Schwarzes Eis - Michael Connelly - E-Book

Schwarzes Eis E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Ein Drogenfahnder des Los Angeles Police Department liegt tot in einem heruntergekommenen Motel in Hollywood. Anscheinend hat sich Cal Moore selbst in den Kopf geschossen. Einen Abschiedsbrief gibt es auch. Doch Detective Harry Bosch hat Zweifel an der Selbstmordthese, und auch das Verhalten von Assistent Chief Irvin Irving, der ihn um jeden Preis aus der Sache heraushalten will, kommt Bosch seltsam vor. Cal Moore hatte zuletzt in einem Fall ermittelt, bei dem es um die Modedroge »Schwarzes Eis« ging. Hat sein Tod damit zu tun? Die Ermittlungen führen Bosch bis nach Mexiko, zur Drogenmafia, und er muss aufpassen, nicht wie Moore zu enden.

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Michael Connelly

Schwarzes Eis

Der zweite Fall für Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Norbert Puszkar

Kampa

1

Der Rauch stieg über dem Cahuenga-Pass senkrecht nach oben und kroch dann unter einer Schicht kühler Luft in die Breite. Von der Stelle, wo Harry Bosch stand, sah die Rauchsäule wie ein grauer Amboss aus, der sich über dem Pass erhob. Die späte Nachmittagssonne verlieh dem Grau einen rosa Stich, nach unten hin wurde es zu einem tiefen Schwarz, das aus einem Buschfeuer quoll, welches sich den Abhang auf der Ostseite des Passes hinaufbewegte. Er schaltete seinen Funk-Scanner auf die Koordinationsfrequenz für Notfalleinsätze in Los Angeles County und hörte zu, wie die Einsatzleiter von Feuerwehrtrupps ihrer Zentrale berichteten, dass in einer Straße schon neun Häuser niedergebrannt seien und dass die Häuser der nächsten Straße genau in der Bahn des herankommenden Feuers lägen. Das Feuer bewege sich auf die freien Abhänge im Griffith Park zu, wo es für Stunden wüten könnte, bevor es unter Kontrolle zu bringen sei. Bosch hörte die Verzweiflung in den Stimmen der Männer.

Er beobachtete eine Staffel von Hubschraubern, die aus der Entfernung wie Libellen aussahen, wie sie sich in den Rauch hineinstürzten und wieder auftauchten, Wasser und rosa Feuerlöschmittel über brennenden Häusern und Bäumen abließen. Es erinnerte ihn an die Entlaubungsaktionen in Vietnam. Der Lärm, das unkontrollierte Auf und Ab, das Hin und Her der überladenen Maschinen. Er sah das Wasser auf die brennenden Dächer stürzen, sah den Dampf, der schlagartig aufstieg.

Sein Blick glitt vom Feuer nach unten in das verdorrte Buschwerk, das sich den Hügel hinunterzog und die Pfeiler umgab, die sein eigenes Heim am Abhang der Westseite des Passes abstützten. Er sah Gänseblümchen und Wildblumen im Dickicht. Aber nicht den Kojoten, den er in den letzten Wochen beobachtet hatte, wie er in dem ausgetrockneten Bachbett unter seinem Haus auf Futtersuche ging. Ab und zu hatte er dem Aasfresser Hähnchenstückchen zugeworfen, aber das Tier hatte das Futter nicht angerührt, solange Bosch zuschaute. Erst wenn Bosch von der Veranda wieder hineinging, würde das Tier hervorkriechen und die Gaben annehmen. Harry hatte den Kojoten wegen seiner Scheu auf den Namen Timido getauft. Manchmal hörte er spät in der Nacht sein Heulen, wie es vom Pass zurückschallte.

Er sah wieder zum Feuer hinüber, und im gleichen Moment gab es eine laute Explosion. Eine dichte Kugel schwarzen Rauchs drehte sich in dem grauen Amboss nach oben. Auf dem Scanner überschlugen sich die Stimmen vor Aufregung, und ein Feuerwehrmann meldete, dass der Propangasbehälter eines Grills in die Luft geflogen sei.

Harry schaute zu, wie der dunklere Rauch in der größeren Wolke aufging, und schaltete dann den Scanner zurück auf die allgemeine Polizeifrequenz von Los Angeles. Er hatte heute Einsatzbereitschaft. Weihnachtsdienst. Eine halbe Minute hörte er zu, vernahm aber nichts außer normalem Funkverkehr. Es schien eine ruhige Weihnacht in Hollywood zu sein.

Er schaute auf die Uhr, nahm den Scanner mit hinein, zog das Blech aus dem Backofen und ließ sein Weihnachtsdinner, gebratene Hühnerbrust, auf einen Teller rutschen. Dann nahm er den Deckel von einem Topf mit gedünstetem Reis und Erbsen und schüttete sich eine große Portion auf den Teller. Sein Essen brachte er zu einem Tisch im Esszimmer, wo schon ein Glas mit Rotwein stand, direkt neben drei Briefkarten, die schon Anfang der Woche gekommen waren, die er aber nicht geöffnet hatte. Im CD-Player lief Coltranes Arrangement von »Song of the Underground Railroad«.

Während er aß und trank, öffnete er die Karten, überflog sie kurz und dachte an die Absender. Es war das Ritual eines Mannes, der allein war. Ihm war das klar, aber es störte ihn nicht. Er hatte Weihnachten oft genug allein verbracht.

Die erste Karte war von seinem früheren Partner, der sich mit Buch- und Filmtantiemen zur Ruhe gesetzt hatte und nach Ensenada gezogen war. Auf der Karte stand, was immer auf Andersons Karten stand: »Harry, warum ziehst Du nicht hierher?« Die nächste kam ebenfalls aus Mexiko, von dem Typ, bei dem er sechs Wochen im vorigen Sommer in Bahia San Felipe gewohnt, mit dem er gefischt und Spanisch geübt hatte. Bosch hatte sich von einer Schusswunde in der Schulter erholt. Die Sonne und die Seeluft halfen ihm, sich auszukurieren. In seinem Weihnachtsgruß auf Spanisch lud ihn Jorge ein wiederzukommen.

Die letzte Karte öffnete Bosch langsam und vorsichtig. Er wusste, von wem sie war, bevor er die Unterschrift sah. Sie war in Tehachapi abgestempelt worden. Das genügte ihm. Jemand hatte sie mit der Handpresse auf dem grauweißen Papier der Recyclingmühle des Gefängnisses gedruckt, und die Krippenszene darauf war etwas verschmiert. Die Karte stammte von einer Frau, mit der er eine Nacht verbracht hatte, an die er aber in mehr Nächten dachte, als er zählen konnte. Auch sie wollte, dass er sie besuchte. Aber sie wussten beide – er würde es nie tun.

Er trank etwas Wein und steckte sich eine Zigarette an. Coltrane war jetzt mit der Live-Aufnahme von »Spiritual« zu hören. Sie war im Village Vanguard in New York aufgenommen worden, als Harry noch ein Kind gewesen war. Aber dann zog der Radio-Scanner – er murmelte immer noch leise auf dem Tisch neben dem Fernseher vor sich hin – seine Aufmerksamkeit auf sich. Polizeifunk-Scanner waren schon so lange die Hintergrundmusik seines Lebens, dass er das Gequassel ignorieren und sich auf das Saxophon konzentrieren konnte und dabei immer noch die Worte und Codes wahrnahm, auf die es ankam. Was er hörte, war eine Stimme, die sagte: »Eins-K-Zwölf, Personal Zwei braucht Ihre zwanzig.«

Bosch stand auf und ging hinüber zum Scanner, als ob der Funkspruch klarer würde, wenn er das Gerät ansähe. Er wartete zehn Sekunden, dass jemand auf die Aufforderung reagierte. Zwanzig Sekunden.

»Personal Zwei, Standort ist das Hideaway, Western südlich von Franklin. Zimmer sieben. Ah, Personal Zwei sollte eine Maske mitbringen.«

Bosch wartete auf mehr, aber das war’s. Der angegebene Standort, Western und Franklin, lag innerhalb der Grenzen des Polizeibezirks Hollywood. Eins-K-Zwölf war der Funkcode für einen Detective vom Downtown-Hauptquartier im Parker Center. Genauer gesagt, vom Raub-Mord-Dezernat. Personal Zwei war der Code für einen Deputy Chief. Es gab nur drei bei der Polizei von Los Angeles, und Bosch war sich nicht sicher, wer davon Personal Zwei war. Aber das war nicht wichtig. Die Frage war, was würde einen der ranghöchsten Männer der Polizei am Weihnachtsabend herauslocken?

Eine zweite Frage beschäftigte Harry noch intensiver. Wenn der Detective von Raub-Mord schon vor Ort war, warum hatte man dann ihn selbst – den Bereitschaftsdetective für Hollywood – von dem Fall nicht als Ersten benachrichtigt? Er ging in die Küche, stellte seinen Teller ins Spülbecken, wählte die Nummer des Reviers an der Wilcox Avenue und ließ sich den wachhabenden Commander geben. Ein Lieutenant namens Kleinman hob ab. Bosch kannte ihn nicht. Er war neu, versetzt vom Polizeibezirk Foothill.

»Was ist los?«, fragte Bosch. »Ich hab auf dem Scanner etwas über eine Leiche Nähe Western und Franklin gehört, und niemand hat mir was davon gesagt. Komisch, weil ich nämlich Bereitschaft habe.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Kleinman. »Die Hüte haben das Ding schon im Sack.«

Kleinman musste ein Oldtimer sein, vermutete Bosch. Er hatte die Bezeichnung schon seit Jahren nicht mehr gehört. Mitarbeiter vom Raub-Mord trugen in den vierziger Jahren Bowlerhüte aus Stroh. In den Fünfzigern waren es graue Fedoras. Danach waren Hüte out – uniformierte Polizisten nannten Raub-Mord-Detectives jetzt »Anzüge«, nicht mehr »Hüte«. Out waren aber nicht die Spezialisten vom Raub-Mord. Die dachten immer noch, sie wären Spitze, hochgestellt wie ein Katzenarsch. Bosch hatte die Arroganz des Dezernats gehasst, sogar als er selbst dazugehört hatte. Hier im Bezirk Hollywood, der Kloake von L.A., war niemand eingebildet. Das war ein Vorteil, wenn man hier arbeitete. Es war Polizeiarbeit, sonst nichts.

»Worum geht’s?«, fragte Bosch.

Kleinman zögerte ein paar Sekunden, dann sagte er: »Wir haben eine Leiche in einem Motelzimmer an der Franklin Avenue. Sieht aus wie Selbstmord. Aber RM übernimmt – das heißt, sie haben’s schon übernommen. Es geht uns nichts mehr an. Und das kommt von ganz oben, Bosch.«

Bosch sagte nichts. Er überlegte einen Moment. RM setzte sich in Bewegung wegen eines Weihnachtsselbstmords? Das machte keinen … Dann wurde es ihm schlagartig klar.

Calexico Moore.

»Wie alt ist das Ding?«, fragte er. »Ich hab gehört, Personal Zwei soll eine Maske mitbringen.«

»Überreif. Sie haben gesagt, es soll ein richtiger Kartoffelkopf sein. Das einzige Problem ist, dass nicht viel vom Kopf übrig ist. Sieht aus, als ob er sich beide Läufe einer Schrotflinte in den Mund geschoben hätte. Das hab ich wenigstens auf der RM-Frequenz gehört.«

Sein Scanner konnte die RM-Frequenz nicht empfangen, deshalb hatte er den ersten Funkverkehr in der Sache nicht mitbekommen. Die Anzüge hatten anscheinend nur die Frequenz gewechselt, um dem Fahrer von Personal Zwei die Adresse durchzugeben. Andernfalls hätte Bosch erst am nächsten Morgen auf dem Revier von dem Fall erfahren. Er wurde wütend, ließ es sich aber nicht an der Stimme anmerken. Zunächst wollte er so viel wie möglich aus Kleinman herausholen.

»Es ist Moore, nicht wahr?«

»Sieht so aus«, sagte Kleinman. »Seine Dienstmarke liegt dort auf der Kommode. Brieftasche. Aber wie ich schon gesagt habe, niemand wird die Leiche vom Aussehen her identifizieren können. Also ist nichts sicher.«

»Wie ist das alles abgelaufen?«

»Hör mal, Bosch, ich hab hier zu tun. Verstehst du? Das Ganze geht dich nichts an. Es ist Sache von RM.«

»Nein, da liegst du falsch, Mann. Es geht mich was an. Ich hätte als Erster von dir benachrichtigt werden müssen. Ich möchte wissen, wie das abgelaufen ist, damit ich verstehe, warum ich nicht angefordert wurde.«

»Okay, Bosch, es war so: Wir haben einen Anruf vom Besitzer der Bruchbude bekommen, eine Leiche läge im Badezimmer von Zimmer sieben. Wir haben einen Streifenwagen rausgeschickt, und die haben zurückgerufen, sie wären bei der Leiche. Aber die haben über Telefon angerufen, nicht über Funk, weil sie die Dienstmarke gesehen hatten und die Brieftasche auf der Kommode, und sie wussten, dass es Moore war. Wenigstens glaubten sie, dass er es war. Wir werden ja sehen. Na ja, ich hab Grupa zu Hause angerufen, und er hat den Deputy Chief angerufen. Man hat den Fall den Hüten gegeben und nicht dir. Das ist nun mal so. Also, wenn du dich auf den Schlips getreten fühlst, dann war das Grupa oder der Deputy Chief, nicht ich. Ich bin unschuldig.«

Bosch sagte kein Wort. Er wusste aus Erfahrung, wenn er schwieg, würde die Person, von der er Informationen wollte, vielleicht das Schweigen von sich aus brechen.

»Es ist uns aus den Händen genommen worden«, sagte Kleinman. »Mensch, das Fernsehen und die Times sind schon hier. Daily News. Sie nehmen an, es ist Moore, wie alle anderen. Hier ist das Chaos ausgebrochen. Man sollte meinen, das Feuer oben am Hügel würde ausreichen, um sie zu beschäftigen. Leider nicht. Auf der Western Avenue hocken sie aufgereiht wie die Geier. Ich muss noch einen Wagen rausschicken, um die Reporter unter Kontrolle zu halten. Also, Bosch, du solltest glücklich sein, dass du nichts damit zu tun hast. Mein Gott, es ist Weihnachten!«

Ihm reichte das nicht als Erklärung. Man hätte ihn anrufen sollen, und dann wäre es seine Entscheidung gewesen, wann RM anzufordern war. Jemand hatte ihn ganz und gar rausgehalten, und er war immer noch sauer. Er sagte Goodbye und steckte sich wieder eine Zigarette an. Er nahm seine Pistole aus dem Schränkchen über dem Spülbecken und schnallte sie an den Gürtel seiner Blue Jeans. Dann zog er ein hellbraunes Jackett über den militärgrünen Pullover, den er anhatte.

Es war jetzt dunkel draußen, und durch die Schiebetür konnte er die Feuerfront auf der anderen Seite des Passes sehen. Ein heller Lichtschein vor der dunklen Silhouette des Hügels. Ein teuflisch schiefes Grinsen, das sich nach oben schob.

Aus dem Dunkel unterhalb seines Hauses hörte er den Kojoten. Er heulte den aufgehenden Mond an oder das Feuer, vielleicht auch nur sich, weil er allein und im Dunklen war.

2

Bosch fuhr den Hügel hinunter und näherte sich Hollywood. Die Straßen waren weitgehend leer und verlassen, bis er den Boulevard erreichte. Auf den Bürgersteigen lungerten die üblichen Gruppen von Ausreißern und Pennern herum. Prostituierte stolzierten die Straße entlang – eine mit einer roten Nikolausmütze. Geschäft ist Geschäft, auch an Weihnachten. Elegant gekleidete Damen saßen an Bushaltestellen; allerdings waren es nicht wirkliche Damen, und sie warteten wohl auch nicht auf den Bus. Das Lametta und die Lichtornamente, die zur Weihnachtszeit an jeder Kreuzung quer über den Boulevard gehängt waren, verliehen dem Neonglanz und Schmutz einen surrealen Touch. Wie eine Hure mit zu viel Schminke, dachte er – falls es so etwas gab.

Aber es war nicht diese Szenerie, die Bosch deprimierte. Es war Cal Moore. Bosch hatte seit fast einer Woche damit gerechnet, seit dem Moment, als er hörte, dass Moore nicht zum Appell erschienen war. Die Frage, die sich die meisten Detectives des Bezirks Hollywood stellten, war nicht, ob Moore tot war, sondern wie lange es dauern würde, bis seine Leiche auftauchen würde.

Moore war ein Sergeant gewesen, der die Einheit leitete, die im Bezirk den Straßenhandel mit Drogen bekämpfte. Es war Nachtarbeit, und seine Einheit arbeitete nur auf dem Boulevard. Unter den Kollegen war allgemein bekannt, dass sich Moore von seiner Frau getrennt und Ersatz im Whiskey gefunden hatte. Bosch hatte das bei seiner einzigen Begegnung mit dem Drogen-Cop persönlich mitbekommen. Er hatte auch gespürt, dass es außer Eheproblemen und frühem Ausgebranntsein eventuell noch etwas anderes gab. Moore hatte vage vom Dezernat für interne Ermittlungen und einer Personaluntersuchung gesprochen.

Alles zusammen ergab einen kräftigen Schub Weihnachtsdepression. Sobald Bosch hörte, dass man nach Cal Moore suchte, wusste er Bescheid. Der Mann war tot.

Und so wusste es jeder bei der Polizei, allerdings sprach es niemand aus. Nicht einmal die Journalisten. Zuerst versuchte man, in aller Stille vorzugehen. Diskrete Fragen um den Los Feliz Boulevard herum, in dessen Nähe sich Moores Apartment befand. Ein paar Hubschrauberflüge über die nahen Hügel des Griffith Park. Aber dann bekam ein Fernsehreporter einen Tipp, und alle anderen Stationen und Zeitungen erschienen zum Tanz. Die Medien berichteten pflichtschuldig über die Fortschritte bei der Suche nach dem verschwundenen Polizisten, Moores Foto wurde ans Brett im Pressezimmer des Parker Centers gepinnt, und die Polizeileitung wandte sich mit den üblichen Bitten um Mithilfe an die Öffentlichkeit. Es war ein dramatisches Schauspiel, oder zumindest gutes Fernsehmaterial: Sucheinsätze auf dem Pferderücken sowie aus der Luft; und natürlich der Police Chief, wie er das Foto eines ernst blickenden und gut aussehenden Sergeants südländischen Typs hochhielt. Niemand sprach jedoch aus, dass man nach einem Toten suchte.

Bosch stoppte den Wagen vor der Ampel an der Vine Street und sah einem Mann mit Reklametafeln vor dem Bauch und auf dem Rücken nach, der die Straße überquerte. Sein Schritt war eilig und ruckartig, und seine Knie stießen die Tafel vorne ständig in die Luft. Bosch sah, dass ein Satellitenfoto vom Mars auf die Tafel geklebt war. Ein großer Teil war mit einem Kreis markiert. In großen Buchstaben stand darunter BEREUT! DASANTLITZDESHERRNWACHTÜBERUNS! Bosch hatte das gleiche Foto auf der Titelseite einer Boulevardzeitung gesehen, beim Schlangestehen vor der Kasse in einem Lucky-Supermarkt. Aber die Boulevardzeitung hatte behauptet, dass es das Gesicht von Elvis sei.

Die Ampel wechselte, und er fuhr weiter Richtung Western. Er dachte an Moore. Abgesehen von dem Abend, an dem er mit ihm zusammen in einer Jazzbar in der Nähe des Boulevards trinken war, hatte er nicht viel Kontakt mit Moore gehabt. Als Bosch ein Jahr vorher von RM zum Bezirk Hollywood versetzt worden war, war er mit zögerndem Händeschütteln und vereinzeltem Nett-dich-kennenzulernen begrüßt worden. Im Allgemeinen hatten die Leute Distanz gewahrt. Es war verständlich; man hatte ihn aus RM nach einer Untersuchung des Dezernats für interne Ermittlungen gefeuert. Es störte Bosch nicht. Moore war einer von denen, die sich keinen abbrachen, wenn sie ihm auf dem Flur oder bei Besprechungen begegneten. Nicken war vollauf genug. Es war auch verständlich; der Tisch für Mordsachen, an dem Bosch arbeitete, stand im Erdgeschossbüro, während Moores Einheit, die Hollywood-BANG (Boulevard Anti-Narcotics Group), sich in der ersten Etage des Reviers befand. Immerhin kam es zu einem Treffen. Bosch wollte Hintergrundinformation für einen Fall, an dem er arbeitete. Für Moore dagegen war es eine Gelegenheit gewesen, viel Bier und Whiskey in sich hineinzuschütten.

BANG-Team, das war die typische clevere, PR-wirksame Bezeichnung, wie sie die Polizei von Los Angeles liebte. In Wirklichkeit handelte es sich allerdings nur um fünf Cops, die von einem umgebauten Lagerraum aus operierten, auf dem Hollywood Boulevard umherstreiften und jeden abschleppten, der einen Joint in der Hand oder, noch besser, in der Tasche hatte. BANG war ein Statistiktrupp – gebildet, um so viele Verhaftungen wie möglich vorzunehmen und Forderungen nach mehr Polizisten Nachdruck zu verleihen. Vor allem aber, um Überstunden für den nächsten Jahresetat zu rechtfertigen. Es spielte keine Rolle, dass die Staatsanwaltschaft in den meisten Fällen Bewährungsstrafen aushandelte und der Rest im Papierkorb landete. Was zählte, waren die Statistiken. Falls Kanal 2 oder 4 oder ein Times-Reporter für den Westside-Lokalteil eine Nacht mitfahren und eine Story über den BANG-Trupp bringen wollte, umso besser. Statistiktrupps gab es in jedem Bezirk.

An der Western Avenue fuhr Bosch Richtung Norden und sah sofort vor sich die pulsierenden blauen und gelben Lichter der Streifenwagen und die blendend weißen Scheinwerfer der Fernsehteams. In Hollywood kündigte man mit so einer Show entweder das gewaltsame Ende eines Lebens oder die Premiere eines Films an. Aber Bosch wusste, in diesem Teil der Stadt gab es keine Premieren, mit Ausnahme der von dreizehnjährigen Nutten.

Einen halben Block vom Hideaway entfernt fuhr er an den Randstein und steckte sich eine Zigarette an. Manche Institutionen änderten sich nie in Hollywood. Nur die Namen wurden ausgewechselt. Das Motel war schon vor dreißig Jahren eine heruntergekommene Absteige gewesen, als es noch El Rio hieß. Heute war es immer noch eine heruntergekommene Absteige. Bosch hatte nie dort gewohnt, aber er war in Hollywood aufgewachsen und erinnerte sich daran. Motels wie dieses kannte er zur Genüge. Mit seiner Mutter hatte er in solchen Bruchbuden gewohnt. Als sie noch lebte.

Das Hideaway war ein Motel aus den vierziger Jahren mit einem Innenhof, dem tagsüber ein Banyan-Baum ausreichend Schatten spendete. Nachts traten die vierzehn Zimmer in die Dunkelheit zurück, in die nur rotes Neonlicht eindrang. Harry bemerkte, dass das E in MONATSPREISE nicht brannte.

Als er ein Junge war und das Hideaway El Rio hieß, war die Gegend bereits im Verfall begriffen. Aber es gab nicht so viel Neonlicht, und die Gebäude, vielleicht sogar die Menschen, sahen frischer und nicht so trostlos aus. Ein modernes, stromlinienförmiges Bürogebäude stand jetzt hier, das so aussah, als ob ein Passagierschiff neben dem Motel geankert hätte. Es hatte schon lange wieder abgelegt, zurückgeblieben war ein weiteres Einkaufscenter mit sechs, sieben kleinen Läden.

Harry betrachtete das Hideaway von seinem geparkten Wagen aus. Es war ein zu trostloser Ort, um dort zu schlafen. Noch trostloser war es, hier zu sterben. Er stieg aus und ging hinüber.

Ein gelbes Plastikband, auf dem Crime Scene stand, und uniformierte Polizisten, die dahinter postiert waren, sperrten den Eingang zum Innenhof ab. An einem Ende des Bandes war das helle Licht der Fernsehkameras auf eine Gruppe von Männern in Anzügen gerichtet. Einer mit einem glänzenden, rasierten Schädel hatte das Wort. Beim Näherkommen bemerkte Bosch, dass sie von dem Licht geblendet wurden. Sie konnten nicht weiter sehen als die Fernsehreporter vor ihnen. Er zeigte seine Marke schnell einem der Uniformierten und unterschrieb auf der Tatortanwesenheitsliste, die der Polizist ihm auf einem Klemmbrett entgegenhielt. Dann schlüpfte er unter der Absperrung hindurch.

Die Tür von Zimmer sieben stand offen, und Licht fiel nach draußen. Der Klang einer elektrischen Harfe drang ebenfalls aus dem Zimmer – für Bosch ein Zeichen, dass Art Donovan als Erster am Tatort gewesen war. Der Techniker von der Spurensicherung brachte immer ein Kofferradio mit. Und es war immer The Wave eingestellt, eine New-Age-Musikstation. Donovan behauptete, dass diese Musik eine entspannende Ruhe an Orten verbreite, an denen Leute gemordet hatten oder ermordet worden waren.

Harry trat durch die Tür und hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase. Es half nichts. Ein Gestank ohnegleichen überwältigte ihn, sowie er die Schwelle überschritt. Donovan bestäubte im Knien die Knöpfe der Klimaanlage mit Grafit. Die Klimaanlage war in der Wand unterhalb des Fensters an der Vorderseite angebracht; es war das einzige Fenster.

»Wohlsein!«, sagte Donovan. Er trug eine Anstreichermaske, um sich vor dem Verwesungsgeruch und dem Einatmen des Grafitpulvers zu schützen. »Im Badezimmer.«

Bosch sah sich um, und zwar schnell, da es wahrscheinlich war, dass man ihn hinauskomplimentieren würde, sobald die Anzüge ihn entdeckten. Das Bett war mit einer verblichenen rosa Tagesdecke bezogen. Ein einzelner Stuhl stand da, auf dem eine Zeitung lag. Bosch ging hinüber und sah, dass es die L.A. Times war, sechs Tage alt. Es gab eine Kommode mit Spiegel neben dem Bett. Darauf stand ein Aschenbecher mit einer einzelnen Kippe, ausgedrückt, nur halb geraucht. Außerdem eine 38-Special in einem Stiefelhalfter aus Nylon, eine Brieftasche und ein Dienstmarkenetui. Die letzteren drei Gegenstände waren mit dem schwarzen Puder bestäubt worden. Kein Abschiedsbrief auf der Kommode – der Stelle, wo Harry ihn am ehesten erwartet hätte.

»Kein Abschiedsbrief«, sagte er mehr zu sich als zu Donovan.

»Nee, auch nichts im Badezimmer. Schau dich um. Das heißt, falls du keine Angst hast, dein Weihnachtsdinner loszuwerden.«

Harry blickte in den kurzen Gang, der links von der Rückseite des Betts ausging. Die Badezimmertür war rechts, und er spürte, wie sich sein Widerwillen regte, als er sich ihr näherte. Seiner Meinung nach gab es keinen Polizisten auf der Welt, der nicht wenigstens einmal daran gedacht hatte, das eigene Licht auszuknipsen.

Auf der Schwelle blieb er stehen. Der Körper ruhte auf den schmuddeligen weißen Fliesen, mit dem Rücken gegen die Wanne gelehnt. Das Erste, was Bosch registrierte, waren die Stiefel. Graue Schlangenhaut mit Bulldog-Absätzen. Moore hatte sie getragen an dem Abend, als sie zusammen trinken waren. Ein Stiefel war immer noch am Fuß, und er konnte das Markenzeichen sehen, ein Swie Snake auf den abgetretenen Gummiabsätzen. Der linke Stiefel war ausgezogen und stand aufrecht neben der Wand. Der unbeschuhte Fuß steckte in einer Socke, die in eine Plastiktüte für Beweismaterial gehüllt war. Wahrscheinlich war die Socke einmal weiß gewesen, vermutete Bosch. Jetzt hatte sie ein unbestimmbares Grau angenommen, und das Bein war leicht aufgedunsen.

Auf dem Boden neben dem Türpfosten stand eine Schrotflinte, Kaliber 20 mit Zwillingsläufen. Der Schaft war an der unteren Kante aufgesplittert. Ein zehn Zentimeter langer Holzsplitter lag auf den Fliesen und war von Donovan oder einem der Detectives mit einem Farbstift eingekreist worden.

Bosch hatte nicht viel Zeit, sich diese Fakten durch den Kopf gehen zu lassen. Er versuchte bloß, alles aufzunehmen. Sein Blick wanderte den Körper hinauf. Moore trug Jeans und ein Sweatshirt. Seine Hände lagen an der Seite. Seine Haut sah aus wie graues Wachs. Die Finger dick von der Verwesung, die Unterarme zum Platzen prall wie die von Popeye. Bosch sah eine missratene Tätowierung auf dem rechten Arm, das grinsende Gesicht eines Teufels mit Heiligenschein.

Der Körper war nach hinten gegen die Badewanne gefallen, und es schien fast, als ob Moore seinen Kopf zurückgelehnt hätte, um ihn in die Wanne zu tauchen – vielleicht, um sich die Haare zu waschen. Aber Bosch realisierte, dass es nur so aussah, weil das meiste vom Kopf einfach nicht mehr vorhanden war. Er war zerfetzt worden durch die doppelläufige Explosion. Die hellblauen Fliesen, die die Badewanne einrahmten, waren mit getrocknetem Blut überzogen. Die braunen Tropfbahnen liefen alle in die Wanne hinunter. Einige der Fliesen waren an den Stellen gesprungen, wo sie von Schrotkörnern getroffen worden waren.

Bosch spürte, dass jemand hinter ihm stand. Er drehte sich um. Es war der Deputy Chief Irvin Irving, der ihn anstarrte. Irving trug keine Maske und hielt sich auch kein Tuch vor Mund und Nase.

»Abend, Chief.«

Irving nickte. »Wieso sind Sie hier, Detective?«

Bosch hatte genug gesehen, um sich ein Bild von dem zu machen, was hier geschehen war. Er trat von der Schwelle zurück, um Irvin herum und ging zur Vordertür. Irving folgte ihm. Sie kamen an zwei Männern von der Gerichtsmedizin vorbei, die die gleichen blauen Overalls trugen. Draußen vor dem Zimmer warf Harry sein Taschentuch in die Abfalltonne, die die Polizei mitgebracht hatte. Er zündete sich eine Zigarette an und sah, dass Irving einen Schnellhefter in der Hand hielt.

»Ich hab’s mitgekriegt auf meinem Scanner«, sagte Bosch. »Hab mir gedacht, ich fahr vorbei, weil ich heute Abend Bereitschaft habe. Es ist mein Bezirk, und es sollte mein Fall sein.«

»Als klar war, wer hier im Zimmer lag, habe ich entschieden, den Fall sofort an Raub-Mord weiterzugeben. Captain Grupa hat mich verständigt, und ich habe die Entscheidung gefällt.«

»Also ist schon erwiesen, dass das da drinnen Moore ist?«

»Nicht ganz.« Er hob den Schnellhefter. »Ich bin zum Archiv und hab mir seine Fingerabdrücke rausgesucht. Sie werden wohl den endgültigen Beweis liefern. Es gibt ja auch noch die Zähne – falls genug davon übrig sind. Aber alles lässt darauf schließen. Wer auch immer da drinnen liegt, er hat sich unter dem Namen Rodrigo Moya eingetragen – Moores Pseudonym bei BANG. Hinter dem Motel steht ein Mustang, der unter diesem Namen gemietet wurde. Im Moment gibt es, glaube ich, kaum Zweifel im Ermittlungsteam.«

Bosch nickte. Er hatte mit Irving schon früher zu tun gehabt, als der ältere Kollege stellvertretender Leiter des Dezernats für interne Ermittlungen war. Jetzt war er ein Assistant Chief, einer der drei ranghöchsten Polizisten in Los Angeles. Sein Ressort war erweitert worden und enthielt neben dem DIE das Rauschgiftdezernat sowie alle Ermittlungsabteilungen. Harry überlegte sich, ob er riskieren sollte, sich zu beschweren, dass er nicht als Erster verständigt worden war.

»Ich hätte gerufen werden sollen«, sagte er, ohne weiter zu überlegen. »Es ist mein Fall. Sie haben ihn mir entzogen, bevor ich ihn überhaupt hatte.«

»Nun, das liegt in meiner Entscheidungsmacht, zu nehmen und zu geben, oder nicht? Kein Grund, sich aufzuregen. Meinetwegen nennen Sie es Rationalisieren. Sie wissen, alle Todesfälle von Polizisten fallen in das Ressort von Raub-Mord. Früher oder später hätten Sie den Fall sowieso weiterreichen müssen. So sparen wir Zeit. Es gibt hier keine versteckten Motive. Nur Zweckdienlichkeit. Da drinnen liegt ein toter Polizist. Wir schulden es ihm und seiner Familie, egal, was die Todesumstände waren, schnell und fachmännisch zu handeln.«

Bosch nickte und schaute sich um. Er sah einen Detective von RM namens Sheehan vor einer Zimmertür unter der Neonschrift MONATSPREISE, nahe der Vorderseite des Motels. Er war dabei, einen Mann zu vernehmen. Ungefähr sechzig, ärmelloses T-Shirt trotz der Kälte des Abends, im Mund ein zerkauter, aufgeweichter Zigarettenstumpen. Der Manager des Motels.

»Kannten Sie ihn?«, fragte Irving.

»Moore? Nein, nicht richtig. Das heißt, ja. Ich kannte ihn. Wir haben im selben Bezirk gearbeitet, also kannten wir uns. Er hatte meistens Nachtdienst, draußen auf dem Boulevard. Wir hatten nicht viel Kontakt …«

Bosch war sich selbst nicht im Klaren, warum er sich in diesem Moment entschieden hatte zu lügen. Er fragte sich, ob Irving etwas an seiner Stimme bemerkt hatte, und wechselte das Thema.

»Also ist es Selbstmord – ist es das, was Sie den Reportern erzählt haben?«

»Ich habe den Reportern überhaupt nichts gesagt. Ich habe mit ihnen gesprochen – ja. Aber ich habe ihnen nichts gesagt, was die Identität der Leiche betrifft. Und ich werde auch nichts sagen, bis es offiziell bestätigt ist. Wir können uns beide hier hinstellen und erklären, dass wir uns ziemlich sicher sind, dass Calexico Moore da drinnen liegt. Aber ich werde das nicht weitergeben, bis wir nicht jeden Test gemacht haben und das letzte i-Tüpfelchen auf dem Totenschein steht.«

Er schlug sich mit dem Hefter auf den Oberschenkel.

»Deshalb habe ich seine Personalakte mitgebracht. Um das Ganze zu beschleunigen. Die Abdrücke gehen mit der Leiche zum untersuchenden Arzt.« Irving schaute sich um zur Zimmertür. »Aber Sie waren ja drinnen, Detective Bosch, was meinen Sie?«

Bosch überlegte einen Moment. Interessiert sich der Typ wirklich dafür oder reißt er mal kurz an meiner Leine? Es war das erste Mal, dass er mit Irving außerhalb der feindseligen Atmosphäre von Interne Ermittlungen zu tun hatte. Er entschied sich, es zu riskieren.

»Sieht so aus, als ob er sich auf den Boden neben die Wanne setzt, einen Stiefel auszieht und mit dem Zeh beide Abzüge betätigt. Ich meine, ich nehme an, es waren beide Läufe, so wie sein Kopf zerfetzt wurde. Er zieht mit dem Zeh an den Abzugshähnen, der Rückschlag schleudert die Schrotflinte gegen den Türpfosten, und ein Stück vom Schaft splittert ab. Sein Kopf fällt zur anderen Seite. Gegen die Wand und in die Wanne. Selbstmord.«

»Da haben Sie’s«, sagte Irving. »Jetzt kann ich Detective Sheehan sagen, dass Sie zustimmen. Genauso, als ob man Sie als Ersten gerufen hätte. Niemand hat einen Grund, sich ausgeschlossen zu fühlen.«

»Das ist nicht der Punkt, Chef.«

»Was ist der Punkt, Detective? Dass Sie dem Betriebsklima zuliebe nicht zustimmen können. Dass Sie die Entscheidungen der Polizeileitung nicht akzeptieren können. Ich verliere meine Geduld mit Ihnen, Detective. Und ich hatte gehofft, dass das nie wieder passieren würde.«

Irving stand Bosch zu nahe gegenüber, sein Pfefferminzatem schlug ihm ins Gesicht. Bosch fühlte sich in die Ecke gedrängt und fragte sich, ob Irving das mit Absicht tat. Er machte einen Schritt zurück. »Aber kein Abschiedsbrief.«

»Nein, noch kein Abschiedsbrief. Wir müssen noch ein paar Sachen durchsehen.«

Bosch fragte sich, welche. Man hatte sicher sofort nach seinem Verschwinden in Moores Apartment und Büro nachgesehen. Genauso in der Wohnung seiner Frau. Was blieb übrig? Könnte Moore einen Abschiedsbrief an jemand geschickt haben? Sicher wäre er mittlerweile angekommen.

»Wann ist es passiert?«

»Wir hoffen, dass wir nach der Autopsie morgen etwas Genaueres wissen. Ich würde denken, er hat es kurz nach seiner Ankunft getan. Vor sechs Tagen. Bei der ersten Vernehmung hat der Manager gesagt, Moore sei hier vor sechs Tagen abgestiegen und sei seitdem nicht mehr draußen gesehen worden. Das stimmt überein mit dem Zustand des Zimmers, der Leiche und dem Datum der Zeitung.«

Die Autopsie war morgen früh. Für Bosch ein Zeichen, dass Irving die Karre geschmiert hatte. Normalerweise musste man drei Tage auf eine Autopsie warten. Und durch die Weihnachtsfeiertage würde noch mehr liegen bleiben.

Anscheinend ahnte Irving, was ihm durch den Kopf ging.

»Die kommissarische Chefärztin der Gerichtsmedizin hat sich bereit erklärt, es morgen zu machen. Ich hab ihr gesagt, dass es ansonsten Spekulationen in den Medien gäbe, und das wäre nicht fair gegenüber der Ehefrau und der Polizei. Sie hat sich bereit erklärt zu kooperieren. Schließlich will sie ihre kommissarische Ernennung in eine ordentliche umwandeln. Sie weiß, dass sich Kooperation auszahlt.«

Bosch sagte nichts.

»Wir werden es dann also wissen. Aber niemand, einschließlich des Managers, hat Sergeant Moore gesehen, nachdem er sich vor sechs Tagen das Zimmer genommen hat. Er hat die ausdrückliche Anweisung gegeben, ihn unter keinen Umständen zu stören. Ich denke mir, er hat dann umgehend seinen Plan ausgeführt.«

»Aber warum haben sie ihn dann nicht eher gefunden?«

»Er hat einen Monat im Voraus bezahlt. Er verlangte, nicht gestört zu werden. In so einer Absteige kommt ohnehin nicht täglich das Zimmermädchen. Der Manager hat gedacht, ein Alkoholiker, der sich mal so richtig volllaufen lässt oder versucht, sich trockenzulegen. Jedenfalls kann der Manager in so einer Bruchbude nicht wählerisch sein. Ein Monat, das macht 600 Dollar. Er hat das Geld eingesteckt.

Und sie haben sich an das Versprechen gehalten, ihn in Zimmer sieben nicht zu stören. Bis heute, als die Frau des Managers sah, dass jemand Moyas Wagen, den Mustang, aufgebrochen hatte. Natürlich waren sie auch neugierig. Sie haben an seiner Tür geklopft, aber er hat nicht geantwortet. Dann haben sie mit dem Hauptschlüssel aufgemacht. Sobald sie die Tür öffneten, merkten sie am Geruch, was los war.«

Irving erzählte weiter, dass Moore/Moya die Klimaanlage auf die kälteste Stufe gestellt hatte, um den Verwesungsprozess zu verlangsamen und den Geruch nicht aus dem Zimmer dringen zu lassen. Nasse Handtücher waren auf den Boden vor die Tür gelegt worden, um das Zimmer noch mehr abzudichten.

»Niemand hat den Schuss gehört?«, fragte Bosch.

»Nach dem bisherigen Stand, nein. Die Frau des Managers ist fast taub, und er sagt, dass er nichts gehört hat. Sie wohnen gegenüber im letzten Zimmer. Auf der einen Seite vom Motel sind Geschäfte, ein Bürogebäude auf der anderen. Abends machen die alle zu. Hinter den Grundstücken ist ein kleines Gässchen. Wir werden uns das Gästebuch ansehen und versuchen, andere Gäste ausfindig zu machen, die in den ersten Tagen von Moores Aufenthalt hier waren. Aber der Manager hat ausgesagt, dass er die Zimmer zu beiden Seiten von Moore die ganze Zeit über nicht vermietet hat. Er dachte, Moore könnte im Fall eines kalten Entzugs Lärm machen.

Und es ist eine belebte Straße – Bushaltestelle gleich vorne. Kann sein, niemand hat etwas gehört. Oder falls jemand etwas gehört hat, wusste er nicht, was es war.«

Bosch überlegte erst, dann sagte er: »Ich verstehe nicht, warum er das Zimmer für einen Monat gemietet hat. Ich meine, warum? Wenn er Schluss machen wollte, warum sollte er sich bemühen, es so lange zu verbergen. Warum hat er es nicht einfach getan, die Leiche wird gefunden, Ende der Geschichte?«

»Das ist ’ne harte Nuss«, sagte Irving. »Das Einzige, was mir einfällt, ist, dass er seine Frau schonen wollte.«

Bosch zog die Augenbrauen hoch. Er kapierte nicht.

»Sie lebten getrennt«, sagte Irving. »Vielleicht wollte er ihr nicht die Feiertage verderben. Also hat er versucht, die Nachricht ein paar Wochen zurückzuhalten, vielleicht einen Monat.«

Die Erklärung erschien Bosch ziemlich dürftig, aber er hatte selbst keine bessere im Moment. Ihm fiel nichts mehr ein, was er noch fragen konnte. Irving wechselte das Thema und deutete damit an, dass Boschs Besuch am Tatort zu Ende ging.

»Also, Detective, wie geht’s der Schulter?«

»Sie ist in Ordnung.«

»Ich habe gehört, Sie waren in Mexiko, um Ihr Spanisch aufzufrischen, während Sie sich auskurierten.«

Bosch antwortete nicht. Er hatte kein Interesse an Konversation. Er wollte Irving sagen, dass er ihm die ganze Sache nicht abnahm, auch nicht mit allen Erklärungen und Beweisstücken, die man gefunden hatte. Aber er konnte nicht sagen, warum. Und bis er das wusste, war es besser für ihn, den Mund zu halten.

Irving sagte gerade: »Ich war immer der Meinung, dass nicht genug unserer Polizisten – mit Ausnahme der Latinos natürlich – sich wirklich anstrengen, die zweite Sprache dieser Stadt zu lernen. Ich möchte, dass die gesamte Poli…«

»Wir haben einen Brief«, rief Donovan aus dem Zimmer.

Irving ließ Bosch ohne ein weiteres Wort stehen und ging auf die Tür zu. Sheehan folgte ihm zusammen mit einem Anzugtyp, den Bosch als einen Detective von Interne Ermittlungen erkannte. Er hieß John Chastain. Harry zögerte einen Moment, bevor er ihnen folgte.

Einer der technischen Assistenten von der Gerichtsmedizin stand in dem Gang vor der Badezimmertür, die anderen hatten sich um ihn herum versammelt. Bosch wünschte, er hätte sein Taschentuch nicht weggeworfen. Er behielt die Zigarette im Mund und inhalierte tief.

»Rechte Gesäßtasche«, sagte der technische Assistent. »Es ist von der Fäulnis angegriffen, aber man kann es lesen. Es ist zweimal gefaltet worden, sodass die Innenseite ziemlich sauber ist.«

Irving trat aus dem Gang zum Badezimmer, in der Hand einen Plastikbeutel von der Spurensicherung, seine Augen auf das kleine Stück Papier gerichtet. Die anderen drängten sich um ihn herum. Außer Bosch.

Das Papier war so grau wie Moores Haut. Bosch glaubte eine Zeile blauer Schrift auf dem Papier zu erkennen. Irving schaute zu ihm herüber, als sähe er ihn zum ersten Mal.

»Bosch, Sie werden jetzt gehen müssen.«

Harry wollte fragen, was auf dem Zettel stand, aber er wusste, er würde sich eine Abfuhr holen. Er bemerkte ein schadenfrohes Grinsen auf Chastains Gesicht.

Am gelben Absperrungsband blieb er stehen, um sich wieder eine Zigarette anzustecken. Er hörte das Klappern von hohen Absätzen und drehte sich um. Eine aus dem Reportergeschwader, eine Blondine, die er von Kanal 2 kannte, kam auf ihn zu, mit einem schnurlosen Mikrofon in der Hand und dem falschen Lächeln eines Fotomodells im Gesicht. Ihr Näherkommen war ein gut geübtes und schnell ausgeführtes Manöver. Bevor sie jedoch sprechen konnte, sagte Harry: »Kein Kommentar. Ich hab nichts mit dem Fall zu tun.«

»Könnten Sie nicht …«

»Kein Kommentar.«

Das Lächeln fiel mit der Geschwindigkeit eines Fallbeils aus ihrem Gesicht. Wütend drehte sie sich um. Aber im nächsten Moment stolzierte sie schon wieder mit laut klappernden Absätzen über den Asphalt, um sich mit dem Kameramann auf die Position für die Anfangssequenz zu begeben, mit der ihr Bericht beginnen würde. Die Leiche wurde herausgetragen. Die Scheinwerfer blitzten auf, und die sechs Kameramänner bildeten eine enge Gasse. Auf einer Bahre schoben die zwei Männer von der Gerichtsmedizin die zugedeckte Leiche auf dem Weg zu ihrem blauen Wagen hindurch – wie beim Spießrutenlaufen. Harry sah, dass Irving mit steifem Rücken und grimmigem Gesicht etwas zurückblieb, jedoch nicht so weit, dass er nicht von den Kameras erfasst wurde. Schließlich war auch ein kurzer Auftritt in den Spätnachrichten besser als gar keiner, besonders für einen Mann, der ein Auge auf den Stuhl des Police Chiefs geworfen hatte.

Danach begann sich die Versammlung am Tatort aufzulösen. Alle gingen. Die Reporter, die Polizisten, alle. Bosch bückte sich unter dem gelben Band hindurch und sah sich nach Donovan oder Sheehan um, als Irving sich ihm näherte.

»Detective, ich hab’s mir noch mal überlegt, es gibt etwas, wobei Sie uns helfen könnten. Detective Sheehan muss hier die Tatortaufnahme zu Ende führen. Aber ich möchte, dass jemand bei Moores Frau ist, bevor die Reporter aufkreuzen. Könnten Sie die Benachrichtigung übernehmen? Natürlich steht noch nichts absolut fest, aber ich möchte, dass seine Frau weiß, was vorgeht.«

Bosch hatte vorhin so sehr den Gekränkten gespielt, dass er diesen Gang jetzt schlecht ablehnen konnte. Er wollte seinen Part beim Fall; hier war er.

»Geben Sie mir die Adresse«, sagte er.

Ein paar Minuten später war Irving weg, und die Streifenpolizisten wickelten das Absperrband auf. Bosch sah Donovan auf seinen Transportwagen zugehen. Er trug die Schrotflinte, in Plastik eingewickelt, und einige kleinere Plastiktüten für Beweismaterial.

Harry benutzte die Stoßstange des Transporters, um sich die Schuhe zu schnüren, während Donovan die Plastiktüten in einer Holzkiste verstaute, worin einmal Wein vom Napa Valley transportiert worden war.

»Was willst du, Harry? Ich habe gerade gehört, dass du hier nichts zu suchen hast.«

»Das war vorher. Jetzt ist jetzt. Ich bin gerade eben bei diesem Fall eingesetzt worden. Benachrichtigung der nächsten Angehörigen.«

»Einsatz nennst du das?«

»Nun, man nimmt, was man kriegt. Was hat er gesagt?«

»Wer?«

»Moore.«

»Hör mal, Harry, das ist …«

»Hör mal, Donnie, Irving hat mir die Angehörigenbenachrichtigung anvertraut. Ich denke, ich gehöre jetzt dazu. Ich will bloß wissen, was er gesagt hat. Schließlich kannte ich den Typ, verstehst du? Ich werd’s auch nicht weitererzählen.«

Donovan atmete tief durch, griff in die Kiste und begann die Plastiktüten durchzukramen.

»Eigentlich hat er nicht viel gesagt. Nichts Tiefschürfendes.«

Er knipste die Taschenlampe an und richtete den Lichtstrahl auf die Tüte mit dem Abschiedsbrief. Nur eine Zeile.

 

Ich fand heraus, wer ich war.

3

Die Adresse, die Irving ihm gegeben hatte, war im Canyon Country, mit dem Auto fast eine Stunde nördlich von Hollywood. Bosch nahm den Hollywood Freeway Richtung Norden, bis er in den Golden State Freeway mündete, und fuhr auf diesem weiter durch die dunkle Schlucht der Santa Susanna Mountains. Es gab wenig Verkehr. Die meisten Leute saßen zu Hause und aßen gebratenen Truthahn mit Füllung. Bosch musste an Cal Moore denken, an das, was er getan und was er zurückgelassen hatte.

Ich fand heraus, wer ich war.

Bosch hatte keinen blassen Schimmer, was der tote Cop mit der Zeile gemeint hatte, die er auf ein kleines Stückchen Papier gekritzelt und in die Gesäßtasche gesteckt hatte. Er kannte Moore nur von dem einmaligen Zusammensein. Und was war das schon? Ein paar Stunden, in denen er Bier und Whiskey mit einem missmutigen und zynischen Bullen getrunken hatte. Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, was in der Zwischenzeit passiert war. Herauszufinden, was Moores Schutzpanzer zerstört hatte.

 

Bosch rief sich sein Treffen mit Moore in die Erinnerung zurück. Es hatte sich erst vor ein paar Wochen ereignet und war rein beruflich gewesen, doch Moores Probleme hatten sich durchaus bemerkbar gemacht. Sie trafen sich an einem Dienstagabend im Catalina Bar & Grill. Moore war im Dienst, das Catalina war jedoch nur einen halben Block südlich vom Hollywood Boulevard. Harry wartete an der hinteren Ecke der Bar. Polizisten wurde das Gedeck nie auf die Rechnung gesetzt.

Moore rutschte neben ihm auf den Hocker und bestellte sich einen Whiskey und ein Henry’s, das Gleiche stand auch vor Bosch auf der Theke. Moore trug Jeans und ein Sweatshirt, das lose über dem Gürtel hing, um die Pistole zu verbergen. Es war die übliche Undercover-Kleidung, und sie sah aus wie seine zweite Haut. Die Hosenbeine der Jeans waren grau verschlissen. Die Ärmel des Sweatshirts waren abgeschnitten, und unter den Fransen auf dem rechten Arm schaute ein blau tätowiertes Teufelsgesicht hervor. Auf eine männlich raue Weise war Moore gut aussehend; allerdings hätte er sich spätestens vor drei Tagen rasieren müssen, und er hatte einen unsteten Blick, wie eine Geisel nach langer Gefangenschaft und Folter. Unter den Gästen des Catalina fiel er auf wie jemand von der Müllabfuhr auf einer Hochzeitsfeier. Harry bemerkte die grauen Schlangenlederstiefel, die der Drogenfahnder auf die Streben des Hockers stellte. Es waren Bulldog-Stiefel. Sie wurden mit Vorliebe von Rodeo-Cowboys getragen, da die Absätze schräg nach vorne gingen und so besseren Halt verschafften, wenn man ein Kalb mit dem Lasso zu Fall brachte. Von den Rauschgiftbullen wurden sie dustbuster, Staubfänger, genannt, weil sie den gleichen Zweck erfüllten, wenn man jemand festnahm, der von Angel Dust high war.

Zunächst rauchten und tranken sie. Sie sprachen über dies und das und versuchten, Gemeinsamkeiten herzustellen und Grenzen zu ziehen. Bosch stellte fest, dass Calexico der treffende Name für Moores Mischlingsherkunft war. Dunkle Haut, das Haar so schwarz wie Tinte, schmale Hüften und breite Schultern. Aber seine Augen widersprachen der dunklen mexikanischen Erscheinung. Er hatte die Augen eines kalifornischen Surfers, grün wie Frostschutzmittel, und in seiner Stimme klang nichts Mexikanisches mit.

»Es gibt eine Grenzstadt namens Calexico. Direkt gegenüber von Mexicali. Schon mal da gewesen?«

»Ich wurde dort geboren. Daher habe ich den Namen.«

»Ich bin nie dort gewesen.«

»Mach dir nichts draus. Du hast nicht viel verpasst. Es ist eine Grenzstadt wie all die anderen. Ich fahr immer noch ab und zu hin.«

»Familie?«

»Nee, nicht mehr.«

Mit einem Handzeichen bestellte Moore beim Barkeeper eine weitere Runde und steckte sich eine neue Zigarette an der alten an, die er bis zum Filter geraucht hatte.

»Ich dachte, du wolltest mich etwas fragen«, sagte er.

»Ja, das will ich. Ich habe einen Fall.«

Die Drinks kamen, und Moore goss sich den Whiskey mit einem geübten Schwung hinter die Binde. Er hatte schon den nächsten angefordert, als der Barkeeper noch seine Striche auf dem Block machte.

Bosch begann seinen Fall zu skizzieren. Vor ein paar Wochen hatte er ihn übernommen, hatte bisher jedoch keine Fortschritte gemacht. Unter der Hollywood-Freeway-Überführung an der Gower Street war die Leiche eines dreißigjährigen Mannes gefunden worden, der später mithilfe der Fingerabdrücke als James Kappalanni von der Hawaii-Insel Oahu identifiziert wurde. Man hatte ihn mit einem fünfzig Zentimeter langen Bindedraht erwürgt. Die Enden waren mit Holzstäbchen versehen, damit man den Draht besser zuziehen konnte, nachdem man ihn jemand um den Hals gelegt hatte. Saubere und gute Arbeit. Kappalannis Gesicht hatte das bläuliche Grau einer Auster. Den blauen Hawaiianer hatte ihn die kommissarische Chefärztin genannt, als sie die Autopsie vorgenommen hatte. Zu dem Zeitpunkt wusste Bosch aus den Anfragen bei den NCIC- und DOJ-Computerarchiven, dass der Tote zu Lebzeiten auch unter dem Namen Jimmy Kapps bekannt gewesen war und ein Drogenvorstrafenregister hatte – so lang wie der Draht, mit dem man ihm das Leben genommen hatte.

»Es war also keine große Überraschung, als man ihn aufschnitt und zweiundvierzig Kondome in seinem Bauch fand«, sagte Bosch.

»Was war drin?«

»Dieser Dreck aus Hawaii, den sie Glass nennen. Ein Derivat von Ice, hat man mir gesagt. Ich erinnere mich noch, als Ice vor ein paar Jahren in Mode war. Jedenfalls war Jimmy Kapps ein Kurier. Er transportierte das Glass in seinem Magen und war wahrscheinlich gerade mit dem Flugzeug aus Hawaii gekommen, als er in den Draht stolperte.

Wie ich gehört habe, ist das Zeug ziemlich teuer, und auf dem Markt herrscht erbitterte Konkurrenz. Was ich brauche, sind wohl ein paar Hintergrundinformationen – neue Ideen. Ich tappe nämlich ganz schön im Dunklen. Keine Ahnung, wer Jimmy Kapps beseitigt hat.«

»Mit wem hast du über Glass gesprochen?«

»Ein paar Obermacker von der Drogenfahndung downtown. Keine große Hilfe.«

»Niemand weiß einen Scheiß – deshalb. Haben sie dir vom Schwarzen Eis erzählt?«

»Ein bisschen. Angeblich ist es das Konkurrenzprodukt und kommt aus Mexiko. Das ist so ziemlich alles, was sie mir erzählt haben.«

Moore sah sich nach dem Barkeeper um, der am anderen Ende der Bar stand und sie absichtlich zu ignorieren schien.

»Es ist relativ neu«, sagte er. »Letztendlich sind Schwarzes Eis und Glass das gleiche Zeug mit der gleichen Wirkung. Glass kommt von Hawaii, und schwarzes Eis kommt aus Mexiko. Die Droge für das einundzwanzigste Jahrhundert könnte man es wohl nennen. Wenn ich Verkäufer wäre, würde ich sagen, es deckt alle Käuferschichten ab. Jemand hat einfach Kokain, Heroin und PCP genommen und zu kleinen Brocken zusammengebacken. Brocken mit Power. Der Effekt ist flächendeckend. Es hat das High von Crack, und das wird vom Heroin aufrechterhalten – nicht für Minuten, für Stunden. Dann enthält es noch eine Prise Staub, PCP; das gibt einem vorm Absacken noch mal einen Kick. Sobald das einmal auf der Straße Fuß gefasst hat, der Markt voll entwickelt ist, ist alles zu spät. Dann laufen hier nur noch Zombies rum.«

Bosch sagte nichts. Das meiste wusste er schon, aber Moore war in Fahrt, und er wollte ihn nicht mit einer Frage vom Thema abbringen. Er zündete sich eine Zigarette an und wartete.

»Es hat in Hawaii angefangen«, sagte Moore. »Oahu. Dort stellten sie Eis her. Sie nannten es schlicht Ice. Man backt PCP mit Kokain. Sehr profitreich. Das hat sich dann weiterentwickelt. Sie haben Heroin hinzugefügt. Gute Qualität. Asienweiß. Jetzt nennen sie es Glass. Das ist wahrscheinlich ihr Slogan: glasklar. Aber in diesem Geschäft gibt es kein Monopol. Es gibt nur Preis und Profit.«

Er hielt beide Hände hoch, um zu unterstreichen, wie wichtig die zwei Faktoren waren.

»Die Typen auf Hawaii hatten ein gutes Produkt, jedoch Probleme mit dem Transport zum Festland. Es gibt Boote und Flugzeuge, aber die kann man ziemlich gut kontrollieren – oder wenigstens einigermaßen gut. Das heißt, sie können observiert und überprüft werden. Also heuern sie Kuriere wie Kapps an, die den Scheiß schlucken und rüberfliegen. Doch selbst das ist nicht so leicht. Erstens kann man nur eine geringe Menge transportieren. Wie viel war es, zweiundvierzig Ballons? In jedem Ballon ungefähr hundert Gramm. Das ist nicht viel für den ganzen Aufwand. Außerdem gibt es die Drogenfahnder von der Bundesbehörde DEA. Die haben ihre Leute in den Flugzeugen und auf den Flughäfen. Die halten Ausschau nach Gummischmugglern wie Kapps. Sie haben ein Täterprofil, verstehst du. Eine Liste mit verräterischen Anzeichen. Sie achten auf Leute, die schwitzen, aber trockene Lippen haben. Das Medikament gegen Durchfall hat diese Nebenwirkung. Die Gummischmuggler saufen das Zeug, als wäre es Pepsi. Es verrät sie.

Die Mexikaner haben es dagegen verdammt leicht. Die geografischen Verhältnisse sind ein großer Vorteil für sie. Sie haben Boote, Flugzeuge und dazu eine zweitausend Meilen lange Grenze, an der man kaum etwas abfangen kann. Man sagt, die Bundesfahnder beschlagnahmen ein Pfund Kokain von zehn, die über die Grenze kommen. Und was das Schwarze Eis angeht, konfiszieren sie noch nicht einmal eine Unze. Bisher habe ich noch von keiner einzigen Lieferung Schwarzes Eis gehört, die an der Grenze aufgeflogen ist.«

Er machte eine Pause, um sich eine Zigarette anzustecken. Bosch sah, wie die Hand mit dem Streichholz zitterte.

»Die Mexikaner haben einfach das Rezept gestohlen und Glass selbst hergestellt. Allerdings verwenden sie einheimisches, braunes Heroin, einschließlich des Teers. Das ist der klebrige Mist am Fassboden. Es hat viele Verunreinigungen und färbt das Zeug schwarz. Deshalb sind sie auf die Idee gekommen, es Schwarzes Eis zu nennen. Sie produzieren es billiger, sie transportieren es billiger, und sie verkaufen es billiger. Sie haben die Hawaiianer, die das verdammte Zeug erfunden haben, so gut wie aus dem Geschäft gedrängt.«

Moore schien hier den Schlusspunkt zu machen.

Harry fragte: »Hast du irgendetwas gehört, dass die Mexikaner die Kuriere aus Hawaii beseitigen – vielleicht, um auf diese Weise das Monopol zu erhalten?«

»Wenigstens nicht hier. Du musst begreifen, die Mexikaner produzieren den Scheiß. Aber sie verkaufen es nicht unbedingt selbst auf der Straße. Der Straßenhandel spielt sich mehrere Ebenen tiefer ab.«

»Aber sie kontrollieren doch sicher das Ganze.«

»Das ist wohl wahr.«

»Also, wer hat Jimmy Kapps ermordet?«

»Da bin ich überfragt. Von der Sache höre ich jetzt zum ersten Mal.«

»Hat dein Team je Eis-Dealer verhaftet? Sie sich mal zur Brust genommen?«

»Ein paar. Aber wir sprechen hier von den untersten Sprossen der Leiter. Weiße Kids. Die Dealer auf dem Hollywood Boulevard sind gewöhnlich weiß. Das Dealen ist leicht für sie. Was nicht heißen soll, dass sie es nicht von den Mexikanern bekommen. Es ist aber ebenfalls möglich, dass sie es von Gangs aus South-Central Los Angeles bekommen. Die Verhaftungen, die wir gemacht haben, würden dir also nicht weiterhelfen.«

Er schlug mit dem leeren Bierkrug auf die Theke, bis der Barkeeper aufschaute, und bestellte noch eine Runde. Moores Laune schien schlechter zu werden, und Bosch hatte von ihm nicht viel Hilfreiches erfahren.

»Ich muss die Verteilerleiter weiter rauf. Kannst du mir einen Tipp geben? Ich weiß einen Dreck, und der Fall ist drei Wochen alt. Entweder finde ich einen Ansatzpunkt oder ich lasse die Sache fallen.«

Moore blickte geradeaus auf die Flaschen an der Rückwand der Bar.

»Ich werd mal sehen, was ich tun kann«, sagte er. »Aber vergiss nicht, wir verschwenden kaum Zeit mit Schwarzem Eis. Coke, Angel Dust, etwas Hasch, das ist unser tägliches Brot. Nichts Exotisches. Schließlich sind wir ein Statistiktrupp. Aber ich kenne jemand bei der DEA, der Bundesdrogenpolizei. Ich spreche mit ihm.«

Bosch sah auf die Uhr. Es war fast Mitternacht, und er wollte gehen. Er beobachtete, wie sich Moore eine Zigarette ansteckte, obwohl noch eine im vollen Aschenbecher brannte. Ein volles Glas Bier und der Whiskey standen vor ihm auf der Theke, aber er stand auf und kramte in seinen Taschen nach Geld.

»Also danke«, sagte er. »Schau mal, was du rauskriegst.«

»Sicher«, sagte Moore. Und nach einem Moment: »He, Bosch?«

»Was?«

»Ich habe von dir gehört. Du verstehst … Was man so erzählt auf dem Revier. Du hast mal ganz schön in der Scheiße gesteckt. Hattest du irgendwann einmal mit einem DIE-Anzug namens Chastain zu tun?«

Bosch überlegte einen Moment. John Chastain war einer der Besten. Bei Interne Ermittlungen wurden die Beschwerden am Ende als berechtigt, unberechtigt oder unbegründet klassifiziert. Er war unter dem Doppelnamen Berechtigt-Chastain bekannt.

»Ich habe von ihm gehört«, sagte er. »Er ist drei, pustet einen vom Hocker.«

»Weiß ich, dass er Detective Klasse drei ist. Jeder weiß das. Was ich wissen will, hat er … war er einer von denen, die hinter dir her waren?«

»Nein, das war immer jemand anders.«

Moore nickte und nahm sich den Whiskey, der vor Bosch gestanden hatte. Nachdem er das Glas geleert hatte, fragte er: »Chastain, leistet er gute Arbeit? Oder ist er auch nur einer von den Anzügen, die Sessel abwetzen?«

»Kommt drauf an, was du unter gut verstehst. Aber ich glaube nicht, dass von denen keiner was taugt. In dem Job geht das nicht. Aber wenn du ihnen eine Chance gibst, stoßen die dich in den Ofen und tüten hinterher deine Asche ein.«

Bosch war hin- und hergerissen. Er wollte wissen, was los war, aber er wollte nicht in die Scheiße treten. Moore sagte nichts. Die Wahl lag bei Bosch. Harry entschied sich, seine Nase nicht hineinzustecken.

Er sagte: »Wenn die geil auf dich sind, kannst du nicht viel machen. Ruf die Gewerkschaft an, besorg dir einen Anwalt. Tu, was er sagt, und erzähl den Anzügen nur, was du musst.«

Moore nickte wieder schweigend. Harry legte zwei Zwanzig-Dollar-Scheine auf die Theke – genug für die Zeche, einschließlich Trinkgeld. Dann ging er.

Moore sah er nie wieder.

 

Bosch wechselte auf den Antelope Valley Freeway und fuhr Richtung Nordosten. Auf der Überführung am Sand Canyon schaute er auf die Gegenfahrbahn und sah einen weißen Aufnahmewagen vom Fernsehen. Eine große 9 prangte an der Seite. Das bedeutete, dass Moores Frau schon Bescheid wusste, wenn er ankam. Bosch fühlte leichte Gewissensbisse, gemischt mit dem Gefühl von Erleichterung, dass er es ihr nicht als Erster mitteilen musste.

Dabei fiel ihm ein, dass er den Namen der Witwe nicht wusste. Irving hatte ihm nur die Adresse gegeben, voraussetzend, dass Bosch ihren Namen kannte. Während er vom Freeway auf den Sierra Highway fuhr, versuchte er sich an die Zeitungsartikel der letzten Woche zu erinnern. Sie hatten ihren Namen erwähnt.

Aber es fiel ihm nicht ein. Er erinnerte sich, dass sie Lehrerin war – möglicherweise für Englisch –, an einer High School im Valley. In der Zeitung hatte gestanden, dass sie keine Kinder hatten. Außerdem erinnerte er sich noch, dass sie sich vor ein paar Monaten von ihrem Mann getrennt hatte. Aber ihr Name war ihm entfallen.

Er bog auf den Del Prado Drive ab, verfolgte die Hausnummern, die auf die Bordsteine gemalt waren, und hielt endlich vor dem Haus, in dem Cal Moore einmal gewohnt hatte.

Es war ein Haus im Ranch-Stil, wie sie zu Hunderten für die auf dem Reißbrett geplanten Gemeinden vom Fließband kamen. Von außen sah es geräumig aus – vielleicht hatte es vier Schlafzimmer. Eigenartig bei einem kinderlosen Ehepaar, dachte er. Vielleicht hatten sie anfangs mal Pläne gehabt.

Das Licht über der Vordertür war nicht eingeschaltet. Niemand wurde erwartet. Niemand war erwünscht. Im Mondlicht sah Bosch, wie hoch der Rasen im Vorgarten war. Der Rasenmäher war seit über einem Monat nicht mehr zum Einsatz gekommen. Das Gras war um den Pfosten mit dem weißen Schild von Ritenbaugh-Immobilien hochgewachsen, der am Bürgersteig in die Erde gepflanzt war.

In der Auffahrt standen keine Wagen. Die Garagentür war geschlossen, ihre zwei Fenster starrten wie dunkle Augenhöhlen. Ein einzelnes, schwaches Licht schien durch die Vorhänge des großen Fensters neben der Vordertür. Er fragte sich, wie sie sein würde und ob sie sich schuldig fühlte oder zornig wäre? Oder beides?

Er warf seine Zigarette auf die Straße, stieg aus und trat sie mit dem Fuß aus. Dann ging er an dem trist aussehenden Verkaufsschild vorbei zur Tür.

4

Willkommen stand auf der Fußmatte vor der Haustür, aber sie war abgetreten, und es war schon lange her, dass jemand den Staub aus ihr geklopft hatte. Bosch nahm dies alles wahr, da er den Kopf gesenkt hielt, nachdem er angeklopft hatte. Ihm war bewusst, dass er es vorzog, irgendeinen Gegenstand zu betrachten, als dieser Frau ins Gesicht zu sehen.

Ihre Stimme antwortete nach dem zweiten Klopfen.

»Gehen Sie weg! Kein Kommentar.«

Bosch musste lächeln; heute Abend hatte er die gleiche Phrase gebraucht.

»Hallo, Mrs. Moore? Ich bin kein Reporter. Ich bin von der Polizei in Los Angeles, LAPD.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und ihr Gesicht zeigte sich. Das Licht kam von hinten, und Schatten verbargen ihre Züge. Bosch sah die Vorhängekette, die sich über die Öffnung spannte. Das Etui mit der Dienstmarke hatte er schon parat und geöffnet.

»Ja?«

»Mrs. Moore?«

»Ja?«

»Mein Name ist Harry Bosch. Hm, ich bin Detective, LAPD, und man hat mich geschickt … Könnte ich reinkommen? Ich muss … Ihnen ein paar Fragen stellen und Sie über – hm – gewisse Entwicklungen …«

»Sie sind zu spät. Ich hatte schon Kanal 4 und 5 und 9 hier. Als Sie klopften, dachte ich, Sie sind jemand anders. Zwei oder sieben. Sonst fällt mir niemand mehr ein.«

»Darf ich reinkommen, Mrs. Moore?«

Er steckte die Dienstmarke weg. Sie drehte den Schlüssel, und er hörte, wie die Kette herausgezogen wurde. Die Tür öffnete sich, und mit einer Armbewegung bat sie ihn hereinzukommen. Er betrat einen Eingangsflur mit rostfarbenen mexikanischen Fliesen. In einem runden Wandspiegel sah er, wie sie die Tür wieder abschloss. In der Hand hielt sie ein Papiertaschentuch.

»Wird es lange dauern?«, fragte sie.

Er verneinte, und sie führte ihn ins Wohnzimmer, wo sie sich auf einem großen braunen Ledersessel niederließ. Er sah sehr bequem aus und stand neben einem offenen Kamin. Sie deutete auf eine Couch gegenüber dem Kamin. Das war der Platz für Gäste. Im Kamin glühte noch der letzte Rest eines erloschenen Feuers. Auf dem Tisch neben ihrem Sessel stand eine Schachtel mit Taschentüchern und ein Stapel Papiere. Sie sahen aus wie Hausarbeiten oder Manuskripte, einige steckten in Plastikhüllen.

»Lektüreberichte.« Sie hatte seinen Blick bemerkt. »Meine Schüler mussten Bücher beschreiben, die Hausarbeit war vor den Weihnachtsferien abzugeben. Es ist meine erste Weihnacht allein, und ich wollte sicher sein, dass ich etwas zu tun habe.«

Bosch nickte. Er erinnerte sich, dass er irgendwo gelesen oder gehört hatte, dass sie Lehrerin war. Er sah sich im Zimmer um. In seinem Beruf erfuhr er viel über Menschen von den Räumen, in denen sie lebten. Oft konnten die Personen ihm selbst nichts mehr erzählen. Also ließ er die Zimmer sprechen und hörte zu. Er war der Ansicht, dass er ein Talent dafür hatte.

Der Raum, in dem sie saßen, war spärlich eingerichtet. Wenig Möbel. Es sah nicht aus, als ob oft Freunde oder Verwandte zu Besuch hier wären. An einem Ende des Raums befand sich ein großes Regal mit Hardcover-Büchern und großformatigen Kunstbänden. Kein Fernseher. Nichts deutete auf Kinder hin. Ein Ort, um in Ruhe zu arbeiten oder sich am Kaminfeuer zu unterhalten.

Nicht mehr.

In der Ecke gegenüber dem Kamin stand ein anderthalb Meter großer Weihnachtsbaum mit weißen Kerzen, roten Kugeln und selbst gebasteltem Schmuck, der aussah, als wäre er über Generationen vererbt worden. Es gefiel ihm, dass sie den Baum allein aufgestellt hatte. Sie führte ihr Leben und ihre Gewohnheiten inmitten der Trümmer ihrer Ehe fort. Den Baum hatte sie allein für sich aufgestellt. Ihm wurde bewusst, wie stark sie war. Schmerz und vielleicht Einsamkeit bildeten für sie einen Schutzpanzer, aber er empfand auch ihre Stärke. Der Baum zeigte, dass sie dies überleben würde, dass sie da durchkommen würde. Allein. Er wünschte, er könnte sich an ihren Namen erinnern.

»Bevor Sie anfangen«, sagte sie, »darf ich Sie etwas fragen?«

»Sicher.«

»War das Absicht? Zuerst die Reporter kommen zu lassen, damit Sie nicht die Dreckarbeit tun müssen? Mein Mann hat das so genannt. Die Familie benachrichtigen. Er nannte es die Dreckarbeit – meinte, Detectives versuchten immer, sich davor zu drücken.«

Bosch fühlte, wie ihm heiß wurde. Über dem Kaminsims hing eine Uhr, die jetzt in der Stille sehr laut zu ticken schien. Endlich brachte er etwas heraus: »Ich bekam den Auftrag erst vor Kurzem. Ihr Haus war schwer zu finden. Ich …«

Er brach ab. Sie wusste.

»Es tut mir leid. Sie haben recht. Ich habe mir Zeit gelassen.«

»Ist okay. Ich hätte Sie nicht in Verlegenheit bringen sollen. Es muss schrecklich sein, so etwas tun zu müssen.«

Bosch hätte gern einen Fedora gehabt, wie die Detectives in den alten Filmen. Er könnte ihn in der Hand halten, nervös damit rumspielen, über die Krempe streichen – er hätte etwas zu tun. Beim näheren Hinsehen bemerkte er, dass sie schon ein bisschen von ihrer Schönheit eingebüßt hatte. Mitte dreißig, dachte er, braunes Haar und blonde Strähnchen, gelenkig wie eine Läuferin. Ein kräftiges Kinn über straffen Halsmuskeln. Sie benutzte kein Make-up, um die kleinen Fältchen unter den Augen zu verbergen. Sie trug Blue Jeans und ein weites weißes Sweatshirt, das vielleicht einmal ihrem Mann gehört hatte. Bosch fragte sich, wie viel sie noch von Calexico Moore in ihrem Herzen trug.

Tatsächlich bewunderte Harry sie, wie sie sich mit ihm wegen der »Dreckarbeit« angelegt hatte. Er hatte es verdient. In den drei Minuten, die er sie kannte, war ihm durch den Kopf gegangen, dass sie ihn an jemand erinnerte. Vielleicht jemand aus seiner Vergangenheit. Neben ihrer Stärke ging eine ruhige Empfindsamkeit von ihr aus. Seine Augen wurden immer wieder magnetisch von ihren angezogen.

»Also, ich bin Detective Harry Bosch«, begann er noch einmal, darauf hoffend, dass sie ihm ihren Namen sagen würde.