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Ein hinreißender Roman über Ehe, Liebe, Treue (und Europa, Vögel und den Umweltschutz) von einer amerikanischen Autorin, die seit Jahren in einem kleinen Ort in Brandenburg lebt – einer Entdeckung von Jonathan Franzen. Bis hoch hinauf zur New York Times wurde Nell Zink gefeiert als literarische Entdeckung und ihr Roman als «Debüt des Jahres» in den USA. Berner Oberland, 21. Jahrhundert. Dies und das passiert, nachdem das Auto den Felsen geschrammt hat. Tiffany ist nicht mehr schwanger. Stephen fängt, na ja, den wunderbarsten Vogel überhaupt – flink, in einer Art Tarnkleid und schön –, so einen hat er zum allerersten Mal gesichtet. Und der Mauerläufer, der Mauerläufer macht: «Twii!» Der Mauerläufer, ein rasant erzählter Entwicklungs- und Eheroman, der zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Themen wie Seitensprüngen, Vogelbeobachtung, Drogen, Kinderwunsch, Dubstep, Sex, lästigen kleinen Pflichten, Öko-Aktivismus und Orten wie Bern, Berlin, Sachsen-Anhalt und dem Balkan überraschende Brücken schlägt, ist ein vor unerhörten Einfällen sprühendes, komisches, kluges, mitunter verrücktes, freches, derbes, engagiertes, impulsives, auch zartes, melancholisches Buch. Wie der Mauerläufer – flink, in einer Art Tarnkleid und schön.
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Seitenzahl: 226
Veröffentlichungsjahr: 2016
Nell Zink
Roman
Ein hinreißender Roman über Ehe, Liebe, Treue (und Europa, Vögel und den Umweltschutz) von einer amerikanischen Autorin, die seit Jahren in einem kleinen Ort in Brandenburg lebt – einer Entdeckung von Jonathan Franzen. Bis hoch hinauf zur «New York Times» wurde Nell Zink gefeiert als literarische Entdeckung und ihr Roman als «Debüt des Jahres» in den USA.
Berner Oberland, 21. Jahrhundert. Dies und das passiert, nachdem das Auto den Felsen geschrammt hat. Tiffany ist nicht mehr schwanger. Stephen fängt, na ja, den wunderbarsten Vogel überhaupt – flink, in einer Art Tarnkleid und schön –, so einen hat er zum allerersten Mal gesichtet. Und der Mauerläufer, der Mauerläufer macht: «Twii!»
«Der Mauerläufer», ein rasant erzählter Entwicklungs- und Eheroman, der zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Themen wie Seitensprüngen, Vogelbeobachtung, Drogen, Kinderwunsch, Dubstep, Sex, lästigen kleinen Pflichten, Öko-Aktivismus und Orten wie Bern, Berlin, Sachsen-Anhalt und dem Balkan überraschende Brücken schlägt, ist ein vor unerhörten Einfällen sprühendes, komisches, kluges, mitunter verrücktes, freches, derbes, engagiertes, impulsives, auch zartes, melancholisches Buch. Wie der Mauerläufer – flink, in einer Art Tarnkleid und schön.
Nell Zink, 1964 in Kalifornien geboren, wuchs im ländlichen Virginia auf. Sie studierte am College of William and Mary Philosophie und wurde, später im Leben, in Medienwissenschaft an der Universität Tübingen promoviert. Sie lebt in Bad Belzig, südlich von Berlin.
«Der Mauerläufer» ist ihr Debüt.
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «The Wallcreeper» bei Dorothy, A Publishing Projekt, St. Louis.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Wallcreeper» Copyright © 2014 by Nell Zink.
Umschlaggestaltung ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München
ISBN 978-3-644-05101-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Motto
Ich schaute gerade ...
Als ich aufwachte ...
Unsere erste Begegnung ...
Er tat so, ...
Er warnte mich, ...
Ich hatte nicht ...
Wir hatten in ...
Am nächsten Tag ...
Nachdem Stephen die ...
Nach einer Dusche ...
Omar und seine ...
Eines Abends kam ...
Sonst war Stephen ...
Im Dezember erfolgte ...
Manchmal saß ich ...
Als meine Eltern ...
Bern war schön. ...
Wir wohnten eine ...
Unerwartet verkündete Stephen, ...
Im März wurde ...
Bald darauf ging ...
Im Winter Vögel ...
Bald darauf begann ...
Auf Elvis’ Vorschlag ...
Elvis sagte, er ...
Wir kamen bei ...
Am nächsten Tag ...
Am Montagmorgen kaufte ...
Am folgenden Samstag ...
Wir fuhren in ...
Am Telefon sagte ...
Zu Stephen sagte ...
Eines Novembermorgens um ...
Stephen und ich ...
Sein erster Lösungsansatz ...
Der schöne Elvis ...
Stephen erzählte ich ...
Die Nachricht von ...
Eines Samstags fanden ...
Als Rudi starb, ...
Während Stephen am ...
Ich schlug Stephen ...
Unsere neue Wohnung ...
Kurz nachdem wir ...
Die Wohnung lag ...
An den Wochenenden ...
Sobald Stephen wach ...
In diesem Jahr ...
Folglich bestand Stephen ...
Zu Hause in ...
Stephen meinte, mit ...
Birke druckte auf ...
Stephens Plan, die ...
Hauptsächlich finanziert wurde ...
Stephen und Birke ...
Das BUND-Zentrum in ...
Und die Global ...
Birke hatte Stephen ...
Ich beschloss, mir ...
Ein harmlos aussehender ...
Ich schaffte es.
Wir fuhren mit ...
Um sechs wachte ...
Beim Frühstück wollte ...
Birkes Vortrag war ...
Als ich dastand, ...
Nach dem erfolgreichen ...
Die Plakate hingen ...
Birke hatte keine ...
Georgs neue Praktikantin ...
Die Plakatkampagne hatte ...
Die Rheinkonferenz war, ...
Es wird viel ...
Ich bemühte mich ...
Der Hauptsitz der ...
Stephen, der unterbeschäftigte ...
Unsere Berliner Wohnung ...
Olaf, der harmlose ...
Stephen war tatsächlich ...
Für Wasserkraft? Nein ...
Es war fast ...
Freiraum, wie dir ...
Nur eine Woche ...
Weil es mir ...
Also schlich ich ...
Irgendwie kam Olaf ...
An Weihnachten telefonierte ...
Und so ergab ...
Ich erlebte den ...
Mitte April hörte ...
Ein Highlight des ...
Ich hoffte, mich ...
Ich bedauerte es, ...
Im August sollte ...
Es gibt furchtbare ...
Am Telefon behauptete ...
An diesem Abend ...
Stephen hielt sich ...
Ich flog nicht ...
Mit zweiwöchiger Verspätung ...
An der Tür ...
Ich warf mich ...
Das SO36 hatte ...
Stephen hatte einen ...
Er fing wieder ...
Nicht lange danach ...
Im Oktober kehrten ...
Als wir es ...
Ein Jäger half ...
Eine nette Krankenschwester ...
Omar rief an. ...
Gernot lud mich ...
Am zweiten Weihnachtstag, ...
Gernot kam vorbei. ...
Ich fuhr zurück ...
Monatelang lag ich ...
Ich töte, wo es mir beliebt, denn mir gehört alles.
Ted Hughes
Ich schaute gerade auf die Karte, als Stephen plötzlich ausscherte, gegen den Felsen schrammte und die Fehlgeburt verursachte. Unmittelbar auffällig war nur meine klebrige Stirn. Vielleicht war ich ein paar Sekunden lang bewusstlos, ich weiß es nicht. Irgendwann sah ich Stephen an der Wagenfront herumhantieren und sagte: «Gott, was war das denn.»
Er beugte sich zum Fenster herein und sagte: «Hey, du blutest ja. Warte mal eben.» Er ging hinter dem Auto herum, sah nach links und rechts und holte den Vogel aus dem Graben auf der anderen Seite.
Ich machte die Tür auf, stellte die Füße hinaus, erbrach mich und legte mich hin, nicht in die Kotze, aber knapp daneben. Die Tannenspitzen neben mir wurzelten auf dem Grund einer steilen Böschung.
«Kann ich diese Brottüte nehmen?», fragte Stephen. «Tiff? Tiff?» Er kniete sich neben mich. «Das war dämlich von mir. Ich sollte dich nicht berühren, nachdem ich diesen Vogel angefasst habe. Hörst du mich? Tiff?»
Er half mir auf den Rücksitz, und ich legte mich auf das Brot. Er sagte, Kopfwunden bluteten immer so. Ich sagte, das hätte er lieber für sich behalten. Ich konnte nichts mehr sehen und begann, ein bisschen zu hyperventilieren. Der Wagen setzte auf die Straße zurück. Auf dem Beifahrersitz sagte der Mauerläufer: «Twii.»
«Mach die Tüte auf!», rief ich.
«Twii!», sagte er wieder.
Stephen fuhr an den Rand und beschäftigte sich einen Moment lang mit dem Vogel. Er sagte: «Ich dachte, er wäre tot. Ich wollte ihn nur von der Straße holen. Ihn ausstopfen lassen oder so, ich weiß nicht. Du müsstest seine Flügel sehen. Endlich hab ich ihn mal gesichtet. Ein ziemlich wunderbarer Vogel. Aber es ist keine gefährdete Art, und eigentlich gibt es sie überall, nur eben nicht da, wo du normalerweise hinkommst. Ich hatte ihn schon erkannt, bevor er gegen den Wagen flog. Tichodroma muraria! Er ist wirklich unverwechselbar, genau, wie alle es gesagt haben. Großartig. Ein toter Vogel rechtfertigt kein Häkchen, wenn es nach mir geht. Aber ich habe ihn ja vor dem Aufprall erkannt. Er ist wirklich unverwechselbar. Du müsstest ihn sehen, Tiff. Ich schwafle nur so daher, weil du vielleicht eine Gehirnerschütterung hast und nicht einschlafen solltest.»
«Mach doch Musik an.»
Der Mauerläufer protestierte. «Twii!»
Ich hielt mich mit Würgen wach, und Stephen fuhr vorsichtig, aber zügig zurück nach Interlaken.
Als ich aufwachte – ich meine, als ich das nächste Mal einen Kaffee trinken durfte –, stabilisierte Stephen meine Hand an der Tasse und sagte: «Ich habe eine Überraschung für dich. Aber sie ist in der Küche.»
«Ich glaube nicht, dass ich aufstehen kann.»
«Na, hier herein kann sie jedenfalls nicht.»
«Dann wird sie wohl warten müssen.» Ich machte ein Schlürfgeräusch, und er zuckte zusammen. Ich trank leiser weiter.
«Twii», sagte der Mauerläufer.
«Du hast doch nicht etwa …!» Ich lachte. Aber mein – wie nenne ich es bloß? Mein Untenherum spielt in mehreren der folgenden Szenen eine kleine Rolle. Es schien mit meiner Bauchdecke verbunden wie mit zu strammen Gummibändern. Ich rollte mich auf die Seite und hustete. Ich war nicht mehr schwanger, fiel mir auf. Ich krallte die Hände zusammen, heulte und wälzte mich herum wie Treibholz in heftiger Brandung. Stephen legte mir die Hände auf die Ohren. Viel später erzählte er mir, er habe gedacht, wenn ich mich nicht mehr hören könnte, würde ich aufhören. Er sagte, er habe sich an Rückkopplungen in einem Verstärker erinnert gefühlt.
Unsere erste Begegnung hat eine Straftat verhindert. Er sah mich vor der offenen Tresortür stehen. Ich stand mit vorgeschobenen Hüften, den Arm voller Akten, ein zartes Füßchen im Ballettslipper rieb über den Spann des anderen, mein Faltenrock war knielang und meine Bluse weiß und weit geschnitten, und ich dachte: Wenn ich schnell bin, kann ich mir die Akten über das Zeug schnappen, das sie zum Einschläfern von Psychotikern benutzen, und binnen zehn Sekunden die Treppe runter sein. Ich war Schreibkraft bei einem Pharmaunternehmen in Philadelphia. Der Tresor war die Gruft, in der die Leichen lagen, und niemand war zu sehen. Außer Stephen, der auf mich zukam und nach meinem Namen fragte.
«Tiffany», sagte er. «Das bezeichnet eine göttliche Offenbarung. Von Theophanie.»
«Es bezeichnet einen Lampenschirm», sagte ich. «Eine Möglichkeit, das Problem zu umgehen, wie man sein Licht unter den Scheffel stellt. Licht und Scheffel sind eins.»
Er blieb trotzdem stehen. Es war einer dieser Momente, wo du denkst: Wir zwei vögeln ganz bestimmt mal. Aber es mochte noch ein Weilchen dauern, denn Stephen sah genauso respektabel aus wie ich.
Er war zum Vorstellungsgespräch für einen Job in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Bern gekommen.
Er tat so, als wäre ich wirklich anspruchsvoll und schwer zu erobern. Er umwarb mich mit allem, was ich jemals lobend erwähnt hatte: Little-Debbie-Marshmallowkuchen, Brunnenkresse, die Rieslinge, die unserem gemeinsamen Idol Richard Nixon den Gaumen kitzelten (ein Witz), oder Alban Berg (ein Witz, den er nicht kapierte). Er hatte nicht vor, allein nach Bern zu ziehen.
Meine Eltern waren sich einig. «Eine gute Partie», sagten sie. Sie legten mich ihm gleichsam ins Bett. Also hatten wir den ersten Sex auf ihrem Ausziehsofa. Er war schön. Es war hypnotisch. Ich war hin und weg.
Er warnte mich, seine Eltern seien unkonventionell. Sein Vater setzte mich auf den Angelsteg hinter ihrem Haus und riet mir zu einem Selbstmordpakt, der an Stephens fünfzigstem Geburtstag eingelöst werden sollte. Ich sagte: «Wenn ich so lange durchhalte», was die richtige Antwort war. Seine Mutter hatte es an diesem Wochenende nicht nach Hause geschafft. Wir heirateten im Orphan’s Court. Von der Gruft bis zum Altar dauerte es drei Wochen. Wir sprachen nicht viel über das, was wir da taten. Wir hatten eine Abmachung.
Ich hatte nicht schwanger werden wollen. So etwas passiert einfach, wenn Frischverheiratete sich betrinken. Aber es schien wie etwas, an das ich mich gewöhnen könnte. Das Baby zu verlieren war dann fataler, als ich es mir ausgemalt hätte. Es gab keinerlei Bezug zwischen Ursache und Wirkung. Der Wirkung war ich überhaupt nicht gewachsen. Vorne und hinten nicht. Sie war eine körperliche Qual. Ich konnte das nicht in Worte fassen. Also tat ich es nicht. Stephen saß auf der Bettkante, sah mich an, hielt mir die Hand, kuschelte sich dann zu mir unter die Decke. Ich war nicht niedergeschlagen. Ich tat mir nicht einmal leid. Ich ließ das Ereignis gar nicht an mich heran. Wenn ich etwas an mich heranlasse, werde ich schnell sentimental. Also tat ich es nicht. Ich bewegte mich in Zeitlupe und schaute mir Dinge an, bevor ich sie berührte, um sicherzustellen, dass nichts Furchteinflößendes daran war. In meinem Kopf herrschte Ebbe. Ich wollte in gedämpften Tönen des Mitleids angesprochen werden, sogar von mir selbst. Ich wollte aus dem Nebenzimmer mein eigenes Flüstern hören und wissen, dass ich an mich dachte.
Wir hatten in Bern noch keine richtigen Freunde, aber Stephens Kollege Omar kam vorbei, um sich den Mauerläufer anzuschauen. Omar arbeitete im Bereich Tiergesundheit, deshalb kannte er sich mit Vögeln aus. Außerdem hatte er mit Pharmazeutika zu tun, deshalb konnte er ein Geheimnis für sich behalten. Er erzählte Stephen, dass der Vogel nie wieder fliegen werde und dass es nicht gerade clever gewesen sei, ihn aus seinem natürlichen Umfeld zu entfernen.
Am nächsten Tag stand ich auf und ging in die Küche. Der Mauerläufer flog durch den Raum, prallte gegen das Fenster und lag da. Dann kam er hoch wie schon zuvor und sagte: «Twii.» Er sprang auf die Füße wie ein kleiner Karate-Schwarzgürtel, der nach einem Sturz wieder aufschnellt. Er zuckte einmal mit den Flügeln und streckte die Zunge nach einem Leinsamen auf dem Boden aus.
«Ich mache mir Sorgen um ihn», sagte ich am Telefon zu Stephen. «Er findet keinen Halt an der Wand. Er braucht Stecktafeln. Dann könnten wir ihn füttern. Wir könnten Insekten in die Schlitze darin tun. Es missfällt mir, dass du ihn mit Speck fütterst oder was auch immer das an der Wand ist. Was soll das? Er wird die Reißzwecken herausstochern und sich verletzen. Wir müssen ihm Insekten geben, um ihn auf die Auswilderung vorzubereiten.»
«Wenn er uns abhaut, sehen wir ihn nie wieder», sagte Stephen. «Warum gehst du nicht los und kaufst Vorhänge? Besorg weiße. Das wird ihn davon abhalten, aus dem Fenster fliegen zu wollen. Es fällt sonst auf, wenn er dauernd herumflattert.» Was stimmte. Er flog wie ein gigantischer Schmetterling oder ein kleiner Paradiesvogel, oder wie ein Spielzeugpropeller an einem Drachenschwanz.
«Mach ihm Rühreier», fügte Stephen noch hinzu. «Was immer in Eiern ist, muss auch in Vögeln sein. Entspann dich, bis ich zu Hause bin.»
Nachdem Stephen die Vorhänge gesehen und die Stecktafeln an die Wand geschraubt hatte, wollte er im Stehen in der Küche Sex. Das Ereignis war drei Wochen her.
Wir küssten uns, aber mein Was-auch-immer war noch nicht verheilt. Es war heiß und trocken. (Ich meine mein Hirn.) Ich stand einfach bekümmert und unbeteiligt da, während er auf die Knie ging und mich leckte, wobei er mir einen Finger rhythmisch gegen das Arschloch drückte und mir im Gegenrhythmus über den Oberschenkel strich. Ich war traurig. Seine unbeholfenen Hände erinnerten mich an die Flammen rings um Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen. Ich wusste, sobald wir richtig vögelten, würde ich mich besser fühlen. Doch das war, bevor er sich mit der Hand, gefolgt von seinem Penis, langsam in meinen Hintern Einlass verschaffte und die Metapher des Autodafés zur dichten Beschreibung eines Schisses wurde.
Nun hatte ich mein Leben lang davon phantasiert, sexuell auf jede im jeweiligen Moment erdenkliche Weise benutzt zu werden. Wie naiv ich doch gewesen war, sagte ich mir jetzt. In Wirklichkeit war es so, als benutzte man eine Bettpfanne auf dem Küchentresen. Ich wusste mit Sicherheit, dass «Schmerz» ein noch viel windigerer Euphemismus ist als «Entehrung». Sieh dir Stephen an! Er glaubt, er hätte Sex! Riech an seiner Hand! Sie berührt gerade dein Haar! Ich dachte: Tiff, meine Freundin, wir modifizieren uns einen Lockenstab und brennen dir das aus dem Hirn. Aber ich sagte nichts. Ich verhielt mich wie in diesen Teenager-Feministinnengedichten, wo es gleich Vergewaltigung ist, wenn er dir nicht die Antioch-College-Dating-Benimmregeln von A bis Z vorliest, während du enttäuscht feststellst, dass du keine Regenbögen siehst. Ich kämpfte noch damit, mich in eine außerkörperliche Erfahrung zu beamen, als Stephen röhrend wie ein Dinosaurier kam.
Ich schnappte nach Luft, fürchtete mich vor dem Moment, da er ihn herausziehen würde, und dachte: Mädchen sind eben Schwachmaten.
Nach einer Dusche mit Phantasien von Natriumphosphat in pharmazeutischer Qualität und nichts anderem zur Hand als mildem, pH-negativem Duschgel hatte ich mich genügend berappelt … Eigentlich hatte ich mich von allem berappelt! Ich war nicht mehr verliebt! Das Gefühl, mit meinem Glück von Stephen abhängig zu sein, hatte sich verflüchtigt. Außerdem hatte ich meine Furcht vor der Intimität verloren. Jede Intimität war verschwunden. Es war mir egal, ob Stephen mich jemals verstehen würde. Das wusste ich ganz genau. Ich hatte es mir soeben bewiesen.
Darüber hinaus empfand ich eine beinahe nostalgische Sehnsucht nach meinen gesellschaftlich akzeptierten Qualen mit tieferem Bezug zur Fortpflanzung. (Wie ich lernen musste, hält der Drang, sich fortzupflanzen, als Alibi für so gut wie alles her.) Mir fielen Dinge ein, die ich im Krankenhaus gesehen hatte und die Euphemismen nicht zuließen – bestimmte krasse naturbedingte Ereignisse, die die Sprache selbst diskreditieren, einfach weil niemand irgendwo, niemand auf der ganzen Welt jemals auf die Idee käme, sie würden Spaß machen. Unauslöschliche Momente ohne den geringsten Tauschwert.
Ich ging ins Bett und schob mir, darüber nachdenkend, Kissen unter den Rücken. Stephen kam aus der Dusche und stand nackt in der Tür. Er strahlte wie ein junger Gott, voll verschämter Freude. «War ich sehr schlimm?», fragte er.
«Ganz, ganz schlimm», sagte ich. Er kniete sich auf meine Brust, und am Ende fickte er mich mehr oder weniger in den Mund. Er war hemmungslos, im Sinne von rücksichtslos. Ich fühlte mich wie Kaiserin Theodora. Kann ich noch mehr Körperöffnungen kriegen?, dachte ich. Wird etwa darauf in der Historia Arcana angespielt – nicht dass drei nicht ausreichen würden, sondern dass drei zur Erhaltung einer Ehe nicht ausreichen?
Omar und seine Frau luden uns zum Dinner ein. Sie servierte leckeres ungewohntes Essen und ließ uns auf bequemen unvertrauten Polstern sitzen. Sie erkundigte sich nach dem Mauerläufer.
«Er ist schön», sagte Stephen. «Also, nicht so extravagant wie Enten oder so apart wie Säbelschnäbler –»
«Extravagante Enten?», warf Omar ein. Er kam aus Asien.
«Hier gibt es eine Menge extravagante Enten», sprang ich Stephen bei. «Relativ gesehen.»
Stephen sagte: «Also gut, ich meine, dass er so eine grundlegende Dualität hat. Er ist winzig und grau, und du würdest ihn nie bemerken – aber dann diese Flügel. Holla. Die müsstest du mal sehen.» Er spreizte die Hände wie Fängerhandschuhe und schüttelte sie, um seiner Unfähigkeit, den Mauerläufer zu verstehen, Ausdruck zu verleihen. Seine Geste war die eines verzweifelten Gebets, bloß hob er dabei nicht den Blick, wie um zu sagen: Da kann einem keiner helfen, nicht einmal ich.
Aber die Geste wirkte. Omars Frau lehnte sich zurück und nickte. Sie glaubte an den Mauerläufer.
Eines Abends kam Stephen nach Hause und war sauer auf Omar, der ihm erzählt hatte, welche Zoos Mauerläufer hielten. Omar meinte, wir kämen straffrei davon, wenn wir Rudolf freiwillig abgäben. Er betonte noch einmal, dass in Asien sogar die Eichhörnchen extravagant buntscheckig seien und dass niemand sein Herz nur wegen des Aussehens an ein Wildtier verlieren solle. Zu Omars Job gehörte es, dass er in Käfigen gehaltenen Beagles verschiedene Futtermischungen gab, um herauszufinden, welche am längsten überlebten. Der Laborrekord lag bei vierzehn Jahren.
Sonst war Stephen nie sauer auf Kollegen. Er kam mit Vorgesetzten und Untergebenen gleich gut klar. Alle mochten ihn. Sie mochten seine Beiträge zur Arbeit an dem neuen Stent. Sie bewunderten seine hübsche Frau mit den gediegenen, nach orthodoxer Jüdin aussehenden Outfits, aber hey, was konnte die dafür, dass Amerikaner sich so stillos kleiden. Sie wunderten sich über die Schwangerschaft, die, kaum angekündigt, schon wieder beendet war. Aber von einer Sache erzählte er ihnen nie: den Vögeln. Die Firma beschäftigte erfahrene Steuerfluchtberater, halbwegs im Verborgenen auf dem grauen Markt tätige Over-the-Counter-Piraten, charmante Old-School-Strippenzieher, die Multimillionen-Dollar-Strafen dafür, dass sie Risiken eingegangen waren, an denen Leute starben, mit einem Lachen abtaten, und PR-Schreiberlinge, die Nelson Mandela Drohbriefe wegen seiner nationalen Gesundheitsvorsorge schickten. Sie praktizierten siebenundzwanzig verschiedene Arten der Bilanzkosmetik, und ich hatte zu jeder einzelnen Briefe getippt. Aber selbst der Tierarzt in der Arzneimittelzulassung, der sein Leben damit verbrachte, an einem Kinderbuch über Opern singende Kätzchen herumzufrickeln, war weniger klandestin als Stephen. Keiner in der Firma wusste, dass Stephen Vögel beobachtete, nicht einmal Omars Frau. Ich selbst erfuhr erst davon, als er mir mein Hochzeitsgeschenk in die Hand drückte: ein Zweitausend-Dollar-Fernglas.
Was haben wir an diesem Tag da irgendwo hinter Interlaken überhaupt gemacht? Stephen mit Anglerhut, Fernglas, Kameraausrüstung, Photoskop und Stativ auf dem Rücken, ich mit Anglerhut, Fernglas und Picknickkorb, schlichen wir dort herum wie Diebe, die eine ganze Landschaft ausbaldowern. Fuhren einen schnaufenden VW-Diesel höher hinauf als erlaubt, durch Gatter und über Viehgitter bis zu einer privaten Alm, weil Vögel Autos lieben und Menschen hassen. Dann wieder hinunter mit einem Braunkehlchen, einem Würger, zwei Falken und einer Alpenkrähe, keine große Ausbeute, bis wir die ungefährdete Art gefährdeten.
Im Dezember erfolgte ein Kälteeinbruch, und Stephen kam aufgeregt nach Hause. «Es gibt eine Evasion», sagte er. «Wir müssen nach Norden.» Alle möglichen Arten, Vögel von weit, weit her, die in Ländern wie Dänemark überwinterten, hatten beschlossen, dass es selbst in Holland zu kalt war, und zogen kleckerweise südwärts, um sich in großen Strudeln um Zürich herum zu sammeln, nachdem sie die Alpen gesichtet hatten.
«Ach, fahr du nur allein», sagte ich. «Ich lese gerade ein Buch, von dem ein Typ in der Times geschwärmt hat. Es heißt Der Mann, der seine Kinder liebte.»
«Mein Schatz», sagte er. Er setzte sich zu mir und legte mir den Arm um die Schulter. «Es tut mir so leid.»
«Nein, nein!», sagte ich. «Es ist nicht so, wie du denkst. Er hat sieben Kinder, und er hasst sie. Er will mit Rassenhygiene und Euthanasie die Welt retten. Ich könnte schon mitkommen. Aber bist du dir wirklich sicher, dass ich das ganze Wochenende auf festgefrorener Erde herumstolpern muss, bloß um dir dabei zu helfen, dein Stativ auszurichten?»
«Wir könnten es stattdessen auch noch mal versuchen», sagte er. «Sex-Party-Wochenende.»
«Ich bin immer noch ganz wund», sagte ich. «Fahr nur.»
«Twii», warf der Mauerläufer ein. «Twii!»
«Ist es schon Zeit für sein Abendfutter?», fragte ich.
«Das wird noch schlimmer werden», sagte Stephen. «Weißt du, was gerade mit seinen Keimdrüsen passiert?»
«Nein.»
«Während sein Kinngefieder schwarz wird, schwellen seine Hoden von Stecknadelgröße zur geballten, schweren Masse von Kaffeebohnen an.»
«Wow», sagte ich.
Er küsste mich. «Sein winziges Herz schlägt für jemanden, den er noch nie gesehen hat. Ich liebe dich auch, weißt du?» Er nahm mich in den Arm und drückte mich fest. «Ich liebe dich sehr, Tiffany.» Der Mauerläufer protestierte. «Reg dich ab, Rudolf», sagte Stephen.
Er hatte unseren Vogel nach Rudolf Heß benannt, weil seine Farben denen der Naziflagge entsprachen, im Frühling mit dem Schwarz der SS am Kinn. Um eine gewisse Toleranz zumindest für die Form dieses Witzes anzudeuten, wenngleich ich mich gegen seinen Inhalt verwahrte, sah ich mich zu dem Gegenvorschlag gezwungen, dass wir ihn nach einem Anarcho-Kommunisten benannten, und kam ohne Nachdenken auf Buenaventura Durruti. Aber Rudolf setzte sich durch. Deshalb hieß er jetzt Rudolf Durruti.
Manchmal saß ich da, ließ Sätze, die Stephen während unserer stürmischen Balz gesagt hatte, Revue passieren und fügte sie in einen Zusammenhang ein, den ich nur langsam erfasste. Es war schwer. Er hatte mir so wenig von sich erzählt, darauf versessen, wie er nun einmal war, sich meine kleinen Schwächen zu merken, damit er mich zum Beispiel mit Karten für Bergs Lulu überraschen konnte.
Die Vögel gehörten zu Stephens Intimsphäre. Über Vögel brauchte er weder cool noch albern oder auch nur werbend zu reden. Mit «Brüten und Futtern» beschrieb er ihren Lebensstil, was klang, als wären sie sexbesessene Vielfraße (also Menschen) statt der luftleichten Saison-Orgiasten, die sie in Wirklichkeit waren – lächerlich tragische Tiere, die beim geringsten Anzeichen von Schlechtwetter in Panik flohen, monatelang schrien, um Reviere von der Größe eines Squashfeldes zu verteidigen, schnellen, nerdigen Sex hatten, haufenweise Eier für Raubtiere legten und hilflos falsche Entscheidungen trafen, mit dem Resultat, dass sie erfroren, ertranken, verhungerten oder, zu erschöpft, um sich noch vom Fleck zu rühren, auf gefrorenen Seen von Jägern gestellt wurden.
Für Stephen waren sie der Inbegriff einer unersättlichen, elementaren Gier. Ich sah sie anders. Ich stellte mir zwei Enten vor, loyale Partner. Wenn die Jäger sie stellten, würden sie ihnen wohl händchenhaltend entgegentreten? Zum Teufel, nein. Sie würden sich wie Fliegen in ebenso viele Richtungen zerstreuen, wie Enten da waren. Der getroffene Enterich würde mit letzter Kraft zu seiner Lebenspartnerin hochschauen, und die würde den Kopf schütteln, wie um zu sagen: «Sei jetzt bloß still. Mach mich ja nicht fertig, nur weil du stirbst.» Die Liebe besiegt eben alles.
Als meine Eltern und meine Schwester zu Weihnachten anreisten, kam ich endlich einmal vor die Tür, um mir die Altstadt anzusehen. Ich ging mit meinen Eltern auf den Handwerkermarkt, damit Stephen mit meiner Schwester schlafen konnte. Sie jobbte als Bikini-Barista im Großraum Seattle und verlustierte sich gern. Aber er schlief nicht mit ihr. Das fuchste sie. Sie kam nur im Höschen in unser Schlafzimmer und erkundigte sich, ob sie meinen Bademantel ausleihen könne. Stephen sah ungefähr eine Viertelsekunde lang auf.
Bern war schön. Es gab Kolonnaden wie in Bologna und Boutiquen wie in New York. Auf drei Seiten fiel die rechtwinklig gebaute Stadt zu einem ungezähmten Fluss in einer Schlucht hin ab. Der Fluss umschloss sie wie eine Fruchtblase. Über die Brücke stolzierten Bären von Ufer zu Ufer. Die Stadt war zu klein, als dass man sich hätte richtig darin bewegen können. Man konnte sich quasi nur an Ort und Stelle umdrehen. Vom Kirchturm aus überblickte man sie komplett. Jeden Winkel. Mit meiner Schwester ging ich in Cafés. Sie meinte, sie würde Stephen sofort heiraten, aber in Bern liebkosten ihre Blicke alles und jeden. Alles in Bern hatte so eine zarte Textur, die üppige Interieurs verhieß. Nichts war nur Fassade. Es war durch und durch sauber «auf immer und ewig», wie die Erde in Whitmans «Der Kompost». Zu Stephen sagte ich, dort wolle ich wohnen. Er behauptete, in der Altstadt könne man keine Waschmaschine haben, weil das Rohrleitungssystem mittelalterlich sei.
Wir wohnten eine Viertelstunde von der Berner Innenstadt entfernt. Unser Tramhalt befand sich neben einer Tankstelle, wo Elvis, der Montenegriner, hinter dem Tresen stand und Bier und Süßigkeiten verkaufte. Seine Schicht endete ungefähr, wenn Stephen zur Arbeit ging. Jeden Tag kaufte ich dort die International Herald Tribune.