Der Mann mit den Masken - Lisa Zeitz - E-Book

Der Mann mit den Masken E-Book

Lisa Zeitz

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Beschreibung

Geboren 1913 als Sohn eines jüdischen Fabrikanten in Dortmund, wuchs Muens - terberger in die turbulenten Jahre der Weimarer Republik hinein, besuchte die Odenwaldschule, studierte Ethnologie und Kunstgeschichte und gelangte in die Künstlerbohème von Amsterdam und Monte Verità, die ihn für sein Leben prägen sollte. Eine Freundin rettete ihm das Leben, indem sie ihn jahrelang in ihrem Ams - terdamer Haus vor der Gestapo versteckte. Nach dem Krieg emigrierte er in die USA, arbeitete als Psychoanalytiker und lehrte als Professor für Ethnopsychatrie in New York. Dort begründete er nicht nur seine bedeutende Sammlung afrikanischer Kunst – er gehörte, bis zu seinem Tod 2011, zu den schillernden Figuren der intellektuellen Szene. Lisa Zeitz hat ihn über mehre re Jahre begleitet. Auf der Grundlage vieler Gespräche und bisher unveröffentlichter Dokumente zeichnet sie nun diese einmalige Lebensgeschichte nach. Eine Ausnahmegestalt – und ein faszinierendes Panorama des 20. Jahrhunderts.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.berlinverlag.de

Mit Zeichnungen von Christoph Niemann

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-8270-7644-1

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2013

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Inhalt

»Nur ein paar Sachen, die mir gefallen«

Erstes Kapitel

»Sie nannten mich Grünschnabel«:

Kindheit und Jugend

Zweites Kapitel

»Probleme wälzend, aber der Belehrung zugänglich«:

In der Odenwaldschule

Drittes Kapitel

»All das gibt mir unendliche Freude«:

Studienjahre

Viertes Kapitel

»Die Geister beschützen das Leben«:

Auf der Flucht in Europa

Fünftes Kapitel

»Ich kann Ihnen versichern, dass der Fall sehr dringend ist«: Krieg und Untergrund

Sechstes Kapitel

»Mit fünfzig Dollar in der Tasche«:

Neustart in New York

Siebtes Kapitel

»Eine Sammlung ist nie eine glückliche Liebe«:

Die späten Jahre

Anhang

Fälscher auf der Couch

Die Geschichte der Fälschung

Geborgte Identitäten

Eric Hebborn

Thomas Chatterton

Aufgabe der Ahnen

Han van Meegeren

Konrad Kujau

Dank

Anmerkungen

Personenregister

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

»Nur ein paar Sachen, die mir gefallen«

Sotheby’s liegt weit im Osten Manhattans, an der Ecke 72nd Street und York Avenue. Ein riesiger moderner Glaskasten: Kaum zu glauben, dass das Auktionshaus schon vor dreihundert Jahren gegründet wurde. Inzwischen ist das Unternehmen eine amerikanische Aktiengesellschaft, und wer das Hauptquartier in New York betritt, fühlt sich wie in einem Kaufhaus. Sogar Rolltreppen gibt es hier.

Ich fahre mit dem Aufzug zum Auktionssaal im achten Stock. Erst letzte Woche wurde an diesem Ort für Edward Munchs Gemälde »Der Schrei« die Rekordsumme von knapp 120 Millionen Dollar geboten – das teuerste Bild, das je versteigert wurde. Da gab es Blitzlichtgewitter.

Bei der Auktion von Stammeskunst geht es ruhiger zu. Keine Presse, kein Gedränge. Die meisten Stühle sind unbesetzt, und trotzdem herrscht an diesem 11. Mai 2012 eine Spannung wie vor einer Theaterpremiere. Jeder wartet auf ein begehrtes Objekt und fiebert mit, auch wenn es heute oft nur um einige Tausend Dollar geht. Wenn Stammeskunst versteigert wird, kommen hauptsächlich Profis, ob Sammler oder Händler. Ich bin aus Neugier dabei, um zu sehen, wie sich die Einlieferung aus der Sammlung eines Freundes verkauft.

Die meisten Besucher balancieren den aufgeschlagenen Katalog »African, Oceanic and Precolumbian Art« auf ihren Knien und vermerken jeden erzielten Preis säuberlich neben den betreffenden Losnummern. Sie wirken unbeteiligt. Dann plötzlich ziehen sie blitzschnell das blaue Plastikpaddel mit der Bieternummer heraus und signalisieren dem Auktionator mit verschwitzter Hand ihr Gebot.

Wie würde ein Anthropologe das Ritual einer Auktion beschreiben? Ein Mann mit einem Hammer steht an einem erhöhten Pult – die Aufmerksamkeit der versammelten Menge ist auf seine Klopfzeichen gerichtet. Es wird getuschelt. Während der Mann seine Zahlen herunterrattert, treffen neue Gäste ein, andere klemmen sich ihre Kataloge unter den Arm und huschen wieder nach draußen. Der Dresscode reicht von Jeans und Strickpullover bis zum Anzug. Je dunkler die Haut, desto höher die Krawattenwahrscheinlichkeit.

»Zehntausend Dollar, zehntausendfünfhundert, elftausend, wer bietet mehr?« Nach ein paar Hundert Objekten, die meist in Sekundenschnelle den Besitzer wechseln oder als »Rückgang« registriert werden, folgt in wenigen Augenblicken die Sonderauktion, für die ein eigener Katalog gedruckt wurde: »Masterpieces of African Art from the Collection of the Late Werner Muensterberger«. Die Sammlung des Ethnologen und Psychoanalytikers umfasst nur sechs Stücke. Muensterbergers Erbe Celestin Clamra, der junge, schöne Stammesprinz aus dem Tschad, hat sie zur Auktion eingeliefert. Wo ist er eigentlich? Wo sind Muensterbergers Freunde? Ich blicke mich schon seit einigen Minuten um, ob sie Platz genommen haben, kann sie aber nicht entdecken. Schließlich stehe ich auf und fahre mit den Rolltreppen durch das riesige Auktionshaus bis ins Erdgeschoss – auch hier keine Spur von Clamra. Jetzt rufe ich ihn an.

»Wir sind in der Skybox«, sagt er mit gedämpfter Stimme.

Eine Angestellte von Sotheby’s begleitet mich in den Aufzug und führt mich durch labyrinthische Gänge, bis wir vor einer unscheinbaren Tür stehen. So also sieht die Skybox von innen aus. Schaut man vom Auktionssaal hinauf, sind nur die glänzenden Scheiben zu erkennen, zuweilen eine Hand, die den Vorhang bewegt, mit oder ohne Champagnerglas. Von innen wirkt der Raum wie eine Hotelsuite samt dem Sofa und dem silbernen Eimer voller Eiswürfel, die Palette Cola-Dosen steht neben einer Schüssel Chips.

Alle Anwesenden, knapp ein Dutzend von Muensterbergers alten Freunden, lehnen sich zum Fenster, um den Auktionssaal zu überblicken. Als ich eintrete, drehen sie sich um – Clamra und Bangally, Louise, Charlie und Xiomara, auch einige mir Unbekannte. Wir begrüßen uns flüsternd, alle verfolgen aufmerksam die Auktion. Ich setze mich auf das Sofa und beobachte, wie sie sich an die Scheibe drängen.

Die ersten beiden Lose der Muensterberger Collection sind zwei winzige Reiterfiguren aus Bronze, kaum drei und fünf Zentimeter hoch. Die größere verdoppelt ihre Schätzung und verkauft sich für rund sechzehntausend Dollar, die andere will anscheinend niemand haben. Dann ist eine Begräbnisfigur aus Madagaskar an der Reihe, eine verwitterte weibliche Figur aus Holz, die ein Gefäß auf dem Kopf trägt und einen halben Meter misst – sie findet für zwanzigtausend Dollar einen Käufer.

Doch all das wirkt nur wie ein Vorspiel für das Los des Tages. Jetzt ruft der Auktionator das wertvollste Stück der Sammlung auf, die Lulua-Maske. Die Schätzung lautet 1,5 bis 2,5 Millionen Dollar – so viel wird selten für afrikanische Kunst gezahlt. In Werner Muensterbergers Wohnzimmer stand sie auf einem hohen Sockel, daneben meist eine gelbgefleckte oder lilafarbene Orchidee.

Die Lulua ist eine weibliche Ahnenmaske aus dem Kongo, um 1880 entstanden, ihr elegantes Gesicht mit Narbenornamenten und geschlossenen Augen strahlt konzentrierte Macht aus. Sie ist aus Holz, hat jedoch eine Patina fast wie Bronze. Man denkt an Ruß und Schokolade. Muensterberger erzählte mir, die Maske erinnere ihn an etwas sehr lang Zurückliegendes, einen unbestimmten Eindruck aus seiner Kindheit. Vielleicht war es der Schatten seiner Mutter an der Wand in seinem Kinderzimmer?

In Afrika wurde sie einst vermutlich für die Gedächtnisfeierlichkeiten eines Toten geschaffen: Ein Mann setzt sie auf und bewegt sich langsam und rhythmisch, während ein anderer über das Leben des Verstorbenen berichtet. Auch die Auktion hat etwas von einer Gedächtnisfeier. Ein Los, ein Schicksal.

Bild1: Eine Patina fast wie Bronze: Die Lulua-Maske ist das wertvollste Objekt der Werner Muensterberger Collection.

Zwei Agenten telefonieren mit Bietern, die den Preis der mythischen Lulua bis auf 2,5 Millionen Dollar treiben. Dann knallt der Hammer aufs Pult. Er habe sich noch mehr erhofft, sagt Clamra und wendet seine Aufmerksamkeit dem nächsten Los zu.

Es folgen ein lebensgroßer männlicher Holz-Torso vom Volk der Mbembe in Nigeria und ein steinerner Sherbro-Kopf aus Sierra Leone, den Experten auf die Zeit um 1500 oder früher datieren. Gelegentlich sammelte Muensterberger auch zeitgenössische Kunst – darunter ein anthropomorphes Gefäß der kenianischen Künstlerin Magdalene Odundo, die heute in England lebt. Das Stück aus dem Jahr 1991 war das erste Werk, das Odundo in den USA verkaufte, und Muensterberger war dort ihr erster Kunde. Jetzt erzielt es 134 500 Dollar – ein Rekord für die Künstlerin und ein Vielfaches von dem, was Muensterberger damals bezahlte.

»Meistens hat jeder einzelne Gegenstand in einer Sammlung für den Besitzer eine singuläre Bedeutung«, schrieb Werner Muensterberger in seinem Buch »Sammeln, eine unbändige Leidenschaft«, »und dafür sind viele äußere und in der Erfahrungs- und Erlebniswelt liegende Faktoren bestimmend. Auch wenn zwei Sammler auf dasselbe Objekt erpicht sind, können ihr jeweiliger Grund, weshalb sie es haben möchten, und die Art, wie sie es anstellen, um es zu bekommen, vollkommen verschieden sein – und gewöhnlich sind sie es auch.«

Die Werke aus der Muensterberger Collection werden nun getrennte Wege gehen, und jedes wird den neuen Besitzer auf seine Weise begleiten.

* * *

New York, 16. September 2005. Das erste Mal traf ich Werner Muensterberger, weil ich ihn für einen Artikel interviewen wollte: den Psychoanalytiker, der die Kunstsammler versteht. Ich hatte erst kürzlich sein Buch über die Leidenschaft des Sammelns gelesen, das rund zehn Jahre zuvor erschienen war.

Nun stand ich an der East 68th Street vor dem großen, gediegenen Apartmentkomplex, in dem er wohnte. Ein imposantes Gebäude: Die geschwungene Auffahrt bot genügend Platz für Taxis und Limousinen, am Eingang warteten drei livrierte Doormen darauf, Türen aufzuhalten, Besucher zu registrieren oder Pakete anzunehmen.

In der Lobby überall Antiquitäten, dahinter ging es durch helle Gänge zu den Aufzügen in den West- und Ostflügel. In den Sechzigerjahren muss das Haus modern gewesen sein. Jetzt schien es trotz der noblen Atmosphäre merkwürdig aus der Zeit gefallen. Und die Bewohner, die mir begegneten, oft so betagt, dass ich das Gefühl hatte, ein luxuriöses Altersheim zu betreten. Tony Bennett, der Sänger, wohnte einst in diesem Haus, der ehemalige New Yorker Bürgermeister David Dinkins lebt noch immer hier. Außerdem soll es unter den Mietern so viele Richter geben, dass sich alle Köpfe drehen, wenn jemand »Good Morning, Your Honor« in die Lobby ruft.

Direkt vor mir eine Frau, deren Alter wie bei so vielen weiblichen Bewohnern der Upper East Side ein Mysterium bleibt: hochhackige Schuhe, schlanke Fesseln, tadellose Beine in Nylonstrumpfhosen, ein leopardengeflecktes Kostüm mit knielangem Rock und pelzbesetztem Jackenkragen, darüber ein wippender blonder Pferdeschwanz. Ihre Augen hinter einer eleganten Sonnenbrille verborgen. Ihr Gesicht, geliftet oder gespritzt, glich einer zeitlosen Maske. Dann streckte sie plötzlich die faltige, fleckige Hand einer Greisin aus, um den Knopf am Aufzug zu drücken. Wir betraten den Aufzug gemeinsam mit einem Dogwalker, der einen Pekinesen ausführte. Die Türen schlossen sich, ich schaute in den Spiegel und zog mir die Lippen nach. Damals ahnte ich nicht, dass der Gang durch diese Lobby mir bald zur Gewohnheit werden sollte, denn fortan würde ich Muensterberger regelmäßig treffen, mindestens einmal die Woche.

Der Aufzug hielt mit dem leisen Klang einer Glocke im siebzehnten Stock. Während ich den langen, fensterlosen Flur durchquerte, stellte ich mir den sehr alten Mann vor, den ich gleich treffen würde. Jahrgang1913, dachte ich, genau wie meine Frankfurter Großmutter. Meine geliebten Großmütter waren beide schon lange tot, ihre Männer noch viel länger: Einer war mit achtundzwanzig Jahren in Russland gefallen.

Meine Großmütter hatten mir viel vom Krieg und seinen Schrecken erzählt, von den Bombenangriffen auf Frankfurt und vom Hunger in der Großstadt, von den Attacken der Jagdbomber auf dem Land und von der Arbeit in einem elsässischen Lazarett, von Amputationen und vom Sterben junger Männer. Meine Schwarzwälder Großmutter war Jahrgang 1919 und wäre gerne dem Bund Deutscher Mädel beigetreten, durfte aber nicht, weil ihre Eltern Monarchisten waren. Als Hitler im offenen Wagen durch ihr Dorf gefahren kam, reihte sich die Müllerstochter in die Jubelschar ein und hatte ihm zu Ehren sogar einen falschen Zopf in ihr dunkles Haar gebunden. Meine Frankfurter Großmutter dagegen war keineswegs begeistert. Sie arbeitete als Kontoristin für einen jüdischen Getreidehändler und seine Frau. Später wanderten sie nach Amerika aus und schickten ihr nach dem Krieg, als in Frankfurt Hunger herrschte, Care-Pakete aus New York.

Jetzt würde ich einem Mann ihrer Generation begegnen, der Hitlers Unheil von der anderen Seite erlebt hatte, einem Verfolgten, einem Überlebenden. Einem Mann, der an der Columbia University Anthropologie gelehrt und Bücher über afrikanische Kunst und van Gogh geschrieben hatte. Das war eine andere Welt als die Schwarzwalddrogerie meiner Großeltern. Ich klingelte an seiner Tür und betrachtete das Teppichmuster am Boden: Die Blumen waren mittelalterlichen Motiven nachempfunden – Lilien bedeuten Reinheit, Gänseblümchen stehen für Unschuld. Disteln halten die Mächte des Bösen fern.

Als Professor Muensterberger mir die Tür öffnete und mich anlächelte, verflog meine Scheu. Der kleine Mann im karierten Jackett sah freundlich aus, eine gepflegte Erscheinung: das Hemd akkurat gebügelt, die Haare gekämmt, ein Hauch Rasierwasser umwehte ihn. Ich wusste zwar, dass er aus Deutschland kam, stellte mich aber auf Englisch vor. »Wir können auch Deutsch sprechen. Kommen Sie rein.« Es fühlte sich an wie eine Absolution. Er half mir aus meinem Mantel, kein simples Unterfangen, denn er war viel kleiner als ich und stützte sich obendrein auf einen Stock, der mit einem grünlich schimmernden Widderhorn verziert war.

In seiner Wohnung betrat ich eine andere Sphäre. Überall waren unheimliche Masken und Fetische zu sehen – an den hellbraunen Wänden, auf dem schweren Teppich und den antiken Möbeln. Über dem Esstisch hing ein rußschwarzes Relief aus Pavianschädeln und Knochen, das Relikt einer Zeremonie in der Savanne. Auf der Kommode reckte eine Orchidee ihre gefleckte Blüte zu einer Maske herüber, die nur aus drei ominösen Öffnungen bestand und abgrundtief böse wirkte. Sie erinnerte mich an Darth Vader.

Daneben erhob sich mannshoch ein schlanker, kopfloser Torso mit langem Phallus. Ein verzweigtes Wurfmesser aus dem Kongo, dessen Umriss an eine schwungvolle Kalligraphie erinnerte, stand neben dem Telefon. All diese Gegenstände besaßen eine magische, ja furchteinflößende Aura. Während Muensterberger in der Küche Tee zubereitete, ließ ich mich auf einem harten, kratzigen Samtsofa nieder, das die Farbe von vertrocknetem Moos hatte.

Ich nahm meinen Notizblock und den Kugelschreiber aus der Tasche und legte beides auf den Sofatisch, neben einen steinernen Aschenbecher, der eine Pfeife hielt. Die asymmetrische Form der Tischplatte folgte dem natürlichen Lauf des Holzstammes. Das musste ein Werk des japanisch-amerikanischen Möbeldesigners George Nakashima sein, und die wunderschönen, archaisch wirkenden Lampenfüße aus Bronze mit grüner Patina stammten vermutlich von Diego Giacometti. Allein die sind ein Vermögen wert, dachte ich und fühlte mich bei dem Gedanken ertappt, als Muensterberger etwas unsicher mit der Teekanne aus der Küche kam, die andere Hand auf den Stock gestützt. War es überhaupt möglich, vor einem Psychoanalytiker seine Gedanken zu verbergen?

Nachdem er den Tee eingeschenkt hatte, deutete er auf ein dunkelbraunes Bild mit zwei ausgefransten hellen Farbfeldern, das an Rothko erinnerte, und fragte: »Was halten Sie davon?« Es wirkte nicht so pudrig matt und pigmentgetränkt, wie ich den Maler kannte, sondern eher glattgeschmirgelt. »Rothko?« »Nein«, sagte er mit sichtlicher Befriedigung. »Das hat eine Freundin von mir gemalt. Wissen Sie, was das Bild kosten würde, wenn es von Rothko wäre?« Das wusste ich. Ich hatte kürzlich mit eigenen Augen gesehen, wie der Preis für einen Rothko immer höher kletterte, wie das Publikum im Auktionssaal ehrfürchtig erstarrte. Später stellte sich heraus, dass die Familie des Emirs von Qatar das Bild gekauft hat.

»Sie haben hier ja eine beeindruckende Sammlung«, sagte ich. »Das ist keine Sammlung«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Das sind nur ein paar Sachen, die mir gefallen. Die Ästhetik ist wichtig.«

Es klopfte an der Tür. »Yes?«, rief Muensterberger und drehte sich mühsam um. »The door is open.« Mit einem Quietschen ging die Tür auf und ein junger Mann im Jogginganzug trat mit zwei Hunden herein, die er sofort von der Leine ließ. Sie rannten schwanzwedelnd auf ihr Herrchen zu: zwei alte Langhaardackel, deren Bäuche über den Teppich schleiften.

Ich stand auf, um dem lachenden Mann die Hand zu geben, aber meine ruckartige Bewegung, vielleicht meine plötzliche Anwesenheit, ließ die Hunde ausgiebig kläffen. »Celestin Clamra«, stellte der Professor den Mann über das Gebell hinweg vor und bückte sich aus seinem Sessel hinunter, um das jüngere der beiden Tiere auf seinen Schoß zu heben. »Mandi – we have a love affair«, gurrte er dem Hund ins Ohr.

Celestin Clamra legte die Leinen über einen Stuhl an der Tür und verabschiedete sich. Er stamme aus dem Tschad, sagte Muensterberger, als die Hunde endlich Ruhe gaben, und er sei quasi sein Adoptivsohn. Er spreche sieben Sprachen.

Nicht nur über Clamra erfuhr ich noch mehr. Muensterberger erzählte von seiner Zeit an der Odenwaldschule, von Thomas Mann, bei dem er als junger Mann zu Gast gewesen sei, und von Baron Eduard von der Heydt, einem entfernten Verwandten, in dessen Haus er so manchen Sommer verbracht habe. Den Krieg erwähnte er nicht. Auch von seinen drei Ehefrauen sprach er wenig. Oft wich er meinen Fragen aus und wollte plötzlich wissen, wie alt meine Söhne seien. Doch am Ende dieses Tages hatte ich auch viel über die psychoanalytische Perspektive auf das Sammeln erfahren, über frühkindliche Traumata und das sogenannte Übergangsobjekt. Und warum eine Sammlung nie eine glückliche Liebe ist.

Zwischendurch erwähnte er immer wieder die Namen von großen Persönlichkeiten, denen er im Laufe seines Lebens begegnet war, von Picasso über Freud bis hin zu Walt Disney und Heinz Berggruen. Wie die bunten Steine eines Kaleidoskops blitzten diese Figuren auf – ein funkelndes Muster, das plötzlich verschwimmt, um sich im nächsten Moment neu zusammenzusetzen.

Am Ende unseres Gesprächs, gerade wollte ich mich verabschieden, sprach Werner Muensterberger von seinem einstigen Plan, ein Buch über Fälscher zu schreiben – dafür hatte er sogar Konrad Kujau getroffen. Aber jetzt sei er zu alt, das Material liege seit Jahren in der Schublade. Wenn es mich interessiere, könne ich es mir ja einmal anschauen. Natürlich wollte ich. Wir verabredeten einen Termin für die nächste Woche. Es sollte nicht der einzige bleiben.

Insgesamt habe ich Werner Muensterberger in den folgenden Jahren wohl mehr als hundert Mal besucht. Aus dem Mann, der so alt war wie meine Großmutter, aus dem Analytiker und dem Experten für Stammeskunst wurde ein Freund.

2011 ist er gestorben. Sein Buch über die Fälscher konnte er nicht mehr vollenden. Es sind sieben Kapitel geworden (sie sind im Anhang dieses Buches abgedruckt). In seiner letzten Lebenswoche fiel ihm noch der Titel ein: »Fälscher auf der Couch«. Nach seinem Tod sichtete ich seine Manuskripte, sortierte die Aufsätze. Und ich spürte, dass mich das Puzzle seines Lebens immer mehr zu faszinieren begann.

Erstes Kapitel

»Sie nannten mich Grünschnabel«: Kindheit und Jugend

Ist es möglich, eine fast hundert Jahre zurückliegende Kindheit zu rekonstruieren, wenn es kein Familienarchiv gibt, keine Fotoalben, keine Nachkommen und so gut wie keine erzählten Erinnerungen? Zu Beginn meiner Recherche hatte ich nur zwei Dinge: einen alten Wilhelm-Busch-Sammelband und das Kochbuch von Muensterbergers Großmutter Emilie Spiegel. Ihre Erbsensuppe fand er »unübertroffen«. Ich stellte mir vor, wie er als kleiner Junge in kurzen Hosen am Küchentisch saß und bei einem Teller Suppe »Max und Moritz« las.

Als ich ihn einmal fragte, ob Fotos aus seiner Jugend existierten, schüttelte Muensterberger den Kopf. Ich glaubte, er habe seine Alben auf der Flucht vor den Nazis verloren, und sprach ihn nicht mehr darauf an. Ein halbes Jahr nach seinem Tod fanden Clamra und ich in einer Lagerhalle in der Bronx, wo ein Teil des Nachlasses deponiert war, doch noch ein paar alte Familienfotos. Zwischen Kisten voller Textilien, Geschirr, Staubsaugern, verschiedenen Sesseln und Beistelltischen entdeckten wir einen alten Koffer mit ein paar unsortierten Fotografien, vor allem von afrikanischen Skulpturen. Darunter waren auch drei Bilder von Muensterbergers Mutter.

Auf dem frühesten, vom September1903, ist sie als anmutiges, melancholisches Wesen in einer plissierten Spitzenbluse zu sehen. Die Ärmel liegen eng an den Oberarmen an, über den Handgelenken bauscht sich der Stoff weit auf. Aufgenommen wurde das Bild im »Photographischen Atelier Esch & Stein« in Mülheim an der Ruhr. Die etwa Zwanzigjährige mit dem vollen dunklen Haar, das sie in der Mitte gescheitelt trägt, stützt ihre Hand auf ein helles Fell und blickt mit einem angedeuteten Lächeln in die Ferne. Wie lange sie wohl stillgehalten hat? Die Knöchel der einen Hand zeichnen sich weiß ab. In der anderen hält sie ein aufgeschlagenes Buch – vermutlich ein Gedichtband, die einzelnen Strophen sind nur als hellgraue Felder zu erkennen.

Bild 2: Marta Spiegel im Jahr 1903.

Mit zierlicher Handschrift und einer besonders dünnen Füllfeder hat sie die Rückseite der Fotografie neben einem Jugendstilmuster aus Seerosen beschriftet: »In treuer Freundschaft gewidmet von Deiner Marta, im Sept. 03.« Das war zehn Jahre vor Muensterbergers Geburt. Für wen das Bild bestimmt war, ist unbekannt. Zwei spätere Fotografien zeigen Marta in den Zwanzigerjahren, mit volleren Gesichtszügen. Da sieht sie erschöpft aus.

Bild 3: Die Mutter wenige Jahre vor ihrem Tod. Sie starb schon 1928 – ein traumatisches Erlebnis für den Jungen.

Werner Muensterberger wurde am 15. April 1913 im westfälischen Hörde geboren. Die kleine Stadt war seit der Industrialisierung vor allem für ihre Eisen und Stahl produzierende Hermannshütte bekannt. 1928 wurde sie eingemeindet – Dortmund zählte damit rund eine halbe Million Einwohner und war eine der größten Städte des Deutschen Reichs.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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