Der natürliche Kompass - Tristan Gooley - E-Book

Der natürliche Kompass E-Book

Tristan Gooley

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Beschreibung

Was zeigt die Krümmung eines Baumes an? Wie erkenne ich an Regenpfützen, wo Norden ist? Und was verrät der Sand unter unseren Füßen über Ebbe und Flut? Der sympathische Abenteurer Tristan Gooley zeigt, wie man sich in Landschaften und Städten, im Wald oder an der Küste orientieren kann – einzig mit den Sinnen. Ohne Landkarte oder GPS, nur mithilfe der Gestirne und Elemente. Dabei geht es nicht nur um Outdoorabenteuer oder Überlebenstraining, sondern um eine beeindruckende, einfach zu erlernende Kunst. Dieses Buch bringt uns bei, genau hinzuschauen, zu riechen, zu hören. Sowohl enthusiastische Nachahmer als auch Daheimgebliebene finden in der Mischung aus Fakten, Erfahrungsberichten, Mythen, Kulturgeschichte und Anekdoten eine spannende Lektüre.

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Titelei

Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deFür Sophie, Bendict und VincentÜbersetzung aus dem Englischen von Gaby WursterMit 26 AbbildungenDer Verlag dankt für die Genehmigung zum Abdruck aus:Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. © Robert M. Pirsig 1974. Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1976Oscar Wilde, Panthea, in: ders., Sämtliche Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Norbert Kohl. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1982Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe1. Auflage 2011ISBN 978-3-492-95283-5© Piper Verlag GmbH, München 2011Redaktion: Fabian Bergmann, IsmaningIllustrationen: Ruth Murray, mit Ausnahme der Zeichnung »Gletschertische« in Kapitel 2 von Science Museum SSPLUmschlag: Birgit Kohlhaas, EglingUmschlagmotiv: Robert Jones/plainpicture/ArcangelDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, Aichstetten

VORWORTZwei Reisen

Die Idee zu diesem Buch kam mir vor vielen Jahren, sie entsprang dem Bedürfnis nach einer Rettungsaktion. Eine ganz grundlegende Fähigkeit der Menschen war im Begriff, an eine effiziente und allgegenwärtige Technologie verloren zu gehen, die unsere räumliche Orientierung zu beherrschen begann. Ich träumte davon, all die Methoden natürlicher Navigation aufzuzeichnen, bevor sie irgendwann vollständig vergessen wären. Dieser Wunsch wurde im Lauf der Jahre immer drängender, zumal die moderne Welt die Möglichkeiten dieser seltenen Fertigkeit auch vollkommen unterschätzte. Niemand schien die früheren Überlebensstrategien als Kunst auch für unsere Zeit zu betrachten, für mich aber sind sie das: eine Kunst, die am schönsten und wirkungsvollsten ist, wenn sie als etwas Auserlesenes und Tiefgründiges gesehen wird und nicht nur als ein Kapitel der Geschichte oder als eine Reihe von Tricks, die moderne Überlebenskünstler anwenden.

Als ich zehn war, machten wir im Sommer Urlaub in Bembrigde auf der Isle of Wight. Nach einem fünftägigen Segelkurs auf einer Holzjolle fragte der Segellehrer meinen Kumpel und mich, als wir die Jolle startklar machten: »Wo wollt ihr denn heute hinsegeln?«

Lässig sprachen wir über die möglichen Ziele, als sei dies die normalste Sache der Welt. Dann ließen wir beiden Jungs unsere Mirror zu Wasser, setzten Segel und nahmen Kurs auf einen nahe gelegenen Strand zum Picknick. Ich erinnere mich noch, wie wir dabei in unserer Phantasie durch die Hochsee schipperten– das Boot mit den Betreuern segelte rücksichtsvoll außer Sichtweite. Ich war erst zehn Jahre alt und hatte mir schon die Fähigkeit erworben, zu segeln, wohin ich wollte– nicht wohin die Lehrer mich schickten, nicht wohin meine Eltern wollten, sondern wohin mich selbst es zog. Ganz schön verwegen!

Mit der Zeit wurden meine Reisen anspruchsvoller, und mit Mitte zwanzig hatte ich eine gewisse Erfahrung im Wandern, Segeln und Fliegen von Leichtflugzeugen. Mich faszinierte nicht so sehr die körperliche Betätigung, sondern die Wissenschaft und die Kunstfertigkeit, von A nach B zu kommen, das Know-how, mit dem ich Reisen planen und durchführen konnte. Und ich entdeckte, dass diese wunderbare Kunst einen Namen hat: Navigation.

Um mich darin zu üben, beschloss ich, den Atlantik erst im Alleinflug, dann einhand mit dem Boot zu überqueren. Ganze sieben Jahre später– ich war währenddessen zweimal Vater geworden, und der Arbeitsdruck war immens– war es so weit: Prinz Philip verlieh mir am 1.Januar 2008 vor der Royal Geographical Society den Royal Institute of Navigation’s Award.

In diesem Buch geht es um eine andere Reise; sie fand im Schatten meiner von den Medien begleiteten Atlantiküberquerungen statt– und ist auch die weitaus interessantere.

Während ich nachts Bücher über Luftrecht und Funkverkehr las, musste ich leider feststellen, dass diese formalen und technischen Details nur wenig mit der Leidenschaft zu tun hatten, die mich seit meiner frühen Kindheit fesselte. Es war frustrierend. Ich reiste schon immer gern, lange bevor ich begriff, dass sich in dem Wort »Navigation« meine unterschiedlichen Interessen vereinen könnten. Aufregend war für mich die Verbundenheit mit der Natur, die ich auf Reisen empfand, der Kontakt mit der Welt um mich herum. Ich begann mich so umfassend wie möglich über instrumentenlose Navigation zu informieren– die Fähigkeit, eine Art »natürlichen Kompass« zu verwenden. Und die Frustration verschwand, während sich dieses neue Interesse immer intensiver entwickelte.

Während ich mir die Fertigkeiten aneignete, um die erträumten Reisen zu unternehmen, musste ich eine andere Welt betreten, eine Welt, die von meinen romantischen Vorstellungen und Sehnsüchten so weit entfernt war, wie man sich nur denken kann: Monitore, Bürokram, Checklisten, unzählige Abkürzungen. Ich lernte, was GPS ist, AIS, ILS, ADF, NDB, VHF, DME, UHF, SSB, VOR, ASI, VSI… Die Liste nimmt kein Ende. Klar, ich musste diese Welt begreifen, aber leben wollte ich darin nicht. Vielmehr kam es mir darauf an, für die Zukunft die natürlichen Faktoren des Reisens zu verstehen.

Als ich mich dann mit natürlicher Navigation und Orientierung befasste, stieg in mir ein regelrechtes Hochgefühl auf. Eine Welt, die sich nicht wesentlich verändert hatte, wurde lebendig mit der Frage: »Wohin blicke ich?« Sie war für mich wie ein Schlüssel, mit dem ich mir die Natur erschließen konnte. Bald stellte ich fest, dass nicht die Antwort ausschlaggebend ist, sondern wie wir diese Antwort finden– oder unter Umständen auch nicht finden. Aus diesem Grund will ich mit dem vorliegenden Buch auch mehr anstoßen, als nur eine Antwort auf jene Frage zu geben.

Es besteht ein Unterschied zwischen dem Finden und dem Kennen des Wegs. Es ist möglich, jemandem in nur wenigen Minuten beizubringen, wie er sich bis auf einen Kompassgrad genau orientieren kann. Dann hat er das Know-how, um sich ohne Karte, Kompass oder Navigationsgerät auf den Weg zu machen, mehr aber auch nicht. Er schlägt vielleicht die richtige Richtung ein, seiner Reise fehlt aber trotzdem noch das gewisse Etwas.

In den folgenden Kapiteln will ich zeigen, wie man sich an naturgegebenen Hinweisen orientieren kann, vorrangig aber will ich dem Leser die Schönheit und das Potenzial der natürlichen Orientierung vor Augen führen. Sie kann ebenso eine mentale wie auch eine physische Reise sein– genau das macht sie zu einer hohen Kunst. Die Art und Weise, wie wir unsere Sinne und unseren Verstand nutzen, um die Frage »Wohin blicke ich?« zu beantworten, vermag Gedanken, Assoziationen und Vorstellungen zu wecken, die so aufregend sind wie die Reise selbst.

Sie, liebe Leser, stehen nun kurz davor, in die absolute Weltspitze der Navigatoren aufzusteigen, sich zu jenem einen Prozent hinzuzugesellen, das den natürlichen Kompass zu benutzen weiß.

Willkommen in dieser so seltenen Kunst!

EINFÜHRUNGDie Kunst der Navigation und Orientierung anhand naturgegebener Faktoren

Wenn analytisches Denken, das Messer, auf die Erfahrung angewandt wird, geht dabei immer etwas zugrunde. Das ist auch recht gut bekannt, zumindest in der Kunst. Mir fällt ein, wie es Mark Twain erging, der, nachdem er das analytische Wissen erworben hatte, das man braucht, um Mississippi-Schiffer zu werden, auf einmal feststellen musste, dass der Fluss seine Schönheit verloren hatte. Irgendetwas geht immer zugrunde. Aber– und dies ist in der Kunst weniger bekannt– es wird auch immer etwas Neues geschaffen.ROBERT M. PIRSIG, Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten

Natürliche Navigation ist die Kunst, sich mithilfe der Natur zu orientieren. Sie besteht hauptsächlich in der seltenen Fähigkeit, ohne Instrumente und Geräte, nur anhand natürlicher Anhaltspunkte wie Sonne, Mond, Sterne, Land, Meer, Wetter, Pflanzen und Tiere seine Position und Richtung zu bestimmen– durch Beobachtungen und die Schlussfolgerungen, die man daraus zieht.

Natürliche Navigation ist eine alte Kunst aus einer Zeit, als es noch gar keine andere Möglichkeit gab, sich zu orientieren. Um die Sache voll und ganz zu erfassen, muss man zurückblicken. Die ersten Wanderungen und Reisen sind noch immer geheimnisumwittert. Es gibt nur wenige handfeste Beweise, aber wir wissen, dass sie stattgefunden haben, denn die Menschen haben ihren Weg in jeden Winkel der Erde gefunden. Durch archäologische Funde können die Routen nachgezeichnet werden, die frühesten Navigationsmethoden aber bleiben weitgehend im Dunkeln. Auf einer Insel vor der Pazifikküste der USA fand man einen 13000Jahre alten Oberschenkelknochen, der mit seinem Besitzer vom Festland gekommen war. Das beweist, dass Menschen schon damals Bootsfahrten unternahmen, es erklärt aber nicht, wie sie ihren Weg fanden.

Natürliche Selektion führte dazu, dass Tiere und Menschen, die nicht in der Lage waren, sich zu einem überlebenswichtigen Ort durchzuschlagen, nicht zum Genpool der kommenden Generation beitrugen. Und selbst wenn die Hinreise nicht gefährlich war– die Rückreise war es womöglich. Es war keine große Sache, in die Welt hinauszuziehen, aber wem die Fähigkeit fehlte, zurück zu Nahrung sowie Unterschlupf und Geborgenheit zu finden, für den konnte das Abenteuer tödlich ausgehen. Die Evolutionstheorie konzentriert sich dabei meistens auf den physischen Aspekt. Als Regel gilt generell: Je schneller das Tier, desto besser seine Chancen. Doch wenn es beim »großen Rennen«, dem Kampf ums Überleben, in die falsche Richtung läuft, scheidet es schnell aus– wie auch bei jeder anderen Reise. Heute wissen wir, dass wir zum Teil deswegen existieren, weil unsere Vorfahren sich orientieren konnten, auch wenn uns noch nicht so richtig bekannt ist, wie sie das überhaupt angestellt haben.

Reisen früherer Zeiten vermögen die der Moderne zu bereichern, weil die Menschen damals ihre Umwelt besser zu lesen verstanden als die meisten heutigen Globetrotter. Von den Alten können wir viel lernen– aber es ist in keinem Buch niedergeschrieben. Einige Puzzleteilchen wurden mündlich überliefert oder aus frühen Steinbildern gedeutet.

Die Mythen einer bestimmten Kultur setzten ihre Angehörigen jeweils miteinander und mit der sie umgebenden Welt sowie mit ihrer Vergangenheit in Beziehung. Man sollte diese Geschichten nicht ganz außer Acht lassen– selbst wenn sie nur im übertragenen Sinn zu verstehen sind, so musste der Erzähler doch einen gewissen Grad an Wirklichkeit einfließen lassen, um sein Publikum zu überzeugen. Dazu war es unter anderem notwendig, den Rahmen seiner Geschichte möglichst detailliert und authentisch zu gestalten. Die Erzählung selbst mochte seiner Phantasie entsprungen sein, aber sie spielte in der Welt seiner Zuhörer. Der ägyptische Gott Horus hilft uns nicht direkt bei der Orientierung, aber die Mythen, die ihn umgeben, gewähren uns einen Einblick in die Himmelswahrnehmung der alten Ägypter: Horus nahm die Gestalt eines Falken an, seine Augen waren Sonne und Mond. Sein linkes, das Mondauge, war verletzt, manchmal war er auf diesem Auge blind; doch auch wenn er sehen konnte, war sein Mondauge immer schwächer als das rechte, das Sonnenauge. Die Ägypter kannten also die Mondphasen– vom unsichtbaren Neumond hin zum Vollmond und zurück. Die Sonne hingegen hat keine Phasen.

Mythen wurden aber nicht geschaffen, um dem modernen Reisenden zur Seite zu stehen, daher bleiben uns die Lektionen, die sie lehren könnten, oft verborgen. Die Mythen um Perseus sagen uns heutzutage vielleicht eher wenig, doch wenn man weiß, dass der griechische Held die äthiopische Königstochter Andromeda vor einem Seeungeheuer gerettet hat, kann man den Nachthimmel besser lesen– die Sternbilder Perseus und Andromeda stehen nämlich nebeneinander.

Religiöse Texte sind eine weitere Quelle aus dem Altertum. Je nach Sichtweise spiegeln sie die Realität wider oder versuchen diese zu erklären, aber so oder so liefern sie wertvolle Informationen über frühe Weltsichten, Reisen und Navigationsmethoden. Im Koran (Sure16, Verse12–16) werden Sonne, Mond, Sterne, Schatten, Flüsse, Pfade und Wegzeichen als Orientierungshilfen erwähnt. In einem dieser Verse heißt es bekräftigend: »Siehe, hierin ist wahrlich ein Zeichen für einsichtige Leute.«

Die Geschichtsschreibung der Navigation will hauptsächlich eine Antwort auf die Frage finden: »Wie haben sich Menschen orientiert?« Aber vielleicht sollte man als Erstes besser fragen: »Warum?« Da Navigation zu den praktischen Aspekten des Reisens zählt, ist jeder Anlass, sich zu orientieren, untrennbar mit den Reisemotiven verbunden.

WOZU DIENT NAVIGATION ÜBERHAUPT?

Mitte der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts floh der legendäre Wikinger Erik der Rote nach einem Mord, den sein Vater begangen hatte, mit seinen Eltern aus Norwegen. Sie überlebten die Fahrt über den kalten Nordatlantik und ließen sich auf Island nieder. Doch dort wurde auch Erik wegen Mordes verurteilt und aus dem Land verbannt. Er zog weiter, dieses Mal nach Grönland. Den Namen »grünes Land« wählte er, um isländische Kolonisten für ein Gebiet anzuwerben, das alles andere als grün war. Fünfundzwanzig Schiffe setzten in Island Segel, um Erik an die neuen Ufer zu folgen. Die Besatzungen und Passagiere von elf Schiffen konnten sich allerdings nicht selbst von der euphemistischen Benennung Grönlands überzeugen, sie schafften es nicht übers Meer. Aber der Rest der Flotte kolonisierte die grönländische Südspitze, und Erik der Rote ging in die Geschichte ein als Entdecker dieses Landes und als großer Seefahrer, der den Europäern diese Route erschlossen hat.

Gewalt– in weit größerem Ausmaß als bei Erik– war schon immer ein Auslöser für große Reisen und Pionierleistungen in der Navigation. Kriege und Eroberungen trieben ganze Völkerscharen zu epischen Unternehmungen an. Hinter vielen großen Expeditionen stand der Hunger nach neuem Land, angefangen bei dem an verschiedenen Stellen in der Bibel erwähnten Pharao NechoII.– er wollte um 600v.Chr. Kanäle durch sein Reich ziehen und betrieb außerdem die Erstumsegelung Afrikas von Osten nach Westen– bis hin zu den Europäern, die sich im ausgehenden 19.Jahrhundert auf die Jagd nach afrikanischen Kolonien machten. Die frühen Wanderungen waren wahrscheinlich oft dem Hunger und dem Kampf ums Überleben geschuldet. Wenn die Ressourcen eines Gebietes erschöpft sind, muss sich das hungernde Volk entscheiden, ob es weiterzieht oder bleibt und stirbt. Aus der Geschichte der Menschheit spricht jedoch ein Appetit, der nur schwer zu stillen ist. Heutzutage nimmt ein Navigator im Kampf gegen den Hunger eine Karte, geht an Bord einer Hercules und transportiert Hilfsgüter in den Sudan. Eine ganz andere Art Hunger bekämpft jener, der auf der Brücke eines Containerschiffs im chinesischen Hafen Ningbo die Karte konsultiert und dann mit einer Ladung Plastikspielzeug Kurs auf die USA nimmt.

Nach einer unserer vielen selbstgefälligen Meinungen gehört der Wunsch, zu reisen, um eine intellektuelle Neugier zu befriedigen, angeblich in unsere Zeit. Doch schon der athenische Staatsmann und Dichter Solon reiste um 600v.Chr. vom Fernweh getrieben nach Ägypten, und der römische Dichter und Astrologe Marcus Manilius, der um die Wende des ersten vor- und des ersten nachchristlichen Jahrhunderts lebte, gab seinem Erstaunen darüber Ausdruck, dass die Leute eher reisten, um Kunst und Tempel zu sehen, als den Ätna in seiner Naturgewalt zu bewundern.

Auch Impulsivität, Spontaneität und Abenteuerlust haben beim Reisen schon immer eine Rolle gespielt. Die großartigen natürlichen Navigatoren des mikronesischen Atolls Puluwat hatten die Angewohnheit, sich zu betrinken und dann auf die benachbarte unbewohnte Insel Pikelot zu segeln: »Ein Minimum an Ausrüstung und ein Maximum an Lebensmitteln werden eingeladen, dann segeln sie singend und grölend los, kreuzen durch die Lagune und hinaus auf die offene See, während die Frauen und andere nüchterne Seelen am Strand stehen und ihnen missbilligend nachblicken«, schreibt der Anthropologe Thomas Gladwin.

Der Grund für solche Reisen mag zum Teil eine zeitweilige Flucht vor Verantwortung sein. Wer könnte aufrichtig behaupten, er hätte noch nie den Wunsch gehabt, seine Siebensachen zu packen und einfach »abzuhauen«?

Gewisse andere Reisegelüste werden nicht unbedingt bei einer Abendgesellschaft ausgeplaudert, obwohl sie bekannt sind: Wir machen uns auch für Sex auf die Socken. Lange bevor die Pazifikfahrer des 18.Jahrhunderts mit Geschichten über schöne Frauen und deren Freizügigkeit zurückkamen, versprachen neue Gegenden auch sexuelle Abenteuer. Das historische Verständnis dieser Thematik hat wegen seiner Phallozentrik zwar etwas Schlagseite, aber es war nie vollkommen einseitig. Die sumerische Liebesgöttin Inanna besah sich ihre Vulva und war ergötzt von der Macht ihres Schoßes. Mit einem Boot begab sie sich auf einen Plünderungszug, auf dem sie Sex als Waffe einsetzte. Sie machte den Erdgott Enki– den Herrn über Wasser und Weisheit, dessen Geschlechtstrieb so groß war wie seine Zurückhaltung beim Bierkonsum gering– betrunken, liebte ihn, bis er völlig erschöpft war, und machte sich davon. In ihrem Boot türmte sich genau die Beute, auf die sie aus gewesen war. Nicht zum letzten Mal sollte sich so eine Taktik als wirksam erweisen…

Wir reisen aber nicht nur, um zu entkommen, zu konsumieren und zu kopulieren, sondern auch um nachzudenken und kreativ zu sein. Jean-Jacques Rousseau schrieb in Bekenntnisse: »Wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken.«

Navigation ist ein Aspekt des Unterwegsseins, aber unsere Chancen, uns eine Reise umfänglich zunutze zu machen, steigen, wenn wir unsere Gründe dafür hinterfragen. Ob wir nun von Hunger, Durst, Habgier, Liebe, Sex, Krieg, von philosophischen oder kulturellen Motiven oder vom Wunsch getrieben sind, das Meer zu riechen– diese Gründe werden sehr wahrscheinlich darüber bestimmen, wie wir die Welt betrachten und was wir daraus für Schlüsse ziehen.

DIE STILLE REVOLUTION

Die Navigation durchlief einen tief greifenden Wandel. In der Kunst der Wanderschaft gab es eine stille technische Revolution.

Einfache Instrumente wie das Kamal– eine Holzplatte mit einer langen Schnur zur Winkelbestimmung– wurden von den Arabern schon vor über tausend Jahren erfunden. Das Kamal war der Vorläufer des Sextanten, mit dem ein Winkel ziemlich genau berechnet werden kann. Eine der frühesten Erwähnungen des Kompasses findet sich Anfang des 13.Jahrhunderts in Guyot de Provins’ Spottgedicht Bible. Dort lässt sich der Beginn einer Entwicklung nachvollziehen, durch die ein Mensch, der die bis dato wertvollen Kenntnisse über die Sterne, die Sonne, den Mond und das Meer hatte, von einem »hässlichen bräunlichen Gestein, dem sich Eisen willig zugesellt« aus dem Feld geschlagen wurde. Und nun wird die Überlegenheit des Kompasses vom unaufhaltsamen Aufstieg der Satellitennavigation infrage gestellt.

Das Verständnis der bahnbrechenden Veränderung in der Beziehung zwischen Navigator und Natur, die mit der Erfindung immer feinerer, immer exakterer Instrumente eingeleitet wurde, ist hilfreich, wenn wir die Rolle der Orientierung für das Reisen untersuchen.

Das Ausmaß dieser Revolution zeigt sich im veränderten gesellschaftlichen Status des Navigators. Seine Stellung in seinem Umfeld sagt sehr viel über die Beziehung dieses Umfelds zur Umwelt aus. In vielen Kulturen gibt es einen Zusammenhang zwischen männlicher Reife und der Fähigkeit, den Weg zu finden. Der Evolutionsbiologe Robin Baker (1981) schildert, wie junge Aborigines als Initiationsritus auf eine längere Reise gehen müssen. Der Erwerb von Kenntnissen zur räumlichen Orientierung gilt als Metapher für den Erwerb von Lebenstüchtigkeit und wird durch dieses Ritual charakterisiert.

Im Pazifik wurde Navigatoren traditionell ein höherer Status zuerkannt, sie standen nicht weit unter den Priestern. Ihr Wissen wurde von den Vätern an die Söhne weitergegeben und eifersüchtig gehütet. So wie sprichwörtlich der Einäugige im Land der Blinden König ist, so konnten sich wohl auch die Pioniere unter den Navigatoren ihren gesellschaftlichen Rang aussuchen, denn sie ermöglichten Reisen und unter Umständen auch neue Besiedlungen. Der Legende nach führte Nana-Ula vor tausend Jahren eine große Expedition von Tahiti nach Hawaii und wurde der erste König des Archipels.

Es ist nicht weiter erstaunlich, dass jede Fähigkeit zur Steigerung der Überlebenschancen an Orten wie zum Beispiel der Arktis, wo die Natur unerbittlich und das Leben gefährlich ist, zu einem wichtigen Status in der Gesellschaft verhilft. Bei den Inuit »wird ein guter Navigator still verehrt, ein schlechter wird leise verlacht«, wie John MacDonald schreibt, der über viele eigene Erfahrungen mit dieser Volksgruppe verfügt.

In unseren Industriegesellschaften verliert der Navigator langsam den Platz, der einem Menschen mit wertvollem Können zusteht, und gilt nur mehr als Gerätebediener. Auch der Beruf als solcher stirbt aus, weil Computer die Navigation übernehmen und sich Aufgaben verschmelzen. So sitzen in Flugzeugcockpits zwar noch Piloten, die navigieren können, aber nur wenige sind ausgebildete »Navigatoren«.

WARUM NATÜRLICHE NAVIGATION?

Die Orientierung mittels des natürlichen Kompasses ist, wie gesagt, eine äußerst seltene Kunst, sie ist aber noch nicht ganz verschwunden. Meist sehen wir sie nur in Zusammenhang mit der Frage, wie frühere Kulturen ihre Umwelt wahrnahmen. Unsere heutige Haltung gegenüber den Errungenschaften der Vergangenheit hat etwas Gönnerhaftes– gemeinhin wird die Beziehung unserer Vorfahren zur Natur als etwas angesehen, dem es noch an Perfektion mangelte. Das ist eine Krankheit unserer Zeit: So wie wir unser Leben führen, nehmen wir uns meistens keine Zeit für eine eingehende Betrachtung unserer natürlichen Umwelt; wir erachten diese Lebensweise als höherwertig, verkennen dabei jedoch, was verloren gegangen ist. Mit einer historischen Herangehensweise an die natürliche Navigation kann der moderne Reisende erfassen, was möglich war und ist, aber damit sollte das Thema nicht erschöpft sein. Der natürliche Kompass gehört nicht ins Museum.

Der zweite Bereich, in dem diese Kunst überdauert hat, ist die Überlebenstechnik. Darunter wird allerdings oft nicht »Survival« an sich, sondern eher das sogenannte »Bushcraft« verstanden, die Fähigkeit, sich durch Wissen und praktische Fertigkeiten über längere Zeiträume in einer natürlichen Umgebung zu bewegen und dabei möglichst wenig moderne Technologie zu benutzen. Durch die Naturverbundenheit steht Bushcraft meinem Ansatz näher als der klassische Survivalismus, die Unterschiede liegen jedoch meist nur in einzelnen Akzenten und Strategien. Andererseits ist Bushcraft voll und ganz praktisch ausgerichtet, ich aber verstehe die historischen, mythologischen und philosophischen Hintergründe als integrale Bestandteile meines Ansatzes zur Orientierung mittels des natürlichen Kompasses.

Eine andere Variante der Überlebenstechnik ist die Notfallnavigation– David Burchs gleichnamiges Buch, in dem er den Begriff prägte, kann ich wärmstens empfehlen. Dass ein Navigator sich auch zurechtfinden sollte, wenn die Elektronik oder auch die Kompasse ausfallen, sollte im Grunde eine Selbstverständlichkeit sein; es ist aber nicht notwendigerweise ein vorrangiges Motiv für das Erlernen dieser Techniken, denn im Normalfall funktionieren die Instrumente, ein Ausfall ist eher die große Ausnahme.

Es gibt über die Verwendung des natürlichen Kompasses nur wenige Bücher, das Thema wird aber, wenn auch oberflächlich und lediglich auf ein paar Seiten, in den vielen Hundert Veröffentlichungen zu Überlebenstechniken angesprochen– und zwar fast immer unter einem extrem pragmatischen Aspekt. Sonne und Sterne dienen der Orientierung, mehr muss man darüber nicht wissen. Überleben ist per definitionem ein dringender Notfall, daher wird fast alles ausgeblendet, was daran auch faszinierend ist. Survivalisten nehmen sich nicht die Zeit, den griechischen Astronomen Hipparch zu lesen oder über die geheimnisvolle Beziehung zwischen Strand und Mond zu sinnieren.

Mitunter wird natürliche Orientierung als eine Reihe von Tricks und Kniffen behandelt, aber bei dieser oberflächlichen Betrachtungsweise bringen wir uns um die Chance, richtig mit der Natur in Beziehung zu treten. Manchmal findet man den Weg mit natürlichen Hilfsmitteln in wenigen Sekunden, ohne sich groß auf unsere Umwelt einzulassen. Doch um den Weg zu kennen, muss man ein grundlegenderes Wissen über sie haben. Zur Bereicherung unserer Erfahrungen ist es also wichtiger, zu begreifen, warum eine Methode funktioniert, als sie tatsächlich anzuwenden. Das ist der Unterschied zwischen der Orientierung im Rahmen der Überlebenskunst und jener mithilfe des natürlichen Kompasses.

Methoden zur Orientierung wurden aus der schieren Notwendigkeit heraus entwickelt, und jahrtausendelang war das größte Bedürfnis der Menschen auf Wanderschaft eine verbesserte Sicherheit. Orientierung hatte schon immer mit Sicherheit zu tun. Man kann daraus schließen, dass diese bei jeder Reise auch weiterhin Vorrang hat, aber wir sollten die Reisemotive nicht außer Acht lassen. Neben dem Bestreben, sein Ziel sicher zu erreichen, gibt es auch die pure Freude an der Herausforderung, dieses Ziel erst einmal zu finden.

Man scherzt ja gern darüber, dass die meisten von uns ihr Leben lang klapprige, unbequeme Autos fahren, und die wenigen, die sich irgendwann einmal einen Rolls-Royce mit allem Drum und Dran leisten können, den Schlüssel dann ihrem Chauffeur geben… Wenn also das Schöne an einer Reise darin liegt, die Welt zu begreifen, in der wir uns bewegen, warum sollten wir alles einem Navi überlassen?

Die gute Nachricht: Man muss sich nicht mehr zwischen Erlebnis und Sicherheit entscheiden. Heutzutage kann man beides haben. Die Art und Weise, wie natürliche Navigatoren ihren Weg suchen, bedeutet keineswegs, die Sicherheit zu vernachlässigen, vielmehr wird sie sogar noch erhöht, wenn man neben dem natürlichen Kompass auch verantwortlich mit den Geräten umgeht.

Darin liegt eine wundervolle Ironie. Die neuen Technologien ermöglichen uns wieder einen Kontakt mit der Natur, der vor hundert Jahren undenkbar gewesen wäre. Navigationsinstrumente geben uns Gelegenheit, den natürlichen Orientierungshilfen– Land, Meer, Himmel, Wind– mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt nötig ist, sich auf natürliche Weise zu orientieren. Da man auch ohne die geringste Ahnung von dieser so alten Kunst durchs Leben kommt, lautet die Antwort ganz klar: nein. Aber man überlebt ja auch, ohne etwas über Musik, Theater oder Geschichte zu wissen. Die bessere Antwort wäre also: Es ist egal, ob man sich eine Zeitung kauft oder den Ozean überquert, aber durch die Nutzung des natürlichen Kompasses bekommt man ein besseres Verständnis von seiner Umwelt.

Abgesehen davon, ist berechtigterweise anzuführen, dass Menschen, die für die Sicherheit anderer verantwortlich sind, ob nun beim Militär oder in einem zivilen Rahmen, eigentlich die Pflicht haben, sich zumindest mit den Grundlagen der natürlichen Navigation auseinanderzusetzen, damit sie im Falle größerer Systemabstürze oder fataler elektromagnetischer Störungen ihren Aufgaben überhaupt nachkommen können.

Jedenfalls ist die natürliche Orientierung eine Befähigung für die Gegenwart und die Zukunft. Sie ist eine Kunst für die Zeiten, in denen alles eher glatt läuft, weniger für jene, in denen unser Leben in Gefahr ist. Viele bekommen damit einen »Schlüssel« in die Hand, »mit dem sie sich einen faszinierenden Text in der reich ausgestatteten Bibliothek der Erde erschließen können«, wie es ein Teilnehmer eines meiner Kurse beschrieb.

LOS GEHT’S

Vertrautheit ist die Grundlage jeder frühen Orientierungserfahrung. Kleine Kinder haben ihre Eltern oder ihr Zuhause gern in Sichtweite und verlassen sich bei der Orientierung auf bekannte Punkte. Je älter das Kind wird, desto weiter entfernt es sich auf seinem Weg in die Welt hinaus von seinem Heim.

Als Erwachsene haben wir diesen Prozess so verinnerlicht, dass wir kaum darüber nachdenken, wie er funktioniert. Aus der Vertrautheit mit der Umgebung erwachsen Assoziationen, die meist logisch und hilfreich sind: Wer auf einem Hügel wohnt, wird schnell begreifen, dass es bergab wohl kaum nach Hause geht. Aber Menschen neigen auch zu falschen Annahmen– aus ein paar Gebäuden in der Ferne schließen sie, dass dort eine Stadt sei, wohingegen sie in Wirklichkeit in der anderen Richtung liegt. Bei der Verwendung des natürlichen Kompasses kommt es daher auf eine effektive Kombination von Beobachtung und Deduktion an. Ein Hinweis in eine bestimmte Richtung hilft nicht weiter, wenn man daraus die falschen Schlüsse zieht.

Wir lernen, unsere heimische Umgebung mithilfe einer Reihe wiedererkennbarer Punkte zu »lesen«, ob es nun von Menschenhand Geschaffenes ist, zum Beispiel Geschäfte oder Straßenkreuzungen, oder ein Flussufer, zu dem wir uns in einer bestimmten Entfernung befinden. Dabei ist es gleichgültig, ob es ein künstlicher oder ein natürlicher Orientierungspunkt ist, Hauptsache, es funktioniert. Wir widmen unsere Aufmerksamkeit automatisch dem Punkt, der uns am wegweisendsten erscheint, auch wenn wir dadurch frühere Orientierungsfähigkeiten einbüßen. Die Inuit in Nordalaska sollen John MacDonald zufolge natürliche Navigationsmethoden verlernt haben, nachdem sehr viel eindeutigere Orientierungshilfen wie Funkmasten, Türme und hohe Gebäude errichtet worden waren. Als man 1990 einige große Radarstationen schließen wollte, baten die ansässigen Inuit darum, die Bauten als nützliche Landmarken stehen zu lassen, weil man sie noch aus sechzig Kilometer Entfernung sieht. Diese Anpassung ist auch im Tierreich zu beobachten: Bienen orientieren sich gleichermaßen an wiedererkennbaren natürlichen wie auch an künstlichen Punkten.

Folgende Aspekte zu nutzen, ist nun die erste Methode zur instrumentenlosen Orientierung: die Vertrautheit und Wiedererkennbarkeit unserer Umgebung, die Beziehung der einzelnen Orientierungspunkte zueinander sowie zu unserem Standort und Ziel. Die Sache hat jedoch zwei Haken: Die Orientierung anhand natürlicher Wegzeichen funktioniert nur an Land und auch nur dann, wenn man ein Gebiet gut kennt. Außerdem ist unsere Wahrnehmung der Umwelt subjektiv. Meine innere Landkarte unterscheidet sich stark von der einer anderen Person. Wie oft hat uns schon ein Einheimischer einen Weg beschrieben, den er für idiotensicher hielt: »Gehen Sie über den Hügel und bei den Kiefern dort rechts, dann ist es das zweite Haus hinter dem Haus mit dem roten Dach…« War mit dem Hügel die Erhebung da hinten oder die da vorn gemeint? Sind das hier die Bäume, die er erwähnt hat? Und ist dieses Dach dort rot oder doch eher orange…?

Es gibt aber eine Möglichkeit, Orte zu beschreiben, ohne sie zu kennen und ohne subjektiv zu sein. Dabei muss man allerdings anders vorgehen. Es ist wie eine neue Sprache.

SCHLUSS MIT DEN KONVENTIONEN

Die Lage jedes Ortes in der Welt kann in Beziehung zu einem bekannten Punkt und zu der Entfernung von ebendiesem Punkt beschrieben werden. Dazu müssen jedoch alle Beteiligten genau wissen, wo dieser Punkt ist, wie man eine Richtung angibt und was das für die Entfernungsangabe verwendete Längenmaß bedeutet. Wenn diese Kriterien übereinstimmen, gibt es kein Richtig oder Falsch, es zählt nur, was funktioniert. In der Sprache der internationalen Navigation ist es üblich, einen Ort durch seine Lage südlich oder nördlich des Äquators (Breitengrad) und östlich oder westlich von Greenwich (Längengrad) zu bestimmen. Die Richtung wird angegeben, indem man, beginnend bei »Nord«, also am Nordpol, den Kreis in 360Grade einteilt und sich im Uhrzeigersinn nach Süden und wieder zurück bewegt. Diese sehr verbreitete Methode ist jedoch kein Universalsystem. Muslime beispielsweise orientieren sich an Mekka. Viele Menschen legen auch vertraute heimische Gegebenheiten zugrunde; wenn man sagt: »Ich geh rauf in die Stadt«, kann »rauf« statt »nach Norden« auch »nach Süden« bedeuten.

Der Gebrauch von Breiten- und Längengraden ist eine nützliche Konvention, in alltäglichen Situationen aber wirken diese Angaben gekünstelt und mathematisch. Winkelgrade werden üblicherweise mit Instrumenten gemessen, auch wenn wir das hier nicht tun; dennoch ist es im Grunde eine ganz natürliche Sache: Zehn Grad sind schlicht und ergreifend ein Sechsunddreißigstel eines Kreises, ob man sie nun mit dem Sextanten, dem Kompass oder der am ausgestreckten Arm geballten Faust misst (bei Erwachsenen umfasst das etwa zehn Grad).

Entfernungsangaben sind etwas komplizierter, weil Längenmaße bis heute von Nation zu Nation differieren. Aber auch hier liegen die Wurzeln in der Natur: »Meile« kommt vom römischen mille passus, »tausend Schritte«, und der »Meter« wurde 1791 von der französischen Nationalversammlung als der zehnmillionste Teil der Entfernung zwischen Nordpol und Äquator via Paris definiert.

All das ergibt schon eine Sprache, eine Art Stenogramm, um Richtung und Entfernung zu übermitteln. Wobei eine bestimmte stenografische Darstellung nicht automatisch korrekter oder inkorrekter ist als eine andere. Wenn unter Freunden eine Richtung in Bezug zu einem lokalen Orientierungspunkt und die Entfernung zu einer bestimmten Stelle in Bananenlängen angegeben wird, kann das selbst das Royal Institute of Navigation nicht widerlegen. Birmingham ist und bleibt am selben Ort, ob man nun sagt, es liege vom Postamt aus in Richtung des Pubs Hound and Fox 947976Bananenlängen entfernt, oder ob man sagt, es liege 162Kilometer nordwestlich von London oder 52,5° Nord und 2°West. Da aber die meisten Menschen die beiden letztgenannten Angaben eher nachvollziehen können, entsteht eine Konvention– eine Sprache, die das Leben leichter machen soll. Das Erlernen einer neuen Sprache schreckt oft aber auch ab, weshalb die Kunst der Navigation durchaus befremdlich wirken kann, selbst wenn die meisten Prinzipien, auf denen sie basiert, ganz natürlich und einfach sind. Das gilt auch für andere Bereiche, in denen Konventionen entstanden sind, zum Beispiel in der Astronomie.

Sterne werden nicht schöner, wenn man ihre Namen auswendig kennt. Sternbilder gibt es nur in unserer Vorstellung, insofern ist es eine ganz persönliche Entscheidung, ob wir die konventionellen Bezeichnungen übernehmen oder eigene Namen erfinden. Der Stern Kastor im Sternbild Zwillinge– ist das tatsächlich nur ein Stern in einem Sternbild? Oder der sterbliche Sohn des Tyndareos, wenn nicht gar des Zeus, der Bruder der schönen Helena? Ist er ein seltenes, 52Lichtjahre von der Erde entferntes Sechsfachsternsystem? Oder ein »Biber«? Denn das bedeuten castor im Lateinischen und kástoras im Griechischen. Natürlich ist er das alles und noch viel mehr, je nach Perspektive.

Wie so viele Befähigungen der Menschen wurde auch die Kunst der Navigation durch Konvention zu einer Art Geheimwissenschaft. Schade. Denn es ist ein tolles Thema, das zudem auch so wichtig für unser Leben ist. Es wäre sehr viel zugänglicher und damit sehr wahrscheinlich auch bekannter, packte man es nicht in Fachausdrücke. Was man heute landläufig »Entdeckungen« nennt, hat vor allem mit der Fähigkeit zu tun, sich zu orientieren. Entdeckungen fesseln unsere Phantasie durch eindrucksvolle Bilder und spannende Schilderungen; solche Abenteuer sind aber nur durch Navigation möglich.

Wenn ich mich hier nach der Konvention ausdrücke, tue ich dies nur, weil es am verständlichsten ist, und nicht, weil es der Schönheit dieses Themas gerecht würde. Natürliche Navigatoren müssen die Freiheit haben, die Konvention in jene Sprache zu übersetzen, die ihnen am leichtesten fällt, seien es nun Bananenlängen oder was auch immer.

Der erste Schritt auf dem Weg zum Gebrauch des natürlichen Kompasses ist die Beobachtung, und die erste Lektion lautet, dass Beobachtung nicht nur etwas mit Sehen zu tun hat. Und selbst wenn– das Erfasste geht weit über das rein Optische hinaus.

VERBUNDENHEIT MIT DER NATUR

Die Natur ist langweilig. Irgendein Pelztier trabt über den Bildschirm, während ein Kommentator sich monoton darüber auslässt. Ein Boot dümpelt unter einer gleißenden Sonne auf dem endlosen blauen Meer, die Crew spielt schwitzend Karten und vergeht vor Langeweile. Die immer gleichen Bäume fliegen an einem Autofenster vorbei… Doch im nächsten Moment ist plötzlich alles anders.

Mit der Luft, die durch den offenen Spalt des Autofensters dringt, weht der unvergleichliche Duft des Meeres herein. Wir nähern uns der Küste, Kindheitserinnerungen an Spritztouren ans Meer werden wach, aus lauter Sentimentalität blicken wir aus dem Fenster: Wir spüren den Sand im Mund, wie damals, als wir unsere Sandwichs aßen– und sehen auf einmal ein Reh. Es blickt uns an und läuft davon.

Wir hören es am Bug platschen, doch es klingt anders als das übliche Rauschen, Spritzen und Gurgeln, und so laufen wir schnell nach vorn und sehen neben dem Boot einen Delfin in den Wellen spielen. Und da! Ein Albatros kreist hoch über dem Boot, und irgendetwas warnt uns: Wenn wir den Vogel nicht achten, erleiden wir die gleichen Qualen wie der alte Seemann in der Ballade von Samuel Taylor Coleridge, der einen Albatros mit der Armbrust schießt, obwohl das Tier dem Schiff den Weg aus der Eiswüste der Antarktis weist.

Wir packen die Fernbedienung, als wir so ein komisches Ding auf dem Bauch der schwarzen Spinne sehen, eine rötliche Zeichnung, die wie ein Stundenglas geformt ist. Mit einem Mal erkennen wir, um was für eine Spinne es sich handelt, und zögern umzuschalten, lange genug, um zu hören, wie der Kommentator jetzt ganz aufgeregt von der Schwarzen Witwe spricht: Ihr Gift rufe Krämpfe und Muskelschmerzen hervor, und das Weibchen verspeise das Männchen nach der Paarung. Unsere Synapsen feuern los. Sie schütten Botenstoffe aus, unsere Phantasie ist angeregt. Auf einmal ist die Natur gar nicht mehr so langweilig.

Durch Zeitdruck blenden wir meistens aus, was wir in unserer Umwelt beobachten, doch damit schotten wir uns von der detailreichen Vielfalt ab, die uns umgibt, und werden unaufmerksamer.

Bei der natürlichen Navigation muss man lernen, den Kontakt mit unserer Umgebung neu zu ergründen, muss herausfinden, wie wichtig unsere Sinne für die Orientierung sind und wie sie unsere Erfahrungen und Wahrnehmung steuern. Wache Sinne sind unumgänglich, wenn man sich dem natürlichen Kompass anvertrauen möchte, nur sie ermöglichen es uns, eine Reise in ihrer Gesamtheit zu genießen.

Mit der Zeit benutzt ein natürlicher Navigator seine Sinne ganz intuitiv. So erwachte der amerikanische Entdecker und Handlungsreisende Captain Edmund Fanning (1769–1841) plötzlich mitten in der Nacht mitten auf dem Pazifik, eilte an Deck und befahl seiner Mannschaft beizudrehen. Erst am nächsten Morgen sahen sie, dass sie fast auf ein etwa anderthalb Kilometer entferntes Riff aufgelaufen wären. Am Seegang hatte Fanning die gefährliche Nähe des Riffs gespürt.

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