Schicksalsnovellen über Malerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts - Ingrid Möller - E-Book

Schicksalsnovellen über Malerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts E-Book

Ingrid Möller

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Beschreibung

Wie Überlebende von Hiroshima trotz allem Mut fassen, zeigt das Beispiel der alten Bauernfrau Suma Maruki (1872-1956). An ihr, der Analphabetin, die in ihrem kargen Leben nie einen Schreibgriffel in der Hand gehalten hatte, vollzieht sich das Wunder, dass sie plötzlich feststellt, dass sie ein Talent zum Malen hat. In der Vorahnung, dass auch sie nicht verschont bleiben würde und an der Cote d‘ Azure nicht sicher sei, malt und schreibt die junge Charlotte Salomon ihre Biografie auf, verschnürt die vielen Blätter in einer Kiste und gibt sie einem befreundeten Arzt mit den Worten: „Heben Sie es gut auf, dies ist mein Leben!“ Ihr Schicksal ähnelt dem der Anne Frank. Bald darauf wird sie verschleppt nach Auschwitz, wo sie 1943 umkommt. Was aber bleibt und später veröffentlicht wird, ist ihr künstlerischer Nachlass. In die revolutionären Wirren ihrer Zeit ist die Mexikanerin Frida Kahlo (1907- 1954) verstrickt, besonders durch ihren Ehemann Diego Rivera. Doch ist ihr Leben überschattet durch private Schicksalsschläge, Krankheiten und zahlreiche Operationen. Lange Zeiträume ans Bett gefesselt, entgeht sie der Verzweiflung durch ihre Malerei. Die Vorbereitung einer Ausstellung wird zu einem nachdenklichen Rückblick auf ihr Leben. Die zunehmende Macht der faschistischen Kulturpropaganda wird der Deutschen Kate Diehn-Bitt (1900-1970) zum Problem. Glücklich über die professionelle Ausbildung zur Malerin in Dresden, zurückgekehrt nach Rostock, wo sie ein eigenes Atelier eingerichtet hat und voller Zukunftspläne steckt, wird ihr die Teilnahme an Ausstellungen verwehrt und durch das Verbot, Malmaterialien zu kaufen, jede Perspektive genommen. Die Begründung: ihr jüdischer Stiefvater. Als Farmerstochter wuchs Georgia O'Keeffe (1900-1996) in Wisconsin/USA auf. Ihr künstlerisches Talent wurde von der Mutter gefördert. Erst Zeichenlehrerin, gelangte sie zur Ausbildung an Akademien. Schließlich stellte sie ihre Werke in die Galerie des Fotografen Alfred Stieglitz in New York aus, der ihre Popularität förderte und sie heiratete. Sie aber konnte nicht dauerhaft in New York leben, war an weiträumige offene Landschaften gewöhnt. Ihre Wahlheimat wurde New Mexico. Fünf Schicksale, die unterschiedlicher kaum sein könnten, sind in diesem Band erzählt. Sie alle vereint die Durchsetzungskraft der Malerinnen, die unter ganz besonderen Bedingungen zum Ziel kommen, nicht ohne Hindernisse, aber doch jede auf ihre sehr besondere und unverwechselbare Art.

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Impressum

Ingrid Möller

Schicksalsnovellen über Malerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts

ISBN 978-3-95655-566-4 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.ddrautoren.de

Der bunte Fisch der Suma Maruki (Hiroshima, Japan 1946)

Schweißperlen treten ihr auf die Stirn, als sie den schweren Kessel voll Reis vom Herdfeuer hebt. Die Last wird ihr sauer. „Suma Maruki“, sagt sie laut zu sich selbst, „du bist alt geworden, sehr alt in diesem letzten Jahr. Es ist wohl bald aus mit dir!“

Sie setzt den Topf ab und kauert sich erschöpft auf den Boden, „ich hätte warten sollen, bis Iri und Toshi hier sind. Die Zeit ist gekommen, wo ich mir helfen lassen muss von meinen Töchtern.“

Eine ganze Weile hockt sie unbeweglich da. Sie muss Kräfte sammeln. Schlimm, diese Schmerzen im Rücken! Schlimm, dieses Schwächegefühl! Aber am schlimmsten: das Alleinsein.

Alleinsein - kann man sich daran gewöhnen? Kann man es lernen?

Früher, als Kind, als junges Mädchen, als Frau und Mutter, da war Alleinsein eine Ausnahme. Oft eine kostbar genossene Ausnahme. Ein Moment der Ruhe und des Nachsinnens, eine kurze Zeit, die ihr selbst gehörte. Es war eine ganz, ganz andere Art des Alleinseins. Ohne den bitteren Geschmack von Einsamkeit, Verlassenheit, Hilflosigkeit und Verlorenheit.

Viele alte Menschen sind allein. Gewiss. Sehr viele. Doch das ist kein Trost. Auch der Gedanke, dass der Tod das natürliche Ende eines jeden Lebens ist, kann kein Trost sein. Nicht für Suma Maruki. Nicht nach all dem, was sie erlebt hat. Denn jener Tod, der ihr den Mann und den Bruder wegriss, hatte nichts Natürliches. Er war gegen alle Natur und so unbegreiflich, dass alles Grübeln im Kreis laufen muss und nichts darüber hinweghilft. Nichts? Gar nichts?

Plötzlich wacht Suma Maruki aus ihrer Benommenheit auf und ist hellwach. Heute, ja heute ist doch alles ganz anders! Heute wird sie nicht allein sein!

Heute nicht! Heute werden sie hier wieder alle zusammenkommen, hier in ihrer ärmlichen Hütte: die Kinder, die Kindeskinder, die näheren Verwandten. Seit Tagen - nein, eigentlich schon seit Wochen - hat sie darüber nachgedacht, was alles für dieses Zusammentreffen nötig ist. Und es war nicht leicht, das alles zu beschaffen.

Da! Suma Maruki horcht. Waren da nicht eben Stimmen?

Doch! Kein Zweifel.

„Meine Güte“, murmelt sie, „sie sind schon da - und ich lass mich hier gehen!“ Mit einem Ruck stemmt sie sich vom Boden ab. Sie kommt nicht mehr so schnell auf die Füße wie sie möchte, aber sie denkt nicht mehr an die Schmerzen, die Schwäche und den Kummer. Schnell wischt sie sich die Hände an der langen blauen Schürze ab und erwartet auf der Türschwelle ihre Gäste. Ihre Augen in dem runzligen Gesicht strahlen. Klein und hilflos steht sie unter dem niedrigen Türsturz, der ihre Gestalt auch nicht größer erscheinen lässt. Wie bei den meisten alten Frauen in Japan ist ihr Körper trotz der lebenslang harten Arbeit zart und zerbrechlich geblieben, der Rücken aber gekrümmt.

„Wie schön, dass Ihr alle kommen konntet!“

Die Begrüßungsverbeugungen nehmen kein Ende. Suma Maruki wartet, bis alle die Schuhe ausgezogen haben und eingetreten sind. Dann erst nehmen sie auf den Sitzkissen Platz.

Beflügelt von der Freude des Wiedersehens, bewegt sich Suma Maruki so flink und lautlos wie immer.

Dennoch ist nichts wie immer. Jetzt, wo sie sich in der Runde gegenübersitzen, sehen alle, wie sehr sie sich verändert hat. Immer noch strahlt ihr Gesicht Güte und Herzlichkeit aus, aber unübersehbar haben sich die Kummerfalten vertieft. Wie feine Einkerbungen in Holz überziehen sie die braune Haut. Ihr Lächeln hat etwas Verlorenes.

Aber niemand in dieser Runde ist noch derselbe Mensch wie bei der vorigen Zusammenkunft.

Suma Maruki verteilt die Schälchen mit den Essenhappen und sagt leise:

„Wir wollen es hinter uns lassen und nicht mehr daran denken!“

Der Satz bleibt im Raum hängen und löst bei allen eine Gänsehaut aus. Sie verneigen sich zustimmend und wissen doch ganz genau, dass gerade dies nicht möglich sein kann.

Suma Maruki weiß es selbst. Sie verrät es, indem sie auf den leeren Platz starrt, auf dem sonst ihr Mann saß, und dorthin, wo ihr Bruder zu sitzen pflegte. Sie beide werden nie wieder hier bei ihnen sein. Nie wieder wird sie ihnen Reisbällchen in die Tonschalen füllen und zusehen, wie sie auf ihre ganz besondere Weise die Essstäbchen zum Mund führen. Nie wieder wird sie sie sprechen und lachen hören. Nie wieder!

Nur abends in der Dämmerung, wenn rundum alles still wird, dann scheint es ihr, dass sie zu ihr sprächen, als ob der Klang ihrer Stimmen aufbewahrt wäre irgendwo oben im Gebälk und noch gegenwärtig sei. Niemals würde sie aus diesem Haus ausziehen wollen.

“Wir wollen es hinter uns lassen und nicht mehr daran denken!“

Immer noch steht dieser Satz im Raum. Und alle denken daran. Alle. Ausnahmslos. Schweigend. Jeden von ihnen hätte es treffen können. Dass sie überlebten und heute noch hier sitzen, ist reiner Zufall. Oder Schicksal? Oder Glück? - Egal, wie man es nennen will, ein Vergessen jedenfalls kann es nicht geben. Das bleibt, wie eine Narbe. Das Datum des Schreckenstages und alle Ereignisse haben sich unauslöschbar ins Gedächtnis eingebrannt:

Es war der 6. August 1945, früh, kurz nach acht, ein stiller, warmer Sommermorgen mit wolkenlos-heiterem Himmel. Schön wie im Bilderbuch. Dann zerriss das Heulen der Sirenen die Luft. Alarm. Warnung vor Bombenflugzeugen. Nichts Besonderes. Das gehörte längst zum Alltag, denn schließlich war Krieg. Ungewohnt war, dass die Bomberstaffeln ausblieben. Nur zwei einzelne Flugzeuge tauchten am Himmel auf. Das hatte nach bisheriger Erfahrung wenig zu bedeuten. Aufklärer wahrscheinlich. Kaum jemand ging deshalb in den Schutzraum. Doch die amerikanischen Bombenflugzeuge vom Typ B 29 flogen gezielt auf die Stadt zu. Eine Bombe wurde ausgeklickt, eine Bombe an einem Fallschirm. Und dann - so plötzlich, wie kein Mensch denken kann - brach die Hölle los: gleißende, grellweiße Helligkeit, extreme Hitze, ein ohrenbetäubender Knall und eine Druckwelle, die alles zu Boden presste, Häuser, Bäume, Menschen. Dann - nach dem stechend grellen Blitz - wurde alles pechschwarz. Erst, als der Qualm als riesiger Rauchpilz in den Himmel gestiegen war, wurde die Sicht frei auf die Stadt Hiroshima - die es nicht mehr gab! Zerstört war sie auf eine Weise, die unerklärbar und unbegreiflich war. Nur einzelne Betongerippe ragten aus brennenden Trümmern. Alles brannte. Sogar die Steine. Selbst sie entzündete die Gluthitze.

In panischer Angst rannten die Menschen, die noch rennen konnten, weg. Kopflos drängten sie sich zu dichten Kolonnen zusammen und folgten blindlings dem Menschenstrom. Da alles um sie herum brannte, erschienen die Flüsse Ota und Kyobashi als einzige Rettung. Und so stürzten die Menschen hinein, ohne Besinnen darüber, ob sie überhaupt schwimmen konnten. Viele konnten es nicht. Andere Menschenströme hielten sich als Orientierung an die Bahngleise. Bis zum Abend brannten die Reste der Stadt. Übrig blieb eine Art Wüstenlandschaft, um die herum die Berge nähergerückt schienen. Lange, nachdem die Sonne untergegangen war, blieb der Himmel dunkelrot.

In den stehengebliebenen Häusern am Stadtrand lagen die Kranken und Verletzten. Es fehlte an allem. An Wasser, an Medikamenten, an Verbandzeug, an Essen, an Ärzten, an Pflegern. Zu den schweren Brandverletzungen, den offenen, eiternden Wunden kam eine Fliegen- und Mückenplage, sodass sich ansteckende Darmerkrankungen verbreiteten. Hilflos mussten Ärzte und Helfer dem Sterben zusehen. Und plötzlich gab es auch noch eine andere, nie gesehene rätselhafte Krankheit: sie zersetzte das Blut, es perlte durch die Haut und ließ das Haar in Büscheln ausfallen.

Es verging einige Zeit, bis die Erklärung für alle diese Entsetzlichkeiten gefunden war. Hiroshima gelangte zu einer traurigen Berühmtheit, ebenso wie drei Tage später Nagasaki: als Abwurfstätte der ersten Atombomben ...

Noch immer wird kein weiteres Wort gesprochen.

„Schmeckt es Euch nicht?“, fragt Suma Maruki besorgt und füllt Sojamehlsoße zum Fisch nach.

„Doch! - Doch, es schmeckt sehr gut!“

Trotz aller Beteuerungen essen die Gäste betont kleine Häppchen, als ob sie Schluckbeschwerden hätten. Warum nur lassen die schrecklichen Erinnerungen sie nicht los, nicht einmal heute an diesem Tag, auf den sie sich so gefreut haben!

Auch Suma Maruki hat Schluckbeschwerden. Ohne sich darüber klar zu werden, hat sie das Lieblingsgericht ihres Mannes gekocht. Auch an jenem bewussten Morgen hatte sie Sojabohnen eingeweicht ...

Ihr Mann war längst im Reisfeld. Die Kinder lebten seit Langem in der Stadt. Suma Maruki versorgte die Haustiere. Gerade hatte sie die Ziegen gefüttert und war mit den Hühnern und Enten beschäftigt. Da geschah es! Es warf sie zu Boden, als wäre sie vom Blitz getroffen. Eine Weile lag sie bewusstlos da. Als sie zu sich kam, merkte sie, dass sie in die Erde hineingedrückt worden war. Nichts begriff sie. Nur, dass etwas Entsetzliches geschehen war. Niemals vorher hatte sie sich so losgerissen gefühlt von allem, was zu ihrem Leben gehörte. Sie konnte es selbst nicht erklären. Angst allein war es nicht. Viel Schlimmeres. Sie wagte kaum zu atmen und duckte sich in die Erdkuhle, das Gesicht am Boden, die Arme abschirmend davor, gefasst auf das Äußerste, das Ende. Erst ganz allmählich dämmerte Erinnern in ihr auf, eine Bombe musste gefallen sein, Sirenen hatten geheult. Doch wie sollte eine einzige Bombe die Erde so erschüttern, die Augen so blenden, die Ohren so betäuben? Sollte sie so nahebei gefallen sein, in ihrem Dorf? Wozu? Hier gab es kein Militär. Kasernen allerdings in Hiroshima …

Eine böse Ahnung befiel sie. Hiroshima! Da lebten ja ihre Kinder, und dichtbei war das Reisfeld ihres Mannes!

Sie wischte die Erde aus ihrem Gesicht, presste die Zeigefinger in die Ohren und merkte, dass sie wieder hören konnte. Kein Krach mehr war um sie, nur ein Knistern in der Ferne. Wie Feuer. Heiß war es und brannte in den Augen. Sie konnte die Augen nicht öffnen. Sie wischte. Waren das Rußflocken? Vorsichtig versuchte sie sich zu bewegen. Die Knochen schienen unverletzt. Langsam stand sie auf und schüttelte den Schmutz von sich ab, suchte nach einem Taschentuch, um die Augen freizubekommen. Doch was sie dann sah, warf sie fast wieder um.

Die Zeit, bis sie auf einen Menschen traf, schien ihr ewig zu sein. Am Abend fand man die Leichen ihres Mannes und ihres Bruders. Seitdem weiß sie, was es wirklich heißt, allein zu sein ...

Aber heute doch nicht, denkt sie krampfhaft, um die Erinnerungen abzuschütteln.

„Kinder, Ihr erzählt ja gar nichts! Was gibt es Neues in der Stadt?“

„Im Asano-Santei-Park haben sie schon wieder Bäume gepflanzt. Auch Kirschbäume. Mit etwas Glück könnten sie zum nächsten Kirschblütenfest blühen.“

Jetzt ist es die Tochter Iri, die zusammenzuckt. Sie hat damals von Weitem gesehen, wie der Park brannte und wie die Leichen im Fluss schwammen, der hier hundert Meter breit ist. Es scheint ihr unvorstellbar, an dieser Stelle wieder das Kirschblütenfest zu feiern, als ob nichts gewesen sei. Sie wird diese Bilder nicht los. Und die Angst auch nicht. Lange war sie schwer krank. Hat sie auch die Krankheit? Immer noch ertappt sie sich dabei, dass sie an ihren Haaren zupft, ob sie noch festsitzen. Und bei jedem Nasenbluten erfasst sie Panik. Es könnte der Beweis sein. Oft bricht die bewusste Krankheit erst nach Jahren richtig aus. Niemand weiß, ob er wirklich davongekommen ist.

„Der Gokuku-Schrein wird auch schon wieder aufgebaut. Seltsam genug, dass damals ausgerechnet das Tor stehen geblieben ist. Bald wird man dort wieder Neugeborene taufen können.“

Die Antwort beschränkt sich auf ein leises Nicken. Auch bis zur Hütte der Suma Maruki ist die Nachricht gedrungen, dass viele Neugeborene unheilbar krank sind.