Der Milchhof – Das Rauschen der Brandung - Regine Kölpin - E-Book

Der Milchhof – Das Rauschen der Brandung E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

"Unsere Milch ist weißes Gold – machen wir das Beste daraus!" Salzige Luft, Meeresrauschen und die Stürme des Lebens ... Der große Auftakt der neuen gefühlvollen Nordsee-Familiensaga der SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin. Friesische Wehde 1890: Die Bauerntochter Lina hat ihren Mann Thees nicht aus Liebe geheiratet, aber er ist der Richtige, um den Milchhof der Familie zu übernehmen und zusammen mit Linas Vater eine Privatmolkerei zu gründen. Als Obermeier stellen sie Derk Voigt ein, der zuvor in Dresden in der berühmten Pfunds-Molkerei tätig war. Er verliebt sich auf Anhieb in Lina – und sie sich in ihn. Als verheiratete Frau ist Lina für ihn jedoch unerreichbar, und Lina würde es nie wagen, die Ehe zu brechen. Dafür kommen sich die beiden auf andere Weise näher, denn Lina entwickelt ein großes Interesse an der Molkerei und am technischen Fortschritt, worüber sie sich oft mit Derk austauscht. Sie arbeiten hart, und die Molkerei floriert. Doch dann erkrankt Thees schwer, und Lina steht als Frau allein vor der Aufgabe, den Betrieb zu führen. Mit Derk an ihrer Seite schafft sie es dennoch, sich gegen alle Widerstände durchzusetzen. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, müssen die Männer an die Front. Lina und ihre Tochter Alea bleiben allein zurück. Beide wissen, dass ihnen schwere Zeiten bevorstehen. Doch ob sie es gemeinsam schaffen können, die Molkerei zu erhalten, ist ungewiss.  Vor der atmosphärischen Kulisse einer privaten Molkerei an der Nordseeküste entfalten sich in der »Milchhof«-Saga die Schicksale von drei starken Frauen aus drei Generationen im Wandel der Zeit.

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Das Projekt wurde gefördert mit dem Stipendium Neustart Kultur.

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Lektorat: Christine Neumann

Covergestaltung: t. mutzenbach design, München

Covermotiv: Arcangel / Joanna Czogala und Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Verzeichnis der wichtigsten Personen

Familie Harms/Bleeker

Mitarbeiter und andere

Teil 1

1890–1897

Kapitel 1

Oktober 1890

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

November 1890

Kapitel 7

Kapitel 8

März 1891

Kapitel 9

April – Mai 1891

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Oktober 1891

Kapitel 13

Kapitel 14

April 1893

Kapitel 15

April 1893

Kapitel 16

November 1897

Kapitel 17

November 1897

Kapitel 18

Dezember 1897

Teil 2

1900–1914

Kapitel 19

Januar 1900

Kapitel 20

Ende Januar 1900

Kapitel 21

Februar 1900

Kapitel 22

März-April 1901

Kapitel 23

Juli 1905

Kapitel 24

Oktober 1906

Kapitel 25

November 1906

Kapitel 26

Juni-Oktober 1908

Kapitel 27

November 1908

Kapitel 28

Februar-Juni 1914

Zur Saga und Danksagung

Literaturnachweise

Internetseiten

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der wichtigsten Personen

Familie Harms/Bleeker

Lina Bleeker, geb. Harms – Erbin des Milchhofs und Ehefrau von Thees

Thees Bleeker – Ehemann von Lina

Eibo Harms – Vater von Lina und Gründer der Molkerei

Wilko Bleeker – erstgeborener Sohn von Lina und Thees

Ludger Bleeker – zweiter Sohn von Lina und Thees

Alea Bleeker – Tochter von Lina und Thees

Mitarbeiter und andere

Derk Voigt – Obermeier auf dem Milchhof

Talke Voigt, geb. Janßen – Nachbarstochter und Ehefrau von Derk

Antke Voigt – Tochter von Talke und Derk

Mathilde – Große Magd und Vertraute von Lina

Suntje Doden – Kleine Magd

Karl Doden – Bruder von Suntje

Sophie – Kleine Magd

Gertje – Hausmädchen

Hilda Brader – junge Frau aus Dresden

Teil 1

1890–1897

Kapitel 1

Oktober 1890

Lina mochte es, die erhitzte Milch im Bottich zu rühren. Die Dickette hatte sich nach der Zugabe von Lab und Milchsäurebakterien wunderbar ausgebildet und nun galt es, die Masse in Bewegung zu halten und dabei mit der Käseharfe zu schneiden, bis genug Bruch vorhanden war und sie einen Teil der Molke ablassen konnte.

Sie fuhr zusammen, als sie Türenschlagen hörte. Kurz darauf ertönte ein verhaltenes Wimmern, das schwacher wurde, während sich Schritte auf dem Hof entfernten.

Das war Suntje, schoss es Lina durch den Kopf. Das junge Ding zählte erst sechzehn Lenze und war als Kleine Magd noch neu auf dem Gehöft. Suntje Doden plagte das Heimweh. Sie war oft weinerlich und wurde von den Arbeiterinnen, die aus Ellenserdammersiel, Bockhorn oder Steinhausen als Aushilfe auf den Hof kamen, gehänselt. Aber darum konnte Lina sich nicht auch noch kümmern, sie hatte wahrlich genug mit der Käserei zu tun. Da sie für ihren wunderbaren Käse und die gute Butter bekannt waren, wurde ihre Landwirtschaft häufig auch als Milchhof tituliert.

Lina liebte die Arbeit in der Käserei. Weil sie nichts mehr hörte, nahm sie ihre Arbeit wieder auf und rührte weiter. Sie prüfte die Konsistenz. Es wurde Zeit, die Molke abzulassen, die dann als Futter für die Schweine und Kälber diente. Auf dem Hof wurde nichts weggeschmissen, Lebensmittel waren ein kostbares Gut.

Nachdem Lina die Flüssigkeit reduziert hatte, kontrollierte sie den Bruch. Er war schon sehr gut. Nun kam noch einmal sechzig Grad warmes Wasser dazu, und sie betätigte die Käseharfe weiter. Bis der Bruch zur weiteren Verarbeitung fertig war, dauerte es. Später würde Mathilde, ihre Große Magd, wunderbare Laibe daraus formen und sie in die Formen legen, bevor sie in einer Salzlake ruhen durften, um danach bei kühlen Temperaturen im Keller zu reifen.

Die Käsesorten vom Milchhof waren inzwischen in der ganzen Friesischen Wehde beliebt, denn jede Sorte hatte ihren eigenen und unverwechselbaren Geschmack. Je nach Reifegrad oder der Zugabe von unterschiedlichen Beigaben wie Kräutern oder Bockshornklee schmeckten sie speziell. Die Butter galt als besonders sämig, weil sie nur erstklassige Milch verwendeten.

Die Tür klackte, und Mathilde trat ein. »Der gnädige Herr ist noch nicht aus Oldenburg zurück«, sagte sie. »Ich frage mich, warum er nicht die Eisenbahn nimmt, sondern stets mit der Kutsche fährt. Er wäre doch viel schneller zurück.«

Lina zuckte mit den Schultern, so gut sie es mit der Käseharfe in der Hand vermochte. »Er ist eben stur, das weißt du. Wenn er jetzt noch nicht wieder da ist, wird es in Oldenburg wohl hoch hergehen. Vader sollte wirklich darüber nachdenken, ob eine Molkereigenossenschaft auch etwas für uns hier wäre. Man sieht ja, dass es anderswo funktioniert.«

Lina ignorierte Mathildes skeptischen Blick. Den Vater durfte kein Mädchen auf diese Weise kritisieren.

»Es wird eine Lösung geben, da bin ich sicher«, erwiderte Mathilde diplomatisch und betrachtete die Dickette mit fachmännischem Blick. »Ich kann das jetzt übernehmen und forme dann später auch die Laibe.« Sie musterte Lina. »Ziehst du dich schon mal um? Du weißt, dass dein Vater es nicht schätzt, wenn du in der Käserei mitmischst.«

»Das ist mir egal, wie du weißt. Die Milch und der Käse sind mein Leben! Wenn Vader zur Milchweiterverarbeitung einen Zusammenschluss mit den anderen Bauern ablehnt, sollte er den Fortschritt nutzen und eine eigene Molkerei gründen. Wir haben das Wissen und die Fähigkeiten, ganz vorn zu sein!«, entfuhr es Lina. »Ich habe in der Zeitung für Milchwirtschaft gelesen, dass es neben den Genossenschaftsmolkereien auch viele private gibt. Wie die Pfunds Molkerei in Dresden. Die arbeiten sogar sehr zukunftsorientiert, stand in dem Bericht. Unser Milchhof könnte bis nach Wilhelmshaven und Mitteldeutschland liefern, und es wäre möglich, das auch über das Schienennetz noch auszuweiten.«

»Mädchen sollten nicht lesen«, tadelte Mathilde. »Das setzt dir nur Flausen in den Kopf, min Deern. Du solltest dich besser mit ein paar Stickarbeiten auf deine anstehende Hochzeit vorbereiten.«

Lina lachte auf und rührte die Käseharfe etwas schneller. »Ich stelle lieber Butter und Käse her. Das kann ich richtig gut. Ich bin Bäuerin. Sticken ist nichts für meine groben Finger. Womöglich möchtest du mich auch noch in ein Korsett stecken. Diese schrecklichen Kleider, die die Reichen und Städterinnen tragen, sind mir ein Graus. Wie sehen die Frauen darin überhaupt aus? Wie Bohnenstangen – und unnatürlich!«

Mathilde musste sich ein Schmunzeln sichtlich verkneifen. »Du hast auch ohne diese Quetscher eine wunderbare Wespentaille, andere müssen sie mühsam zaubern.«

»Das sagt Thees auch immer«, antwortete Lina mit einem Seufzen. Ihr Verlobter betonte stets sehr, dass er stolz auf seine hübsche Verlobte wäre und dass er sich freute, sie bald in feinen Kleidern anzuschauen. Er hatte eben Sinn für das Schöne. Und – er konnte unglaublich gut küssen. Auch wenn Lina keine Vergleiche ziehen konnte, wusste sie, dass es so war, denn wenn sich ihre Lippen berührten, wurden ihre Knie weicher als Pudding, und sie war stets einen Moment lang versucht, ihm mehr zu geben, als sich schickte. Sonst aber war es schwierig mit ihnen, denn sie waren eigentlich nie einer Meinung.

»Du solltest nach unserer Eheschließung nicht mehr im Stall oder in der Käserei schuften«, sagte Thees, genau wie Linas Vater, ein ums andere Mal. »Ich werde dafür sorgen, dass du mehr Müßiggang hast und dich für mich schön machst.«

Lina hatte bislang dazu geschwiegen, weil sie keinen Ärger wollte, überlegte aber, wie sie ihrem Verlobten deutlich machen konnte, dass sie keineswegs vorhatte, die Hände in den Schoß zu legen, weil es sie abstieß, den ganzen Tag nur herumzusitzen. Sie wollte etwas Sinnvolles tun, ihre Fähigkeiten nutzen und Käse herstellen. Neue und schmackhafte Sorten austüfteln und sie nicht nur in der Friesischen Wehde verkaufen. Oder die Butter verfeinern. Es gab so viele Möglichkeiten.

Lina war davon überzeugt, dass eine Molkerei in dieser Region eine große Zukunft hatte. Wenn sie doch nur ihren Vater von dieser Idee überzeugen könnte! Sie hoffte, dass die Landwirte bei der Besprechung in Oldenburg einen guten Einfluss auf ihren Vater ausüben würden.

Sie seufzte, denn ihr stand an Thees’ Seite mit seinem gesellschaftlich gehobenen Stand vermutlich keine Zukunft als Geschäftsfrau bevor. Sie würde ihm viele Kinder gebären und sich um andere Dinge als die Käseherstellung oder das Buttern kümmern müssen.

Aber Lina ehrte es, dass ausgerechnet Thees, einer der Söhne der renommierten Klinkerei Bleeker in Bockhorn, sie ausgewählt und umworben hatte, denn es gab nicht wenige Frauen, die sich ein Leben an seiner Seite ausmalten. Lina machte sich allerdings nichts vor: Sein Werben hatte auch mit der Aussicht zu tun, dass er später den Milchhof, oder wie er beharrte, den Harms-Hof, übernehmen konnte. Denn wegen der beiden älteren Brüder gab es im elterlichen Betrieb keine Zukunft für ihn, und sie war als einzige Tochter des größten Gehöfts in der Umgebung, das sie als Frau unmöglich allein leiten konnte, durchaus eine gute Partie.

Eine Alternative zu Thees Bleeker gab es für Lina nicht. Ihr Vater hatte ihn für sie gewählt; sie hätte es schlechter treffen können. Thees sah gut aus und war überaus charmant, warum hätte sie seinen Antrag also ablehnen sollen, auch wenn keine Liebe im Spiel war? Wo gab es das schon? Ehen wurden ringsum von den Eltern arrangiert, und sie hatte gelernt, dass es oft besser war, dem kleineren Übel zuzustimmen, als sich dem Vater zu widersetzen. Nachher hätte er noch einen alten Widerling angeschleppt, um sie unter die Haube zu bringen. Da war es so besser. Also wurde sie nun Thees Bleekers Ehefrau. Im März war die Hochzeit, halb Bockhorn und halb Ellenserdammersiel würden kommen. Auf dieses große Fest freuten sich alle.

»Nun sieh zu, dass du ins Haus kommst, damit du dich bis zum Abendessen frisch machen kannst!«, riss Mathilde Lina aus ihren Gedanken. »Und vergiss diese Molkerei. Da müsste man doch erst Fertigungshallen bauen und Leute einstellen … Es ist absurd, das auch nur in Erwägung zu ziehen.«

Lina lächelte verzückt und ignorierte die letzte Bemerkung, denn sie fand es nicht absurd, sondern fesselnd. »Ja, wir würden Arbeitsplätze schaffen«, ereiferte sie sich. »Zu anständigen Bedingungen. Vernünftige Arbeitszeiten, Krankheitsschutz. All so was.«

Mathilde schüttelte schon wieder den Kopf. »Das funktioniert doch nicht, wenn viele Arbeiter für den Gewinn schuften müssen. Dann zählt nur der Ertrag, das glaub mir! Schau, selbst bei uns auf dem Hof arbeiten wir bis zu vierzehn Stunden am Tag. Sonst wäre das gar nicht zu schaffen.« Sie machte eine kurze Pause. »Am 1. Mai sind 100 000 Menschen in ganz Deutschland wegen besserer Arbeitsbedingungen auf der Straße gewesen. Geholfen hat es nichts. Es gab Entlassungen und Aussperrungen. Ausgerechnet in unserem kleinen Ellenserdammersiel möchtest du also die Welt verändern?«

Lina legte den Kopf schief. »Oh, du scheinst ja auch zu lesen, Mathilde.«

Die Magd räusperte sich. »Na ja … Und wie kommst du an die Zeitschrift, aus der du dein Wissen nimmst?«

Lina spürte, wie sie rot anlief. »Ich leihe mir die Molkerei-Zeitung ab und zu aus dem Kontor, schau sie am Abend heimlich durch und lege sie dann zurück.«

Mathilde rollte mit den Augen, aber ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. »So, und nun gib mir die Käseharfe, und endgültig ab ins Haus. Wenn dein Vater gestern wie geplant losgefahren ist und auf halber Strecke übernachtet hat, dürfte er bald zurück sein.«

Mathilde nahm Lina die Harfe aus der Hand und begann mit dem Rühren. »Das Essen ist schon fertig, es steht auf dem Herd. Suntje kann alles erwärmen und auftun, wenn der Herr da ist.«

Lina blieb in der Tür stehen und zögerte. Sie überlegte, ob sie erzählen sollte, dass sie die Kleine Magd hatte weinen hören. Zu gern hätte sie den Grund dafür gewusst.

»Ist was?« Mathilde spürte immer, wenn Lina etwas bedrückte. Auch wenn sie noch recht jung war, hatte sie sich doch um sie gekümmert, nachdem Berta Harms schon früh verstorben war. Lina konnte Mathilde nichts vormachen.

»Ja, ich bin etwas in Sorge«, begann die junge Frau. »Da hat eben jemand geweint und ist fortgerannt. Ich bin sicher, es war Suntje. Haben die anderen sie wieder geärgert?«

Mathilde biss sich so fest auf die Lippen, dass ein Abdruck zu sehen war, als sie lockerließ. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie dann schnell.

Lina glaubte der Magd kein Wort. Sie sagte nicht die Wahrheit. Natürlich hatte sie eine Ahnung.

»Sag doch, wenn du was weißt!«, forderte sie die Magd deshalb auf, aber Mathilde ging auf die Frage nicht ein. »Nix weiß ich. Ziehe dich jetzt bitte um!«

Lina verließ nachdenklich die Käserei.

Warum nur wollte Mathilde ihr denn nicht sagen, was Suntje bedrückte?

Ich geh noch nicht rein, dachte Lina. Ich gucke, ob ich sie finde, und bestimmt kommt mir auch Vader bald entgegen. Dann kann er mir gleich erzählen, was er in Oldenburg erfahren hat. Sie wusste selbst, dass sie mit dem Wunsch einer frommen Hoffnung nachhing, denn ihr Vater würde seiner Tochter ganz sicher keine geschäftlichen Details verraten.

*

Lina huschte kurz ins Haus, schnappte sich von der Garderobe ihr dick gestricktes Schultertuch und trat auf den Hof. Die Sonne stand schon tief, und der Mond thronte bereits am Firmament, als wartete er nur darauf, den Tag endlich ablösen zu können.

Lina verspürte den Drang, Suntje zu suchen, um zu schauen, ob sie ihr helfen konnte. Sie mochte die junge Magd, aber die ging ihr regelrecht aus dem Weg und mied jeden Kontakt zu ihr. Warum nur?, fragte sie sich, denn sie hatte Suntje nie etwas getan.

Lina verließ den Hof und stand auf dem Weg, der durch die Marsch zum Jadebusen am Siel entlangführte. Ihr war plötzlich kühl, sie hatte die Temperatur unterschätzt, da es gestern noch recht warm gewesen war. Der Wind wehte an diesem Oktobertag besonders scharf.

Sie legte sich die Stola auch um den Kopf, doch das nützte nichts, nun war der Rücken kalt. Ich sollte umkehren, dachte sie, wenn Suntje sich versteckte, würde sie sich ohnehin nicht ausgerechnet von mir helfen lassen.

Ein kurzes Stück gehe ich aber noch, beschloss sie. Denn sie wollte nicht ins stickige Haus, dort Tee trinken und auf diese dumme Tischdecke Blümchen sticken, so wie Mathilde es vorgeschlagen hatte. Lina brauchte dringend frische Luft, draußen konnte sie ihren Gedanken und Plänen besser nachhängen.

Die Idee mit der eigenen Molkerei fand sie nämlich nach wie vor großartig. Nur hatte Mathilde recht. Ihren Vater von einem solchen Vorhaben zu überzeugen, war wohl unmöglich. Wahrscheinlich würde er ihr nicht einmal zuhören. Aber es war eine Chance auf eine gute Zukunft, denn in der Milchwirtschaft lag Potenzial. Lina las sämtliche Artikel, die damit zu tun hatten. Weil sie alles interessierte, was auch nur annähernd mit Milch in Verbindung gebracht werden konnte. Der Duft dieses weißen Goldes, wie sie es heimlich nannte, hatte sie ihr ganzes Leben lang geprägt, und es gab für sie nichts Schöneres, als daraus Käse oder Butter herzustellen.

In einigen Städten existierten sogar Milchkuranstalten, weil Molkenkuren als probates Mittel gegen die Tuberkulose galten. Wie faszinierend!

Mal sehen, was ihr Vater nach der Rückkehr berichtete.

Eibo Harms war nach Oldenburg gefahren, wo er mit anderen Landwirten darüber diskutierte, wie sie mit den auch im Norden neu gegründeten Molkereigenossenschaften umgehen wollten. Und sicher würden sie auch über eigene Molkereien oder Kooperationen sprechen. Immerhin waren diese Betriebe auf die Landwirte angewiesen, denn sie brauchten deren Milch und die Zusammenarbeit. Außerdem musste die Ware irgendwie zu den Molkereien gelangen.

Lina wusste, dass ihr Vater die zunehmende Industrialisierung zum Teil mit Argwohn betrachtete. Was ihm besonders zusetzte, waren die Forderungen der Arbeiterschaften nach mehr Rechten. Wenn das auf die Landwirtschaft übergriff, war er der Ansicht, einpacken zu müssen. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, nur die paar Stunden am Tag arbeiten, das passte ihm nicht in den Kram.

»Auf dem Land richtet man sich nach Arbeitsanfall und nicht nach Stunden. Im Einklang mit Ernte, Vieh und Wetter!«, wiederholte er in einem stetigen Mantra.

Genossenschaftsmolkereien aber würden Arbeiter einstellen müssen – was dann kam, dazu brauchte es keine Glaskugel. Sie würden sich vermutlich an den Gewerkschaften orientieren und für genau diese Forderungen kämpfen. Darunter würde der Betrieb hier leiden, denn sie selbst hätten womöglich Probleme, an Arbeitskräfte zu kommen, wenn sie woanders bessere Bedingungen hätten.

Lina war das Gerede ihres Vaters allerdings ziemlich leid. Er könnte sich ihrer Meinung nach anpassen und mit der Zeit gehen. Nur war sie eine Frau und hatte bei all diesen Themen ihren Mund zu halten.

Das Leben war für Frauen vorgezeichnet. Sie konnte nichts weiter tun, als es zu akzeptieren. Aber es machte sie unzufrieden. Allein, dass sie die Molkerei-Zeitung heimlich lesen musste!

Lina bohrte ihren Blick in die Weite der Marsch, die sich jetzt in prächtigem Rot zeigte, weil die Sonne gerade den Horizont küsste und sich gleich dort schlafen legte, wo sie niemand sah. Es war schön hier in Ellenserdammersiel. Sie hatte ausreichend zu essen, frieren musste sie auch nicht. Und doch war da diese Leere, die Lina von Tag zu Tag mehr aushöhlte. Ihre Ehe mit Thees würde daran nichts ändern. Ihr fehlte der Sinn im Leben, das Gefühl, selbst etwas entscheiden zu können. Ideen umzusetzen. Den Fortschritt zu leben.

Ich hätte dieser Ehe nicht zustimmen sollen, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Gleichgültig, wie gut Thees aussieht. Gleichgültig, wie wunderbar er küssen kann und wie sehr ich ihn in diesem Augenblick begehre. Ich liebe ihn nicht, weil auch er nicht die wahre Lina liebt, sondern die hübsche Tochter des reichen Bauern Harms, auf dessen Besitz er zählt.

Sie erschrak bei diesem Gedanken und wollte ihn fortjagen, doch einmal gedacht, setzte er sich in ihrem Kopf fest. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass ihre ausgemalte Zukunft als Frau Bleeker ein Fehler war, denn sie würde sich selbst verlieren. War sie erst Thees’ Gemahlin, würde er ihr sämtliche Entscheidungen abnehmen. Sie fragte sich, ob es besser wäre, ledig zu bleiben. Aber das war ausgeschlossen.

»Ich müsste doch ohnehin heiraten«, verteidigte Lina sich selbst. »Eine Frau darf nicht ohne Mann sein.«

»Nichts müsstest du. Nichts!«, widersprach ihre innere Stimme. Und die war verdammt laut. Noch konnte sie zurückrudern, noch war es möglich, die Verlobung zu lösen. Es würde einen Skandal geben, die Ellenserdammersieler und Bockhorner hätten ein paar Wochen ausreichend Gesprächsstoff, bis etwas anderes interessanter werden würde. Das könnte sie aushalten. Aber was war mit ihrem Vater? Er wäre wahrscheinlich am Boden zerstört. Das konnte sie ihm unmöglich antun.

Lina blieb stehen und presste die Hände auf beide Ohren. Sie fühlte sich dem Leben so ausgeliefert.

Dieses Gefühl kannte sie schon von Kindesbeinen an. Eigentlich seit dem Augenblick, als ihr deutlich geworden war, dass ihre Mutter nicht wiederkommen würde. Weil diese schreckliche Krankheit sie regelrecht aufgefressen hatte. Doch in der letzten Zeit gesellte sich zu dieser Ohnmacht eine weitere Empfindung, und die ging mit einer unglaublichen Wut einher. Denn sie wollte kein Schaf sein, das von anderen gelenkt und getrieben wurde. Sie wollte eigene Entscheidungen treffen, sich einbringen und nicht mehr unterkriegen lassen. Weder von Krankheiten noch von Grundsätzen oder ihrem zukünftigen Gemahl.

Lina beschleunigte ihren Schritt. Das Einzige, was nun half, war, ihrer Wut förmlich davonzurennen. Dabei konnte sie Suntje immer noch suchen. Lina sog die Luft tief ein und atmete die Weite der Marsch. Das half immer. Sie rannte am Ende nahezu, und es gelang ihr, etwas gelassener zu werden.

Schließlich erreichte sie den Jadebusen und schaute über die große Bucht. Hier kam sie zur Ruhe, hier war sie frei. Die klare Luft sog sich in ihre Lungen. Es dämmerte bereits und der Himmel färbte sich immer mehr zu einem düsteren Grau. Ein paar Silbermöwen dümpelten auf den kleinen Wellen. Wie Lina diese Vögel um ihre Freiheit beneidete. Es musste doch auch für Frauen wie sie einen anderen Weg geben. Einen Kompromiss, mit dem alle leben konnten. Lina reckte das Kinn.

»Ich schaff das! Auch mit Thees an meiner Seite werde ich weiterhin eine selbstständige Frau sein!«

So stand sie eine Weile, lauschte dem leisen Klatschen der Wellen ans Ufer. Dann wurde es Zeit, wieder zum Milchhof zu gehen.

Lina eilte zurück und war schon bald auf dem Weg zum Gehöft. Sie schrak zusammen, weil Hufgetrappel zu hören war. Doch es war nicht ihr Vater, sondern ihr Verlobter Thees. Er kam ihr mit seinem Rappen vom Hof her entgegen, und seine finstere Miene sprach für sich. Er hielt neben Lina an und schaute auf sie herunter.

»Wohin möchtest du?«, fragte sie schnell, um ihm zuvorzukommen. »Bleibst du nicht zum Essen?«

»Ich muss noch zum Hafen und für meinen Bruder etwas kontrollieren. Ob ich es schaffe, mit dir zu speisen, kann ich noch nicht sagen. Wahrscheinlich reite ich anschließend sofort in die Klinkerei und erstatte Oliver Bericht.« Er musterte Lina. »Aber was machst du hier draußen?«

»Ich warte auf Vater«, gab Lina zurück. »Er müsste bald wieder da sein, denke ich. Und außerdem wollte ich nach …«

»Er wird schon kommen«, unterbrach Thees sie. »Wenn du in der Stube bist, verpasst du ihn auf keinen Fall. Bitte geh nach Hause! Um diese Zeit ist es nicht gut, als Frau hier allein herumzustreifen.« Thees warf Lina einen besorgten Blick zu. »Ich möchte nicht, dass dir womöglich etwas zustößt, das verstehst du doch sicher.«

Lina nickte. Obwohl Thees es bestimmt gut meinte, war ihr diese fürsorgliche Art zu viel. Sie wollte selbst bestimmen, wann sie draußen herumlief und wann nicht. Aber es war nicht gut, sich deshalb mit ihrem Verlobten zu streiten. Weil Lina noch immer unschlüssig dastand, verlieh Thees seiner Bitte Nachdruck. »Lina, du wirst dich erkälten. Dein Kinn zittert ja schon.« Er stieß seine Hacken in die Flanken des Pferdes und stob mit ihm davon.

Am Horizont türmten sich inzwischen dunkle Wolken. Lina fror tatsächlich. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen und zu sehen, was Mathilde für sie gekocht hatte. Sie könnte alles schon einmal aufwärmen.

Ein ungutes Gefühl sagte ihr, dass Suntje vielleicht nicht rechtzeitig zurück sein würde, und sie wollte vermeiden, dass sich Vaters Zorn über dem jungen Mädchen entlud. Sie hatte es schließlich schwer genug. Heimweh musste ganz furchtbar sein. Wahrscheinlich quälte es Suntje schlimmer, als sie alle ahnten.

Nachdenklich, wie sie der Kleinen Magd helfen könnte, ging Lina weiter. Der Wind frischte immer mehr auf, und schon prasselten die ersten Regentropfen auf sie nieder. Auf dem Hof angekommen, erklomm sie die breite Steintreppe, die zum Hauseingang führte, und beeilte sich, ins Haus zu kommen.

In der Diele schlug ihr schon der würzige Duft der Suppe entgegen, die Mathilde für sie gekocht hatte, damit der Vater am Abend nicht darben musste. Dazu würde es frisch gebackenes Brot aus Weißmehl geben. Es duftete schon danach und darunter mischte sich der Geruch von Sellerie und Wurzeln, von Bohnen und geräuchertem Speck.

Das Hausmädchen Gertje war gerade dabei, die dunklen Bilderrahmen der Harms-Ahnen mit einem Staubwedel zu bearbeiten.

»Wo steckt Suntje?«, fragte sie. »Sie soll die Suppe anwärmen, bevor der gnädige Herr kommt. Mathilde ist ja in der Käserei.«

»Vielleicht hat sie wieder Heimweh und sich deshalb zurückgezogen?«, meinte Lina.

Gertje räusperte sich. »Man muss auf sie achtgeben«, sagte sie eine Spur zu hart.

Lina wusste nicht, was das Hausmädchen ihr damit sagen wollte, und sie wagte nicht, nachzufragen, denn es hatte merkwürdig geklungen. Sie dachte an Mathildes verschlossenes Gesicht, als sie ihr von Suntje erzählt hatte. Die Deern war die Nichte der Großen Magd, und die beiden standen sich sehr nah.

Ich sollte selbst mal mit Vader sprechen. Es wäre sicher besser, wenn sie auf einem Hof in der Nähe ihrer Eltern arbeiten könnte. Wir finden schon jemand anders, dachte Lina. Das war das Mindeste, was sie für Suntje tun konnte.

»Sie kommt sicher gleich, wenn sie ihrem Kummer Luft gemacht hat«, sagte sie und lauschte dem beruhigend wirkenden Geräusch des Staubwedels, wenn er die Wand streifte.

Aber Suntje kam nicht.

Kapitel 2

Thees hatte es eilig, mit dem letzten Licht des Tages zum Hafen zu kommen, denn er hatte Oliver versprochen, die Ziegellieferung der Klinkerei seiner Familie zu kontrollieren. Die Wege waren trotz der Dämmerung mit Steinwagen belebt. Es rumpelte und polterte den ganzen Tag, wohnen hätte Thees an der Strecke nicht mögen. Alle Ellenserdammersieler hofften, dass bald vom Hauptschienennetz Wilhelmshaven-Oldenburg, wo sich seit zwanzig Jahren auch der Bahnhof von Ellenserdammersiel befand, die kurze Strecke zum Hafen gebaut wurde, damit sie die Waren nicht mehr mit Steinwagen dorthin bringen mussten. Denn das war trotz der kurzen Entfernung sehr beschwerlich. Es würde den Aufschwung noch mehr fördern und die Kapazitäten erhöhen.

Der Schiffsverkehr hatte in der Vergangenheit mächtig zugenommen, sodass sie vor zehn Jahren am Hafen eine Längskaje angelegt hatten, denn die kleine Querkaje zwischen den Sielen reichte bei Weitem nicht mehr aus. Doch auch jetzt war der Hafen oft viel zu voll. Es gab inzwischen mehr als 1300 jährliche Ankünfte und Abfahrten in Ellenserdammersiel. Dabei wurden bis zu dreißig Millionen Klinker verfrachtet. Ein lukratives Geschäft, von dem Thees nur leider nichts hatte, weil er als zweiter Sohn die Ziegelei nicht erben würde und keinen Anteil in Anspruch nehmen konnte.

Aber er sprang dennoch ein, wenn es nötig war, denn er hoffte nach wie vor, dass Oliver ein Einsehen hatte und ihn doch noch bedachte, schließlich bat er Thees oft genug um Hilfe.

Da sein Bruder auch heute wieder arg beschäftigt war, hatte er Thees gebeten, das Löschen der späten Ladung zu überwachen. Thees schnackte kurz mit dem Kapitän, kontrollierte die Steinlieferung und nickte dann bestätigend. Es war alles in Ordnung. Auf den alten Seefahrer war Verlass, er brauchte keine Überwachung, aber da war Oliver eigen.

»Gut, dann will ich mal, bevor es ganz dunkel ist.« Thees tippte sich mit der Kante von Zeige- und Ringfinger an die Stirn. »Bis zum nächsten Mal.«

Er war versucht, die fünf Kilometer direkt zurück nach Bockhorn zu reiten, doch dann fiel ihm Mathildes schmackhaftes Essen ein, und er entschied sich anders, denn sein Magen knurrte ohnehin wie verrückt. »Erst mal was essen, wer weiß, was mich zu Hause für ein Fraß erwartet«, murmelte er. Die Köchin der Bleekers konnte Mathildes Kochkünsten nicht das Wasser reichen, obwohl der Hausstand um einiges größer und feudaler war. Oliver konnte er auch später Bericht erstatten, schließlich war alles in Ordnung und es gab keinen Grund zur Eile.

Thees bestieg seinen Rappen, den er einfach Schwarzer nannte, und machte sich auf den Weg zum Harms-Hof. Er weigerte sich, vom Milchhof zu sprechen, weil Lina ständig von dieser hanebüchenen Molkereidee faselte und er ihr nichts abgewinnen konnte. Vor allem, weil es die Idee seiner zukünftigen Frau war. Sie sollte sich ihren hübschen Kopf nicht über solche Dinge zerbrechen.

Die anderen Hausbewohner, einschließlich Lina, hatten gerade gegessen, als Thees eintrat. Mathilde war in der Käserei fertig und beschäftigte sich nun in der Küche.

Lina war schon wieder draußen auf dem Hof und hielt Ausschau nach ihrem Vater, der noch immer nicht aus Oldenburg zurückgekehrt war. Also musste er allein essen. Auch gut, dann brauchte er nicht zu plaudern und konnte seinen Gedanken nachhängen und den Tag mit all seinen Ereignissen noch einmal überdenken.

»Ich kann Ihnen noch einen Teller auftun«, sagte Mathilde. Wie immer höflich genug, als dass er ihr nichts anhaben konnte, aber zugleich so kühl, dass Thees Gänsehaut bekam. Mit unerschütterlichem Blick servierte sie ihm eine Portion der noch heißen und schmackhaften Suppe. Thees schlürfte sie genüsslich, ließ sich einen weiteren Teller geben und fragte die Magd dann nach dem Dessert. Mathilde nickte und knallte ihm eine Quarkspeise auf den Tisch. »Mehr haben wir nicht.«

Thees schloss die Augen, als er die cremige Süßspeise aß. Der Harms-Hof war mit seinen Köstlichkeiten aus Milch wirklich unschlagbar. Da hatte Lina recht. Mit Mathilde, die die Hofbewohner auch mit Essen versorgte, hatten sie einen echten Glücksgriff gemacht, auch wenn Thees sie ansonsten nicht leiden konnte. Sie war für seine Begriffe viel zu resolut und mischte sich ständig in Dinge ein, die sie als Magd nichts angingen. Gleichgültig, wie lange sie schon auf dem Hof lebte.

Nach dem reichhaltigen Mahl verspürte Thees noch immer keine Lust, nach Bockhorn zu reiten, weshalb er sich in den Salon zurückzog. Das tat er besonders gern, wenn Eibo nicht da war, denn so konnte er schon einmal das Gefühl genießen, wie es sein würde, wenn er erst Herr auf dem Harms-Hof sein würde.

Zunächst wollte er sich ganz in Ruhe einen Branntwein gönnen und dabei einen Blick in die Gazette werfen, dazu hatte ihm heute die Zeit gefehlt.

Ja, ein Branntwein würde ihm schmecken. Es war immer vorteilhaft, sich nach einem anstrengenden Tag etwas Gutes zu tun. Nicht alles war glücklich verlaufen, aber er verspürte keine Lust, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Alles regelte sich meist von selbst. Den Weg nach Bockhorn kannte er schließlich im Schlaf. Es war ohnehin schon dunkel, da kam es auf eine Stunde nicht an.

Thees schenkte den Branntwein ein und setzte sich mit dem Glas vor den prasselnden Kamin. Das Feuer beruhigte ihn. Er schloss die Augen, und endlich war etwas Entspannung möglich.

Thees schwenkte das Glas hin und her, verfolgte die herabgleitenden Tränen und starrte hernach ins Feuer. Er schrak zusammen, als die Tür klackte und seine Verlobte eintrat.

»Hier bist du«, begrüßte sie ihn. »Mathilde sagte, du wärst noch im Haus.«

»Ja, ich wollte noch ein wenig Ruhe, bevor ich nach Bockhorn reite. Der Tag war anstrengend und lang.«

»Das tut mir leid«, antwortete Lina. »Möchtest du es erzählen?«

Thees schüttelte den Kopf.

Lina druckste herum. »Ich wollte dich um etwas bitten.«

Thees seufzte. »Um was geht es?«

»Wir müssen Suntje suchen.«

Er runzelte die Stirn. »Was ist mit der Magd?«

»Das weiß ich nicht. Sie ist verschwunden.«

Thees trank einen Schluck. »Die taucht schon wieder auf. Dieses junge Gemüse ist manchmal unberechenbar, wenn ihnen etwas gegen den Strich geht. Das weißt du selbst.«

Lina trat kopfschüttelnd einen Schritt näher. »Thees! Ich mache mir große Sorgen! Sie ist schon so lange fort.«

Ihr Verlobter stellte das Glas auf den kleinen Nebentisch und griff nach Linas Hand. Er strich ihr mit dem Daumen leicht über den Handballen, weil er wusste, wie sehr sie das mochte. »Wahrscheinlich hat sie sich vom Acker gemacht und ist auf und davon zu ihrer Familie«, sagte er mit väterlicher Stimme. »Wenn Eibo zurück ist, wird er sich kümmern.« Er warf einen Blick zur Standuhr. »Ich muss jetzt leider los.«

Thees stand auf, hielt Lina aber weiter an den Händen. Sie waren rau, weil sie ständig mitarbeitete. Das würde sich ja nun bald ändern. Trotzdem war sie eine wunderschöne Frau, an der er alles mochte. Vor allem die blauen Augen. Die blitzten ihn jetzt allerdings herausfordernd an.

»Du kannst jetzt nicht gehen! Solange Vader unterwegs ist, haben wir die Verantwortung. Ich bin schon alle Wege entlanggelaufen«, erklärte sie. »Aber es fehlt jede Spur. Was ist, wenn ihr etwas zugestoßen ist, sie sich verletzt hat? Bitte schicke die Knechte los! Auf mich hört hier keiner«, setzte sie aufgebracht nach. »Aber du bist der zukünftige Hausherr. Wir müssen was tun!«

»Wir müssen gar nichts«, murrte Thees. Er war müde und wollte nach Hause. »Wenn sich eine widerspenstige Magd durch ihr heimliches Verschwinden vor der Arbeit drücken möchte, dann verdient sie allenfalls eine gehörige Tracht Prügel, aber nicht, dass wir sämtliche Suchtrupps losschicken, um sie von wer weiß wo einzusammeln.«

»Bitte!«, flehte Lina.

Die Magd schien ihr wirklich etwas zu bedeuten.

Thees setzte sich wieder, nahm eine Zigarre vom Brett, zündete sie an und paffte ein paar Kringel in die Luft. Dafür wollte er sich noch Zeit nehmen, nicht aber für eine davongelaufene Magd.

Lina verzog das Gesicht. Er wusste, dass sie die Qualmerei nicht schätzte, aber wenn er eine Zigarre rauchen wollte, dann tat er es, ohne Rücksicht auf sie zu nehmen. Er war bald der Herr im Haus, und es war gut, wenn sie das beizeiten zur Kenntnis nahm.

»Und wenn ihr tatsächlich etwas zugestoßen ist?« Seine Verlobte ließ einfach nicht locker. »Sie ist schon seit dem späten Nachmittag verschwunden. Ich habe sie zufällig weinen gehört.«

»Seit dem späten Nachmittag, sagst du?« Thees hustete, weil er sich verschluckt hatte. Kurzerhand legte er die Zigarre beiseite, stand auf und lief mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor dem großen Fenster hin und her. »Kann sich nicht Mathilde darum kümmern? Im Prinzip ist das ihre Aufgabe, weil sie für ihre minderjährige Nichte verantwortlich ist.« Er hörte auf herumzulaufen, nahm die Karaffe mit dem Alkohol erneut in die Hand und schenkte sich ein. Etwas mehr, als ihm guttun würde. Als Zeichen, dass er das Gespräch für beendet hielt, drehte er Lina den Rücken zu.

Er mochte es ja hin und wieder, wenn sie ein wenig aufmüpfig war, denn das verlieh ihr einen besonderen Charme, mit dem sie ihn von Beginn an gefesselt hatte. Ihre Augen glitzerten dann in einem tiefen Blau, und es schien ihm immer, als ob Sterne darin tanzten. Aber das hatte Grenzen. Es durfte auf keinen Fall so enden wie jetzt, dass Lina sich herausnahm, an ihn, den Mann, Forderungen zu stellen. So weit durfte er es beim nächsten Mal gar nicht erst kommen lassen. Nun wollte er seine Ruhe, schließlich hatte er gleich noch den Ritt nach Bockhorn vor sich und musste seinem Bauch erst etwas Erholung gönnen, weil er üppig getafelt hatte.

Obwohl Thees Lina immer noch den Rücken zudrehte, spürte er, dass sie sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt hatte.

»Thees, wenn von unserem Hof jemand verschwindet, dann müssen wir denjenigen suchen. Gleichgültig, ob Magd oder Knecht. Ob Hilfsarbeiter oder einer von uns. Verstehst du das denn nicht? Das kann Mathilde nicht leisten, sie hat als Magd keinerlei Befugnisse.«

Thees drehte sich betont langsam um, stellte das Glas auf den Tisch und näherte sich ihr.

So aufgebracht wirkte sie besonders reizvoll, und das erweckte in ihm jedes Mal den Wunsch, ihre vollen Lippen zu küssen. Ihre Zungen miteinander spielen zu lassen und nach Möglichkeit noch mehr. Lina mochte es, von ihm begehrt zu werden, da war er ganz sicher. Wenn er sie nun ein bisschen verwöhnte, würde sie das Suntje ganz schnell vergessen lassen. Er hätte seinen Frieden und vielleicht etwas Entspannung. Thees griff nach Linas Hand. Er wollte sie. Jetzt und ganz!

Das wäre ein würdiger Abschluss dieses Tages. Sie zierte sich schon viel zu lange. Er war doch ein junger Mann mit Bedürfnissen, der Vermählungstermin stand. Warum also bis zur Hochzeit warten? Er hatte jetzt richtig Lust, Lina zu fühlen – und dadurch still zu bekommen. Kurzerhand zog er sie an sich heran.

Aber Lina machte sich steif. »Wir müssen Suntje suchen!«

Thees überlegte nicht lange. Wenn er sein Ziel heute erreichen wollte, musste er seiner Verlobten erst einmal dieses Zugeständnis machen. Ob er es dann wirklich einlöste, konnte er danach immer noch entscheiden.

»Wir suchen diese Magd«, sagte er mit rauer Stimme. »Aber erst muss ich dich küssen. Ich liebe dieses Feuer in deinen Augen!« Thees stöhnte leise auf, als seine Lippen die ihren fanden und seine Hände den schlanken Körper umschlangen.

Lina erlag seinem Charme so schnell, wie er es sich erhofft hatte. Es gefiel ihm, wie er sie lenken und mit seiner Erfahrenheit einfangen konnte.

»Du riechst gut«, flüsterte sie, als er kurz von ihr abließ.

Thees legte Wert auf so etwas und nutzte den englischen Duft Marlborough. Es war eine fast unwiderstehliche Note aus einer Mischung von Lavendel und Rosmarin sowie von Zeder und Sandelholz. Er küsste sie erneut, jetzt wurde er fordernder.

Lina seufzte wohlig. »Aber danach suchen wir Suntje.«

»Danach mache ich alles, was du willst«, raunte er.

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Lina wehrte sich nicht, als er begann, sein forderndes Spiel mit ihr auszuweiten, aber sie schien dennoch nicht recht bei der Sache zu sein, was Thees’ Ehrgeiz weiter anspornte. Er nahm ihre Hände und legte sie an sein Haar, das er etwas länger trug und sich im Nacken kräuselte.

»Lass uns in dein Zimmer gehen«, flüsterte er. »Ich will dich, Lina Harms. So sehr will ich dich!«

Hatte sie sich bislang stets gesträubt, den letzten Schritt zu gehen und ihm allenfalls gestattet, ihre festen runden Brüste zu umfassen, nickte sie nun unmerklich. »Aber dann suchen wir Suntje«, wiederholte sie.

Thees zog sie aus dem Salon. Er würde Lina gleich besitzen und damit ihre Zweifel an dieser Ehe in Grund und Boden treten, denn dass seine Verlobte von ihrer Verbindung nicht restlos überzeugt war, wusste er längst. Danach wäre jegliche Diskussion im Keim erstickt.

Er war froh, in der langen Diele keinem der Hofangestellten zu begegnen. Vor allem Mathilde war ihm ein Dorn im Auge. Sie sah und hörte etwas zu viel von dem, was auf dem Gehöft vor sich ging, und das gefiel ihm nicht. Wenn er erst Herr auf dem Harms-Hof war, würde er sie stärker reglementieren. Eibo würde ihm schnell freie Hand geben, denn es stand mit ihm gesundheitlich nicht zum Besten. Um das zu erkennen, musste er kein Mediziner sein.

Thees zog Lina hinauf in ihre Stube, die sich im ersten Stock des Hauses unter dem Dach befand. Es war ein recht großes Zimmer mit Schrägen und der typischen Einrichtung eines Bauernhauses. Ein mächtiger Schrank dominierte den Raum, gegenüber stand ein Toilettentisch mit einer Waschschüssel und einem Krug, der mit frischem Wasser gefüllt war. Über der Stuhllehne hingen saubere Handtücher. Das war gut, dann konnte er sich anschließend frisch machen, bevor er nach Bockhorn ritt.

Er stieß Lina sacht aufs Bett. Plötzlich schienen ihr neue Zweifel zu kommen, und sie schob ihn sacht von sich fort. »Bitte Thees, tu das nicht. Wir dürfen es nicht machen. Nicht vor der Hochzeit.«

Thees grinste nur und legte sich neben sie. Unbeirrt der Tatsache, dass sie sich steif machte, knöpfte er ihre Bluse auf. Ihr Widerstand schmolz mit jeder Sekunde, denn er wusste genau, wie er eine Frau gefügig machen konnte. »Komm schon, meine Gute. Wir sind fast ein Ehepaar, und in ein paar Wochen bekomme ich ohnehin, was ich will. Es gibt keinen Grund, dich nicht jetzt schon zu lieben.«

Thees zog Lina weiter aus, streichelte ihren Körper, und sie ließ es mit geschlossenen Augen und bebenden Lippen zu. Lina zuckte einmal kurz zusammen, als er ihre Jungfräulichkeit nahm, und wirkte auch sonst sehr unsicher, während er durchaus auf seine Kosten kam. Thees war recht zufrieden, als er sich von ihr löste. Es war nicht das Beste, was er je von einer Frau bekommen hatte, aber es war ausbaufähig, und für seinen Ausgleich reichte es, zumal er ja als Mann auch noch andere Möglichkeiten hatte.

Lina sah ihn derweil mit großen Augen an. Sie zitterte, als wäre sie erschrocken darüber, dass sie das zugelassen hatte. »Das darf keiner wissen«, wisperte sie. »Ich bin keine ehrbare Frau mehr!« Und dann begann sie zu weinen, was ihn ein bisschen rührte.

Thees stupste ihre Nase an und lächelte. Der Harms-Hof war ihm mit diesem Akt sicher. Zufrieden küsste er Linas tränennasse Wange. »Das wird niemand erfahren«, sagte er. »In ein paar Monaten bist du sowieso meine Gemahlin. So schnell wirst du nicht empfangen haben. Aber das hier, meine kleine Frau, verbindet uns für immer.« Er stand auf, goss Wasser in die Schüssel und wusch sich den Oberkörper. »Wir haben schließlich als Liebende lange genug gewartet.« Thees warf Lina eines der Handtücher zu.

Sie griff mit fahrigen Händen danach. Thees glaubte dennoch, dass sie trotz der Tränen ein Strahlen im Gesicht hatte, und das gefiel ihm. Er würde es von jetzt an öfter zum Leuchten bringen. Der Bann war gebrochen.

»Wir sind mit unserer vorgezogenen Hochzeitsnacht auf ewig miteinander verbunden«, bekräftigte er noch einmal. »Nur der Tod kann uns noch trennen.«

Lina atmete schwer durch, wischte dann die Wangen trocken und sprang mit einem kräftigen Satz aus dem Bett. »Nun müssen wir nach Suntje suchen. Du hast es versprochen.« Ihre Stimme schwankte noch leicht, aber sie schien sich mit der Situation abgefunden zu haben.

»Herrgott, wir sind jetzt Mann und Frau, und du denkst nur an eine kleine Magd!«, entfuhr es Thees. Ihn überfiel plötzlich die Ahnung, dass Lina nur deswegen nachgegeben hatte, weil sie dieses dumme Ding retten wollte, und hoffte, ihn so gnädig zu stimmen. Doch bevor er seiner Verlobten antworten konnte, dröhnte eine kräftige Stimme durchs Haus. »Lina? Thees?«

»Das ist Vader!« Lina fuhr zusammen, schlüpfte schnell in ihren Unterrock, warf sich das graue Leinenkleid darüber und band die blau-weiß gestreifte Schürze fest. Das blonde Haar wand sie mit zwei geschickten Handbewegungen zu einem Dutt. »Wie gut, dass ich kein Korsett trage«, sagte sie. »Dann wäre ich jetzt nicht so schnell fertig.«

»Lina!«, rief der Vater erneut.

»Ich komme!«, antwortete sie und schaute Thees hilflos an. »Was machen wir denn jetzt mit dir? Vader darf dich auf keinen Fall in meiner Stube finden. Er wäre außer sich!«

Dasselbe war Thees eben auch durch den Kopf geschossen, und da er sich nicht schon vor der Hochzeit mit seinem Schwiegervater anlegen wollte, überlegte er kurz. Zum Glück war der Harms-Hof sehr verwinkelt und bot mehrere Möglichkeiten, hinauszukommen.

»Lauf runter zu ihm«, schlug er vor. »Ich schleiche mich aus dem Haus und reite zurück nach Bockhorn. Morgen bin ich wieder da.« Er nickte Lina aufmunternd zu. »Er kann sich ja jetzt um die Suche nach Suntje kümmern.«

Lina nickte. »Ist gut. Vader wird wissen, was zu tun ist.«

»So ist es«, antwortete Thees zufrieden. »Ich schlag mich dann mal durch.«

Kapitel 3

Eibo Harms lehnte im Salon mit dem Rücken an der Anrichte und hing seinen Gedanken nach, während er auf Lina wartete. Was machte sie denn bloß so lange in ihrem Zimmer?

Immerhin blieb ihm so ein wenig Zeit. Das Gespräch in Oldenburg hatte ihn nachdenklich gestimmt. Es wurden immer mehr Genossenschaftsmolkereien gegründet, die nach dem Vorbild des Sozialreformers Friedrich Wilhelm Raiffeisen fungierten. Grundsätzlich war das keine schlechte Sache, mit den Arbeiterrechten würde er schon Lösungen finden. Eibo hatte das Thema auch sofort in Varel bei seiner Bank angesprochen und offene Türen eingerannt. Schließlich hatte er die Überlegung zugelassen, doch eine Molkerei, möglichst mit anderen Bauern, zu gründen. Er musste nur Thees zuvor von dieser Idee überzeugen. Dass Lina schon lange davon sprach, verdrängte er.

Mit drei bis vier Landwirten war es möglich, einen solchen Zusammenschluss in die Wege zu leiten. Er sollte nur rasch handeln, sonst würden die schon bestehenden Molkereigenossenschaften das Zepter allein übernehmen. Auf den ersten Blick blieb ihm gar nichts anderes übrig, er musste sich beugen und seine Milch dorthin liefern, ohne selbst ausreichend Gewinn zu machen. Denn die eigene Hofkäserei und Butterei würde in der jetzigen Form dem Druck nicht standhalten.

Gründeten sie jedoch einen eigenen Betrieb, war es eine wunderbare Möglichkeit, Gewinn zu erwirtschaften. Jenseits der konventionellen Landwirtschaft. Er würde zwar Räumlichkeiten und Personal benötigen, das musste er zunächst strukturieren.

Jetzt wollte Eibo erst seine Tochter begrüßen. Endlich hörte er Linas eilige Tritte in der Diele. Eibo schaute seine Tochter freundlich an, als sie den Raum betrat. Sie sah anders aus als sonst. Er kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, er würde sich irren, aber sein Eindruck änderte sich keineswegs. Lina wirkte, als hätte sie plötzlich das Mädchenhafte aufgegeben, das aber doch einen Teil ihres Charmes ausmachte. Was das in seiner Konsequenz bedeutete, ließ seinen Atem stocken. War sie ihm derart in den Rücken gefallen? Sie wusste doch, dass er in dieser Hinsicht seine Prinzipien hatte. Auch wenn die Hochzeit ins Haus stand.

Er musste sich irren, denn das würden ihm weder Thees noch sie antun. Beide waren aufrichtige und integre Menschen, die wussten, was sich gehörte und was nicht. Er täuschte sich bestimmt! Deshalb riss er sich zusammen und lächelte seine Tochter freundlich an.

»Da bist du ja. Ich habe mich schon gewundert, wo du steckst.«

Lina zuckte kurz zusammen und erbleichte. Für einen Moment wirkte sie tatsächlich ein bisschen verlegen. Eibo drückte das wieder aufkommende merkwürdige Gefühl erneut beiseite.

»Ich habe nach dem Essen geruht, weil ich sehr müde war. Da hat es gedauert, bevor ich runterkommen konnte«, erklärte Lina eine Spur zu schnell. »Thees hat vorhin im Salon noch etwas getrunken, ehe er sich auf den Heimweg gemacht hat.« Linas Worte wurden von einem prüfenden Blick zum Fenster begleitet.

Eibo kam das merkwürdig vor. Er hakte nach: »Er ist schon vor einer Weile los, sagst du?«

»Ja.«

»Komisch, ich war mir sicher, seinen Rappen eben noch im Stall gesehen zu haben.«

Linas Hände zuckten. »Dann hatte er sicher noch im Stall zu tun.« Ihre Stimme klang etwas brüchig.

Eibo war sicher, dass seine Tochter log, aber er wollte es dabei bewenden lassen. Wenn es passiert war, konnte er es ohnehin nicht mehr ändern, auch wenn es ihn wurmte. Außerdem beschäftigten ihn momentan andere Sorgen.

»Möchtest du essen? Ich kann dir die Suppe erwärmen, es ist bestimmt noch etwas da«, schlug Lina vor, sichtlich froh, dass er nicht weiter nachbohrte.

Eibo schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger. War vorhin in einer Gaststube und habe dort etwas zu mir genommen.« Er kraulte versonnen seine Koteletten und schenkte sich einen Branntwein ein. Lina wirkte noch immer unruhig. Ständig schaute sie zum Fenster, dabei knetete sie ihre Hände und schluckte immer wieder heftig. So kannte Eibo seine Tochter nicht.

»Es ist doch was mit dir«, sagte er ihr dann doch auf den Kopf zu, denn jetzt wippte sie sogar von einem Bein aufs andere.

»Ja«, gab sie wider Erwarten sofort zu. »Es sind sogar zwei Dinge, aber ich möchte mit dem Unerfreulichen beginnen.«

Also doch, er hatte ins Schwarze getroffen.

Eibo wappnete sich innerlich, rückte seine runde Brille zurecht und strich sich über die Glatze. »Bitte! Schieß los!«

Lina räusperte sich, dann brach es wie ein Wasserfall aus ihr heraus. »Suntje ist seit heute Nachmittag verschwunden. Sie hat geweint und ist nicht wiedergekommen.«

Das klang in der Tat bedenklich. »Hat sie jemand gesucht?«, fragte Eibo alarmiert.

Lina nickte. »Ich habe schon alles abgeklappert, aber ich konnte sie nicht finden. Ich bin tief besorgt, Vader!«, setzte sie nach.

Eibo schenkte sich jetzt einen Cognac ein. Er musste nachdenken, ehe er antwortete. Es beruhigte ihn zumindest, dass es einen anderen triftigen Grund für Linas nervöses Auftreten gab als seine Vermutung. »Ist sie vielleicht durchgebrannt?«, fragte er. »Mathilde hat oft erwähnt, dass die Lütte Heimweh hat, und sie bat mich, Suntje zurück nach Emden zu schicken.«

»Das hat sie getan?« Lina wunderte sich, denn Mathilde hatte das mit keinem einzigen Wort erwähnt.

»Jo, sie ist ja die Tant’ und hat sich wohl Sorgen gemacht. Aber ich wollte das nicht. Manchmal muss das junge Gemüse eben etwas durchhalten. Wie soll die Deern denn erwachsen werden, wenn sie verzärtelt wird.« Eibo schwenkte die goldgelbe Flüssigkeit im Glas im Schein des Kaminfeuers. An der Wand bildeten sich Schlieren, was die Sämigkeit des Getränks erklärte. Es war ein guter Tropfen.

»Du hättest sie gehen lassen sollen, wenn sie sich so gequält hat«, meinte Lina. »Wir hätten bestimmt eine andere Kleine Magd aus der Nachbarschaft bekommen können, wenn Suntje zurück nach Hause gegangen wäre.«

Eibo schluckte. Er wusste, dass Lina es nicht mochte, wenn er so hart daherredete, aber Zucht und Ordnung hatten dem Jungvolk noch nie geschadet. Von diesem Standpunkt würde er niemals abweichen. Trotzdem war es wohl besser, seiner Tochter die ganze Wahrheit zu sagen. Eibo kannte Lina: Sie würde sonst nicht lockerlassen. Der Deern fehlte definitiv eine Mutter, die die Zügel dann anzog, wenn es geboten war, oder die Richtung mit besonderer Strenge vorgab und auch mal mit fester Kandare arbeitete. Mathilde war für Lina mit ihrem Starrsinn kein gutes Vorbild gewesen.

Eibo trank den Rest des Cognacs und spürte dem scharfen Geschmack eine Weile nach, ehe er sagte: »Thees wollte Suntje gern behalten. Und er wird hier schließlich übernehmen, wenn ich mich aufs Altenteil zurückziehe.«

Lina schaute ihren Vater mit ihren großen blauen Augen an. »Warum das?« Zugleich kam dieser Blick, der ihn jedes Mal dahinschmelzen ließ. Egal, ob sie dabei traurig war, Entsetzen zeigte oder einfach nur Zuneigung.

Seine Stimme wurde zwar sofort weich, aber er hatte den Eindruck, seinen zukünftigen Schwiegersohn verteidigen zu müssen, denn der Mann hatte ja recht. »Er meinte, Mathilde nimmt sich zu viele Sachen heraus, und es wäre gut, eine junge Magd nach unseren Vorstellungen zu formen und dann zunehmend mehr Aufgaben von Mathilde auf sie zu übertragen. Suntje wäre ideal.«

»Er will Mathilde loswerden?« Lina zog augenblicklich den richtigen Schluss. Was war er mit so einer gescheiten Tochter gestraft! Und schon polterten die nächsten Worte aus ihr heraus. »Mathilde ist mir doch wichtig, Vader. Das kannst du nicht zulassen! Du könntest es zur Bedingung machen, dass sie bleiben darf.«

»Sicher hat er es nicht so gemeint, sondern eher, dass Suntje mehr Verantwortung übernehmen und Mathilde entlasten kann.« Eibo war mit seiner ausweichenden Antwort sehr zufrieden, auch wenn er wusste, dass er sich feige um die Wahrheit herummogelte. »Auf jeden Fall war das der Grund, warum ich Suntje nicht nach Hause geschickt habe.«

Lina nickte. »Aber nun ist sie weg. Wir müssen doch was tun! Es ist stockdunkel draußen!«

Eibo nickte. »Du hast ja recht. Wir haben Verantwortung für alle Menschen auf dem Milchhof und müssen uns um jeden kümmern.«

Das Gehöft der Familie Harms war ein großes landwirtschaftliches Anwesen mit einem geräumigen Wohnhaus, dem sich der umfangreiche Stallkomplex anschloss. Es verfügte über zahlreiche Nebengelasse, die das Hauptgebäude umgaben. Sie hatten viele Hektar Land zu bestellen und brauchten dafür jede Hand. Eibo führte ein strenges Regiment und hatte die Aufgaben klar strukturiert. Es gab keine Vergünstigungen, was die Arbeitszeiten anging, und er kannte keine Gnade, wenn jemand wegen Krankheit ausfiel. Derjenige konnte jederzeit wiederkommen, aber bis zur Genesung musste er sehen, wie er klarkam. Wichtig war einzig, dass die Arbeit getan wurde. Denn davon hing ab, ob ausreichend zu essen da war und ob die Leute weiter zur Arbeit kommen konnten. Ein einfaches, aber effektives Prinzip, das der Harms-Familie so einigen Wohlstand eingebracht hatte.

Eibo war bestimmt kein Befürworter dieser merkwürdigen neuen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, Verkürzung von Arbeitszeiten und dem neumodischen Blödsinn. Aber wenn jemand ohne Ansage vom Hof verschwand, war es notwendig, dem nachzugehen.

»Ich weise die Knechte an, sie sollen mit ihren Laternen die Marsch durchkämmen. Und auch am Hafen und am Deich nachsehen. Sollten wir sie nicht finden, sag ich der Polizei morgen Bescheid.«

»Danke, Vader.«

»Ich kümmere mich jetzt gleich darum, aber du bleibst hier. Und dann will ich wissen, was dein nächstes Anliegen ist.«

*

Lina sah ihrem Vater besorgt hinterher. Sie machte sich wirklich Gedanken darüber, was mit Suntje passiert sein könnte.

Dabei strich sie sich immer wieder über den Bauch. Ihr tat noch alles weh und ihr Innerstes fühlte sich an, als ob sie dort verbrannte.

Lina setzte sich vor den Kamin, in dem das Holz knisternd brannte. Ab und zu stoben ein paar Funken auf. Normalerweise mochte sie das gemütliche Knacken, den leichten Geruch von Ruß und die Wärme, die eine solche Feuerstelle verströmte. Aber heute wollte sich das wohlige Gefühl einfach nicht einstellen. Thees hatte sie zur Frau gemacht. Es war wie ein Verrat an ihrem Vater, der das niemals billigen würde. Dazu Suntjes Verschwinden. Ihr ging auch nicht aus dem Kopf, dass sich ausgerechnet ihr Verlobter gegen Mathilde stellte, von der er doch wusste, dass sie ihr wie eine Mutter war. Während diese Gedanken in Lina kreisten, regte sich von Minute zu Minute wieder größerer Widerstand, und ihr Hals wurde eng. Sie musste morgen dringend mit Thees darüber sprechen. Mathilde war für Lina unantastbar. Sie sollte an ihrer Seite sein – und das für immer.

Die Tür klackte, und die Große Magd schaute rein. »Hier steckst du, min Deern. Nun sind sie alle los, um die Lütte zu suchen. Ich soll hierbleiben und warten, ob sie nicht doch noch von allein na Huus kommt, aber dat kann ik nich glöven. De Wicht muss was passiert sein. Niemals wäre sie ohne ein Wort verschwunden. Es sei denn …« Mathilde brach ab und sprach das Unaussprechliche nicht aus.

Lina wusste auch so, was sie meinte. »Das tut sie nicht«, sagte sie und hoffte, tröstlich zu klingen. »Sie hat doch dich und so doll kann sie das Heimweh gar nicht plagen. Ich fürchte, sie ist fortgelaufen und längst auf dem Weg nach Emden.«

Mathildes Gesicht versteinerte einen Augenblick lang, dann lächelte sie. Doch es wirkte abwesend.

»Warten wir mal ab, bis die Suchtrupps wieder da sind.«

»Weißt du was, Mathilde? Ich werde hier drinnen ohnehin vollkommen rammdösig, ich geh sie auch suchen.«

»Den Düvel wirst du!«, drohte Mathilde ihr. »Es ist inzwischen stockduster draußen, und wer weiß, welche Gestalten sich herumtreiben.«

»Du meinst, sie könnte einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein?«, fragte Lina erschrocken.

»Ja«, kam es knapp zurück. Dann wurde Mathildes Blick weicher. »Du blievst fein tu Huus.«

Lina aber ließ nicht locker. Sie musste helfen, Suntje zu finden. »Nein, so halte ich es nicht aus. Du musst Vaders Anweisungen befolgen, zu mir hat er aber nichts gesagt! Ich bin also nicht ungehorsam.«

»Du weißt genau, dass er es nicht gutheißen wird, wenn du dich jetzt mit auf die Suche begibst!« Mathilde hob zur Warnung den Zeigefinger. So wie sie es schon früher immer getan hatte, wenn sie sichergehen wollte, dass Lina gehorsam war.

Die zuckte jetzt nur mit den Schultern. »Ich nehme eine Petroleumlampe mit, und dann suche ich den Hof noch einmal ab. Es ist doch möglich, dass wir etwas übersehen haben und sie gar nicht so weit weg ist.«

Lina sprang auf, griff im Flur nach ihrem dicken Wollmantel, den Mathilde ihr im vorigen Jahr gestrickt hatte, und nach dem Schal. Sie zog beides im Gehen an und stürzte aus dem Haus.

Draußen herrschte dichter Nebel, Lina konnte keine drei Meter weit sehen. Lüttje Welt, sagte man hier zu dieser Wetterlage. Normalerweise war das Land jetzt still und wirkte auf seine eigene Art gefangen, doch heute schallten düstere Rufe übers Land.

»Suntje!«

»Suntje!«

»Wo steckst du? Suntje!«

Linas Vater hatte nicht nur die Knechte losgeschickt, sondern auch andere Männer aus Ellenserdammersiel herbeirufen lassen. Deshalb war das halbe Dorf in dieser abendlichen Stunde auf den Beinen.

Gespenstisch klangen die Rufe nach der Kleinen Magd durch den Nebel. Die Stimmen wirkten hohl, und es gruselte Lina.

Trotzdem durchkämmte sie das ganze Gehöft noch einmal. Schaute in die Scheune, schaute hinter jeden Stroh- und Heuballen und öffnete sämtliche Türen. Dann kontrollierte sie in den Stallungen alle Boxen und Gänge. Ergebnislos! Suntje war und blieb verschwunden. Auch wenn es Lina widerstrebte, kam sie nicht umhin, draußen weiterzusuchen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie sich in dieser undurchdringlichen Dunkelheit durch die feuchte Nachtluft zum Tief durchschlug. Es befand sich hinter ihrem Gehöft und zog sich durch die Marsch zum Jadebusen.

Als sie dort ankam, klatschte etwas neben Lina auf. Sie zuckte erschrocken zusammen. Doch es war wohl nur eine Ente, die von ihr aufgeschreckt worden war. Bei diesem Nebel war es unmöglich, auch nur das Geringste zu erkennen. Nicht einmal der Mond besaß genügend Kraft, um auch nur ein kleines bisschen Licht in die Dunkelheit zu zaubern.

Lina begann ebenfalls nach Suntje zu rufen, aber ihre Stimme verlor sich genauso in der Nacht wie die der anderen.

Unverrichteter Dinge kehrte sie nach einer Stunde erschöpft auf den Milchhof zurück und setzte sich auf die oberste der beiden Treppenstufen, die zum Eingang im Haupthaus hinaufführten. Dort legte sie den Kopf in die Hände und weinte bitterlich.

Heute war einfach zu viel passiert. Obwohl Suntje ihr nicht nahestand, traf es sie bis ins Mark, dass sie fort war und keiner wusste, was mit ihr geschehen war. Sie fühlte sich schuldig, auch wenn sie persönlich nichts für ihr Verschwinden konnte. Hatte sie doch immer wieder versucht, mit der jungen Frau klarzukommen, obwohl Suntje ihr nichts als Verachtung entgegengebracht hatte und sie, Lina, den Grund dafür nicht verstand. Lina fühlte sich von den Ereignissen des Tages völlig überrollt.

Und nun saß sie hier. Allein mit ihren düsteren Gedanken, umhüllt von Nebelschwaden, die sie mit ihrer Feuchtigkeit umarmten und winzige Tropfen auf dem Mantel zurückließen.

»Fund!«, hörte Lina plötzlich.

Es klang durch die dichte Nebelwand unheimlich.

Sie durchfuhr ein kalter Schauer.

Wieder »Fund!«

Lina schluckte. Das konnte nichts Gutes bedeuten, denn wenn sie Suntje wohlbehalten gefunden hätten, würden sie jubeln. So aber schallte einzig dieser hohl klingende Ruf durch die Dunkelheit. Lina betete, dass die Kleine Magd nur verletzt, aber nicht tot war.

Sie atmete tief ein und aus und versuchte auf diese Weise, das aufkommende Grauen in den Griff zu bekommen. Langsam erhob sie sich und bohrte ihren Blick in die Undurchdringlichkeit der Lüttje Welt.

Nach einer unendlich lang erscheinenden Zeit sah sie Lichter, die sich aus der Nebelwand lösten und mit jedem Schritt auf und nieder tanzten. Es war unnatürlich still, als die ersten Leute den Hof betraten. Sie hielten die Fackeln und Laternen seitlich, ihnen voraus lief ihr Knecht Johann, der einen leblosen Körper auf dem Arm trug.

»Sie lag einfach im Tief kurz vor dem Hafenbecken«, hörte Lina. »Die ist ins Wasser gegangen. Freiwillig.«

Am liebsten hätte Lina sich die Ohren zugehalten. Doch sie stand wie erstarrt da und hörte kaum, dass sich hinter ihr die Haustür öffnete.

»Nein«, hörte Lina Mathildes Stimme. »Nein.«

Dann entwich ihr ein markerschütternder Schrei, der am Ende mit einem leisen Wimmern endete.

Lina stand auf und nahm Mathilde in den Arm. Sie spürte ihr Zittern, ihre Tränen, die sie immer wieder mit dem Handrücken fortwischte, und das Vibrieren ihres mächtigen Oberkörpers, der in diesem Moment so unendlich schwach wirkte.

Kapitel 4

Suntjes Tod machte in Ellenserdammersiel schnell die Runde, zumal sich viele der Dorfbewohner an der Suche beteiligt hatten. Zwar kannten die meisten sie nur flüchtig, weil die Magd erst kurz in der Gegend lebte und keinen Anschluss gesucht hatte. Aber wenn eine junge Deern ins Wasser ging, war das für alle Gesprächsstoff und sorgte für einige Aufregung.

Mathilde war seit Suntjes Tod allerdings nicht mehr sie selbst. Sie versuchte, ihr Tagwerk so gut es ging zu verrichten, aber es gelang ihr mehr schlecht als recht. Ständig ließ sie etwas fallen oder ihr brannten die Speisen an. In der Käserei hatte sie zu viel Molke abgelassen, und die Käseproduktion eines ganzen Tages war hinüber.

Jetzt stand sie in der Küche und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Gerade war ihr die Milch übergekocht. Das hatte sie vollends aus der Fassung gebracht.

Ich kann nicht mehr, dachte sie, und dann setzte die Endlosschleife in ihrem Kopf erneut ein. Warum hatte sie nicht besser auf ihre Nichte aufgepasst und sie geschützt? Sie hätte es vermocht, wenn sie den Stier bei den Hörnern gepackt hätte.

»Wirklich?«, fragte sie sich selbst. »Welche Möglichkeiten hättest du gehabt? Dir sind doch die Hände gebunden.«

Mathilde setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die zitternden Hände. Sie quälte das schlechte Gewissen, denn sie wusste nicht, wie sie ihrem Bruder mit dieser schrecklichen Nachricht je wieder unter die Augen treten sollte, hatte er doch das Schicksal seiner Tochter in ihre Hände gelegt.