Der Mann, der das Impfen neu erfand - Sascha Karberg - E-Book
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Der Mann, der das Impfen neu erfand E-Book

Sascha Karberg

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Beschreibung

Seine Idee rettet Millionen Menschenleben

Im Jahr 1999 macht Ingmar Hoerr als Doktorand in einem Tübinger Labor eine überraschende Entdeckung: mRNA funktioniert als Impfstoff. Über zwanzig Jahre später schützt sich die Welt mit mRNA-Impfstoffen vor dem Coronavirus. Doch seine Erfingung hat noch größere Implikationen: Hoerrs Vision einer neue Medizin, bei der sich der Körper selbst von Viren, Krebs, Diabetes und anderen Krankheiten befreit, steht kurz davor, Wirklichkeit zu werden.

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Über das Buch

Seine Idee rettet Millionen Menschenleben.

Im Jahr 1999 macht Ingmar Hoerr als Doktorand in einem Tübinger Labor eine überraschende Entdeckung: mRNA funktioniert als Impfstoff. Über zwanzig Jahre später schützt sich die Welt mit eben solchen mRNA-Impfstoffen vor dem Coronavirus: mit den Vakzinen von BioNTech, Moderna und CureVac. Zwischen Experiment und Triumph liegen zwei Jahrzehnte hartnäckigen Forschens. Mehrfach wäre Ingmar Hoerr mit CureVac fast gescheitert, hätte er nicht Dietmar Hopp, Bill Gates und Elon Musk von seiner Vision überzeugt: die Vision einer völlig neuen Medizin, bei der sich der Körper selbst von Viren, Krebs, Diabetes und anderen Krankheiten befreit.

Über Sascha Karberg

Sascha Karberg, geboren 1969, ist Biologe und leitet das Wissen&Forschen-Ressort des Berliner Tagesspiegel. Karberg war Knight Science Journalism Fellow am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Massachusetts (USA) und wurde u. a. mit dem Heureka-Preis für Wissenschaftsjournalismus, dem GSK Publizistikpreis und dem Hofschneider-Recherchepreis ausgezeichnet.

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Sascha Karberg

Der Mann, der das Impfen neu erfand

Ingmar Hoerr, CureVac und der Kampf gegen die Pandemie

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Kapitel 1: Heilen

Kapitel 2: Forschen

Die Idee vom Impfen gegen den Krebs

Besser impfen – mit RNA

Auf der Spur von etwas ganz Großem

Kapitel 3: Gründen

Gene und Geld

Eine Idee, ein Team, eine Firma: CureVac

Ein ganzes Land in der Finanzierungsflaute

RNA aus dem Reagenzglas

Forschung in Deutschland, Gewinne in den USA

Kapitel 4: Wachsen

Deutschlands bekanntester Biotech-Unternehmer

Audienz mit Schmiss

Innovationswüste Deutschland

Sprunginnovationen identifizieren

Der Staat als Innovator

Berlin, das neue Boston?

Wie man Unternehmer stärkt

Kapitel 5: Rennen

Vom Forscher zum Unternehmer

Unternehmer versus Manager

Club der Visionäre – Ingmar Hoerr und Uğur Şahin treffen sich

Moderna - der große Beschleuniger

Mit Bill Gates im Keller

Was trotz Finanzierung alles schiefgehen kann

Das Impfen gegen den Krebs – die größte Herausforderung

Ein schwieriger Moment

Kapitel 6: Impfen

Ein Übernahmeversuch, den es nicht gab

Und der Gewinner ist: die mRNA

Wer hat’s erfunden?

Road to Stockholm

Kapitel 7: Vorausschauen

Erst Corona, dann Influenza

Ein temperaturstabiler Impfstoff für die Welt

HIV und mehr. Viel mehr

Der sich selbst heilende Patient

mRNA und CRISPR/Cas

Besuch von Elon Musk

<Ctrl> <Alt> <Entf>: Neustart

Anmerkungen

Glossar

Danksagung

Fußnoten

Impressum

Prolog

Es ist Freitag, der 13. März 2020, gegen 10 Uhr. In die Notaufnahme der Berliner Universitätsklinik Charité wird ein Mann eingeliefert, der bewusstlos in einem Hotel in der Nähe aufgefunden wurde.

Zwei Tage zuvor hat die Weltgesundheitsorganisation die globale Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 offiziell zur Pandemie erklärt. In Deutschland werden erstmals mehr als tausend Infizierte und die ersten COVID-19-Toten gezählt, Großveranstaltungen sind abgesagt, Schulen und Kitas stehen kurz vor der Schließung. Weltweit kämpft man mit der ersten Infektionswelle oder erwartet sie mit banger Ungewissheit – und setzt alle Hoffnung auf eine rasche Entwicklung von Impfstoffen, die vor COVID-19 schützen.

Schnell wird klar: Das könnten Vakzine aus mRNA-Molekülen leisten, den Abschriften der chemisch eng verwandten DNA, dem Speichermolekül für Geninformationen in den Zellen. Anders als reguläre Impfstoffe kann mRNA binnen weniger Monate vergleichsweise günstig in Massen produziert werden. Der Haken: Anfang 2020 gibt es noch keine einzige mRNA-Arznei auf dem Markt. Noch ist diese revolutionär neue Technik, mit der neben COVID-19 auch Krebs und andere Krankheiten behandelbar werden könnten, mehr Vision als Realität.

Der Mann, der vor über zwanzig Jahren die Idee für diese Technik hatte und seitdem alles versucht hat, sie Wirklichkeit werden zu lassen, dieser Mann wird gerade im Eiltempo auf die neurologisch-neurochirurgische Intensivstation 102i der Charité geschoben.

Im Computertomografen wird eine massive Hirnblutung, ein »Subarachnoidalaneurysma mit Ventrikel-Einbruch« festgestellt. In einer Notoperation wird das geplatzte Blutgefäß geflickt. Ob damit aber sein Leben gerettet ist, ob dem Gehirn das künstliche Koma nutzen wird, bleibt offen.

Der Mann, der am Tag zuvor noch extra nach Berlin gereist ist und der Bundesregierung die Möglichkeiten der mRNA-Impftechnik erklärt hat, der Mann, der den Triumph seines Lebens, die Verwirklichung seiner Idee, schon vor Augen hatte, der einer Belohnung für Jahrzehnte mühsamer Überzeugungsarbeit und Bittstellerei, für das Ertragen von Spott und Häme, für das Hintanstellen von Freundschaften und Familienleben so nah war wie nie, dieser Mann taucht nun in tiefe Dunkelheit – und mit ihm die Erinnerung an sein Leben, seine Leistungen, ja sogar an sich selbst.

*

Mitte Januar 2020 identifizierten chinesische Forscher ein neuartiges Coronavirus als den Verursacher einer schweren, akuten Atemwegserkrankung. Ziemlich genau zehn Monate später, am 9. November, lieferten Forscher den Nachweis, dass sie einen Impfstoff entwickelt haben, der vor dieser Krankheit, COVID-19, schützt.

Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit ist ein Impfstoff gegen eine zuvor völlig unbekannte Krankheit so schnell entwickelt worden.

Das wäre nicht möglich gewesen ohne eine völlig neuartige Technologie des Impfens, des Impfens mit mRNA-Molekülen. Anders als konventionelle Vakzine sind solche mRNA-Impfstoffe binnen weniger Wochen herstellbar und dann – nach den nötigen, Monate dauernden klinischen Tests an menschlichen Probanden – zu vergleichsweise günstigen Herstellungskosten in Milliarden von Impfdosen produzierbar.

Die Idee für diese Technik entstand im Kopf eines Doktoranden in einem Labor an der Universität Tübingen. Sie brauchte über zwanzig Jahre, um Wirklichkeit zu werden.

Aber wie wird aus Forschung ein Arzneimittel? Was muss alles passieren, damit der Heureka-Moment eines Wissenschaftlers im Labor, das vielversprechende Ergebnis eines Experiments, der Geistesblitz für eine Therapie am Ende tatsächlich zum Schutz, zur Heilung oder zur Linderung des Leids eines oder im Fall des COVID-Impfstoffs von Milliarden von Menschen führt?

Die eine Antwort darauf gibt es nicht.

Denn es gibt keinen Automatismus, der etwa systematisch in den Labors der biologischen und medizinischen Grundlagenforschung nach Ergebnissen suchen würde, die als Medikament oder Impfstoff anwendbar oder verwertbar erscheinen. Es gibt kein staatliches oder privates System, das darauf ausgelegt ist, über Jahre und Jahrzehnte die nötigen Testreihen mit den Wirkstoffkandidaten zu organisieren, sie chemisch zu optimieren, nach Rückschlägen Alternativen zu suchen und die ersten Tierversuche durchzuführen, bevor erstmals Menschen das Mittel bekommen.

Es gibt keine Institution, die dann entscheidet, ob dieser oder einer der anderen zahlreichen Wirkstoffkandidaten die besten Chancen hat, die mitunter viele Hundert Millionen Euro teure Testung an Probanden und Patienten zu überstehen und dann diese oder jene Krankheit behandelbar oder vielleicht sogar heilbar macht.

Was es gibt, das sind Entscheidungen von Menschen, vieler Menschen. Manche davon sind sehr persönliche Weichenstellungen – wie etwa die überschaubare akademische Laufbahn zu verlassen und eine Idee in einem Start-up zu verfolgen. Andere sind eher unpersönliche, von Managern in Pharmaunternehmen oder Institutsleitern beschlossene Schwerpunktsetzungen, etwa für oder gegen Impfstoff- oder Alzheimerforschung, die sich nach »Meilensteinen« und »Exit-Strategien« richten. Auch politische Entscheidungen, die die Rahmenbedingungen für das Forschen in Universitäten und Großforschungseinrichtungen setzen und den Austausch mit Firmen regeln, spielen eine Rolle. Alle beeinflussen den »Innovationsprozess«, das Umsetzen von Wissen in Therapien.

An erster Stelle steht dabei die Entscheidung eines Wissenschaftlers, einer Wissenschaftlerin. Der eine ergründet vielleicht die Wirkungsweise der Körperabwehr in einem Immunologie-Institut, die andere sitzt im mikrobiologischen Labor und erforscht Bakterien und deren Abwehrmechanismen gegen Viren, wieder andere forschen an Fruchtfliegen, Würmern oder Mäusen – alle, um mehr über die Funktionsweise des Lebens herauszufinden. Sie betreiben Grundlagenforschung, zielstrebig, aber ohne Zielvorgabe, getrieben von Neugier, von Wissensdurst.

Immer wieder entstehen dabei Ideen – wie man Krebs stoppen, wie man Alzheimer früher erkennen, wie man Wirkstoffe besser an den Ort der Erkrankung im Körper bringen, wie man Zuckerkranke ohne Spritze mit dem lebensnotwendigen Insulin versorgen könnte. Doch ohne die Initiative der Forscherin oder des Forschers, ohne das Vertrauen in die eigene Entdeckung, ohne den Willen und die Entscheidung, sie weiterzuentwickeln, bleibt die Idee eine Idee.

Oft passiert das. Die wenigsten Forscher wollen oder können Medikamenten- oder Therapieentwickler sein. Die meisten entscheiden sich ganz bewusst dafür, Grundlagen zu erforschen, den Wissensschatz über die Funktionsweise des Lebens und die Entstehung von Krankheiten zu erweitern.

Einige wenige aber haben den Drang, ihre Entdeckung auch umzusetzen. Dann suchen sie nach Partnern, die ebenfalls an diese Idee und ihre Umsetzbarkeit glauben und ihr Leben danach ausrichten. Denn niemand kann eine Idee, schon gar keine revolutionäre, alleine zum Medikament machen.

Es braucht Unterstützer, die völlig andere als wissenschaftliche Fähigkeiten haben – etwa ein Start-up-Unternehmen leiten können, etwas von Bilanzen, von Insolvenzgesetzgebung verstehen, sich mit den unzähligen Behördenvorschriften für Labors, Medikamentenproduktion und -prüfung auskennen. Und vor allem braucht es Menschen, die sich entscheiden, ihr Geld, sehr viel Geld, in eine Idee zu stecken, die – wie die Erfahrung der Arzneimittelentwicklung zeigt – mit hoher Wahrscheinlichkeit nie Realität wird. Weil unerwartete Nebenwirkungen auftreten. Weil die erhoffte Wirkung ausbleibt. Weil zur falschen Zeit das Geld für die nötigen Tests fehlt.

Was als Gleichung mit einer Unbekannten – taugt die Idee zur Arznei? – beginnt, wird so rasch zu einem Geflecht aus immer mehr sich gegenseitig beeinflussenden Variablen.

Dies ist die Geschichte von Ingmar Hoerr, einem Forscher, der zum Unternehmer wurde, der sich allen Unwägbarkeiten zum Trotz entschied, seine Idee umzusetzen – eine neue Form des Impfens. Als die Idee entstand, konnte er nur ahnen und daran glauben, dass sie irgendwann Millionen Menschen würde helfen können. Hoerr war der Erste, der das Impfen mit mRNA möglich zu machen versuchte.

Seine Firma, CureVac, machte die Moleküle als Erste fit für den Einsatz in der Medizin. CureVac war das erste Unternehmen, das RNA-Therapien an Menschen erprobte – lange bevor Konkurrenten, in Deutschland die Mainzer BioNTech und in den USA Moderna, die Idee aufgriffen, von Hoerrs Pioniergeist profitierten und ihn schließlich auf den letzten Metern des Rennens um einen RNA-Impfstoff gegen COVID-19 überholten. Ein Endspurt, den Hoerr beinahe nicht mehr erlebt hätte und in dem er jetzt nicht mehr als Forscher, Unternehmer und Entscheider dabei ist, sondern den er nur noch von der Seitenlinie aus betrachten kann.

Jedes Leben ist einzigartig, auch das von Ingmar Hoerr. Und doch steht seine Geschichte beispielhaft für die vieler Gründerinnen und Gründer. Jener Menschen, für die Innovation nicht nur ein politisches Schlagwort ist, sondern tagtägliche, oft nächtliche Arbeit. Jener Menschen, die sich für wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur begeistern, sondern sie aufgreifen und umsetzen wollen, die sich trockene Betriebswirtschaftslehre antun, um ein Start-up gründen zu können, die ein Team zusammenstellen und führen, die nach Geldgebern suchen, die aus dem Nichts ein Biotech-Unternehmen heranwachsen lassen und neue Medikamente und Therapien für Patienten ermöglichen – oder auf diesem langen Weg scheitern. Nicht unbedingt, weil die Idee, die Technik, die Forschung nichts taugt. Sondern weil das nötige Geld nicht rechtzeitig da ist, das Vertrauen eines Partners schwindet, ein technisches Problem die Entwicklung verzögert …

Mit anderen Worten: weil der Zufall zuschlägt.

Kapitel 1: Heilen

Sara Hörr*1 sitzt auf einem Stuhl in einem Zimmer der Charité. Es ist vollgestellt mit piepsenden, pumpenden und blinkenden Geräten, deren Schläuche und Kabel dutzendweise im Körper ihres Mannes verschwinden, der seit Wochen im Koma liegt. Eigentlich hat sie blonde Haare, und Gesichtszüge, die jeden Betrachter per se lebensfroh stimmen würden. Aber all das verschwindet hinter der zwingend vorgeschriebenen Ganzkörper-Schutzkleidung aus Maske, Haube, Einwegkittel, Hand- und Überschuhen. Erkennbar wären für Ingmar Hoerr nur ihre braunen Augen – sollte er denn zufällig in der einen Stunde Besuchszeit erwachen, die sie pro Tag zu ihm darf, bevor sie wieder in das Lockdown-bedingt fast menschenleere Hotel zwischen Hauptbahnhof und Charité zurückmuss.

Es ist Mitte April, mitten im ersten COVID-19-Lockdown, und über einen Monat her, dass ihr Mann auf die Intensivstation der Charité eingeliefert wurde. Seitdem pendelt sie zwischen Berlin und Tübingen – eine halbe Woche hier bei einem Mann, der mehr tot als lebendig wirkt, die andere halbe Woche bei den Kindern. Und immer reist die Ungewissheit mit, was werden wird.

Immerhin weiß sie inzwischen: Er wird leben. Da sind die Ärzte mittlerweile zuversichtlich. Anders als zu Beginn, als sie die Hirnblutung auf einer Skala von 1 bis 5 bei 4 einordneten – zweithöchster Schweregrad, zwei Drittel dieser Patienten sterben nach der ersten Notoperation.1 Doch was für ein Leben das sein wird, ob sein Gehirn irreparable Schäden erlitten hat, ob er gelähmt sein oder wieder laufen wird, woran er sich erinnern und ob und wie er sprechen wird, das können sie noch nicht sagen. Ein Drittel aller Aneurysma-Patienten, die die ersten vier Wochen überleben, wird zum Pflegefall.2

All das hat Sara Hörr längst nachgelesen, ist sich des Wunders bewusst, dass ihr Mann es überhaupt bis hierher geschafft hat, hofft auf noch mehr Glück im Unglück – und recherchiert gleichzeitig nach geeigneten Pflegeeinrichtungen in Tübingen. Nur herumsitzen, Tränen vergießen, ins Leere sprechen, das ist nichts für Sara Hörr. Sie muss etwas tun. Irgendwas.

Heute hat sie Musik mitgebracht.

»Das ist eine gute Idee«, sagt ein Pfleger, der mal wieder an einem der unzähligen Knöpfe des Geräteparks im Zimmer herumdreht – den Tropf justiert, über den zeitweise um die dreißig Medikamente in Hoerrs Körper träufeln, die Beatmung kontrolliert, die Drainage, den Blasenkatheter …

»Soll ich ihm ab und zu Musik anmachen, wenn Sie nicht da sind?«

»Das wäre toll«, sagt Sara Hörr dankbar, aber müde. Seit Wochen findet sie kaum Schlaf.

»Eher klassische Musik?«

»Ja«, sagt Sara Hörr – und gedankenverloren rutscht ihr heraus: »Aber auf keinen Fall Mozart!«

»Ja, aber was denn dann?«, fragt der verdutzte Pfleger.

Da muss Sara Hörr lachen, der verzweifelten Situation, all der Traurigkeit zum Trotz. Der Pfleger lacht mit. Und es fühlt sich gut an.

»Entschuldigung«, bringt sie zwischen den Lachschüben hervor, »aber wenn Sie mich schon so fragen, am liebsten hört er das Spätwerk von Zemlinsky.«3

Schon zu Schulzeiten, auf der Realschule in Wendlingen unweit von Stuttgart, als das ganze Land der »Neuen deutschen Welle« frönte, fühlte sich der Teenager Ingmar Hoerr eher abseits des »Dadada«-Mainstreams wohl, hörte lieber Jazzrock, Miles Davis etwa oder den Jazzpianisten Wolfgang Dauner.

Aber spielt all das jetzt noch eine Rolle? Ist da überhaupt noch eine Erinnerung an seine Musikvorlieben geblieben? Wird er jemals wieder mit ihr in die Stuttgarter Oper gehen? Oder ein Konzert im großen Festsaal der Uni Tübingen besuchen, dort, wo sie sich 2002 kennengelernt haben – er, als einer der höchstens dreißig Zuschauer, die trotz des – verlorenen – Fußballweltmeisterschaftsfinales Deutschland gegen Brasilien ins Konzert der »Camerata vocalis« gekommen waren, des Universitätschors, in dem sie sang.

Zwar ist er zehn Jahre älter, hat Biologie-Studium und Doktorarbeit schon hinter sich, hat CureVac bereits gegründet, ist Geschäftsführer und reist ständig herum auf der Suche nach Investoren und Kunden für sein Start-up. Doch er lebt genau wie sie, die Studentin der Allgemeinen Rhetorik, Neuen deutschen Literatur und Musikwissenschaft, von kaum 800 Euro im Monat und fährt lieber mit dem Rucksack in den Urlaub. Irgendwann fragt sie ihn: »Willst du dich nicht mal für einen richtigen Job bewerben?«

Doch wenn er ihr, der Geisteswissenschaftlerin, dann versucht, seine Vision von einer völlig neuen Art des Impfens zu erklären, eines Impfstoffs auf Basis von RNA, der sogar gegen Krebs helfen könnte, aber auch gegen Infektionskrankheiten und noch viel mehr, sprühen seine blauen Augen vor Euphorie, gestikuliert er, dann ist er voller Leidenschaft. »Wenn das klappt, Sara, wenn das klappt …!« Es ist auch diese Begeisterungsfähigkeit, die sie an ihm liebt und die sie ein ums andere Mal darüber hinwegsehen lässt, dass er stets und ständig an seinem Handy hängt, immer erreichbar für die Firma, die dieses neue Impfen möglich machen soll.

Als sie ihn 2008 schließlich heiratet, ist ihr bewusst, dass da immer eine starke Konkurrentin sein wird: CureVac. Und auch Jahre später ist sie sich nicht immer sicher, ob sie an erster Stelle steht. Oder zumindest die Kinder, die Familie. Eine heftige Auseinandersetzung deswegen hatten sie ausgerechnet in den Tagen kurz vor der Hirnblutung …

Wird er sich daran erinnern, wenn er aufwacht? Wird er sich überhaupt an seine Kinder, an sein Zuhause in Tübingen, an seine Frau erinnern? Oder etwa zuallererst an CureVac?

Nach sechseinhalb Wochen wagen es die Ärzte, den Aufweckprozess zu starten. Sie schleichen die Beruhigungs- und Betäubungsmittel aus, die dem Gehirn Zeit zum Heilen verschafften. Zeit, um etwa über die unvermeidlichen Vasospasmen hinwegzukommen, die gefährlichen Krämpfe der Hirngefäße, die die Versorgung des Gehirns noch Wochen nach der Hirnblutung gefährden können.

Allmählich kommt er zu sich. Sprechen kann er nicht, weil er noch über einen Luftröhrenschnitt beatmet wird. Aber was in seinem Gehirn vorgeht, lässt sich an der Mimik seines Gesichts erahnen: blankes Entsetzen, Panik.

Ein »schweres prolongiertes hyperaktives delirantes Syndrom«, heißt es später im Arztbericht. Halluzinationen, völlig real erscheinende Alpträume nachts wie tags, sind durchaus üblich nach massiven Hirnblutungen. Bei Hoerr ist diese Phase des Delir besonders ausgeprägt.

»Ich wusste überhaupt nicht, was mit mir passiert«, so meint Hoerr sich an die Aufwachphase erinnern zu können. »Schmerzen hatte ich nicht, ich dachte vielmehr, ich sei entführt und ans Bett gefesselt worden.« Sogar an den KGB habe er gedacht, vielleicht, weil einige Pflegekräfte mit russischem Akzent sprachen. In seiner Verzweiflung schreit er seine Frau an – tonlos, wegen der Beatmungsschläuche: »Hol mich raus! Du bist meine Frau!«, liest Sara Hörr von seinen Lippen ab. Und »Geh nicht! Die bringen mich um!«

In seinem Wahn bestärkt wird er durch die Tatsache, dass die Pflegerinnen und Pfleger ihn nicht mit Ingmar Hoerr ansprechen. Die Charité führt ihn offiziell als »Paul Kern«: Niemand, schon gar nicht die Presse, die in diesen Tagen der Pandemie großes Interesse an dem CureVac-Gründer hat, soll erfahren, wer hier liegt und was passiert ist. Doch den halluzinierenden Patienten verwirrt es umso mehr, dass er ständig mit falschem Namen angesprochen wird. »Ich wusste doch, dass ich Ingmar Hoerr bin«, sagt er.

Tatsächlich ergeben die ersten neuropsychologischen Tests, dass er seinen Namen, den seiner Frau und seiner Kinder weiß und – Sara Hörr muss lächeln, als sie die Szene Monate später erinnert – »seine Handynummer«.

Aber viel mehr kann das geschundene Gehirn anfangs nicht abrufen. Es braucht Wochen, bis die Halluzinationen allmählich verschwinden und die Erinnerungen zurückkommen. Recht schnell kann er wieder auf sein Altgedächtnis zugreifen, die Kindheit, die Jugend, das Studium. »Er wusste zum Beispiel, dass er in Tübingen Biologie studiert hat«, erzählt Sara Hörr. »Er konnte eine Zelle und die Organellen darin malen und beschwerte sich, ob man ihn mit so einer Aufgabe eigentlich beleidigen wolle.« Seine Intelligenz, ergibt ein Test, kommt vollständig zurück, als hätte es keine Hirnblutung gegeben. Auch das zunächst verloren gegangene Gefühl für Zeit – ob er nun fünf Minuten oder fünf Stunden Besuch hatte – bessert sich, nachdem ihm die Neuropsychologin eine Uhr besorgt hatte.

Aber dass er jetzt in Berlin ist, in der Charité liegt, diese Information will sein Gehirn lange nicht abspeichern. Obwohl ihm die Neuropsychologin zur Unterstützung sogar ein Schild »BERLIN« an die Wand hängt, wähnt er sich kurze Zeit später wieder in Neu-Delhi, Moskau, Hamburg, San Francisco oder irgendeinem anderen Ort, an dem er als CureVac-Chef schon einmal war. Das Gehirn tut sich noch schwer, frische Informationen aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis zu überführen.

Hingegen, als ihm die CureVac-Mitarbeiter später ein Grußvideo schicken, erkennt er jeden einzelnen wieder. Und bemerkt sogar, dass einer fehlt. Der Geschäftsführer (CEO) Daniel Menichella. »Hatte der denn keine Zeit?«, fragt er. Sara Hörr schluckt und erzählt ihm, dass Menichella CureVac am 10. März verlassen hat und ein neuer CEO eingesetzt wurde: »Du hast die Leitung des Aufsichtsrats niedergelegt und bist wieder zum CEO von CureVac ernannt worden«, berichtet sie ihm vorsichtig. »Und drei Tage später bist du umgekippt.«

Diese Nachricht ist ein Schock für Hoerr: »Aber wenn ich CEO bin, dann kann ich doch nicht hier liegen.« Zu diesem Zeitpunkt habe er dem Gespräch schon völlig normal folgen können, war konzentriert und aufmerksam, habe sinnvolle Fragen gestellt, sich an Details aus der Vergangenheit erinnert, sagt Sara Hörr. »Aber er war zutiefst entsetzt, dass er an diese Phase überhaupt keine eigene Erinnerung mehr hatte.« Bis heute kann sich Hoerr an die Ereignisse kurz vor seiner Hirnblutung nicht erinnern, teilweise sind ihm sogar Ereignisse, die Wochen vorher stattfanden, nicht mehr präsent.

Als er sich wieder beruhigt und verstanden hat, dass nun der ehemalige Vorstand für die Geschäftsentwicklung, der Chief Operation Officer (COO) Franz-Werner Haas, die Firma leitet, CureVac einen COVID-19-Impfstoff entwickelt und alles bestens läuft, lässt sie ihn allein und geht Mittag essen. Als sie zurückkommt, kann er sich nicht mehr erinnern, worüber sie sich eine Stunde zuvor unterhalten haben. Erneut schauen sie das CureVac-Video, erneut fällt ihm das Fehlen Menichellas auf, erneut reagiert er bestürzt …

Anterograde Amnesie nennen Ärzte das Phänomen. Erlebtes und Erlerntes wird zwar im Kurzzeitgedächtnis gespeichert, doch irgendetwas verhindert, dass es sich im Langzeitgedächtnis festsetzt. Dass er in Berlin in der Charité ist, dass er für ein paar Stunden wieder CEO von CureVac war, all das findet nur allmählich und nach vielen, geduldigen Wiederholungen Sara Hörrs den Weg in sein Langzeitgedächtnis. Noch Monate später, längst zurück in Tübingen, fotografiert er den Stellplatz seines Autos im Parkhaus sicherheitshalber, um es nach dem Einkaufen oder dem Arztbesuch wiederzufinden. Noch immer kann er sich nicht hundertprozentig auf sein Gedächtnis verlassen, obwohl es sich mit der Zeit erheblich erholt hat.

Immerhin. Denn es gibt Patienten, bei denen die scheinbar so selbstverständliche Fähigkeit des Erinnerns gar nicht mehr zurückkommt. Etwa bei Henry Molaison, einem Amerikaner, dem 1953 bei einer Hirnoperation der Hippocampus entfernt wurde. Seitdem, ohne die seepferdchenförmige Region im Zentrum des Gehirns, findet kein Ereignis mehr, ob Mittagessen oder Kinobesuch, Einlass in Molaisons Langzeitgedächtnis. Ebenso beim britischen Soldaten William O., der sich seit einer Wurzelbehandlung nichts mehr länger als 90 Minuten merken kann. Zwar kann er sich an seinen Namen, seine Kindheit, seine Heirat, sein komplettes Leben vor der Zahnbehandlung am 14. März 2005 erinnern, aber weder seine Pensionierung, noch die Feier zum Collegeabschluss seiner Tochter oder irgendeine andere Erinnerung hat es seither in sein Langzeitgedächtnis geschafft – bis auf eine einzige, sehr emotionale und vielleicht deshalb so einprägsame: der Tod seines Vaters.4

So hart trifft es Hoerr nicht. Anfangs nimmt er sein Gedächtnisproblem auch gar nicht wahr, die Fähigkeit zur Einsicht ist noch gestört. Aber als es allmählich zurückkommt, wird er sich auch seiner Defizite mehr und mehr bewusst. Eine »innere Unruhe«, heißt es im Arztbericht, erfasst ihn. Alles, was ihn ausmacht, sein Leben, seine Persönlichkeit, steht infrage. Denn was ist ein Mensch schon ohne sein Gedächtnis, wie kann man weiterleben ohne das sichere Gefühl, sich selbst und die eigene Vergangenheit zu kennen und das gegenwärtig Erlebte und Gefühlte auch später noch zu erinnern? Kann es eine Zukunft geben ohne Sinn für die Gegenwart? Und wie soll er umgehen mit den Momenten, in denen sich die Erinnerungsschwäche anderen offenbart: Wenn der Sohn zum dritten Mal sagen muss, dass nicht er, sondern sein Bruder sich beim Schlittenfahren den Zahn ausgeschlagen hat. »Der Kontrollverlust über mein Leben hat mir sehr zu schaffen gemacht«, sagt Hoerr.

Ordentlich und sicher verwahrt wähnt man das, was die eigene Persönlichkeit ausmacht: all die vielen Einzelbilder, Töne, Gerüche, Geschmäcker und Emotionen des Erlebten, die das Gedächtnis zu einem Lebensfilm zusammenfügt und stetig ergänzt. Doch als das Aneurysma platzt, werden nicht nur die alten Erinnerungen vorübergehend vergraben und den neuen die Wege versperrt, sondern auch Hoerrs Grundvertrauen in sein Gedächtnis, in sich selbst, gerät ins Wanken.

Vielleicht ist auch das ein Grund, warum Hoerr einem Buch über sein Leben zustimmt, tagelang Interviews gibt, alte Unterlagen durchsucht, private Einblicke gewährt. Um sich seiner selbst zu vergewissern und sein Leben Stück für Stück, Erlebnis für Erlebnis, Kapitel für Kapitel wieder zusammenzusetzen. Und zurückzuerobern.

Etwa die Erinnerung an das Treffen mit Bill Gates im Keller eines Pariser Hotels, bei dem er den Microsoft-Gründer überzeugt, über die Bill und Melinda Gates-Stiftung in CureVac zu investieren.

Oder der Besuch des Paypal-, Tesla- und SpaceX-Gründers Elon Musk in Tübingen, mit dessen Tochterunternehmen Tesla-Grohmann CureVac an »Impfstoff-Druckern« arbeitet.

Und natürlich die Gespräche mit Milliardär Dietmar Hopp, dem Gründer von SAP, ohne den es CureVac wohl nie so weit gebracht hätte.

Es sind die Höhepunkte eines Lebens, das vor über 20 Jahren in einem Tübinger Labor eine entscheidende Wende nahm: als ein Experiment scheinbar misslang, das dann aber doch zur Initialzündung für die Gründung von CureVac wurde, für Ingmar Hoerrs Entscheidung, sein Leben dem Erfolg dieser Firma zu verschreiben. Ein Experiment, aus dem eine völlig neue Technik erwuchs, von der heute die ganze Welt profitiert: das Impfen mit RNA.

Kapitel 2: Forschen

Es ist der letzte Sommer des Millenniums, es ist angenehm warm in Tübingen, es geht aufs Wochenende zu, doch an Freizeit ist nicht zu denken. Ingmar Hoerr eilt »Auf der Morgenstelle« entlang, der Straße, die sich fast endlos über den Campus der mehr als 500 Jahre alten Universität Tübingen schlängelt und vor allem die neueren Forschungsinstitute erschließt. Er will ganz ans Ende, ins »Verfügungsgebäude«, einen schnörkellosen, architektonische Einfallslosigkeit zelebrierenden Betonklotz, in dem die Abteilung Immunologie des Instituts für Zellbiologie untergebracht ist. Ungeduldig lässt Hoerr den Fahrstuhl stehen, zu Fuß ist er schneller, springt die Treppen in den dritten Stock hinauf und durch den Flur ans Ziel – das Labor der Forschungsgruppe des Immunologen Hans-Georg Rammensee.

Es sieht aus wie in jedem chemisch-molekularbiologischen Labor überall auf der Welt. In den Regalen in Kopfhöhe stehen Glasflaschen mit wässrigen Lösungen, beschriftet mal mit »10% NaOH« oder »1% TBE«, was man eben so braucht für Experimente mit DNA und RNA. Die Labortische darunter, die beidseitig an der Wand des schmalen, schlauchartigen Raums befestigt sind, sind vollgestellt mit Zentrifugen, einem »Vortex« zum Schütteln und Mischen von Lösungen und anderen Gerätschaften. Halbautomatische Pipetten zum Abmessen winziger Flüssigkeitsmengen bis zu einem millionstel Liter, das alltägliche Handwerkszeug jedes Molekularbiologen, hängen ordentlich in ihrer Halterung.

Hoerr wirft seine Jacke auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch – zumindest für die Zeit seiner Doktorarbeit gehört der Platz hier am Fenster ihm. Nach ihm wird der nächste Doktorand kommen, da wird er schon weitergezogen sein, in ein anderes Labor eines anderen Professors; es wird lange dauern, bis er so etwas wie ein eigenes Labor haben wird. Falls er denn überhaupt in der Forschung bleiben wird. »Bin ich wirklich ein Wissenschaftler?«, fragt sich Hoerr nicht zum ersten Mal. »Will ich mein Leben wirklich jahrzehntelang in Labors verbringen?« Doch solche grüblerischen Gedanken kann er jetzt nicht gebrauchen. Seit Monaten bereitet er ein Experiment vor, heute könnte er endlich, endlich Ergebnisse sehen.

Hoerr ist gerade 31 Jahre alt geworden. Dass er irgendwann Biologie studieren würde, das hatte er sich schon als Siebtklässler auf der Realschule in Wendlingen in den Kopf gesetzt. »Obwohl ich gar nicht so brillant war in Biologie, eines der wenigen Fächer, in denen ich keine Eins hatte.« Aber es gab eine Lehrerin, Frau Bauder, die sein Interesse an den Naturwissenschaften spürte und es zu wecken wusste. »Der Ingmar kriegt bestimmt mal den Nobelpreis«, habe ein Klassenkamerad irgendwann mal gesagt, halb hänselnd, halb mit Respekt, erinnert sich Hoerr. Physik, Chemie fallen ihm leicht. Aber die Biologie, die sich in den 1980ern von einer nur analytischen, deskriptiven Wissenschaft zu einer gestaltenden, ingenieursartigen Disziplin entwickelt, die das Wissen über das Leben für Gen- und Biotechnik nutzt, macht ihn neugierig. Also Wechsel an das Agrarwissenschaftliche Gymnasium in Nürtingen, also Studienbeginn in Tübingen 1988, also Diplomarbeit 1996.

Jetzt wird es Zeit, die Doktorarbeit, an der er schon seit drei Jahren laboriert, hinter sich zu bringen. So lange geht er bereits einer Sache nach, auf die zu diesem Zeitpunkt kaum ein Molekularbiologe auch nur einen Pfennig wetten würde. Was, wenn er doch auf dem Holzweg ist? Und ist das ganz große Ziel, das in dem Tübinger Institut verfolgt wird, überhaupt erreichbar: gegen Krebs »impfen« zu können?

Die Idee vom Impfen gegen den Krebs

Impfen bedeutet, dem Immunsystem einen Vorsprung zu verschaffen, es auf eine Invasion gefährlicher Viren, Bakterien oder anderer Fremdkörper vorzubereiten. Der Impfstoff kann beispielsweise das Virus selbst sein, in einer abgeschwächten oder inaktivierten Form, oder ein Bruchstück oder auch nur einzelne Moleküle des Erregers oder Fremdkörpers. Sie alle können als »Antigen« wirken, als Angriffspunkt für das Immunsystem, denn sie weisen unverwechselbare Molekülstrukturen auf, an die passgenau »Antikörper« binden, gewissermaßen die Abfangjäger des menschlichen Immunsystems. Ein Antigen und ein Antikörper passen zueinander wie Schloss und Schlüssel. Der Charité-Forscher Emil von Behring, der die Existenz der Antikörper als einer der ersten erahnte, bezeichnete sie in den 1870ern noch als »Gegengifte« (Antitoxine), heute ist klar: Es sind winzige, Y-förmige Moleküle, die zu Abermilliarden im Blut und der Lymphe eines Menschen patrouillieren. Sie werden von spezialisierten Immunzellen gebildet, den aus B-Zellen hervorgehenden Plasmazellen.

Eine Plasmazelle bildet immer nur einen Typ von Antikörper. Die meisten passen nie zu einem Antigen, doch mitunter bindet der eine oder andere Antikörper zufällig genau an eine Antigen-Struktur eines eindringenden Virus oder eines Proteins auf einer Krebszelle. Zum einen »verklumpen« oder neutralisieren die Antikörper das Antigen, also etwa ein im Körper kursierendes Virus. Zum anderen wird die Plasmazelle, die den passenden Antikörper produzieren kann, dazu angeregt, sich zu vermehren und mehr vom gleichen Antikörper herzustellen. Diese »humorale« Immunreaktion führt letztlich zum »Immungedächtnis«, denn einige der aktivierten Plasmazellen werden zu »Immungedächtniszellen« – taucht das Antigen erneut in Blut oder Lymphe auf, stehen sie, und damit die passenden Antikörper, bereit, um schnell zu reagieren, sodass sie keinen Schaden mehr anrichten können (siehe Abbildung Seite 71).

Doch das Immunsystem kann sich noch auf andere Weise gegen Viren, Bakterien oder Krebszellen wehren: indem es infizierte oder entartete Zellen abtötet. Diese »zelluläre« Immunreaktion bewerkstelligen Killerzellen, cytotoxische T-Zellen. Auch sie reagieren auf die Antigene, also die für ein Virus oder Krebs charakteristischen Moleküle. Befällt etwa ein Virus den Körper, zerstückeln spezialisierte Zellen die Virusproteine, »präsentieren« sie auf der Zelloberfläche und rufen spezielle Immunzellen, T-Zellen, herbei. Jene T-Zellen, die in ihrer Zellmembran Antikörper-ähnliche Rezeptoren haben, die genau zu dem Virus-Antigen passen, reagieren auf das Alarmsignal und lösen eine Kette von Reaktionen aus, die letztlich zum Abtöten der infizierten Zellen führt.

Ein komplexer, noch immer nicht gänzlich erforschter Vorgang, doch eines ist klar: Impft man den Körper mit den geeigneten Antigenen, kann man ihn vor Virus- oder Bakterieninfektionen schützen – und vielleicht auch vor Krebs. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte der Chirurg Wilhelm Busch am Bonner Universitätsklinikum, dass das Immunsystem des Menschen angeregt werden kann, gegen Krebsgeschwülste vorzugehen. Busch beobachtete, dass der Tumor mancher seiner Krebspatienten zu schrumpfen begann, wenn sie sich im Krankenhaus zusätzlich eine schwere Infektion eingefangen hatten. Als Busch 1867 wieder einmal hilflos zusehen musste, wie eine junge Patientin mit einem unheilbaren Tumor im Hals dahinsiechte, wagte er einen heiklen und heute sicher nicht mehr genehmigungsfähigen Versuch: Er ließ die Patientin in ein Bett verlegen, in dem zuvor ein Patient mit Wundrose gelegen hatte, einer von Streptokokken-Bakterien verursachten, damals unheilbaren Infektionskrankheit. Die Krebspatientin infizierte sich, und der Tumor ging tatsächlich um die Hälfte zurück, und auch die Lymphknoten im Halsbereich schwollen ab – ein Hinweis auf den Einfluss der Infektion aufs Immunsystem, wie Busch 1868 in der Berliner Klinischen Wochenschrift vermutete.5 Doch neun Tage später starb die Patientin dann doch – wohl an der Infektion, die ohne die noch nicht entdeckten Antibiotika nicht zu stoppen war.

Andere Ärzte, etwa der Entdecker der Wundrose-Bakterien Streptococcus pyogenes Friedrich Felsenstein, griffen Buschs Ansatz auf, spritzten Bakterien direkt in den Tumor und beobachteten – zumindest ab und zu – ebenfalls schrumpfende Geschwulste. Aber bald wurden die Heilversuche eingestellt. Die gefährlichen Infektionen waren nicht kontrollierbar, und die Ärzte suchten die Ursache der Anti-Tumor-Wirkung eher in Bestandteilen oder Giften der Bakterien als in der anregenden Wirkung der Infektion auf das Immunsystem.

Der langjährige Charité-Forscher und spätere Nobelpreisträger Paul Ehrlich ging – nicht zuletzt wegen der Beobachtungen Buschs und Felsensteins – davon aus, dass das Immunsystem Krebszellen normalerweise bekämpfen und unschädlich machen kann, doch irgendwann aus irgendeinem Grund versagt. Er beschloss, an krebskranken Mäusen zu untersuchen, woran das liegen könnte. Als er im Zuge dieser Experimente Tumore von erkrankten Mäusen auf gesunde übertrug, bemerkte er, dass sich vor allem die besonders aggressiven (»virulenten«) Geschwulsttypen gut übertragen ließen, anwuchsen und sich vergrößerten, andere Krebstypen hingegen nicht. Blutkrebs etwa schien »avirulent« zu sein. Wenn Ehrlich nun zuerst einen »avirulenten« Krebs auf eine gesunde Maus übertrug, dann wuchs jedoch auch der aggressive, »virulente« Krebstyp nicht mehr an. Es »entstand die Frage, ob die Uebertragung dieses avirulenten Materials einen Schutz gegen hochvirulente Tumoren verleiht«, schrieb Ehrlich 1907 in der Zeitschrift fuer Krebsforschung. »In der Tat ist es mir geglückt, diese Frage in positivem Sinne zu entscheiden«, schrieb er weiter. Es habe sich herausgestellt, »dass schon durch eine einmalige Impfung in 50–80 Prozent der Fälle eine vollkommene Immunität erzielt werden kann, ein Prozentsatz, der sich durch Wiederholung der Impfung noch wesentlich steigern lässt«. Damit habe er »den Beweis geliefert, dass es sich hierbei (…) um eine aktiv erworbene Immunität handelt«.6 Diese und weitere Experimente überzeugten Ehrlich davon, dass das Immunsystem eine wichtige Rolle bei der Krebsentstehung und -bekämpfung spielt. »Ich persönlich bin der Meinung, dass (…) der Mensch wahrscheinlich eine grosse Anzahl solcher versprengter [Krebs-] Keime mit sich führt, die sich jedoch grösstenteils nicht entwickeln, weil der Durchschnittsorganismus über genügende Schutzmittel verfügt.«7 Das Immunsystem habe also normalerweise Mittel und Wege, Krebszellen von gesunden zu unterscheiden und auszumerzen.

Ehrlich machte sich zwar auf die Suche nach denjenigen Merkmalen, die Krebszellen charakterisierten, den krebstypischen Antigenen, die eine Impfung gegen Krebs möglich machen könnten, doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fehlten dafür die technischen Möglichkeiten.

In den folgenden Jahrzehnten, mit wachsendem Werkzeugkasten und immer tieferem Wissen um die molekularen Abläufe in Zellen, identifizierten Forscher diverse krebsspezifische Antigene, also etwa Proteine, die nur (krebsspezifisch) oder überwiegend (krebsassoziiert) in Krebszellen vorkommen. Mitunter sind es auch nur Teile von Proteinen, also Peptide, in denen sich normale und Tumorzellen unterscheiden. Es können auch Proteine sein, die zwar im menschlichen Embryo gebraucht werden, um das schnelle Wachstum des Fötus zu ermöglichen, aber im ausgewachsenen Körper nicht mehr aktiv sein dürften. In Krebszellen werden die Gene, die diese »embryonalen« Proteine kodieren, aber fälschlicherweise reaktiviert und für die Wucherungen missbraucht. Könnte ein Impfstoff aus diesen krebstypischen Proteinen das Immunsystem so trainieren, dass es die Tumorzellen wieder angreift und zerstört? Ein Weckruf an die Körperabwehr? Das zumindest ist in den 1990ern die Hoffnung. Impfen gegen Krebs – die Idee ist plötzlich wieder hochaktuell.

Der Biologiestudent Ingmar Hoerr hört von dieser Idee, vom »Impfen gegen Krebs«, zum ersten Mal im Sommer 1994. »Mich hat Immunologie damals sehr fasziniert.« Er besucht einen Gastvortrag eines Forschers, der extra vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg nach Tübingen angereist ist: Sein späterer Mentor Hans-Georg Rammensee. Der Immunbiologe sucht nach krebstypischen Proteinen – mit dem Ziel, sie künstlich nachzubauen und als Antigen-Impfstoff gegen Krebs einzusetzen. Eine Art Steckbrief für Krebs, der all die typischen Merkmale auflistet, mit denen das Immunsystem den Killer erkennen und dingfest machen kann. »Ich fand das total spannend«. sagt Hoerr. »Warum toleriert das Immunsystem in dem einen Fall den Tumor, in einem anderen Fall aber greift es ihn an?« Kurz entschlossen nimmt er Kontakt auf, besucht Rammensee am 11. Oktober 1994 in Heidelberg und fragt ihn, ob er bei ihm seine Diplomarbeit machen kann. Rammensee imponiert die forsche Art des jungen Mannes, doch er winkt ab. Er werde mit seinem Labor wohl alsbald nach Tübingen umziehen, um dort die Abteilung Immunologie im Interfakultären Institut für Zellbiologie zu übernehmen.

Aber Hoerr lässt sich nicht abwimmeln. Die Idee vom Impfen gegen Krebs lässt ihn nicht los. Er bringt seine Diplomarbeit in einem ganz anderen Forschungsgebiet hinter sich. Er untersucht ein für Pilze giftiges Protein. Dann, im Frühjahr 1996, heuert er beim Chemiker Günther Jung an – »ich wusste, dass er mit Professor Rammensee schon länger zusammenarbeitet.« Denn auch wenn Krebs eine Krankheit der Zellen, der Biologie, ist, sind es unzählige chemische Wechselwirkungen zwischen den Biomolekülen, die geklärt werden müssen, um der Impfung gegen Krebs näherzukommen. Etwa: Womit löst man die Impfreaktion, den »Lernprozess« des Immunsystems, am besten aus?

Bei Viren, Bakterien und anderen Krankheitsauslösern zeigt