Der Oligarch - Wolfgang Kemp - E-Book

Der Oligarch E-Book

Wolfgang Kemp

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Beschreibung

Eine Riege junger Männer gelangte nach dem Zerfall der Sowjetunion aus dem Stand heraus zu fabelhaftem Reichtum: die »Oligarchen«. Allesamt einst Günstlinge Boris Jelzins, sind einige unter Putin inzwischen in Ungnade gefallen, der prominenteste von ihnen ist Michail Chodorkowski. Im eigenen Land fristen sie daher zumeist ein äußerst prekäres Dasein, im Westen aber dürfen sie sich als Märtyrer feiern lassen. Nicht nur der zweifelhafte Ursprung seines Aufstiegs und die ostentative Zurschaustellung und beinharte Verteidigung seines Vermögens zeichnen den Oligarchen aus, sondern vor allem der »Wille zur Yacht«, die als unabdingbarer Ausweis seiner ökonomischen Potenz gilt. Um global agieren zu können, muss Der Oligarch seinen Einfluss auf der internationalen politischen Bühne geltend machen, sein Sozialprestige aufbessern. Welche Mittel er dafür einsetzt, davon berichtet Wolfgang Kemp, der die glamourösen wie auch klandestinen Auftritte des Oligarchen-Jetsets seit Jahren verfolgt. Er kennt die wechselnden Standorte ihrer Yachten, weiß über die Ausrüstung ihrer privaten Sicherheitsdienste Bescheid, gibt Einblick in ihre finanziellen Machenschaften, die nicht selten auch von westlichen Politikern gedeckt werden.

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WOLFGANG KEMP

Der Oligarch

Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Wolfgang Kemp, geboren 1946, war Professor für Kunstgeschichte in Kassel, Marburg und Hamburg. Seit seiner Emeritierung lehrt er an der Leuphana Universität Lüneburg. Zahlreiche Gastprofessuren führten ihn u.a. an die Harvard University, ans Wissenschaftskolleg zu Berlin und ans Getty Research Institute in Los Angeles. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen zur Kunstgeschichte, Architektur und Fotografie, schreibt er regelmäßig für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Süddeutsche Zeitung«, die »Zeit« und den »Merkur«. Zuletzt sind von ihm erschienen: »Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900–

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

Vorwort

Der Oligarch, die soziale Ungleichheit in Person

Under Three Flags: der Oligarch, überall und nirgendwo

Der Oligarch: eine Physiologie

Die Geheimnisse der ursprünglichen Akkumulation

Frühkapitalismus als Kleptokratie: der Aufstieg der Oligarchen

Keule, Kompromat, Konsens (kurzfristig): die Oligarchen unter Putin

Ein Ausflug in die ökonomische und politische Realität: Pikaljowo und der Vorzeigeoligarch Oleg Deripaska

Der Oligarch als die Verkörperung materieller Macht

Die Yacht, Teil I: Security first

Die Yacht, Teil II: keine Yacht in Österreich

Die Yacht, Teil III: das Antistaatsschiff

Die Yacht, Teil IV: auf Kreuzfahrt in balkanischen Gewässern

Die Yacht, Teil V: der Retter des heiligen Grabes oder: Mädchen singen und tanzen auf der Yacht

Des Oligarchen Lieblingsort: vor der Küste, auf der Yacht

Der Oligarch als Schädling: materielle Macht – die Macht der Materien

Womit haben wir das verdient: der Oligarch als Philanthrop

Impressum

Fußnoten

Vorwort

DER Oligarch ist reich, er ist so reich an Merkmalen, Attributen, Accessoires und Spielzeug, dass er sich instinktiv dagegen wehrt, Oligarch zu heißen. Aber was dann? Tycoon? – Das verstehen nur Leute, die alte Hollywood-Filme sehen. Plutokrat ist was für Micky-Maus-Leser. Mogul, da denkt man schon wieder an die große Zeit von Hollywood. Magnat? Geht schon eher, aber es bietet dem Oligarchen keine Perspektive. Der Oligarch, zumindest der klassische russische und ukrainische Oligarch der postsowjetischen Ära – und um den geht es hier –, ist nämlich heute in einer schwierigen Übergangsphase. Was ihm wirklich erstrebenswert erschiene, wäre der Titel Philanthropist, aber das verstünde außerhalb von Großbritannien und den USA niemand. Was wiederum nichts macht, denn der Oligarch strebt ein Leben und Wirken in eben diesen Ländern an. Die Schweiz ist Geschichte, die Côte d’Azur zu plebejisch, Toskana geht, aber London, London ist für den Oligarchen, was Rom für Goethe war. Die Umbenennung in Londongrad steht unmittelbar bevor.

Man kann in London seit 2016 in einen Bus steigen und an einer Rundfahrt teilnehmen, die den hässlichen Namen Kleptokratie-Tour trägt, und fährt dann die Residenzen russischer und ukrainischer Oligarchen ab – hier ein Blick hinauf zu dem dreistöckigen Penthouse von Rinat Achmetow, mit 136 Millionen Pfund für den Ankauf und zusätzlichen 200 Millionen für Um- und Ausbau die teuerste Wohnanlage der Welt. Dann sehen wir das größte private Wohnhaus in ganz London, das Witanhurst.1 Diese Immobilie hat ihren eigenen Wikipedia-Artikel und mehr noch: einen großen Essay im »New Yorker«. Sie gehört Andrei Guriew (Phosphat, Dünger), einem Oligarchen der ersten Stunde, der das ursprünglich 65 Zimmer zählende Haus auf ca. 100 Räume erweitern ließ und schließlich ein Objekt im Wert von 300 Millionen Pfund sein eigen nennt. Kleine Korrektur: Witanhurst gehört natürlich nicht Guriew, sondern der bekannten Firma Safran Holdings, die auf der Insel Tortola (British Virgin Islands) im Postamt des Hauptortes Road Town das Brieffach 438 unterhält. Etwa 36000 Immobilien in London sind im Grundbuch für solche Offshore-Firmen eingetragen, die sie in der Mehrzahl für reiche Russen verwalten. Insofern ist »Londongrad« nicht nur witzig. Aber weiter zur Stadtvilla von Dmytro Firtasch, die nur 60 Millionen Pfund gekostet hat, was aber ein wenig aufgewogen wird durch die 50 Millionen, die er für eine stillgelegte U-Bahn-Station darunter bezahlte. Eine ehemalige U-Bahn-Station im Besitz eines ukrainischen Oligarchen (Gas), der eine Zeitlang in Wien in Haft genommen wurde, um in die USA ausgeliefert zu werden, und der befürchten musste, dass England und die USA seine milliardenschweren Konten und Besitztümer einfrieren würden? Das Fragezeichen kommt ein wenig spät. Im Grunde hätte es vor dem ganzen Abschnitt, ja auf dem Titel stehen müssen. Der Oligarch?

Die Wissenschaften wären die letzten, die dieses Fragezeichen aufzulösen vermögen. Sie wollen mit den Oligarchen nichts zu tun haben, mit der Bezeichnung nicht und mit dem Phänomen nicht. Sie setzen immer Anführungsstriche, wenn sie darauf rekurrieren. Die Osteuropa-Forschung begann ihre Studien über die Wirtschaftsreformen der neunziger Jahre mit einer eklatanten Fehlleistung: »Kremlin Capitalism: Privatizing the Russian Economy« hieß die erste großangelegte Untersuchung, die unter Führung des US-amerikanischen Ökonomen Joseph Blasi zusammen mit einem Team russischer Forscher und Forscherinnen erarbeitet wurde. Sie beginnt mit einer Zeittafel, welche die Phase der Reformen von 1992 bis 1996 in ihren Maßnahmen, mit ihren politischen Akteuren und Ereignissen detailliert abbildet. Das Buch erschien 1997. In ihm wird auf zwei Seiten das Anteile-für-Anleihen-Schema skizziert, das in seiner ersten Phase 1995 den Aufstieg der Oligarchen und damit »The Sale of the Century« einleitete, wie ein späteres, journalistisches Buch titelte. Das »Schema« wird in der Zeittafel nicht verzeichnet, es werden keine davon begünstigten Personen genannt. Die Studie heißt »Kremlin Capitalism« und informiert mit keinem Wort, wie der Kreml bearbeitet wurde und wie er profitierte, um diese größte Umverteilung von Vermögen seit der russischen Revolution herbeizuführen. Eine Studie zur deutschen Nachkriegsgeschichte, die, 1991 erschienen, die Wende von 1989 übersehen hätte, müsste auf gleiche Verwunderung stoßen.

Solche Ignoranz resultiert aus der Tendenz der Wissenschaften zu einer Geschichte und Gegenwart ohne Namen. Oligarch weist in den Augen der Zeithistoriker und Soziologen mehrere Nachteile auf: Personalisierung, Konzentration auf eine zu kleine Zahl von Akteuren und natürlich die Nähe zum journalistischen Interesse an diesem Personenkreis. »Unglücklicherweise«, schreibt ein Osteuropaforscher, »haben ›die Oligarchen‹ eine hochgradig journalistische Behandlung erfahren.« So spricht die Forschung lieber von Wirtschaftseliten, Elitekartellen, industrieller Lobby, ökonomisch relevanten oder sektoralen Akteuren, Allokatoren, von FIGs (finanz-industriellen Gruppen), informellen Entscheidungsträgern oder Korruptionsnetzwerkern. Allokatoren würden wir unterstützen, vor allem, obwohl/​weil kaum verständlich. In Erinnerung an einen vergessenen Roman von Friedrich Gerstäcker (»Die Regulatoren von Arkansas«) könnte man titeln: »Die Allokatoren von Timon-Pecora oder von Karachaevo-Cherkessia«. Die Wissenschaft verlangt nach nicht personengebundenen Strukturen und Modellen, also dominieren Netzwerkanalysen und neoinstitutionelle Ansätze, die aber an der Größe Oligarchen scheitern müssen – auf jeden Fall gilt das bis zu Putin. Damals ging die wilde Phase der »Allokation«, der Zuteilung und weithin unregulierten Ausbeutung der Ressourcen, zu Ende. Danach, das sei sofort zugestanden, kommt es zu einer Art von Bürokratisierung der Entscheidungs- und Umverteilungsstrukturen; nach den charismatischen oder vielleicht auch nur von extremem Glück begünstigten Einzelspielern kommen die Apparatschiks – ganz so, wie Max Weber es wollte. Damit hat die Forschung aufatmend zu einem abstrakteren Zustand und zu höheren Zahlen aufgeschlossen und muss sich nicht länger mit der Größe der wenigen und pittoresken Figuren abgeben.

Aber Monarchen lassen sich auch nicht ignorieren, weil sie allein regieren. In einem Buch über das postsowjetische Kasachstan, über ein Land, in dem der wilde Kapitalismus sich wilder gebärdete als anderswo, kommt das Wort Oligarch nicht ein einziges Mal vor, und Namen werden überhaupt nicht genannt.2 Der Autor handelt von »Raubnetzwerken« (predatory networks) und von »neuen Eliten«. Derart zwanghafte Entpersonalisierung der strukturtheoretischen Ansätze hat ihre komische Seite: Thema ist die Privatisierung, aber deren Nutznießer und Akteure werden quasi kollektiviert. Die Osteuropaforschung mutet von außen betrachtet wie ein einziger Wettbewerb um eine neue, in sich widersprüchliche Begrifflichkeit für den neuen Osten an: »Vertikale der Macht«, »Gelenkte Demokratie«, »Bürokratischer Kapitalismus«, »Zivilgesellschaft per Dekret«, »Kremlin Corporation« stehen unter vielen anderen Termini zur Verfügung, und »Apparatschik-Kapitalisten«, »Polittechnologen«, »Putingarchen«, »Tschekisten-Oligarchen« sind Versuche, die »ökonomische und politische Elite« zu etikettieren. In einem Beitrag über die unruhige Kaukasus-Region und ihre gesellschaftliche Ordnung stieß ich neulich auf den Terminus »semiautoritärer Sultanismus«.

Wir bleiben bei Oligarchen und meinen damit die kleine Gruppe der großen Gewinner der Transformationsperiode der neunziger Jahre in Russland und in der Ukraine. Bis auf einen leben sie noch und sind aktiv; zusammengenommen stehen sie für den vorletzten Versuch, sich unermessliche Reichtümer anzueignen. Heute wird man in dieser Beziehung eher nach China und nach Indien schauen. Die Oligarchen, um die es hier geht, waren die Akteure und Nutznießer einer einzigartigen historischen Konstellation und sind gleichwohl als Phänotypen einer globalen Entwicklungstendenz von großer Bedeutung. Sie bilden keine Klasse, sondern sind das Symbol, um nicht zu sagen, die Karikatur einer solchen. Sie zeigen an, was an Klassengesellschaft heute noch möglich ist. Wenn sie selbst nicht Oligarchen heißen wollen und die Forschung den Begriff höchstens in Anführungsstrichen annimmt, warum nennen wir sie weiter so?

Zunächst einmal ist gegen den Terminus nichts einzuwenden, wenn man sich Klarheit darüber verschafft, was arché – Herrschaft in diesem Fall und unter heutigen Bedingungen – heißen kann. Oligoi, die wenigen, stimmt ohnehin. Vor allem aber ist Oligarch das Wort, das die Russen und die Ukrainer gebrauchen. Bemerkenswerterweise erst seit 1998. Der Künstler Oleg Nazarow beging mit einer Ausstellung des Jahres 2003 das fünfjährige Bestehen des Wortes in der politischen Sprache Russlands. Einige wollen das Wort schon etwas früher gesichtet haben, aber der Tendenz nach hatte Nazarow recht, vor allem was das seit 1998 inflationäre Vorkommen von Berichten über Oligarchen betrifft. In der Ausstellung zeigte der Künstler Porträts anerkannter Oligarchen aus Schokolade. Das sollte wohl zweierlei besagen: Ihr habt ein süßes Leben. Und: In jedem Moment könnt ihr aufgegessen werden. Die Show eröffnete im Dezember 2003. Da saß der reichste der Oligarchen Russlands, Michail Chodorkowski, seit etwas über einem Monat in Untersuchungshaft. Deutete sich hier eine Gesetzmäßigkeit an: Das Wort stieg auf, der Inhalt ab? Das kann man wirklich nicht behaupten. Die Oligarchen der ersten Stunde haben wie gesagt bis auf einen alle überlebt und sind phänomenal reich geblieben. Einige haben Russland und die Ukraine verlassen, aus freien Stücken oder gezwungenermaßen, und doch haben die allermeisten weiterhin ihre ökonomische Basis in ihren Herkunftsländern. Dieses Durchhaltevermögen ist eine große Leistung und nicht zuletzt eine, die dieses kleine Buch erst möglich macht. Eine große Leistung und ein bemerkenswertes Faktum ist sie, weil die Gefahr, »aufgegessen« zu werden, in der Tat von Anfang an sehr groß war. Wobei der »Hunger« des Staatsapparates eine untergeordnete Rolle spielte, verglichen mit der Gefährdung durch informelle Raub- und Totschlagnetzwerke, wie es die Forschung ausdrücken würde. Davon wird noch ausführlich zu handeln sein. Die Bezeichnung blieb, die Bezeichneten auch, nur die Forschung hat sie eliminiert oder sie in zwei etwas realitätsnähere (Weg-)Erklärungsmodelle aufgenommen: in ein quantitatives und in ein institutionelles.

Der Oligarch, die soziale Ungleichheit in Person

DAS Institutionelle ist schnell abgehandelt. Demzufolge steht der Oligarch für eine Verstärkung des globalen Trends zu großen, von wenigen Personen und kleinen Gruppen kontrollierten Organisationen, die als Netzwerke politische oder ökonomische Macht oder beides zusammen akkumulieren. Für Soziologen wie Bruce Kapferer sind Oligarchie und Korporatismus austauschbare Größen.3 Einem anderen Trend, der die gesellschaftliche Ordnung im Westen wie im Osten gleichermaßen erfasst, gehen die Oligarchen ebenfalls voran. Das ist der Trend zu massiver ökonomischer Ungleichheit. Wenn in Russland ein Einkommen aus vielen Milliarden gegen einen Durchschnittslohn von monatlich 700Euro gerechnet wird, dann denkt man: inkommensurabel, aber der Unterschied von 1 zu 200, die Differenz zwischen dem Einkommen eines einfachen Arbeiters oder Angestellten und den Gehältern der Topmanager US-amerikanischer Konzerne, sprengt doch auch schon das soziale Gleichgewicht und wird (noch) von einer Gesellschaft ausgehalten, die keine hundert Jahre Einübung in gleich niedrige Einkommensverhältnisse hinter sich hat wie die russische. Der Chef von Apple bezog im Jahr 2011375 Millionen Dollar an »Kompensationen«, wie es im Amerikanischen so keusch heißt. Damit lag sein Einkommen 6 200-mal höher als das eines durchschnittlichen Apple-Mitarbeiters. Man kann das auf den globalen Maßstab übertragen: Oxfam wies neulich nach, dass die Wirtschaftskraft der 85 Reichsten erst dann aufgewogen wird, wenn 3,5 Milliarden der ärmsten Menschen ihr Einkommen in die Waagschale werfen.

Das Phänomen der wachsenden Ungleichheit machte Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« zu einem Instant-Klassiker des Jahres 2013, aber die Oligarchen des Ostens kommen bei ihm nur en passant vor und werden indirekt unter dem Aspekt einer »globalen Vermögensungleichheit im 21. Jahrhundert« mitbehandelt. In den Vereinigten Staaten überschrieb Paul Krugman seine enthusiastische Besprechung des Buches von Piketty mit »Why We’re in a New Gilded Age« – man beachte das Präsens. Wenn zehn Prozent der Bürger der USA 50 Prozent der Einkünfte aus Arbeit und Kapital beziehen, dann kommt das ziemlich genau dem Verteilungsverhältnis gleich, das für das Vergoldete Zeitalter, für die späten Gründerjahre diesseits und jenseits des Atlantik, galt. Noch ein paar Zahlen – nicht aus Piketty: 1996 gab es, »Forbes« zufolge, 424 Milliardäre weltweit, von denen jeder im Durch schnitt 2,5 Milliarden Dollar besaß, das ergab ein plutokratisches Gesamtvermögen von 1,1 Billiarden. Im Moment liegen die Zahlen bei 1565 Milliardären, die jeweils über vier Milliarden verfügen, das sind zehn Prozent des Weltbruttosozialprodukts. Inflationsbereinigt stünde die Ziffer von 1996 bei ca. 600 Milliardären, der Zuwachs ist also beträchtlich, und die neue Ostung in der Geographie des Superreichtums hat dazu wesentlich beigetragen. Ex oriente luxus. »Nach den Angaben einer Schätzung besitzen nur 22 Personen etwa 40 Prozent der russischen Nationalwirtschaft.«4 Das war der hypothetische Stand von 2007. Gleichzeitig wurde die Zahl der Millionäre im neuen Russland auf etwa 100000 geschätzt. Ebenso aussagekräftig ist der sogenannte Gini-Koeffizient, der das Ungleichheitsverhältnis in einer Gesellschaft abbildet. Er stieg auf der Skala von null (alle Vermögen und Einkommen gleich verteilt) bis eins (alle Vermögen und Einkommen in einer Hand) steil an, als die große Umverteilung um 1990 einsetzte, und erreichte einen Spitzenwert von etwas über 0,4001993/​94 und blieb seitdem auf einem etwas abgesenkten Niveau konstant.5 Im Ergebnis heißt das: »Das Verhältnis zwischen den Einkünften der ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung und der reichsten zehn Prozent beträgt gegenwärtig 1:46 (in den USA 1:17, in Frankreich 1:10).«6

In der aktuellen Forbes-Liste der Superreichen tauchen die Oligarchen der postsowjetischen Ära erst in den Rängen zwischen sechzig und achtzig auf. Das ist nicht schlecht, bedenkt man, dass wir auf einen Zeitraum von maximal dreißig Jahren schauen. Die sogenannte große Privatisierung begann 1996. Am Ende dieses Jahrzehnts gab es aber schon die ersten russischen und ukrainischen Superreichen, was zu dem ersten singulären Merkmal dieser Gruppe führt, zu ihrem kometenhaften Aufstieg von mehr oder minder null bis zu einem Milliardenvermögen innerhalb von fünf bis sechs Jahren. 2003 hatte ein russischer Oligarch mit einem Netto-Wert von 15 Milliarden Dollar sprunghaft Platz 16 auf der Forbes-Liste errungen. Heute muss man dafür 33 Milliarden mitbringen, und es ist kein Zufall, dass diese Position Mark Zuckerberg einnimmt, der sein Geld mit einem Social Network verdient. Die Oligarchen, um die es hier geht, kommen ausnahmslos aus der Old Economy des Rohstoffsektors, oder sie haben nach anfänglichen Engagements in anderen Sparten sehr schnell auf diese relativ sichere Bank der Rohstoffe gesetzt. Der erste Rohstoffhändler, ein Inder, auf der neuesten Forbes-Liste rangiert auf Platz 39; das mag erklären, warum die russischen Oligarchen der ersten Stunde um ungefähr 60 Plätze gefallen sind: Das ganz große Geld wird in den Sektoren Digital, Investment, Einzelhandel, Konsumgüter und Medien verdient. Rasant schneller Aufstieg und die Konzentration auf natürliche Ressourcen sind zwei distinkte Merkmale unserer kleinen Gruppe, sie sagen aber noch nichts aus über die dazugehörige Geschichte, den historischen und geographischen Kontext. Sie konstatieren erst einmal und erklären nichts, und gehen notwendig an der Frage vorbei, welche Gestalt heutiger Superreichtum annimmt und welche Konsequenzen er hat – auch für die Reichen selbst.

Under Three Flags: der Oligarch, überall und nirgendwo

ÜBER Wirtschaftseliten oder FIGs kann man keinen Essay schreiben. An diesen nackten Termini lässt sich so gar nichts von dem vielen aufhängen, was zum Oligarchen gehört bzw. was ihm von Rechts wegen vielleicht nicht gehört, was er sich aber angeeignet hat. Wirtschaftselite ist nicht plastisch, der Oligarch aber ist eine enorm plastische Figur, auch dann oder vielleicht gerade dann, wenn man ihn nicht sieht oder nie gesehen hat: umringt von seinen Bodyguards, zurückgezogen auf seiner Edeldatscha und seiner Luxusyacht, das Vermögen in Offshore-Banken gelagert und hinter Briefkastenfirmen verborgen, ein Mann mit mehreren Wohnsitzen (darunter einer in London), der aber nie dort ist, wo man ihn gerade vermutet. Der ukrainische Oligarch Igor Kolomojskyj – der das Land seiner ursprünglichen Bereicherung, also gewissermaßen den Primärsektor der Akkumulation und Aussaugung, verlassen musste und in den USA, in der Schweiz und in Frankreich angesiedelt ist – besitzt drei Staatsbürgerschaften: die ukrainische, die israelische und die zyprische. Dem Ukrainer als solchem ist es untersagt, zwei Staatsbürgerschaften zu haben: Kolomojskyj verteidigte sich mit der Begründung, dass das Gesetz von zwei, aber nicht von drei Staatsbürgerschaften spricht. Das Ganze erinnert an den Titel einer Abhandlung des Politologen Benedict Anderson: »Under Three Flags: Anarchism and the Anti-Colonial Imagination« – die Zeit (Ende des 19. Jahrhunderts) und der Ort (die Philippinen, Kuba) sind weit entfernt, doch der Gedanke, dass die Tripel-Nationalität des Oligarchen auch auf genuin anarchistische Züge in seinem Handeln verweisen könnte, erscheint reizvoll. Zumal gerade Kolomojskyj zuletzt durch einen anarchistischen Akt auffiel, der ihm auch sein politisches Amt kostete. Aber die Anarchisten, die wir dem oligarchischen Milieu zuordnen können, heißen raiders – und zu denen kommen wir noch.

Ebenso bedeutsam wie die dreifache Staatsbürgerschaft ist die Wahl dieser drei Länder. Sie symbolisieren gewissermaßen die Triangulation des oligarchischen Circulus vitiosus. Um es in maritimen Terms auszudrücken: Ukraine, Zypern, Israel stehen für Shore, Offshore und Save Haven. In der Ukraine wird das Vermögen in den Branchen Öl, Gas, Luftfahrt, Banken, Medien verdient, in Zypern wird es gewaschen und steuerfrei angesammelt und an zig weitere Offshore-Adressen verteilt, und in Israel fühlt sich Kolomojskyj möglicherweise spirituell zu Hause, vor allem aber sicher, wenn es zum Ernstfall kommt. Israel würde einen Oligarchen nicht ausweisen, vor allem dann nicht, wenn ein Ostblockstaat gegen ihn schwere Vorwürfe erhebt.