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»Der Lufthändler« versammelt die besten Science-Fiction-Erzählungen von Michael J. Awe, die von 2018 bis 2024 in verschiedenen Anthologien und Magazinen erschienen sind. Zum ersten Mal liegt damit eine Auswahl seines Schaffens im Bereich der Kurzgeschichte vor. Inhalt: Der Lufthändler Tanks Die 0 und die 1 Die Passage Global Offshore Unter der Sonne von Cela 14
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2025
MICHAEL J. AWE
Der
Lufthändler
SF-Erzählungen
Milan erwachte und blinzelte benommen.
Sein Herz schlug gegen die Rippen, der Mund schnappte nach Luft. Ein Druck lastete auf Schläfen und Brust, hielt seinen mageren Körper wie in einer festen Faust. Mechanisch rollte sich Milan aus dem Bett. Seine schmalen Hände fuhren zu dem Tank mit der Maske, die Finger zerrten an dem Ventil noch immer ungeschickt vom Schlaf und pressten die halbtransparente Kunststoffschale auf Nase und Mund.
Der Segen des Sauerstoffs durchströmte seine Zellen. Milan atmete konzentriert weiter, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte.
Das war knapp, dachte er.
Noch zitternd erhob er sich und nahm das Multiple neben dem Bett auf. Die Sauerstoffzufuhr für sein Apartment war um Mitternacht unterbrochen worden. Der CO2-Gehalt in der Raumluft lag bei 3,9 Prozent, der Sauerstoffwert unter der zweiten Stufe. Milan kniff die Augen zusammen und versuchte die Benommenheit, die wie eine Wolke in seinem Schädel saß, zu durchdringen. Dann war seine Wohnwabe vom späten Abend an gerade mal drei Stunden mit Sauerstoff versorgt gewesen. Der Kohlendioxidüberschuss in der Luft war immer das erste Problem, sobald kein künstlicher Sauerstoff mehr zugeführt wurde. Aber warum war die Versorgung beendet worden? Er wechselte zu seinem Kontostand. Eine Abbuchung von 450 Credits für die Mietnebenkosten, die Milan gestern nicht gesehen hatte. Dadurch hatte sein Konto keine Deckung mehr für die Zahlung der Raumluft besessen, und die Versorgung war zeitgleich mit einer elektronischen Benachrichtigung eingestellt worden.
»So etwas Dummes!«, murmelte er.
Milan streifte sich das Gerät um das dünne Handgelenk. Der Raum war so klein, dass er kaum genügend Platz für das Bett und die schmale Küchenzeile bot, aber er kam nach einem langen Arbeitstag auch nur zum Schlafen her. Hinter den dicken Fensterscheiben waren die ersten Sonnenstrahlen zu sehen, die auf die gegenüberliegende Hochhauswabe fielen. In der Kühleinheit befanden sich ein Block Soja vom Vortag, den er sich in den Mund steckte, und eine Lauchzwiebel. Das Wasser aus dem Hahn war lauwarm, aber er wusste, dass Laufenlassen es nicht besser machen würde. Er riss sich ein Stück von der Lauchzwiebel ab und kaute darauf rum, während er einen Becher mit Wasser füllte und mit kleinen Schlucken austrank. Milan stieg in die Sandalen und rollte den Wagen mit den vier Sauerstofftanks aus der Nische hinter der Küchenzeile hervor. Der eine Tank war schon fast leer. Bis zum Abend musste er einen weiteren Tank verkauft haben, sonst würden die Credits für den Sauerstoff seines Apartments nicht reichen.
Er schlüpfte in das Geschirr für den mobilen Sauerstofftornister, der sich in mehreren Segmenten an seinen Rücken schmiegte, prüfte den Füllstand und setzte die Atemmaske auf. Noch immer ein wenig benommen schob er den Wagen zur Tür. Obwohl die Versuchung groß war, atmete Milan nur flach und langsam. Wenn ich die Credits habe, dachte er, werde ich mir einige tiefe Züge gönnen. Sein schmales Gesicht mit den feinen Falten verzog sich zu einem Lächeln.
Die hermetisch verschlossene Tür öffnete sich mit einem leisen Zischen. Im kahlen Flur war niemand unterwegs, während er sein Wägelchen zu den Aufzügen schob.
Hoffentlich funktionieren sie, dachte er.
Der Weg aus dem 23. Stock war weit, wenn man die Sauerstofftanks auf den Schultern nach unten tragen musste. Diesen Monat hatte er es schon dreimal gemacht, und dabei so viel Sauerstoff verbraucht, dass er zwei Tage lang hatte sparen müssen.
Diesmal hatte er Glück.
Am Fuß des Megatowers achtete er darauf, seinen Rollwagen durch die schattigen Zonen zu schieben. Das Meer erstreckte sich bleischwer vor ihm, aber kein Lufthauch brachte Erleichterung. In den planktonfreien Fluten lag nichts Lebensspendendes mehr.
Auf der Promenade warteten bereits die ersten Händler. Milan grüßte einige der Männer und Frauen mit einem Nicken, als er an ihren Ständen vorbeifuhr. Man nannte ihn hier nur den Lufthändler. Das war nicht unbedingt freundlich gemeint. Man brauchte ihn, sicher, aber man mochte den Handel mit dem lebensnotwendigen Stoff nicht.
Als würde es mir besser gehen, dachte Milan, während er den Wagen durch die schon stechende Sonne schob. Auf dem Markt war alles eine Ware, für das jemand bereit war, Geld zu zahlen. Und auf Essen konnte man einige Wochen verzichten, aber nicht auf Sauerstoff.
Ich bin spät dran, dachte Milan missmutig. Alle Schattenplätze sind bereits weg.
Er stellte sich an den Rand der Promenade, sodass er das Meer im Rücken hatte, und klappte den improvisierten Sonnenschutz des Rollwagens aus, ein altes Segel, das er zwischen einem Metallgestell montiert hatte. Als die Plane über seinem Kopf aufgespannt war, lief ihm schon der Schweiß in Bahnen über den schmalen Körper.
Auf dem Weg hatte Milan einen weiteren Lufthändler gesehen. Der Tag versprach ein schlechtes Geschäft zu werden. Unruhig kontrollierte Milan die Sauerstofftanks. Während er die vorderen Ventile in Augenschein nahm, fragte er sich, ob er am Abend genügend Credits zusammenhaben würde, um die zweite Nacht ohne Sauerstoffzufuhr abzuwenden. Er könnte sich etwas Sauerstoff von seinen Verkaufsvorräten abzwacken, eine Weile die Maske aufsetzen und gucken, damit bis zum Morgen durchzukommen. Aber es wäre ihm am liebsten, wenn er sich einige Tage keine Gedanken um die Sauerstoffversorgung seines Apartments machen müsste. Außerdem war es angenehm, sich zu Bett zu begeben, ohne befürchten zu müssen, unsanft von akuter Luftnot aus dem Schlaf gerissen zu werden. Oder gar nicht mehr aufzuwachen.
Milan verschloss den Sauerstoffbehälter auf seinem Rücken und zog die Atemmaske unters Kinn. Die Luft war dünn, aber für eine kurze Zeit würde es gehen.
Der erste Kunde kam erst nach zwei Stunden. Ein recht dicker Mann, dessen volles Gesicht gerötet war. Milan drehte den Hahn auf, nachdem der Käufer seinen Atemschlauch an einem der vorderen Auslassventile geschraubt hatte, und ließ den Sauerstoff in den Tank des Mannes strömen.
»100 Credits«, sagte Milan.
Der Kunde gab den Wert in sein Mobile ein, im nächsten Augenblick wurde die Zahlung auf Milans Gerät bestätigt. Der Mann setzte sich die Maske auf und watschelte langsam weiter.
Noch sieben Kunden, dachte Milan.
Er benötigte mindestens 800 Credits, um den Zahlungsrückstand begleichen zu können. Er hatte zwar bereits 1450 Credits für die acht Tanks angezahlt, die er kommenden Monat verkaufen wollte, und könnte das Geld im Notfall auch wieder zurückbekommen, aber diese Anzahlung sicherte seinen Lebensunterhalt. Konnte er keine Ware mehr einkaufen, war alles vorbei.
Umso höher die Sonne stieg, umso weniger Menschen waren auf der Promenade. Ein Großteil des Handels fand in den frühen Morgenstunden oder am Abend statt, wenn die Temperaturen unter die 40-Grad-Marke fielen. Gegenüber stand die alte Sille mit ihren Sonnenschirmen und Baseballkappen, kleinen Ventilatoren und T-Shirts. Auch sie hatte erst einen Kunden gehabt. Serhat nebenan hatte mehr Glück. Von den gefüllten Fladenbroten waren schon etliche an die Kundschaft gegangen. Er würde von ihnen allen vermutlich am ehesten gehen. Manchmal war es noch vor Mittag, dass er seinen ganzen Vorrat verkauft hatte, den Wagen zuklappte und sich auf den Heimweg machte.
Vielleicht sollte ich es auch einmal mit Essen versuchen, überlegte Milan. Aber er kannte nur das Geschäft mit dem Sauerstoff und schätzte es immer noch als eine krisensichere Sache ein. Doch an Tagen wie diesen konnten einem schon Zweifel kommen.
Milan war so in Gedanken, dass er den Mann gar nicht wahrgenommen hatte, der neben seinem Stand stehengeblieben war. Der bärtige Typ hielt ihm ein Küchenmesser vor das Gesicht.
»Sauerstoff«, presste er hervor.
Der Mann sah schlecht aus, ging es Milan durch den Kopf, war aber auch zu allem bereit.
Milan musterte die lange Klinge. Ein Zeichen der Entschlossenheit und der Verzweiflung. Die Arithmetik des Überlebens. Es war nicht so, dass sie ohne Maske sofort tot umfielen. Sie lebten nicht im Vakuum. Sauerstoff war vorhanden, doch in so geringer Menge, dass es auf Dauer nicht ausreichte.
Der Mann bewegte die Klinge drohend vor Milan hin und her.
Die Blicke des Lufthändlers glitten über die umstehenden Händler. Bemerkte jemand, was hier los war? Oder vermied man es, sich einzumischen? Milan wusste die Antwort und seufzte leise.
Mit einem Nicken wies er auf den linken Tank. Der Mann schraubte seinen Schlauch auf das außen angebrachte Gewinde, ohne die Waffe einzustecken.
»Los, mach schon!« Seine Stimme war heiser, die Augen zuckten unruhig hin- und her.
Milan drehte das Ventil auf und hörte, wie der Sauerstoff leise in den Schlauch strömte.
100 Credits Verlust, dachte Milan.
Aber er konnte sich keinen Krankenhausaufenthalt wegen einer Stichwunde leisten. Vom Verdienstausfall ganz zu schweigen.
Als der Tank des Fremden voll war, drehte Milan den Hahn wieder zu.
Der Mann befestigte den Schlauch an seiner Maske und eilte davon. Seine Waffe verschwand im Ärmel seines zu großen Mantels.
Milan sah der zerlumpten Gestalt nach. Glücklicherweise war der Typ nicht auf die Idee gekommen, auch noch Geld zu verlangen. Die Polizei zu rufen, lohnte nicht. Sie kamen meistens erst nach Stunden und nur ungern in das Gebiet am Strand. Außerdem würden sie ohne Credits sowieso keinen Finger rühren.
Gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand, begab sich Milan zu Serhat, um seinen Hunger zu stillen.
»Was kann ich dir anbieten, Lufthändler?«, fragte Serhat, dessen Stimme dumpf durch die Atemmaske drang, vermied es aber, ihm in die Augen zu schauen.
»Gib mir die mit Spinat und Tofu.«
Während Serhat das gefüllte Fladenbrot aus der Auslage nahm, dachte Milan, dass er es ihm noch nicht einmal verübeln konnte. Der Mann hatte Frau und Kinder, und wer wollte schon sein Leben für einen anderen riskieren.
»Wie geht es der Familie?«, fragte Milan.
»Ach«, sagte Serhat und packte das Brot in eine Pappschachtel. »Der Ältere ist gerade eingeschult worden. Alles muss gekauft werden, was die Lehrer sagen. Hier, nimm noch etwas Tee! Er wird dir guttun.«
Milan nahm die Schachtel und den kleinen Metallbecher entgegen und nickte Serhat zum Abschied zu. Er setzte sich hinter seinen Wagen in den Schatten, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tanks und sah aufs bleigraue Meer hinaus. Am Horizont waren die Umrisse der riesigen Frachtschiffe zu erkennen, autonom fahrende Einheiten, die die Häfen der Welt miteinander verbanden. Milan war nie woanders gewesen. Arme Menschen reisten nicht. Er biss in das Fladenbrot und blickte kauend den Strand entlang. Nicht eine Alge war am Wassersaum zu sehen, keine Qualle oder Krebse, nichts außer den menschlichen Abfällen. Das Einzige, was das Meer noch hergab. Kinder gingen zwischen dem Müll umher, auf der Suche nach Dingen, die sie ausschlachten und verkaufen konnten, ihre hageren, nackten Oberkörper von der Sonne tiefbraun. Immer, wenn ihnen der Ausläufer einer Welle zu nahekam, wichen sie auf dem Strand geschickt aus.
Milan atmete beim Essen flach durch die Nase. Die Luft roch anders als der künstliche Sauerstoff, aber er konnte noch nicht einmal sagen, dass sie angenehmer war. Wie sehr wünschte er sich einen frischen Wind, der über die Weite des Meeres käme und seine heiße Haut kühlen würde, voller Sauerstoff, den er zufrieden in seine Lunge ziehen konnte. Tiefe, gleichmäßige Atemzüge ohne Maske, und wann immer man wollte. Ohne dafür bezahlen zu müssen. Vielleicht würden sie dann alle wieder zu Menschen werden, und die Bösartigkeit würde wie ein Gift ihre Körper verlassen?
Eines der Kinder am Strand hatte etwas gefunden und betrachtete es aufmerksam, ein anderer Junge lief hinzu, schließlich packten sie die Sache in einen großen Sack.
Milan nahm einen Schluck des heißen, stark gesüßten Minztees. Letzte Woche hatte er gesehen, wie ein Mann einem anderen die Maske vom Gesicht gerissen hatte. Es war zu einer Rangelei gekommen, doch der Angreifer hatte dem anderen gegen den Kopf geschlagen und dem bewusstlosen Körper anschließend den Rückentank abgenommen. Milan hatte aus den Augenwinkeln zugesehen, während er seinen Wagen weiterschob, froh, dass nicht die Aufmerksamkeit auf seinen Sauerstoffvorrat fiel. Aber der kurze Kampf hatte den Angreifer so erschöpft, dass er einfach nur auf dem Boden gehockt und den geklauten Sauerstoff eingeatmet hatte. Milan kannte das Gefühl gut, wenn die Luft immer knapper wurde, und die Angst vor dem Ersticken einsetzte. Die Gedanken, die in einem aufkamen, und was man zu tun bereit war ... Der Überlebensinstinkt schlug alles nieder. Man wurde zu etwas Fremdem, und wenn sich der Verstand wieder klärte, herrschte eine Mischung aus Scham und Freude darüber, am Leben zu sein.
Milan schluckte den letzten Bissen runter und schüttelte die düsteren Gedanken ab. Moral muss man sich leisten können, dachte er, und setzte sich die Maske wieder auf.
Gegen Abend, als die Sonne schon dicht über dem Horizont hing, schob er seinen Wagen die Promenade zurück. Er hatte die 800 Credits eingenommen, sogar 200 Credits zusätzlich geschafft. Das Schlimmste war abgewendet, wieder einmal. Die 1000 Einheiten waren auf seinem Multiple sofort gutgeschrieben worden.
Dass etwas wie Luft so schwer sein kann, dachte Milan, während er seine Fracht mühsam die Steigung zu den Multitowern hochschob. Die vier großen Tanks auf dem Wagen leuchteten in der Abendsonne. Langsam und gleichmäßig, um nicht zu viel Sauerstoff zu verbrauchen, setzte er einen Fuß vor dem nächsten und stemmte die Arme gegen den Haltegriff seines Gefährts. Die Hitze des Asphalts brannte durch die dünnen Sohlen der Sandalen hindurch, und der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht, als er zwischen den Hochhäusern angekommen war.
Wenn ich 15000 Credits im Monat mehr machen könnte, dachte Milan, würde es für eine Klimaanlage reichen. Er warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Nicht eine Wolke war zu sehen. Vermutlich war es wahrscheinlicher, dass es eine Woche am Stück regnete, als dass er genügend Geld für eine Klimaanlage zusammensparen konnte.
Schnaufend manövrierte er den Wagen in den Fahrstuhl und fuhr in den 23. Stock hinauf. Eine Weile lehnte er sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand und genoss das Gefühl, der Gluthitze entkommen zu sein. Als er sein Gefährt durch den langen Flur mit den identisch aussehenden Türen schob, freute er sich auf frisch gebrühten Kaffee und gute Raumluft.
Er öffnete die Tür mithilfe des Mobiles und stellte den Wagen an seinen Platz hinter der Küchenzeile. Die Luft in dem kleinen Raum hatte sich gebessert, durch die Gitter an der Decke strömte künstlicher Sauerstoff. Die Credits waren also bereits von seinem Konto abgebucht worden. Lächelnd setzte Milan Wasser auf. Nachdem er in ein neues Shirt und kurze Hosen geschlüpft war, begab er sich barfuß in die Küche und bereitete den Kaffee zu. Geschickt hantierten seine schlanken Finger und gossen die dampfende, schwarze Flüssigkeit in eine kleine, henkellose Tasse. In dem Moment klingelte es an der Tür.
Milan runzelte die Stirn. Momentan wollte er nichts lieber tun, als sich mit dem Kaffee hinzusetzen und die gute Luft in seinem Apartment zu atmen. Außerdem war er müde, und seine Füße taten weh. Aber nach einer Weile klingelte es erneut.
Milan warf einen kurzen Blick auf den Becher und öffnete die Tür.
Ein Mädchen stand vor ihm, die schwarzen Haare zu einem langen Zopf gebunden.
»Hallo, Liu«, sagte Milan und trat hinaus. Er schloss die Tür hinter sich.
Das Nachbarkind sah ihn ernst an. »Mama geht es nicht gut.«
Milan blickte automatisch zur offenen Tür gegenüber. »Ist was passiert?«
»Mama ist krank.«
»Du darfst die Tür nicht offenstehen lassen, Liu!«
»Bitte, kannst du kommen?«
Zögerlich stand Milan vor seiner Tür. Er wusste, wohin das führte. Aber was sollte er tun? Was konnten sie alle tun? Er folgte Liu in das Apartment gegenüber. Die Maße entsprachen denen seiner Unterkunft, auch wenn sie hier zu zweit wohnten. Lius Mutter lag auf einem Sofa, das ihnen gleichzeitig als Bett diente. Sie sah blass aus und starrte lethargisch zur Decke.
Liu lief zu ihrer Mutter und blickte ihn an.
»Das ist nicht gut, Liu«, sagte er leise.
Minha war eine junge Frau, aber die Entbehrungen hatten auch sie vor ihrer Zeit altern lassen. Trotzdem war noch eine Schönheit in ihrem Gesicht, die er mochte.
»Habt ihr Sauerstoff?«, fragte Milan.
Das Mädchen sah ihn an und sagte nichts.
Milan seufzte. Natürlich besaßen sie keinen Sauerstoff. Er konnte die Müdigkeit schon spüren, die der Raum auf ihn legte. Die bleierne Schwere, die sie alle immer wieder in die Tiefe zog.
Er berührte das Multiple an Minhas schmalem Handgelenk.
»Seit vorgestern schon?«
»Kannst du meiner Mama Sauerstoff geben?«, fragte Liu. »Du bist doch ein Lufthändler.«
Milan mied den Blick des Mädchens und sah dessen Mutter an. Er konnte ihr Sauerstoff geben, aber er besaß so schon wenig genug. Und wenn er nicht alles davon verkaufen konnte, nahm er zu wenige Credits für den eigenen Bedarf ein und wäre nicht in der Lage, die Sauerstofftanks für den Verkauf zu erwerben. Und wenn er nichts verkaufen konnte, konnte er nicht leben.
So einfach standen die Dinge, aber wie sagte man das einem siebenjährigen Mädchen? Es war das Elend einer Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss.
Milan hob den Arm, der sich so schwer wie ein ganzer Kontinent anfühlte, und betätigte sein Multiple. Er überwies Minha die 200 Credits, die noch auf seinem Konto waren, und zwackte weitere 600 Credits von der Anzahlung für die acht Sauerstofftanks ab, die er ab nächsten Monat hatte verkaufen wollen.
Langsam setzte sich Milan auf die Sofakante, während Liu ihn nicht aus den Augen ließ. Er bezahlte über das Multiple der Frau die 800 Credits. Nach einer Weile konnte er spüren, dass frischer Sauerstoff aus den Lüftungsgittern strömte; es war wie ein kühler Hauch auf seinem heißen Gesicht.
»Gib deiner Mutter das hier«, sagte Milan und reichte dem Mädchen seinen mobilen Sauerstoffbehälter. »Sie wird es erstmal gut brauchen können. Ab heute Nacht sollte sich der Sauerstoffgehalt im Raum normalisiert haben, und du kannst die Maske abnehmen.«
»Danke, Lufthändler!«, sagte Liu. Ihr junges Gesicht, das schon grau und verwelkt aussah, lächelte ihn an.