown. Die Bürotürme, auf die sie im Morgengrauen zufuhr, schienen immer die ganze Nacht beleuchtet zu sein. Während der Pandemie hatte sich der Verkehr halbiert, aber um diese Zeit war die Stadt wie ausgestorben, und Ballard brauchte keine fünfzehn Minuten bis zum Freeway 10. Von dort waren es nur noch fünf Minuten bis zur Ausfahrt zum Campus der California State University. Das Forensic Science Center, das fünfstöckige Laborgebäude, das sich LAPD und L.A. County Sheriff’s Department teilten, befand sich am Südende des riesigen Campus.

Das Gebäude wirkte genauso verlassen wie die Straßen. Ballard fuhr mit dem Lift in den zweiten Stock, wo die Tatorttechniker untergebracht waren. Sie wurde von Anthony Manzano in Empfang genommen, einem Kriminaltechniker, der am Raffa-Tatort gewesen war.

»Ballard«, sagte er. »Ich hab mich schon gefragt, wer sich bei mir melden würde.«

»Vorerst ich«, sagte Ballard. »Im West Bureau haben sie gerade mit einem Doppelmord alle Hände voll zu tun und können niemanden erübrigen.«

»Ich weiß, ich weiß. Außer mir arbeiten auch bei uns alle daran. Kommen Sie mit nach hinten.«

»Muss ein ziemlich haariger Fall sein.«

»Eher was für die Medien. Deshalb wollen sie auf keinen Fall schlecht dastehen.«

Ballard wunderte sich schon die ganze Zeit, weshalb die Fernsehteams wegen des Gower-Gulch-Falls noch nicht angerückt waren. Die Theorie, dass jemand von einer herabfallenden Kugel getötet worden war, müsste eigentlich ein gefundenes Fressen für sie sein, aber soweit Ballard mitbekommen hatte, hatte sich noch niemand danach erkundigt.

Manzano führte sie durch das Labor an seinen Arbeitsplatz. Dort waren drei weitere Kriminaltechniker, die vermutlich am Fall des West Bureau arbeiteten.

»Worum geht es eigentlich bei dem Doppelmord?«, fragte sie beiläufig.

»Ein altes Ehepaar, das ausgeraubt und ermordet wurde«, sagte Manzano.

Nach einer kurzen Pause rückte er mit dem Knaller heraus.

»Sie wurden in Brand gesetzt. Als sie noch lebten.«

»Himmel«, sagte Ballard.

Sie schüttelte den Kopf, aber ihr war natürlich sofort klar, warum sich die Medien auf den Fall stürzten und das LAPD zusätzliches Personal bereitstellte, um zu zeigen, dass sie nichts unversucht ließen. Ihre Chancen standen also gut, dass sie den Fall Raffa behalten durfte, solange Lieutenant Robinson-Reynolds einverstanden war.

Auf dem Leuchttisch an Manzanos Arbeitsplatz lag ein großer Bogen Millimeterpapier, auf dem er gerade den Tatort einzeichnete.

»Hier habe ich eingetragen, wo wir die Hülsen gefunden haben«, sagte Manzano. »Am Tatort hat es ausgesehen wie nach dem Showdown am O.K. Corral.«

»Sie meinen wegen der ganzen Schüsse, die in den Himmel abgefeuert wurden?«

»Genau. Und wissen Sie, was das Interessante daran ist? Wir haben einunddreißig Hülsen gefunden, aber wie es aussieht, wurden sie aus lediglich drei Waffen abgefeuert – einschließlich der Mordwaffe.«

»Lassen Sie mal sehen.«

Neben dem Millimeterpapier lag ein Klemmbrett mit Manzanos Notizen und Skizzen vom Tatort, außerdem eine offene Schachtel mit den einunddreißig Patronenhülsen, von denen sich jede in einer eigenen Plastiktüte befand.

»Einunddreißig Patronenhülsen auf dem Boden bedeuten einunddreißig Schüsse«, sagte Manzano »Und wir haben drei verschiedene Kaliber und Munitionsmarken, weshalb das Ganze ziemlich einfach auseinanderzuklamüsern ist.«

Er griff in die Schachtel, kramte darin herum und zog eine der eingetüteten Patronenhülsen heraus.

»Siebzehn Hülsen stammen von Neun-Millimeter-PDX1-Projektilen von Winchester«, fuhr Manzano fort. »Das müssen Sie sich zwar noch endgültig von der FU bestätigen lassen, aber für mich als Nicht-Experten sehen die Schlagbolzenspuren auf ihnen alle gleich was. Und das hieße, dass alle mit einer Neun-Millimeter-Waffe abgefeuert wurden, die in vollständig geladenem Zustand sechzehn Patronen im Ladestreifen und eine im Patronenlager hat.«

Mit der FU