Der Maler und sein Biograf - Ingrid Möller - E-Book

Der Maler und sein Biograf E-Book

Ingrid Möller

0,0

Beschreibung

In Deutschland sind Gemälde von Gainsborough (1727- 1788 ) rar, weshalb er hier auch bei weitem nicht so bekannt und geschätzt ist wie in seinem Herkunftsland England oder auch in Amerika. Sein Ruhm ist heute wieder im Steigen begriffen, wie besonders die Ausstellung in der Londoner Tate Gallery 2002 beweist, die vom Washingtoner Museum übernommen wurde. Gainsborough war ein begabter Porträtist, wäre aber lieber Landschaftsmaler gewesen, wofür jedoch damals das Publikum noch nicht reif war. Seine Aufträge kamen vor allem von der high society bis hin zum Königshaus, wie das Ganzfigurenbildnis der Queen Charlotte in Schwerin beweist. Wer davorsteht, wird gefangen von der Lebhaftigkeit der Malweise, die für seine Zeit modern, ja impressionistisch anmutet. Und diese malerische Auffassung bewog damals den konventionellen Akademiepräsidenten Reynolds in seiner Rede kurz nach Gainsboroughs relativ frühem Tod, den besonderen Reiz zu loben, gleichzeitig aber auch seine Schüler vor Nachahmung zu warnen. Die zahlreichen Briefe, die erhalten blieben, überraschen durch Esprit und - aus heutiger Sicht - Modernität. Wer sich in Gainsboroughs Lebensgeschichte vertieft, lernt einen sensiblen Künstler kennen, offen für seine vielen Freunde, aufgeschlossen für andere Kunstbereiche wie Musik und Schauspiel, aber auch mit einem Hang zu Leichtsinn und Beeinflussbarkeit. LESEPROBE: “Wegen dieser dummen Geschichte möchtest du wirklich, dass wir aus Bath wegziehen?” Margaret zieht sich das Tuch fester um die Schultern. “Weißt du, obgleich ich diesen Thicknesse nie leiden konnte und ihn im Grunde meines Herzens oft klaftertief unter die Erde gewünscht habe - diese Wendung gefällt mir nicht.” “Mir auch nicht! Ganz und gar nicht! - Aber es ist ein gefundenes Fressen für die Klatschmäuler, jeder, der die Geschichte weiter verbreitet, schmückt sie noch ein bisschen mehr aus. Ich kann nicht mehr durch Bath gehen, ohne auf Schritt und Tritt darauf angesprochen zu werden. Das alles macht es mir ganz und gar unmöglich, das erwartete Bildnis zu malen. - Vielleicht wird es überhaupt Zeit für einen Tapetenwechsel.” Margaret sitzt im Armsessel am Fenster neben dem Handarbeitstisch. “Wie kamst du auch bloß dazu, Thicknesse so zu malen! Das war kein Scherz.” “Nein. Ich gebe zu, ich habe ihn mit Galle gemalt, mit all der Galle, die sich in den vielen Jahren aufgestaut hat. Dabei hielt ich ihn aber nicht für so empfindlich. Er hat mir einmal Teile aus einer geplanten Selbstbiografie vorgelesen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 256

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Ingrid Möller

Der Maler und sein Biograf

Ein Thomas-Gainsborough-Roman

ISBN 978-3-95655-056-0 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 2011 in der edition NORDWINDPRESS, Lychen.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung des Bildes „The Cottage Door“ von Thomas Gainsborough.

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

„Man kann als Maler große Dinge tun und dennoch in einer Dachkammer hungers sterben, wenn man nicht die eigenen Absichten zurückstellt und sich dem breiten Publikumsgeschmack fügt, indem man Themen wählt, die die Masse wünscht und auch bezahlt. ”

Thomas Gainsborough

1. Kapitel

Eröffnungstag der Ausstellung der Society of Artists - das bringt die gesamte Londoner Kunstwelt auf die Beine. Da wird diskutiert, disputiert, komplimentiert. Da werden Absprachen getroffen, Aufträge vergeben, Meinungen statuiert. Klatsch und Tratsch finden neue Nahrung.

Bei seiner beträchtlichen Leibesfülle hat Philip Thicknesse Mühe, sich eine Schneise durch die Menschenmenge zu bahnen.

Unübersehbar zahlreich hängen die Gemälde in Sechserreihen übereinander, Rahmen an Rahmen, als wären sie nur Folie, nur Bühnendekoration für das Schauspiel, das sich hier alljährlich nach gleichem Ritual abspielt. Wer auf sich hält, muss dabei gewesen sein, um mitreden zu können, später in den Salons, auf den Partys. Thicknesse schwitzt in seinem schwarzen Ausgehrock. Ein Glück nur, dass er keine Perücke aufhat! Mit dem spitzenbesetzten Schnupftuch wischt er sich die Schweißperlen von der Stirn. Hochrot ist sein Gesicht, als stünde der Schlaganfall kurz bevor. Schrecklich, dieses Gedränge!

Wer ihn kommen sieht, tritt unwillkürlich einen knappen Schritt zurück angesichts der Massigkeit der Gestalt und wegen der mürrischen Miene. Die buschig-breiten, zusammengezogenen Brauen, die stechenden Blicke und die zur Dauerfalte erstarrten herabgezogenen Mundwinkel lassen keinen Zweifel, dass mit diesem Mann nicht gut Kirschenessen ist.

Zielstrebig suchen seine scharfen Augen die Wände ab. Wo - zum Teufel! - hängt denn nun das Bild, das im St. James Chronicle erwähnt wurde? Das ganzfigurige Bildnis des William Poyntz, das angeblich so ähnlich geraten sein soll und auf dem der “lebendige” Hund so gerühmt wurde. Unwillkürlich trifft Thicknesse immer wieder Bekannte, die ihn aufhalten und ablenken. Einige wimmelt er schnell ab, bei manchen wäre es nicht ratsam. Jetzt kommt Horace Walpole auf ihn zu, der Kunstpapst, dessen Meinung mehr Gewicht hat als die aller übrigen Rezensenten zusammen. Er trägt einen lavendelfarbenen Anzug, silberbestickt, dazu rebhuhnfarbene Strümpfe, weiße Halskrause und Spitzenmanschetten, goldene Schuhschnallen und - um die Schmalheit seines Kopfes noch zu betonen - eine glatt gekämmte Perücke mit Mozartzopf.

“Mein lieber Thicknesse, wie erfreulich, Sie zu sehen!”

Die Begrüßung ist ebenso formvollendet wie nichtssagend. Wie könnte auch Walpole Wert darauf legen, mit dem plumpen Kerl gesehen zu werden und wie könnte Thicknesse diesen eleganten Schönling mögen! Doch einer momentanen Laune folgend gefällt es Walpole, stehen zu bleiben. Wie sehr muss der Kontrast doch auf die übrigen Besucher wirken. Er weiß sich vorbildhaft nach den neuesten Anstandsregeln zu benehmen. Gesicht und Hände sind von vornehmer Blässe. Den Zylinder unter den Arm gepresst, geht er mit gebogenen Knien auf Zehenspitzen, als ob der Fußboden nass wäre.

„Ganz meinerseits!”, murmelt Thicknesse. „Habt Ihr vielleicht das Bildnis des William Poyntz gesehen?”

Walpole überhört die Frage, denn eben ist er im Türrahmen erschienen, der ungekrönte Malerfürst, auf den Walpole gewartet hat: Joshua Reynolds. Mit vorgestreckter Hand und geneigtem Kopf geht er ihm entgegen. “Gratuliere! Ein wirklich ganz exzellentes Bild! Im Kolorit wie im technischen Raffinement durchaus den alten Meistern ebenbürtig! Wahrlich, Euer Name gehört für alle Zeiten in die oberste Reihe der großen Künstler!” Walpoles dunkle Augen leuchten lebhaft und seine dünne, aber stets angehobene Stimme weckt allgemeine Aufmerksamkeit. Alle warten gespannt, welches Bild gemeint ist.

Reynolds naht gemessenen Schrittes und wehrt das Lob ab, mit einer weltmännischen Geste der Bescheidenheit.

“Sie übertreiben, wie immer, mein Lieber!”

Trotz seiner strengen, stets beherrschten Züge wird deutlich, wie geschmeichelt er sich fühlt.

Ohne Zögern wendet Reynolds sich dem Bild zu, das Walpole ganz sicher meint: das Bildnis der bekannten Halbweltdame Nelly O’Brien.

Thicknesse stutzt. Alles, was recht ist, ein tolles Bild! Dieses Licht! Diese Lebhaftigkeit! Dieses Feuer in den Farben! Wie kommt es nur, dass es ihm nicht gleich aufgefallen ist, so zentral wie es hängt? Es muss wohl am Gedränge gelegen haben.

Wider Willen bestaunt Thicknesse noch eine Weile das Gemälde, dann wendet er sich abrupt ab und sucht nach dem anderen Bild, um das er herkam.

“Kann ich helfen?”, fragt hinter ihm ein junger Mann. Thicknesse dreht sich um und sieht in ein offenes, erfrischend sympathisches Gesicht, das jede Brummigkeit von ihm abfallen lässt.

“Ja”, sagt er ungewöhnlich freundlich, “Wisst Ihr, wo das berühmte Bildnis von Thomas Gainsborough hängt?”

“Berühmt?”, fragt der junge Mann irritiert, “und wie - sagtet Ihr - soll der Name sein?”

“Thomas Gainsborough!” Thicknesse sagt es mit Nachdruck. Sollen es nur alle Umstehenden hören!

“Bedaure. Aber so gut kenn ich mich hier noch nicht aus. Ach - Entschuldigung! - mein Name ist Northcote, James Northcote. Ich möchte auch Maler werden. Am liebsten hätte ich Reynolds zum Lehrer. Ist sein neuestes Bild nicht umwerfend?”

Thicknesse räuspert sich und schluckt seinen Groll hinunter.

“Gibt es für Euch nur Reynolds?”

Northcote strahlt: “Er ist der Größte! Und nur am Größten soll man seine Maßstäbe bilden. Stimmts nicht?”“Ihr seid noch sehr jung. Glaubt Ihr wirklich, Reynolds’ Ruhm dauert ewig? Meint Ihr nicht; er könnte eines Tages überstrahlt werden - und sei es in zwanzig oder dreißig Jahren?”

“Durch wen denn?”, fragt Northcote ehrlich überrascht.

Thicknesse holt tief Luft. “Vielleicht durch den Maler, dessen Name Euch nicht geläufig ist, durch Thomas Gainsborough.”

Ungläubig schüttelt Northcote den Kopf. “Niemals! - Aber neugierig habt Ihr mich nun doch gemacht.”

Gemeinsam gucken sie die Wände ab. Ein Ganzfigurenbild soll es sein. Ein junger Mann an einen Baum angelehnt. Nach den Vorschriften der Hängekommission müsste es “over the line”, also hoch hängen.

“Könnte es das sein?”, fragt Northcote nach einer Weile und zeigt auf ein Bild, auf das die Beschreibung passt. Zweifellos. Thicknesse schweigt enttäuscht. Nein, er muss dem Jungen recht geben: dieses Bild kann nicht bestehen neben dem Reynolds’. Leider. Gainsborough kann es doch besser! Warum hat er die Beine so steif gemalt, als hätten ihm Puppen Modell gesessen wie ganz am Anfang seiner Ausbildung? Wie unnatürlich abgewinkelt ist dieses Knie! Man wartet ja förmlich drauf, dass der junge Mann wegrutscht! Thicknesse braucht eine Weile, um sich zu sammeln.

“Stimmt es nicht? Ist es ein anderes Bild?”

“Doch. - Habt Ihr zufällig die Ausstellung vor zwei Jahren gesehen?”

“Leider nein. War dort ein besseres Bild von diesem Maler?”

“Eines, das viel Aufsehen erregte, das Porträt der Ann Ford.”

Northcote grübelt. Die Kritiken hat er doch immer gelesen und auf alle Nachrichten geachtet.

“Ach!”, sagt er, “war es das Bild, von dem Mrs. Dekny gesagt hat: ‘eine ungewöhnliche Person, hübsch und kühn, aber es würde mich betrüben, jemanden, den ich liebe, so dargestellt zu sehen?’”

“Ja, so was hat die dumme Pute geäußert.”

“Ach, und später hieß es, die Dame auf dem Bild habe einen ziemlich unmöglichen Mann geheiratet.”

“So, hieß es das?”

Thicknesse hat wieder seine undurchdringliche Miene. Er mag diesen offenherzigen Jungen. Man merkt ihm an, dass er noch nicht lange in London lebt. Möge er sich seine Frische und Unverdorbenheit bewahren!

“Ich mache Euch einen Vorschlag, Northcote. Ich zeige Euch dieses Bild der Ann Ford, und wenn Ihr dann immer noch darauf besteht, dass Reynolds niemals durch Gainsborough übertroffen werden könnte, dann schließen wir eine Wette ab mit langer Laufzeit.”

Northcote lacht. “Von solcher Wette hab ich noch nie gehört, aber warum nicht? - Welche Laufzeit? Welcher Einsatz?”

Er denkt daran, dass jemand einen teuren alten Bleiglasspiegel zerschlagen hatte wegen der Wette, wie viel Scherben es gäbe. Schließlich wird hier nichts beschädigt als vielleicht ein bisschen Ruhm. Und wahrscheinlich noch nicht einmal der.

“Laufzeit: 25 Jahre, falls die Bedingung nicht schon früher erfüllt ist. Jetzt haben wir 1762, das wäre also 1787. Einsatz: Der Gewinner schreibt die Biografie des Siegers.”

Dabei ist wirklich nichts zu verlieren.

“Und Ihr wisst, wo das besagte Bild hängt?”

“Aber sicher! Kommt nur gleich mit!”

Unterwegs in der Kutsche erzählt Thicknesse, wie er Gainsborough kennengelernt hat. “In Ipswich war ich gut bekannt mit dem Verleger der dortigen Zeitung. Mit ihm ging ich eines Tages durch die Obstgärten spazieren. Plötzlich fiel mir ein Mann auf, der sich über eine Mauer lehnte. Ein Birnendieb? ‘Wer ist der Mann?’, fragte ich. ‘Weiß nicht, gestern war er auch schon da’, sagte mein Freund ungerührt. Merkwürdig. Wir kamen näher. Der Mann rührte sich nicht.

Und erst aus der Nähe sah ich, was los war: der Mann war gemalt, auf eine Holztafel, die an den Umrisslinien ausgesägt war. Ein Jux also. Denjenigen, der mich so gefoppt hatte, wollte ich kennen lernen. So geriet ich an Thomas Gainsborough.”

“Und nun ist er Euer Freund?”

“Gewiss. Ich hab ihm Aufträge verschafft und dafür gesorgt, dass er aus dem kleinen Nest herausgekommen ist. Sein Ruhm ist nicht mehr aufzuhalten.”

“Dann seid Ihr also sein Mäzen?”

Das Wort hört Thicknesse gern. Es klingt nach unermesslichem Reichtum und nach Sachverstand. Er nickt: “So etwa.”

Die Kutsche hält. Thicknesse hat einen Schlüssel für die Haustür. Und schon stehen sie vor dem besagten eleganten Bildnis. Vor einem dunkelroten Brokatvorhang sitzt in betont lässiger Pose die kapriziöse junge Dame. Den linken Ellenbogen stützt sie auf einen Stapel Noten, die Viola hält sie im Schoß. Der Kopf ist nach rechts gerichtet, das rechte Knie übergeschlagen. Das silbrig glänzende Kleid mit Spitzenaufsätzen umwogt sie, -als hätte es eine Schleppe ... Ein durch und durch stimmiges Bild, voll Spannung durch die Diagonalen.

Northcote kann nicht leugnen, dass es ihn beeindruckt. Möglich, dass er die Wette doch noch verliert. Aber bis dahin fließt viel Wasser den Berg hinunter.

Eine Tür öffnet sich. Seidenstoff raschelt. Eine melodische Frauenstimme sagt: “Ach, Philip, Du hast Besuch mitgebracht?”

Northcote dreht sich um und erstarrt. Vor ihm steht die Dame aus dem Bild. Sie, über die er den Tratsch nachgeplappert hat! Er läuft puterrot an und begreift schlagartig: Thicknesse ist also der Mann, der sie geheiratet hat und von dem es hieß, dass er ein unmöglicher Mensch sei! Noch schlimmer kann man wohl in kein Fettnäpfchen treten! Vor Schreck bringt er kein Sterbenswörtchen heraus. Nicht einmal eine förmliche Begrüßung.

“Was ist? Bin ich ein Gespenst?”, fragt Mrs. Thicknesse belustigt. “Dein junger Freund ist wohl etwas schüchtern?”

Thicknesse verrät nichts.

“Er will selbst Maler werden und ist noch neu in London. Es scheint ihn alles ein wenig zu verwirren.”

2. Kapitel

Bath ist wirklich eine liebenswerte Stadt. Lovely, wahrhaftig. Und jetzt, im Altweibersommer, ganz besonders. Der hellgelbe Bather Sandstein leuchtet honigfarben in dem milden Licht, als ob das Gelb und Rot der Herbstfärbung in ihn eingesaugt wäre.

Gainsborough steht am Fenster und betrachtet alles mit wachen Augen. Schon einige Jahre lebt er hier, mitten im Herzen der Stadt, am Church Yard, ganz in der Nähe der großen Kirche, der Bäder, der angrenzenden Gesellschaftsbauten und der Ladenstraßen. Hier promeniert die elegante Welt oder fährt in Kutschen vor. Und doch bleibt alles überschaubar, anders als im viel zu großen London. Nein - das muss man Philip Thicknesse lassen - es war ein sehr guter Vorschlag, hierher zu ziehen. Längst ist der Name Thomas Gainsborough mehr als ein Geheimtipp. Die Aufträge häufen sich. Wer auf sich hält, lässt sich bei ihm porträtieren.

Im Herbst fängt die eigentliche Saison hier erst an. Wenn in London die dicken Nebel aus der Themse und den Wiesen aufsteigen und die ganze Stadt in Waschküchendunst hüllen, dann werden die reichen Alten mit ihren hübschen jungen Frauen an ihre Gicht und ihr Podagra erinnert und daran, dass es Zeit wird, zur Kur nach Bath zu fahren. Und die jungen Damen haben täglich Gelegenheit, ihre teure Garderobe auszufuhren, denn es gibt Partys über Partys. Teepartys, Bridgepartys und große Bälle, ja, es herrscht Leben hier, in jeder Couleur, lockeres im Geheimen und züchtiges im Offiziellen, für das der Zeremonienmeister Beau Nash unverrückbar die Spielregeln festgelegt hat

Heute ist Sonntag. Tag zum Ausruhen. Da mögen die Auftraggeber noch so drängen, sonntags fasst Gainsborough keinen Kreidestift und keinen Pinsel an. Wenn selbst der Herrgott am siebten Tag ruhte, um sein Werk zu überdenken, dann kommt es ihm wohl auch zu. Er geht durchs Atelier, hängt die Tücher von den unfertigen Leinwänden, betrachtet kritisch, was gelungen ist und was nicht und überlegt, weiches Bild als nächstes fertig werden muss.

Früher, ja, da malte er jedes Bild von der Skizze bis zum Schlussfirnis hintereinander zu Ende. Jetzt geht das längst nicht mehr. Er muss sich danach richten, wann welcher Auftraggeber Zeit hat, ihm Modell zu sitzen, meist nur für eine Stunde. Dann muss der Umriss stimmen und das Gesicht im Grundsätzlichen. Der Rest kommt später. Eigentlich brauchte er einen Gehilfen für die Routinesachen, aber er hat noch keinen gefunden, mit dem er es auf so engem Raum zusammen aushalten würde. Vielleicht kiappt es später, wenn er sich eine größere Wohnung oder ein ganzes Haus leisten kann, draußen, außerhalb der Stadt, wo er mehr Ruhe hat.

Ganz in der Ecke, mit der Vorderseite zur Wand, steht die Leinwand mit der Skizze zum Porträt des Philip Thicknesse. Schon Jahre steht es dort, solange Gainsborough hier wohnt. Es steht da wie eine stumme Mahnung. Es sollte ein Gegenstück werden zum Porträt der Ann Ford, der jetzigen Frau des Gouverneurs. Warum eigentlich sträubt sich alles in ihm, es endlich zu malen? Vielleicht deshalb, weil Thicknesse meinte, dieses Bildnis allein könne die Bather vornehme Welt davon überzeugen, dass Gainsborough ein ausgezeichneter Maler sei und dass jeder etwas versäume, der sich nicht von ihm malen ließe? Thicknesse, der es auf seine Weise gut meint, kann eben sehr auf die Nerven gehen.

Lange wird es nicht mehr dauern, bis er wieder auftaucht. Er besitzt hier extra ein Haus, damit er jederzeit herkommen kann, wenn sein Rheuma ihn plagt.

Gainsborough denkt zurück an den ersten Tag in Bath. Er ging mit Thicknesse um die große Abbey Church und war beeindruckt von dem hellen Bau mit den vielen Fenstern und dem plastischen Schmuck. Dann standen sie vor dem großen Westportal mit dem Kopf im Nacken und sahen zu den Türmen hinauf. Gainsborough stutzte plötzlich: “Seht Ihr die Leitern mit den heraufkletternden Engeln?”

“Klar!”

“Ihre Bewegungen sind so lebhaft erfasst. Bestimmt haben der Entwerfer und der Steinmetz beobachtet, wie die Badenden auf den Leitern aus dem großen Becken mit den warmen Quellen geklettert sind. Sie sind unheimlich modern.”

Thicknesse hatte Mühe, solange hochzugucken, ihm wurde leicht schwindlig.

“Hm! Mag sein. Ziemlich merkwürdig, dieser Einfall mit den Engeln!”, brummte er.

“Stimmt, überhaupt wozu haben die Engel so große Flügel, wenn sie trotzdem so mühsam wie Menschen dort hochklettern! Sie könnten doch von unten auffliegen und wären mit ein paar Hügelschlägen oben! Sie brauchten überhaupt keine Leitern. Die sind unlogisch und völlig überflüssig.”

“Das ist manches in der Kunst! Solltet Ihr doch am besten wissen.”

Gegenwärtig, als wäre es gerade erst gewesen, hat Gainsborough dieses Gespräch im Ohr.

Ja, Thicknesse stellte ihm, seinem Schützling, auch dort Leitern an, wo der schon längst angekommen war. Und es passte ihm nicht, wenn seine Hilfe überflüssig war. Es ist gut, jemanden zu haben, der zur Stelle ist, wenn man ihn braucht. Aber sich ständig bevormundet zu fühlen, das hält auf die Dauer niemand aus. Wie oft gibt es dadurch Zerwürfnisse zwischen Eltern und Kindern, weil die Eltern nicht wahrhaben wollen, dass Ihre Zöglinge längst erwachsen sind. Dieses Gefühl wird es wohl sein, das immer wieder Groll in mir aufkommen lässt - trotz aller Dankbarkeit, zu der ich ihm zweifellos verpflichtet bin, grübelt Gainsborough.

Er wendet den Blick ab von der Leinwand in der Ecke und räumt noch mehr davor, damit er den Gegenstand des Anstoßes nicht sehen muss.

Plötzlich beginnen die Glocken zu läuten, von allen Kirchtürmen der Stadt fast gleichzeitig. Und schon steht seine Frau Margaret aufgeputzt mit den beiden Töchtern in der Tür. Kopfschüttelnd sagt sie mit vorwurfsvollem Blick: “Tom! - Hier steckst du also! Und hast noch nicht einmal deinen Sonntagsrock an!”

“Keine Angst, das geht schnell!”

Er läuft hinaus, um sich zum Kirchgang umzuziehen.

3. Kapitel

Gainsboroughs neue Adresse heißt Landsdown Road und liegt am nördlichen Stadtrand. Nur das Atelier mit Ausstellungsraum behielt er in der Innenstadt. Doch die Hoffnung, dass die ruhige Wohnlage auch mehr Ruhe in sein Leben bringen würde, erwies sich als Trugschluss. Gainsborough malt. Ohne Zögern. Ohne Pause. Alles wurde zur Selbstverständlichkeit. Das Atelier ist halb abgedunkelt, damit die Schatten deutlicher werden und die Besonderheiten des Gesichts stärker hervorheben. Schon das dritte Modell sitzt vor ihm an diesem Vormittag. Es ist immer wieder dasselbe: Konturen umreißen, skizzieren, schattieren, Hintergründe andeuten, Farben auftragen. Farben auf Luxuskleider, auf gepuderte, kunstvoll frisierte Haare, auf Arme, Hälse und Brustansätze und - immer wieder - auf Gesichter. Alles läuft wie von selbst, wie ein einmal in Gang gesetzter Mechanismus mit ständig sich steigernder Geschwindigkeit. Vielleicht sollte ich Bruder Humphrey oder Scheeming Jack mal den Vorschlag machen, eine Malmaschine zu erfinden, denkt er, dann hätte ich doch mal eine Pause. Ich fühle mich allmählich wie eine Maus im Laufrad.

Er tritt einen Schritt zurück von der Staffelei. Zunächst ist es die Fernwirkung, die stimmen muss. Er kneift die Augen zusammen.

“Ihr seid wohl weitsichtig, Mister Gainsborough?” Gainsborough fährt zusammen, als hätte er vergessen, dass Modelle sprechen können.

“Nein, kleine Lady, ganz und gar nicht!”

Er verbirgt nicht, dass er sich gestört fühlt und tritt noch einen Schritt weiter zurück. Wieder kneift er die Augen zusammen, um nur noch die Konturen zu sehen. Links in die Ecke muss noch mehr Schatten, sonst kippt das Bild ab.

“Warum bindet Ihr den Pinsel an einen so langen Stock, als ob Euer Arm zu kurz wäre? Das hab ich noch nie gesehen. Hoare macht das nicht und Reynolds auch nicht. Sieht richtig komisch aus.”

“Wie ich meine Arbeit mache, das lass getrost meine Sorge sein!”

Das Mädchen hat etwa das gleiche Alter wie seine älteste Tochter Margaret, die sie Peggy nennen. Ein schwieriges Alter, nicht Fisch und nicht Fleisch. Diese Mädchen sind altklug, naseweis und ahmen den gelangweilten Tonfall nach, den sie von geistlosen Erwachsenen hören. Man sieht ihnen förmlich an, dass sie nur in Daunenbetten geschlafen haben und nie auf Strohsäcken. Wie anders war es früher, denkt Gainsborough, als jüngstes von neun Geschwistern. Nie sind Mädchen ihrer Art in Wald und Feld herumgetobt, sondern immer - fein, herausgeputzt - von Kindermädchen spazieren geführt worden. Püppchen, die dazu erzogen werden, reich zu heiraten und neue kleine Püppchen in die Welt zu setzen.

Besteht nicht die Gefahr, dass seine Töchter Peggy und Molly auch so werden? Oberflächlich und luxusverwöhnt? In Ipswich waren die Töchter noch ganz anders. Da hat er sie gemalt, wie sie Hand in Hand erhitzt und begeistert einem Kohlweißling nachliefen. Dabei sahen sie in ihren silbrig und golden schillernden Kleidern selbst wie Schmetterlinge aus. Noch heute betrachtet er dieses Bild mit Begeisterung. Kürzlich hat er versucht, Peggy als Landmädchen mit einer Korngarbe im Arm zu malen. Aber Margaret sagte wohl nicht ganz unberechtigt ‘Um Gottes Willen, Tom, so sieht sie ja aus, als ob sie nicht ganz richtig im Kopf wäre!’

Das Mädchen beobachtet ihn lauernd. “Malen nennt Ihr Arbeit?”

Offensichtlich geht sie darauf aus, ihn zu ärgern.

Gainsborough überhört es und verrührt Weiß, Schwarz und eine Spur Blau zu einem hellen Silbergrau. Vorsichtig trägt er die Farbe auf. Doch sein Modell lässt nicht locker: “Reynolds hat mich vor einem Jahr gemalt.”

“In einem Jahr wirst du dich kaum verändert haben. Wozu dann dieses Bild?”

Gainsborough trägt Glanzlichter auf die Faltenstege des Brokatkleids und zieht die Linie der spitz nach vorn laufenden Taille nach.

“Mutter meinte, man ließe jetzt eben bei Euch malen.”

Kinder und Narren sagen die Wahrheit. Und diese Wahrheit findet Gainsborough nicht lustig. Soweit ist es also schon gekommen, dass er als ein Teil des Kurbetriebs gilt. Wie ein bestimmter Schneider, ein bestimmter Konditor, ein bestimmter Friseur ... bei dem man eben arbeiten lässt! Sein Kopf schmerzt zum Zerspringen. “Schluss für heute, mein Püppchen!”

“Schoon?”, schmollt sie.

“Ja, du hast ganz richtig gehört.”

“Und morgen?”

“Morgen reicht es völlig, wenn ich Daisy hier habe.”

Daisy ist ihr blondes Windspiel, zart und degeneriert, wie es die Mode gerade verlangt, mit schwarzen Flecken an Augen und Ohren. Aber eben ein Tier. Und Gainsborough mag Tiere.

Das Mädchen steht auf, langsam und wohlerzogen. Ohne Hast geht sie auf die Staffelei zu. Mit schlecht verhohlener Neugier. Dann sieht sie Gainsborough entgeistert an. Da sind nur Striche und Flächen, hellere und dunklere. Dass das eine junge Lady mit Hund sein soll, ist nur zu ahnen. Sie droht, in Tränen auszubrechen.

“Was hast du erwartet?”

“Na, dass wenigstens mein Gesicht fertig ist. Mum sagte, ich würde wie eine Prinzessin aussehen.”

Gainsborough kann ihr nicht mehr böse sein, trotz Kopfschmerzen. “Wart‘s ab, Püppchen, glaub mir, ich hab schon so viele Gesichter gemalt, dass mir diese Vorzeichnung als Gedächtnisstütze völlig ausreicht.”

“Und gibt es keinen Brunnen und keine Blumen im Hintergrund?”

“Wozu denn das?”

“Na, eben als Dekoration, weil es schön ist.”

Es reicht! Er öffnet die Tür und sagt: “Daisy kannst du morgen durch einen Diener bringen lassen. - Meine Empfehlung an die Eltern!”

Ais die Tür zugeklappt ist, merkt Gainsborough, dass er seine Züge nicht mehr in der Gewalt hat. Die Muskeln am rechten Auge zittern. In den Ohren rauscht es. Vor Erschöpfung lässt er sich in den nächsten Sessel fallen. Der Raum scheint sich um ihn zu drehen. Die gemalten Köpfe, Brustbilder, Kniestücke und Ganzfiguren bewegen sich wie im Karussell um ihn herum. Immer schneller.

“Oh nein”, murmelt er, “warum können die Menschen mit ihren verdammten Gesichtern mich denn bloß nicht in Ruhe lassen!”

Dann wird ihm schwarz vor Augen.

4. Kapitel

Am nächsten Morgen muss der livrierte Diener mit der Windhündin Daisy unverrichteter Dinge zu seiner Herrschaft zurückgeschickt werden, denn Mister Gainsborough ist krank.

Die Nacht war schlimm. Auch jetzt noch presst Gainsborough stöhnend die Handflächen gegen die Schläfen, als könne er dadurch den bohrenden Schmerz zurückdrängen, der ihn vom Hinterkopf her anfällt. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Geräusche von draußen nimmt er nur dumpf wahr. Ein Gewitter ist im Anzug. Baumwipfel rauschen. Morsche Äste krachen.

In den Fieberfantasien mischen sich Reales und Irreales. Der Kranke fühlt sich selbst als Baum, der schwankt, stürzt und dann - schwer wie Blei - in einen weichen, modrigen Waldboden sinkt, mitten zwischen Farne und Brombeerranken, zwischen Moos und Erlengestrüpp. Irgendwo. Irgendwo in der Nähe von Sudbury in Suffolk. Dort, wo er als Kind aufwuchs und wo er sich wohl und geborgen fühlte. Draußen in der Natur. Die Zeit springt zurück, in seinem Bewusstsein ist er wieder der kleine Junge von einst. Der Junge, der seinen Vater anbettelte, ihm einen Zettel zu schreiben an den Schuldirektor Reverend Humphrey Burroughs, der ein naher Verwandter der Familie war. Auf diesem Zettel brauchten nur fünf Worte zu stehen: “Please give Tom a holiday!” - “Bitte gib Tom einen Tag frei!” Ein solcher Zettel war die größte Seligkeit, der Schlüssel zum Paradies. Der Zettel erlaubte ihm, mit der Zeichenmappe durch Sudburys Felder und Fluren zu streifen, um Bäume, Büsche, Flüsse, Wiesen, Wolken aufs Blatt zu bringen. Bei Sonne mit Schlagschatten, ohne Sonne oft mit neblig verschwommenen Umrissen. Jedes mal sah alles verändert aus, mal mit Blättern, mal ohne Blätter. Er erlebte alle Wandlungen der Jahreszeiten. Nirgends war er glücklicher als draußen in der Natur. Ein solcher Zettel war ihm das schönste Geschenk, das er mit größter Dankbarkeit annahm. Doch einmal wurde es ihm verwehrt. Sein Jammer darüber war so groß, dass er der Versuchung erlag, selbst einen solchen Zettel zu schreiben mit der nachgeahmten Schrift seines Vaters. Wie selbstverständlich übergab er die Botschaft seinem Onkel. Der aber bemerkte den Schwindel und brachte ihm ein furchterregendes Wort bei: “Urkundenfälschung.”

Und damit war es vorbei mit Milde und Nachsicht. Er hatte sich alles verscherzt. Und doch blieb sein Entschluss felsenfest: er wollte der größte Landschaftsmaler Englands werden, dem staunenden Publikum zeigen, wie schön die heimische Natur ist ...

Ein plötzlicher Blitz erhellt das Zimmer. Erst einen unheimlichen Augenblick später kracht der Donner. Margaret schreckt zusammen. Sie wagt sich nicht mehr ans Fenster. Dabei wartet sie doch so sehr, horcht auf jeden Hufschlag, auf jedes Wagengeräusch. Wo Dr. Charlton bloß bleibt!

Unruhig läuft sie im Zimmer auf und ab. Dann wechselt sie wieder die Kompressen auf Gainsboroughs Stirn und erneuert die Wadenwickel, um wenigstens etwas zu tun gegen dieses erbarmungslose Fieber.

Wieder zuckt ein Blitz auf. Wieder kracht der Donner. Angestrengt horcht sie. Vielleicht wagt sich der Doktor nicht raus bei dem Unwetter. Zu verdenken wäre es ihm nicht.

Doch! jetzt! Das muss er sein! Margaret läuft ihm entgegen. “Ein Glück, dass Ihr da seid, Doc! Ich bin so in Sorge!”

Dr. Charlton verliert keine Zeit mit viel Worten. Er besieht sich den Kranken, lässt sich die Symptome beschreiben, grübelt kurz und kramt in seinem Arztkoffer. “Dieses Pulver gebt ihm dreimal täglich, jeweils einen Teelöffel voll in Wasser gelöst. Ich seh morgen wieder rein.”

Margaret nickt gehorsam. “Steht es schlimm? Wird es lange dauern? Für wie lange muss ich die Gesellschaften absagen?”

Typisch Bath, denkt Dr. Charlton, an die Partys wird gedacht, aber nicht an Arbeitstermine. “Für die nächsten Wochen”, sagt er mit Nachdruck, “könnt Ihr getrost alle Vergnügungen absagen und auch die Arbeitstermine. Ich schicke Euch zur Unterstützung eine Krankenschwester. Allein schafft Ihr die Pflege nicht.”

Erschrocken sieht sie ihn an. Was der Arzt da sagt, schwört Albträume herauf. Wochenlanges Krankenlager heißt: keine Einkünfte!

“Um Gottes Willen, was hat er denn?”

“Eine Art Nervenfieber.”

“Steckt es an?”

“Nein.”

“Und woher kommt es?”

Dr. Charlten zuckt die Schultern. “Wenn man das immer so genau wüsste! Eine gewisse Nervenschwäche kann Veranlagung sein. Möglich ist aber auch Überanstrengung. Hat er in letzter Zeit besonders viel gearbeitet?”

Die Frage bringt Margaret in Verlegenheit. “Ich geh kaum in das Atelier in der Stadt und bin auch hier nicht ständig im Haus. Gesellschaftliche Verpflichtungen, wie Ihr wisst. Ziemlich leicht gereizt war er schon manchmal - über die Rechnung für das neue Ballkleid etwa - und manchmal fluchte er geradezu auf die Leute, die uns doch schließlich das Geld ins Haus bringen. Dabei könnte er längst seine Preise aufstocken

“Jedenfalls handelt es sich um einen Zusammenbruch. Vor allem braucht er Ruhe.”

Am nächsten Tag stellt Dr. Charlton noch keine Besserung fest. Er sitzt am Krankenbett, fühlt den Puls, zählt die Herzschläge, sieht dabei auf die Taschenuhr und fühlt dann die Temperatur. Er sieht Gainsborough ins Gesicht. Abgespannt sieht er aus. Nicht nur der gegenwärtigen Krankheit wegen, auch bedingt durch einen nicht gerade vernünftigen Lebenswandel. Der Arzt wartet auf einen Augenblick klaren Bewusstseins, wo er dem Kranken ein paar Fragen stellen kann.

Benommen nimmt Gainsborough wahr, dass jemand bei ihm sitzt. Eine dunkle Gestalt. Reglos, als spiele Zeit keine Rolle. Für alle Menschen aber spielt Zeit eine Rolle. Wer also mag es sein? Der Knochenmann? - Panische Angst erfasst ihn. “Nein!”, schreit er und reißt sich den Kragen auf, “Ich bin erst sechsunddreißig! Nicht jetzt schon!”

“Ruhig, Mister Gainsborough, ganz ruhig! Ich bin doch nur Euer Arzt!” Der beschwörend ruhige Tonfall lässt Gainsborough wieder einschlafen. Keine Gelegenheit zu einem Gespräch.

“Dr. Charlton, Ihr könnt jetzt nicht raus”, sagt Margaret bittend, „draußen regnet es Hunde und Katzen. Was haltet Ihr von einem Tee mit Rum?”

“Gut gemeint. Aber heute geht’s leider nicht. Danke!”

Er wäscht sich die Hände in der Schüssel. “Bis morgen dann!”

“Vielen Dank!”

Nun ist Margaret doch wieder allein. Mit ihrer Angst und mit ihren bösen Ahnungen. Unruhig läuft sie durchs Haus, auf den leisesten Seidenschuhen. Die Hausglocke hat sie abstellen lassen, einen Zettel herausgehängt, dass nur in dringenden Fällen Besucher leise ans Küchenfenster klopfen möchten. Dort passt dann die Magd auf.

Wie sich doch alles von einem Tag auf den anderen ändern kann! Zum Sticken hat sie keine Ruhe. Der Tee schmeckt ihr nicht mehr. Die innere Unruhe treibt sie um. Sie sieht auf die goldene Kaminuhr. Gleich müssten Peggy und MoIIy vom Unterricht kommen. Trotzdem geht sie ihnen nicht wie sonst entgegen, sondern kehrt zurück ins Krankenzimmer.

Wochen vergehen in Hoffen und Harren. Dr. Charlton hat seinen Kollegen Dr. Moisey zurate gezogen. Auch mit wenig Erfolg.

Im Haus ist es stiller denn je zuvor. Nur die engsten Freunde und Verwandten werden für kurze Zeit eingelassen. Margaret ist nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Aber hartnäckig übernimmt sie jede zweite Nachtwache.

Das gleichmäßige Ticken der Kaminuhr ist nachts das einzige Geräusch im Haus. Gainsborough wacht auf und öffnet die Augen. Ein Talglicht brennt auf dem Messingleuchter. Margaret, völlig in sich zusammengerutscht, ist im Sessel eingeschlafen. Wie blass sie ist! Welch klägliches Bild!

Gainsborough erfasst Rührung bei diesem Anblick, Rührung und auch Schuldbewusstsein. Nicht immer war er ihr der Ehemann, der er hätte sein sollen. Oft hat er ihre Gefühle bitter verletzt. Trotzdem lässt sie ihn nicht im Stich, opfert sich für ihn auf.

So, im Schlaf, liegt wieder jener kindliche Zug in ihrem Gesicht, der ihn so anrührte, als er sie zum ersten Mal sah. Siebzehn war sie damals und sehr schön. Sie war die Schwester eines Vertreters für das Wollgeschäft seines Vaters. Ihre Eltern waren tot, aber sie bekam jährlich mysteriöse zweihundert Pfund Sterling überwiesen, was nur bedeuten konnte, dass sie in Wirklichkeit einen blaublütigen Vater hatte. Viele rieten Gainsborough damals, die Finger von ihr zu lassen. Aber er wollte sie und sie wollte ihn.

Am Anfang ihrer Ehe kam ihnen der jährliche Scheck sehr gut zustatten. Schließlich war es das vierfache Einkommen eines Handwerkers. Zusammen mit dem wenigen, was damals seine Bilder einbrachten, konnten sie davon leben, jedenfalls in Ipswich. Und das waren glückliche Jahre. Gainsborough lehnt sich im Kissen zurück. Glücklich, ja, und wann eigentlich hatten sie aufgehört, glücklich zu sein miteinander? Schwer zu sagen. Es kam ganz allmählich, er hat nicht darüber nachgedacht. Es hat auch mit Thicknesse zu tun, der ihn dazu anstachelte, nur noch an seinen Erfolg zu denken und der ihn mit Leuten zusammenbrachte, die zwar Geld und Einfluss hatten, aber mitunter auch zweifelhafte Moralbegriffe. Das führte dann dazu, dass Margaret für sich und die Mädchen immer höhere Ansprüche stellte. Luxus sollte wohl Ersatz für Glück sein ...

Ganz langsam versucht Gainsborough sich aufzurichten und das Plaid hochzuziehen, das Margaret von der Schulter gerutscht ist. Wie ertappt fährt sie hoch:

“…tschuldige, Tom - ich muss eingeschlafen sein.”

Fahrig nestelt sie an der hochgesteckten Frisur herum, als ob es jetzt darauf ankäme, einen guten Eindruck zu machen. “Ist es immer noch so schlimm, Tom? - Ach, warum musst du dich nur so schrecklich quälen!”

Er streichelt ihre Hände. “Ach, mein gutes Mädchen, ich fürchte, ich werde nicht alt genug werden um gutzumachen, was du für mich auf dich nimmst.”

“Aber Tom, was sind das für Töne!”

Trotzdem genießt sie seine Dankbarkeit.

“Zwei Uhr! Zeit für dein Pulver.” Sie reicht ihm das Glas. “Deine Schwester Mary wollte morgen vorbeigucken. Willst du sie sehen, oder soll ich sie abwimmeln?”

Mary, diese allzu fromme Methodistenseele, wird ihm wieder lange Moralpredigten halten. Sie wird sich seine Hilflosigkeit zunutze machen, jetzt, wo er ihr nicht ausweichen kann.

“Frag mich morgen bei Tageslicht noch mal. Einerseits wäre mir lieber, sie ließe ihren Bekehrungswahn an ihren Pensionsgästen aus, andererseits ist sie nun mal meine Schwester und sicher ehrlich besorgt.”

“Ein Glück, dass es dir langsam wieder etwas besser geht!” Geräuschvoll fällt unten die Haustür ins Schloss.

“Ich höre. Mein Drachen naht.”

“Sprich gefälligst nicht so respektlos von der Krankenschwester! Dr. Charlton wird schon wissen, was gut für dich ist”

“Du meinst, ihre abschreckende Gegenwart wird mich schon bald aus dem Bett treiben?”

“Oh Tom”, seufzt sie, “dir geht es wohl fast schon wieder zu gut!”

“Gleich wird sie mir wieder so viel Portwein einflößen, dass sie mir das gute Gesöff noch ganz verleiden wird.”

“Die Sorge hab ich kaum“, sagt Margaret mit schrägem Blick, “also: schlaf dich gesund!”

5. Kapitel

Später als üblich bricht Philip Thicknesse auf nach Bath, denn der Herbst war in diesem Jahr besonders sonnig. Diesmal ist er von den gewohnten Rheumaschüben noch verschont worden, aber sie kommen alljährlich, darauf kann er Gift nehmen.

In Bath angekommen, lässt er sich am Royal Victoria Park absetzen, um zu Fuß hoch zu wandern zum Landsdown Road. Vielleicht überrascht der gute Gainsborough ihn ja mit der Mitteilung, dass das Konterfei seiner würdevollen Person fertig sei. Damit endlich das Gespöttel aufhört über den leeren Platz an der Wand neben dem wundervollen Porträt der Anne Ford.

Ach, das Gehen tut richtig gut nach dem langen Geschuckel in der Kutsche! Gut gelaunt schwenkt Philip Thicknesse den vornehmen Spazierstock mit dem goldenen Knauf. Er hat das Gefühl, nach Hause zu kommen, obgleich London doch ebenso sein Wohnsitz ist. Der Royal Park kann es wahrlich mit Londoner Parks aufnehmen. Noch großartiger wird er zur Wirkung kommen, wenn erst die geplanten Wohnviertel des Zirkus und des Royal Crescent gebaut sind. Darauf darf man gespannt sein.

Das schöne Wetter hat manche Spaziergänger ins Freie gelockt. Viele von ihnen kennt Thicknesse. Hutlüften. Grüßen nach links und rechts. Ein paar höfliche Worte im Vorübergehen. Heute stört ihn das alles nicht. Doch was gibt es dort? Ein Grüppchen steht aufgeregt gestikulierend beisammen. Da muss etwas passiert sein! Thicknesse ändert die Richtung. Im Näherkommen erkennt er einige Journalisten. Wo die sich zusammenrotten, wittern sie eine Sensation. Unwillkürlich geht er schneller.