Der Orangengarten - Valentina Cebeni - E-Book
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Der Orangengarten E-Book

Valentina Cebeni

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Beschreibung

Dieser Sommer duftet nach Orangen und der ganz großen Liebe!

Calliopes Leben scheint perfekt. Sie lebt auf einer kleinen Insel vor Sizilien auf einem wunderschönen Landgut und hat mit Ettore den Mann ihrer Träume geheiratet. Doch dann hat Ettore einen folgenschweren Unfall und zieht sich völlig zurück.

Calliope versucht verzweifelt, seinen Lebenswillen neu zu entfachen und gleichzeitig die in eine Krise geratene Pastamanufaktur der Familie zu retten. Als ihre Jugendliebe Amos auf die Insel zurückkehrt, steht plötzlich nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Herz Kopf. Und während im Garten des Landguts die Orangen zu blühen beginnen, muss Calliope die wohl schwerste Entscheidung ihres Lebens treffen ...

Valentina Cebeni verzaubert ihre Leserinnen mit traumhaft schönem Inselsetting und ganz großen Gefühlen!

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Seitenzahl: 458

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VALENTINA CEBENI wurde 1985 in Rom geboren. Bereits seit ihrer Kindheit liebt sie es, Geschichten zu erzählen. Der Orangengarten ist der vierte Roman der Bestsellerautorin und spielt auf einer traumhaft idyllischen Insel an der Nordküste Siziliens. Gefühlvoll und warmherzig erzählt die Autorin vom Glück, der großen Liebe und dem Schicksal, das alles verändern kann.

Außerdem von Valentina Cebeni lieferbar:

Die Zitronenschwestern. Roman

Die Blütenmädchen. Roman

Die Wildrosentöchter. Roman

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

VALENTINA CEBENI

Der Orangengarten

ROMAN

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Die italienische Originalausgabe erscheint 2020 bei Garzanti, Mailand.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2020 by Valentina Cebeni

Licence agreement made through Laura Ceccacci Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Penguin Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro

Umschlagmotiv: MeSamong / Shutterstock, Aleksandr Simonov / Shutterstock, Woodhouse / Shutterstock

Redaktion: Brigitte Lindecke

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-25367-7V002

www.penguin-verlag.de

1

Der heiße Schirokko umwehte die weitläufige Terrasse des Gutshauses über dem Meer, das mit seinem rustikalen Charme und gediegener Eleganz den Besucher vom ersten Augenblick an in seinen Bann zog. Das Haus schmiegte sich an einen Felsen, in dessen breitester Nische eine von flackernden Kerzen in mystisches Licht gehüllte Madonnenstatue stand. Von hier aus bot sich ein unvergleichlicher Blick auf die kurvenreiche Küstenstraße, die sich durch die wilde Macchia-Landschaft schlängelte. Hier und da blitzten pittoreske Dörfchen aus dem Grün, und der Duft der Oliven- und Orangenhaine betörte die Sinne. Ein Bild voller herber Schönheit, Anmut und Harmonie.

In dieser eindrucksvollen Atmosphäre hätte Calliope Costa den Abend zu Ehren des siebzigsten Geburtstags ihrer Mutter Azalea gerne gebührend gefeiert. Doch es würde ein Abend wie viele andere auch werden, die gleichen Gesichter, die gleichen Gespräche, die gleichen Rituale. Die sanfte Abendbrise würde über das blasse Lächeln auf ihren Lippen streicheln, das Lächeln für einen Mann, der auch diesmal nicht hier sein würde.

Ettore würde nicht an ihrer Seite sein, das hatte er ihr bereits ein paar Stunden zuvor per SMS mitgeteilt: »Die Sitzung wird länger dauern, die Amerikaner machen Druck wegen des Preises. Gratuliere deiner Mutter in meinem Namen, wir sehen uns zu Hause. Ich liebe dich.«

Das ist nichts Neues, hatte sie gedacht, als der Name ihres Mannes im Display des Handys erloschen war. Sie war erschöpft, auch wegen der endlosen Diskussionen mit ihrer Schwiegermutter. Contessa Lucia Benvenuti ließ keine Gelegenheit ungenutzt, um ihr vorzuwerfen, dass sie ihr immer noch kein Enkelkind geschenkt hatte, und selbst an diesem Abend gab sie keine Ruhe.

Calliopes Einwand, dass sie keinen Ersatz für einen immer abwesenden Ehemann großziehen wolle, ließ Lucia nicht gelten. Calliope wollte ihre Zeit mit dem Mann verbringen, den sie einmal geheiratet hatte, und mit niemand anderem.

Sie schob den Vorhang aus Sangallo-Spitze zur Seite und sah zu, wie die Dämmerung langsam hereinbrach. Der Himmel färbte sich dunkel und nahm die Farbe ihrer von langen Wimpern umrahmten Augen an. Ein klarer Abend Ende Mai, die nachmittäglichen Wolken hatten sich verzogen. Die im Zwielicht liegende Landschaft schien vor sich hin zu dösen, die Silhouetten der prächtigen Orangenbäume und der knotigen Olivenbäume hoben sich wie Scherenschnitte von der rötlichen Erde ab. Calliope suchte zwischen den ersten Sternen am silbrigen Himmel nach einer Richtung, nach einem Kompass, der ihr in all dem Chaos den Weg wies. Doch sie spürte nur die kalte Hand des unerbittlichen Schicksals. Aus der Mauernische neben dem Fenster strahlte ihr Ettores Gesicht von ihrem Hochzeitsfoto entgegen, das vor der Sakristei der Kathedrale von Salina aufgenommen worden war. Wie sehr sie dieses Lächeln vermisste! Sie liebte ihn noch genau wie damals, vielleicht noch mehr, aber sie spürte, wie der Ring an ihrem Finger immer weiter wurde.

»Die Nudelfabrik reibt ihn auf, aber wenn er sich erst einmal eingefunden hat, wird alles wie früher«, hatte ihr Vater, der Calliopes Lächeln von Tag zu Tag schwinden sah, sie immer wieder zu trösten versucht. Eugenio hatte sich um ihre Ehe gesorgt. Dabei war er an der Situation nicht ganz unschuldig gewesen. Er hatte gerade mal gewartet, bis die Tinte der Unterschrift unter der Heiratsurkunde getrocknet war, um noch beim Hochzeitsessen die Gäste um Aufmerksamkeit zu bitten und zu verkünden, dass er die Leitung des traditionsreichen Familienunternehmens, der im Jahr 1880 gegründeten Nudelfabrik Costa, in die Hände von Ettore Benvenuti legen würde. Des »Tierarztes«, wie die Leute ihn hier nannten, nachdem er sich geweigert hatte, in die Fußstapfen seines Vaters, einem weltbekannten Herzchirurgen, zu treten, und nach Bologna gegangen war, um dort Veterinärmedizin zu studieren. Danach hatte er ein Reittherapiezentrum für behinderte Kinder eröffnen wollen. Sein Lebenstraum.

Damals hatte Eugenio ihr beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt, doch sein Versprechen war genauso verblüht wie ihr Brautstrauß, den ihre Mutter immer noch aufbewahrte, obwohl seit dem Jawort inzwischen mehr als sechs Jahre vergangen waren.

Erinnerungen, die Calliope um jeden Preis bewahren wollte. Sie hatte es sich versprochen.

»Seit diesem Tag ist zu viel Zeit vergangen, Papa, viel zu viel. Und auch du bist von uns gegangen, und es hat sich nichts geändert«, flüsterte sie zu sich selbst und ließ das Handy in ihre Tasche gleiten. Wie aus dem Nichts überfiel sie panische Angst, von den rauen, weiß gekalkten Wänden erdrückt zu werden und zu ersticken. Sie griff sich an den Hals. Da war es wieder, dieses beklemmende Gefühl, wie damals, als sie zu spüren begann, dass Ettore ihr immer mehr entglitt. In ihrer Ehe, in ihrem Leben war die Wärme erloschen, geblieben war die Kälte, die sie auch jetzt spüren konnte, trotz des warmen Windes, der zwischen den Bougainvilleen hindurchwehte, die die Fassade des Gutshauses emporrankten.

»Willst du dein Kleid jetzt endlich mal anziehen, oder willst du es noch länger auf dem Bügel bewundern?«, drängte ihre Schwester Diana, die gerade ins Zimmer kam. Sie deutete mit einer resoluten Geste auf den Schrank, die Absätze ihrer Louboutin-Pumps entschlossen in den Fußboden gestemmt. Sie betrachtete die jeden Tag schmaler werdenden Schultern ihrer großen Schwester und verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß, die Arme über der fast mädchenhaften Brust verschränkt. Wenn Calliope nicht mit Sicherheit gewusst hätte, dass sie Diana vor sich hatte, der sie noch vor Kurzem Märchen erzählt und jeden Abend die Haare gekämmt hatte, hätte sie glauben können, dass diese gazellenhafte Schönheit direkt vom Cover der neuesten Ausgabe der Vogue entsprungen wäre. Und Diana wusste um ihre Ausstrahlung.

Sie strich sich eine lästige schwarze Locke aus der Stirn, während sich ihre Lippen zu einem wissenden Lächeln verzogen. »Ich wette, Ettore kommt auch heute Abend nicht.« Calliope atmete tief durch. Auch wenn ihre Schwester inzwischen erwachsen war, hatte sie die Bedeutung des Wortes »Taktgefühl« noch immer nicht begriffen. Womöglich würde sie es nie lernen. Sie nickte, ihre Augen hatte sie hinter ihrem Pony versteckt, das Kleid schaukelte weiter auf dem Bügel hin und her. Ettore hatte es ihr gekauft, als er von der Sitzung mit den Amerikanern erfahren hatte, die zufällig genau am Geburtstag ihrer Mutter stattfinden sollte, das x-te Entschuldigungsgeschenk für seine dauernde Abwesenheit. Und jedes Mal tat es weh. Sie fuhr über die Seide, samtweich und geschmeidig, wie ein langsamer Walzer in seinen Armen. Ein Traum, den seine kaum 150 Zeichen lange SMS nicht zunichtemachen konnte.

»Es ist wirklich schön, aber …«

»Nichts aber, zieh es an und Schluss. Wir feiern unsere Mutter mit oder ohne Ettore.« Dianas Stimme duldete keinen Widerspruch.

»Schon gut, zu Befehl.« Calliope hob beschwichtigend die Hände.

»Geht doch.«

Calliope ging an ihrer Schwester vorbei, die sich mittlerweile in die Lektüre einer Modezeitschrift vertieft hatte, und stellte sich auf die Zehenspitzen vor den Massivholzschrank aus dem neunzehnten Jahrhundert, in dem der Familienschmuck aufbewahrt wurde: das Collier, mit dem ihre Großmutter vor den Altar getreten war, die Perlenkette, die als verflucht galt, weil sie Tante Addolorata gehört hatte, die von einem Blitz erschlagen worden war, der Goldschmuck, den Azalea anlässlich der Geburt ihrer beiden Töchter bekommen hatte, und schließlich die Smaragdgarnitur, ein Geschenk ihres Mannes Eugenio nach der Geburt Augustos, des erstgeborenen Sohnes.

Eine Kollektion von unschätzbarem Wert, materiell, aber auch emotional, Erbstücke und persönliche Geschenke zu besonderen Anlässen. Der Schatz der Costa-Frauen, der sich hier vor Calliopes schokoladenbraunen Augen präsentierte.

»Wunderschön, nicht wahr?«, sagte Azalea leise, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie räusperte sich und trat an den Schrank, die Hände über dem türkisfarbenen Satinkleid verschränkt, das perfekt mit dem Blaugrün ihrer Augen harmonierte, die früher den Männern in Salina den Kopf verdreht hatten. Sie strich zärtlich über jede einzelne auf ihrem Samtbett ruhende Kostbarkeit, das Herz voller Erinnerungen. »Ich weiß nicht, was ich heute Abend tragen soll, ich brauche eure Hilfe.« Sie legte den Finger auf die schmalen Lippen.

»Ich helfe dir gerne. Du solltest etwas ganz Besonderes wählen, immerhin ist das heute dein Abend«, meinte Diana, die aus dem Sessel aufsprang, wobei ihre Zeitschrift achtlos zu Boden fiel. Sie ließ den Blick über die Kleinode schweifen, deutete auf eine Spange in Weißgold mit einem Rubin in der Mitte, ein Erbstück ihrer Urgroßmutter, änderte dann jedoch ihre Meinung. »Wir brauchen etwas, das deinen Teint und deine Augen betont.« Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie fand nicht das Richtige. »Die Perlen sind etwas für ganz junge oder ganz alte Frauen, du bist keins von beiden.« Sie schob eine in die Stirn gefallene schwarze Haarlocke zur Seite.

Azalea betrachtete ihre Jüngste im Spiegel. »Ich danke dir für deinen Rat, Liebes, aber Calliope soll für mich aussuchen. Was Mode und Stil angeht, hattest du schon immer deinen eigenen Kopf, daran hat auch dein Romaufenthalt nichts geändert.« Bei diesen Worten warf sie einen kritischen Blick auf den langen Schlitz in Dianas Kleid, der ihre nicht enden wollenden Beine betonte. Diese senkte den Blick und versuchte ihre Blöße zu verbergen.

Calliope wandte sich unmerklich ab und hoffte, dieser Moment würde schnell vorbeigehen. Wie sie solche Szenen hasste.

»Aber natürlich, wie du willst«, sagte Diana leise und ging raschen Schrittes zur Tür, die schmalen Absätze ihrer stylischen Pumps klapperten auf dem rauen Steinboden.

»Diana, warte«, rief Calliope ihr nach, aber ohne Erfolg.

Azalea tat unbeteiligt und atmete tief durch. »Ich weiß nicht, was ich mit deiner Schwester machen soll. Sie ist immer so unbeherrscht, wenn sie so weitermacht, wird sie noch große Schwierigkeiten bekommen.«

»Das mag sein, aber du solltest es ihr nicht dauernd vorwerfen. Du weißt doch, wie sehr sich Diana um deine Anerkennung bemüht.«

Azalea deutete ein Lächeln an. »Lieb, dass du das sagst, aber du weißt genauso gut wie ich, dass ich bei deiner Schwester immer nur zweite Wahl war. Sie war immer Eugenios Liebling, und er war ihr Ein und Alles, sie hat ihn vergöttert.«

»Schon möglich, aber die Dinge haben sich geändert. Seitdem Papa …«

»Schhh«, unterbrach sie Azalea und legte den Zeigefinger auf die Lippen, »bitte sprich nicht weiter. Sag es nicht.« Sie drehte sich um und starrte auf das Bett in der Zimmermitte, ein handgeschmiedetes Himmelbett, das Eugenio zu ihrer Hochzeit hatte anfertigen lassen. Zwischen diesen Laken hatte sie geliebt, geweint, gefühlt, gelebt. In diesen vier Wänden hatte sie ihre drei Kinder geboren und mit ihrem Mann Tränen gelacht. Und dann, eines Nachts, war Eugenio nach vielen erfüllten gemeinsamen Jahren von ihr gegangen, und sie hatte hier einsam und allein die Liebe ihres Lebens beweint. Sie setzte sich auf die Seite des Bettes, auf der er geschlafen hatte, strich über die Häkeldecke, ein Geschenk ihrer Schwiegermutter, und klopfte auf den Platz neben sich. »Komm her, mein Schatz, und leiste mir Gesellschaft«, flüsterte sie, den Blick versonnen auf die antike Truhe am Fußende des Bettes gerichtet.

Der Korb mit Orangen stand immer noch da, eine Tradition, die auch nach Eugenios letztem Atemzug fortgesetzt wurde. Nach dem Aufstehen hatte ihr Mann immer als Erstes eine Orange gegessen, und sie hatte den Korb immer wieder aufgefüllt, vierzig Jahre lang, Tag für Tag. Auch heute Morgen, obwohl er seit nunmehr einem Jahr nicht mehr da war. Azalea hatte ihren Mann geliebt, wie man nur einmal im Leben lieben kann, mit ihrer ganzen Seele und aus tiefstem Herzen.

Calliope ergriff die Hände ihrer Mutter und drückte sie fest. Die Liebe zwischen ihren Eltern war einzigartig gewesen, wie für die Ewigkeit geschaffen, und sie hatte immer nach einer solchen Liebe gesucht und sie schließlich bei Ettore gefunden. Doch ihr Vater hatte alles zunichtegemacht, als er ihm die Leitung der Firma übertragen hatte.

Calliopes Beziehung zu ihrem Vater war immer von Konflikten geprägt gewesen, aber sie hatte gelernt zu akzeptieren, dass sie oft unterschiedlicher Ansicht waren, allein schon ihrer Mutter zuliebe, die jetzt müde lächelte. Sie betrachtete die feinen Äderchen, die ihre nach Rosenwasser duftenden Wangen durchzogen. Einen Moment lang versank sie im Türkisblau ihrer Augen, im goldenen Glänzen ihrer Haare, die ihr madonnenhaftes Gesicht umrahmten. Azalea war eine zeitlose Schönheit, ihr Gesicht erinnerte an die Schwarz-Weiß-Fotos aus längst vergangenen Zeiten, die lächelnde Frauen im Festtagsstaat zeigten.

»Nimm die Smaragde, Mama. Papa hat immer gesagt, sie sind wie für dich gemacht«, schlug Calliope vor und strich ihr mit der rechten Hand sanft über die Wange, versuchte dabei, das Funkeln ihres Eherings zu ignorieren. Und doch durchzuckte sie der Gedanke an Ettore wie ein Blitz.

Wo bleibst du nur?, fragte sie sich sehnsüchtig, während die Nacht jetzt endgültig hereinbrach.

2

Wo bleibst du nur?, fragte sich Calliope, als die ersten Takte des Streichquartetts erklangen, das sie für den Abend engagiert hatte. Die weißen Leinenvorhänge des Salons bauschten sich sanft im Wind, der den betörenden Duft des weißen Jasmins hereintrug.

Auf den Tischen standen halb volle Weingläser neben mit Lippenstift verschmierten Servietten, auf der Terrasse tanzten die ersten Paare. Das Champagnerglas in der Hand, betrachtete Calliope sie und versuchte dabei die Blicke des Ehemanns ihrer Schwägerin Rosa zu ignorieren, der Diana anzüglich anstarrte.

Unglaublich, dachte sie kopfschüttelnd.

Calliope und Diana waren beide groß gewachsen und hatten die gleichen dunklen Locken, dennoch waren sie grundverschieden. Während ihre Schwester die mädchenhafte Figur eines Models hatte, hatte sie wohlgerundete Hüften und einen üppigen Busen, den sie lange vergeblich zu verbergen versucht hatte. Wenn sie an Dianas lange, nicht enden wollende Beine dachte, die jetzt aus dem großzügigen Schlitz ihres Kleides herausblitzten … Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als nun Rosas Kinder johlend durch den Raum tobten.

»Kleine Satansbraten«, hatte Azalea sie genannt, als sie einmal vor Jahren alle Rosen aus den Vasen gerissen hatten, die Eugenio für sie gekauft hatte, weil sie wegen einer Immuntherapie das Haus nicht verlassen konnte. Die Rosen waren damals beim Kampf gegen den Krebs ihre einzige Freude gewesen.

»Satansbraten«, murmelte jetzt auch Calliope, als sie tatenlos zusehen musste, wie die beiden Rabauken an einer Tischdecke zogen und Porzellan und Kristallgläser zu Bruch gingen.

Sie seufzte und strich unwillkürlich über ihren Ehering. Ettore war verrückt nach Kindern, aber sie hatte nie welche gewollt. Als ihr Vater Ettore und nicht ihr die Leitung der Nudelfabrik übertragen hatte, war sie wie vor den Kopf gestoßen gewesen. Aus Rache hatte sie sich geweigert, einen Erben zu produzieren, der die männliche Dominanz im Hause Costa sicherte. Ettore schien ohnehin mehr mit der Firma als mit ihr verheiratet zu sein. Wie oft schon hatte sie vergeblich auf ihn gewartet und sich in den Schlaf geweint?

»Bist du überhaupt bei uns, Schatz?« Eva, ihre beste Freundin aus Kindertagen und Frau des Besitzers der Supermarktkette La Luisa strich ihr über die Schulter. Sie hatten sich kurz vorher zufällig auf dem Parkplatz getroffen, und seitdem hatte Calliope sich einen langen Monolog über Evas Eheprobleme anhören müssen. Nach der Geburt ihres Sohnes Davide hatte sie sogar wieder angefangen zu rauchen. Als sie gerade richtig in Fahrt kam, hatte der Anruf des Babysitters ihr Frauengespräch jäh unterbrochen.

»Du wirkst so abwesend, geht es dir nicht gut?«

Calliope winkte resigniert ab. »Ach, ich weiß auch nicht. Das frage ich mich schon lange nicht mehr …« Sie lächelte der Frau von Filippo Donati zu, dem Bürgermeister von Salina und lokalen Baulöwen. Als sie sich zu ihrem Tisch umdrehte, sah sie auf dem Display ihres Handys Ettores Namen aufleuchten.

»Bin gleich zurück.« Sie zwinkerte Eva zu und griff nach ihrem Telefon, das Champagnerglas noch immer in der Hand.

»Wie ist es mit den Amerikanern gelaufen?«

»Gut, sehr gut sogar, auch wenn sie kein Ende finden wollten.« Er räusperte sich. »Ich stehe jetzt in der Hotelhalle. Bist du noch auf dem Fest?« Was für eine Frage.

Sie schaute sich um. Auf der Terrasse wurde getanzt, hin und wieder waren leises Flüstern und das Rascheln der Blätter der Orangenbäume zu hören, Azalea unterhielt sich, und Diana flirtete auf Teufel komm raus.

Alles war wie immer.

Und wie fast immer seit nunmehr sechs Jahren war sie allein, wobei die Entschuldigungen wechselten, aber Ettore war nicht da.

»Wo soll ich sonst sein?«

»Calliope, du weißt doch, wie sich diese Konferenzen hinziehen können, man weiß vorher nie, wann so etwas zu Ende ist.«

»Ich weiß.« Mehr sagte sie nicht.

Dann schwiegen sie beide, bis eine Frauenstimme ertönte, die die Radionachrichten ankündigte. Calliope hätte ihn gerne noch gefragt, wo er gerade war, ob er noch zurückfahren würde, doch da wurde ihre Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment von einem eleganten Paar abgelenkt, er im nachtblauen Smoking, sie in einem langen roten Kleid, das sich zu Tangoklängen auf der Tanzfläche drehte. Sie schienen miteinander eins zu sein, in der Art, wie sie sich ansahen und dann wieder wegschauten, ohne dabei aus dem Takt zu kommen. Es erinnerte sie an die erste Zeit mit Ettore, eine Zeit voller Verbundenheit und Harmonie. Aber das war lange her, die intensiven Gefühle waren der Routine gewichen. Wie sehr sehnte sie sich nach seiner Liebe! Die wenige Zeit, die sie miteinander verbrachten, waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein, während ihr Durst fast unerträglich war und der nächste Regenguss in weiter Ferne lag.

Beide seufzten, beide hatten das Bedürfnis, etwas zu sagen, brachten es jedoch nicht über die Lippen: Ihre Ehe war in eine tiefe Krise geraten.

»Calliope?«

Würde er doch noch kommen? Voller Hoffnung antwortete sie: »Ja?«

»Hast du über das nachgedacht, worüber wir vor meiner Abfahrt gesprochen haben?«

Ihr Herzklopfen erstarb, ihre Mundwinkel sackten herab.

Natürlich hatte sie darüber nachgedacht, seit Monaten beherrschte dieses Thema ihre Gedanken. Ettore wollte plötzlich unbedingt ein Kind, einen Benvenuti, der Calliopes Augen hätte, ein Kind, mit dem er fischen und im Wald spazieren gehen und dem er das Reiten beibringen konnte. Vorher war das anders gewesen, die Kinder der Freunde, die in der Masseria zu Besuch gewesen waren, hatte er keines Blickes gewürdigt. Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Calliope war sich sicher, dass seine Mutter dahintersteckte.

Sie starrte auf die Stuckdecke des Salons und räusperte sich. Sie hasste es, so sachlich über dieses Thema zu sprechen. Schließlich ging es hier nicht um irgendein Geschäft, hier ging es um etwas, das ihr ganzes Leben verändern würde. »Natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber was sollen wir mit einem Kind? Du bist nie zu Hause, du lebst nur für die Firma, da würde ein Kind doch nur stören!« Sie schrie jetzt fast, was sie jedoch erst bemerkte, als einige Gäste sie neugierig musterten. »Ein Kind ist eine Lebensaufgabe, das kann man nicht einfach aus einer Laune heraus entscheiden. Es braucht Eltern, die für es da sind, es braucht Liebe, Fürsorge, Nähe. Bist du bereit, ein solches Opfer zu bringen?«

Ettore war enttäuscht. War es nicht das natürliche Bedürfnis jeder Frau, Mutter zu werden und dem geliebten Mann das Kind zu schenken, das er sich so sehr wünschte? Durch ein Kind würden Calliope und er sich wieder näherkommen, und ihre Liebe würde neu entflammen. Doch ihre Reaktion hatte ihn dieser Illusion beraubt.

Er räusperte sich, seine Stimme war rau und kaum zu verstehen. »Das ist nur eine Frage der Prioritäten. Ein Kind würde natürlich an erster Stelle kommen. Ich werde schon eine Möglichkeit finden, in der Firma kürzerzutreten und öfter an deiner Seite zu sein.«

Die Verbindung war jetzt so schlecht, dass Calliope die letzten Worte ihres Mannes nur erraten konnte. Komisch, dachte sie, er hat doch gesagt, er würde in der Hotelhalle stehen, wo er die Amerikaner abgesetzt hat.

Sie schaute auf ihr Handy, vielleicht hatte sie ja kein Netz, dann hielt sie es sich wieder ans Ohr und versuchte sich noch stärker zu konzentrieren. »Wo bist du eigentlich?«

»Das spielt keine Rolle, ich will eine Antwort.«

»Am Telefon? Was soll ich denn jetzt dazu sagen?«

Er lachte, das gleiche Lachen wie vor acht Jahren, als sie sofort gewusst hatte, dass sie mit diesem Mann ihr Leben verbringen wollte. »Zum Beispiel Ja. Das reicht schon.«

Sie war mit den Nerven am Ende, sie hatte einige Gläser Champagner und Falanghina intus und die ganze Zeit gute Miene zum Geschwätz der Giftspritzen aus Salinas feiner Gesellschaft machen müssen. Aber sie riss sich zusammen.

»Nein, Ettore, ein Kind ist kein Geschäft, das man am Telefon oder per Handschlag und bei einer gemeinsamen Zigarre besiegeln kann. Und ich bin auch keine Handelsware. Ich sage Nein. Hast du das verstanden?«

»Calliope, jetzt sei doch nicht so …«

»Wie bin ich denn?« Sie schaute wieder auf die Tänzer und entschuldigte sich bei Eva, die wieder näher gekommen war, dann ging sie auf die Terrasse hinaus. Vor ihr lag das Meer, und sie atmete den Geruch des Salzwassers, das ihr die dunklen Flecken von der Seele waschen konnte, tief ein. Sie starrte auf das endlos scheinende Blau und vertraute all ihre Gedanken den Wellen an.

Sie hatte den ganzen Abend gehofft, dass Ettore kommen würde, seit Monaten wartete sie auf ihn, doch immer kam in der Firma etwas Wichtiges dazwischen, eine Verkaufsverhandlung, ein Vertrag oder ein plötzlich anberaumtes Geschäftsessen. Und sie wartete in der Masseria, Herrin in einem Schloss ohne König. Da halfen auch die Blumensträuße und die sündhaft teuren Geschenke nichts. Das Einzige, was sie wirklich wollte, schenkte er ihr nicht: Zeit. Zeit, die sie gemeinsam verbrachten.

Und dann wagte Ettore auch noch zu sagen, dass er einem Kind die höchste Priorität einräumen würde! Als ob ein Kind alles wäre und sie nichts!

»Entschuldige, ich weiß nicht, was Lucia dir für Flausen in den Kopf gesetzt hat …«

»Lass meine Mutter aus dem Spiel, das ist allein unsere Sache.«

Sie lachte bitter und schaute sich um. »Sie hat mich heute Morgen angerufen und mich gebeten, meiner Mutter ihre Glückwünsche auszurichten. Ganz nebenbei hat sie mich daran erinnert, dass sie und Azalea nicht mehr die Jüngsten wären und es an der Zeit sei, ihnen ein Enkelkind zu schenken, das sie umsorgen können. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich dabei gefühlt hab? So etwas Hinterhältiges!«

»Ich schwöre, damit habe ich nichts zu tun!«

»Mag ja sein, aber kannst du dir vorstellen, was das bei mir auslöst?«

»Calliope, vielleicht meinte meine Mutter gar nicht …«

»Ich bin doch kein Brutkasten!«, unterbrach sie ihn. »Sie hat mit mir gesprochen, als wäre ich nur dazu da, einen Benvenuti zur Welt zu bringen. Woher kommt überhaupt dein plötzlicher Sinneswandel? Jahrelang hast du keinen Gedanken daran verschwendet, eine Familie zu gründen, und auf einmal willst du unbedingt ein Kind? Damit ich auf andere Gedanken komme und nicht dauernd herumnörgele, weil du nicht da bist? Ist es das? Oh nein, tut mir leid. Dass ich mich einsam fühle, ist doch wohl mein Problem.«

»Calliope …«

»Nein, Ettore, jetzt hörst du mir zu«, schnitt sie ihm erneut das Wort ab, »ich will kein Kind, ich will meinen Mann zurück. Ich will den Mann, der mir vor dem Altar Liebe und Treue geschworen hat, ich will den Mann, der mich jeden Tag aufs Neue überrascht, meinen Geliebten und besten Freund. Ich habe immer nur dich gewollt, Ettore, und du lässt mich einfach allein.«

»Aber ich bin doch immer für dich da, Calliope. Ich versuche, sooft es geht, in der Masseria zu schlafen, auch wenn es bequemer wäre, im Hotel zu übernachten. Ich nehme diesen Aufwand gerne in Kauf. Das mache ich für dich, für uns. Ich versuche alles, was in meiner Macht steht, das weißt du doch.«

»Nein, das weiß ich nicht. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich mit einem Gespenst verheiratet. Heute Abend haben mich wieder alle nach dir gefragt. Ich habe es satt, immer die gleichen Erklärungen abzugeben, ich habe es satt, mit meiner Mutter zu diesen Abendessen zu gehen, bei denen dein Schwager meiner Schwester auf die Beine starrt, ich habe es satt, allein zu sein. Ich will mit dir zusammen sein, immerhin bist du mein Mann.« Sie holte tief Luft und schluckte die Tränen hinunter, die in ihrer Kehle brannten. »Du hast mir versprochen, dass es nur vorübergehend wäre, als mein Vater dir die Leitung der Fabrik übertragen hat. Ihr habt es mir beide versprochen, aber er ist jetzt tot und du … du nimmst mich nicht ernst und hast mich angelogen. Schlicht und einfach angelogen. Aber ich bin niemand, der nur zu Hause rumsitzt und wartet. Und ich will auch nicht deiner Mutter den Wunsch erfüllen und das Haus mit lauter kleinen Stellvertretern von dir füllen. Ich will mit dem Mann zusammen sein, den ich liebe und den ich geheiratet habe, und nicht mit einem Haufen seiner Samenzellen in meinem Bauch.«

Sie wollte gerade weiterreden, als die am anderen Ende eingetretene Stille ihr zu denken gab. Wahrscheinlich war das wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, über das Thema zu sprechen. Plötzlich hörte sie ein Quietschen und dann einen gellenden Schrei. Einen markerschütternden Schrei, der sich durch die Stille hindurch wie ein Messer in ihr Fleisch bohrte.

Ihre Hand umklammerte das Handy, Eva winkte, sie solle sich beeilen, die Kellner hatten bereits die Torte gebracht, und Diana stand neben Azalea vor einem Meer brennender Kerzen.

Dem Schrei folgte ein ohrenbetäubender Knall.

Mit weit aufgerissenem Mund drehte Calliope sich zu Eva um, als weitere Schreie aus dem Hörer drangen und dann die Verbindung abrupt abbrach.

»Ettore«, flüsterte sie, die Augen vor Entsetzen geweitet, »Ettore!« Sie flehte das schwarze Display an.

Dann fiel ihr das Handy aus der Hand.

3

Die Infusionsflüssigkeit tropfte aus dem Beutel, sie gab diesem grauen Sommer den Takt.

Wie Regentropfen, dachte Calliope, die auf einem wackligen Stuhl saß, die Ellbogen auf das Bett ihres Mannes gestützt. Die Flüssigkeit sickerte langsam in Ettores Vene.

Seit dem Tag, an dem Azalea ihre siebzig Kerzen ausgepustet hatte, lag er im Koma.

In den letzten Wochen war es Sommer geworden. Die Schüler ließen in den Schulhöfen Wasserbomben platzen, um den Beginn der großen Ferien zu feiern, an den Bushaltestellen hing der Ferienfahrplan, und in den Nachrichten wurde wie üblich geraten, an heißen Tagen viel zu trinken und ausreichend Obst und Gemüse zu essen. Die erste Reisewelle setzte ein, mit kilometerlangen Staus, überfüllten Stränden mit quengelnden Kindern und Urlaubern mit Strohhüten.

Ein Leben, von dem Calliope sich ausgeschlossen fühlte.

Seit der Nacht, in der Ettore die Kontrolle über den Wagen verloren hatte, pendelte sie zwischen Masseria und Krankenhaus hin und her, immer bepackt mit Kleidung, die sie mit nach Hause nahm und frisch gewaschen wieder ins Krankenhaus brachte. Sie hatte täglich Termine mit Neurochirurgen, um Neuigkeiten über den Zustand ihres Mannes zu erfahren. Nach Hause kam sie nur zum Duschen und um mit Familie und Freunden zu telefonieren. Ab und zu aß sie eine Kleinigkeit, aber meist blieb ihr Teller halb voll stehen.

Und jede Nacht saß ein zuverlässiger Gefährte an ihrem Bett: ihr schlechtes Gewissen.

»Ich bin schuld, dass du jetzt hier liegst«, flüsterte sie und betrachtete den tief ins Kissen gesunkenen Kopf ihres Mannes. Wieder und wieder dachte sie über ihr letztes Gespräch nach. Die Hautabschürfungen waren verheilt, die Hämatome zurückgegangen, das Gesicht wieder zu erkennen. Aber der Zustand seines Gehirns machte Calliope Sorgen. Die Ärzte hatten ihr klar gesagt: Solange er nicht aufwachte, konnten sie nicht beurteilen, ob der Unfall bleibende Schäden in seinem Gehirn verursacht hatte.

Ein Vibrieren kündigte eine SMS an. Calliope fuhr sich übers Gesicht und zog das Handy aus der Tasche. Auf dem Display leuchtete der Name Luigi Sartori auf, ihr Familienanwalt.

Das Treffen mit der Straßenverkehrsbehörde ist gut gelaufen. Ich habe die Akten eingesehen, wir haben alle Möglichkeiten, eine hohe Schadensersatzsumme zu fordern. Diese Schweine müssen die Hosen runterlassen, was sie Ettore angetan haben, wird nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden.

Calliope las die Nachricht und legte das Telefon auf den Nachttisch, dann massierte sie sich die Schläfen.

»Kein Geld der Welt bringt ihn mir zurück«, murmelte sie und schaute auf das ausdruckslose Gesicht ihres Mannes, ihre Hände suchten seine starren Finger. Man hatte ihm den Ehering abnehmen müssen, jetzt trug sie beide. Sie betrachtete sie zärtlich und küsste sie, während ihre Gedanken wieder zu der Nacht zurückkehrten, die alles verändert hatte: Ich habe einfach nicht verstanden, dass er auf dem Weg zu mir war. Er wollte mich überraschen, er hatte sogar Blumen gekauft. Und ich habe ihm die ganze Zeit Vorwürfe gemacht.

Sie schlug die Hand vor den Mund, als ihr wieder der Blick des Polizisten und der wie durch ein Wunder unversehrt gebliebene Rosenstrauß auf dem Rücksitz in den Sinn kamen.

Als ob die Liebe sich am Ende doch hätte retten können. Oder, daran wollte sie lieber glauben, dass die Liebe ihren Mann vor dem Tod bewahrt hatte.

Das Telefon meldete sich erneut, diesmal musste sie nicht auf das Display schauen, um zu wissen, wer es war: ihre Schwiegermutter Lucia. Obwohl sie erst vor weniger als einer Stunde das Krankenhaus verlassen hatte, rief sie wie jeden Abend zur gleichen Zeit an, um sich nach dem Zustand ihres Sohnes zu erkundigen. Ohne den Blick von Ettore abzuwenden, beantwortete sie knapp ihre Fragen.

»Wir sehen uns morgen, gute Nacht.« Dann legte sie auf. Wie sie diese abendlichen Rituale satthatte, die sie seit Wochen über sich ergehen lassen musste.

Sie schraubte den Deckel der Thermoskanne auf, goss sich einen Kaffee ein und, die Augen auf den Monitor gerichtet, bereitete sie sich auf eine weitere Nacht in Stille vor. Alles schien normal.

»Sofern man den Zustand eines Mannes im Koma als normal bezeichnen kann«, murmelte sie und schlug die Beine übereinander. »Es ist wirklich absurd. Wir verbringen den ganzen Tag miteinander, sind uns ganz nah und können trotzdem nicht miteinander reden. Absurd und zynisch«, wiederholte sie und trank einen Schluck heißen Kaffee.

»Hey.«

Calliope sprang auf und drehte sich um. Auf der Türschwelle stand Diana, eine Tüte vom Imbiss an der Ecke in der Hand. »Was machst du denn hier?«

»Ich bringe dir etwas zu essen.«

»Danke, aber das ist nicht nötig.«

»Natürlich ist das nötig. Ich kann doch nicht zulassen, dass du eine bessere Figur bekommst als ich. Du isst jetzt was«, befahl sie und stellte mehrere Behälter mit Nudeln, Grillgemüse, Salat und Auberginen mit Parmesan auf den Tisch.

Calliope musterte das Angebot und hätte fast aufgelacht. »Sehe ich so verhungert aus?«

»Ich habe alles genommen, was ich auch essen würde.«

»Mit Ausnahme der Pasta. Obwohl wir eine Nudelfabrik besitzen, streikst du da.«

Diana verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte verächtlich: »Du weißt doch, dass ich von Gluten einen Blähbauch bekomme.«

»Natürlich, ich kann mir gut vorstellen, welche Schäden zwei Spaghetti anrichten können, du Hungerhaken.«

»Du hörst dich schon an wie unsere Mutter. Und das ist kein Kompliment«, unterbracht Diana sie und setzte sich auf die Bettkante. »Wie geht es ihm?«

Calliope nahm einen Bissen und trank einen Schluck Wasser. »Siehst du doch, unverändert. Es macht mich wahnsinnig, untätig hier rumzusitzen und zu warten.«

»Du brauchst mal eine Pause, ein paar Tage nur für dich. Dieser Stress tut dir nicht gut, das spürt er sicher auch.«

Calliope schaute aus dem Fenster, die Sterne leuchteten am tiefschwarzen Himmel, eine fast magische Szenerie von erhabener Schönheit. Aber irgendwie auch makaber, immerhin kämpfte sie hier jeden Tag gegen den Tod. »Ettore ist mein Mann, er braucht mich. Das ist wichtiger als ein paar Sorgenfalten mehr auf der Stirn.«

»Von Falten rede ich auch nicht, Calliope. Du reibst dich auf und setzt deine Gesundheit aufs Spiel. Mutter sagt das auch.«

»Sie hat doch eh nur die Firma im Kopf«, fauchte Calliope und spießte ein paar Nudeln auf die Gabel. Aber sie wollte jetzt nicht über die Firma sprechen, die damalige Entscheidung ihres Vaters war schmerzhaft genug gewesen. Sie wollte jetzt nicht diese Büchse der Pandora öffnen, nur weil die Dinge wegen des Unfalls nicht mehr nach Plan liefen.

»Mutter misstraut Onkel Domenico eben, das ist alles.«

Diana sah zu, wie ihre Schwester das Essen in sich hineinstopfte, wie immer, wenn sie schlecht gelaunt war. »Kannst du ihr das verdenken? Wir wissen doch alle, was für ein Typ er ist. Ein Emporkömmling und ein Schmarotzer der übelsten Sorte. Das war er immer schon.«

»Ja, und?« Calliope knüllte die Serviette zusammen und warf sie in den Mülleimer. »Was erwartet ihr von mir? Dass ich für die Familie die Kastanien aus dem Feuer hole? Dass ich die Leitung der Firma übernehme? Jetzt auf einmal, wo Vater nicht mehr da ist und Ettore im Koma liegt?« Natürlich wusste sie, dass Domenico die Firma mit seinem Machthunger ruinieren würde, aber sie hatte lange gebraucht, um die Ablehnung ihres Vaters zu verarbeiten, und jetzt war es für sie ein für alle Mal vorbei. Sie würde sich das nicht noch einmal antun. »Ich bin doch nicht eure Marionette.« Die ganze Wut und Frustration, die sich in ihr aufgestaut hatten, brachen jetzt aus ihr heraus. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, sie ertrug es nicht, dass Diana entrüstet ihre langen Wimpern niederschlug, als wäre sie an allem schuld, wie das Ungeheuer im Märchen. »Wir haben doch einen Mann in der Familie, soll er das doch machen. Holen wir eben Augusto aus New York zurück, den von allen verehrten Erstgeborenen, der uns im Stich gelassen hat und sein Geld lieber in den Staaten verdient. Soll er doch die Fabrik übernehmen.«

»Calliope, du irrst …«

»Ich irre mich ganz und gar nicht. Als Vater überlegt hat, wem er die Leitung der Firma überträgt, hat er sich gegen mich entschieden. Dabei habe ich alles getan, um ihm zu zeigen, dass ich die Richtige wäre. Aber er hat mir meinen Mann vorgezogen, der eigentlich ganz andere Pläne hatte und lieber Tierarzt geworden wäre. Ettore musste schwören, dass die Firma auch in Zukunft in der Familie bleibt. Deshalb drängt Ettore so auf ein Kind. Dafür bin ich offensichtlich gut genug. Das sieht meine Schwiegermutter auch so. Nein, auf mich könnt ihr nicht zählen. Lasst mich da raus, ich muss an meinen Mann denken.« Ihre linke Hand tastete nach den beiden Ringen an der rechten Hand. »Ich bin seine Frau, es ist meine heilige Pflicht und Schuldigkeit, an seiner Seite zu sein.«

Diana senkte den Blick und fixierte ihre Prada-Sandalen. Calliope hatte recht, sie sollten Augusto bitten, nach Hause zu kommen. Aber sie hatte nicht den Mut zuzugeben, dass sie kaum noch Kontakt zu ihm hatte und nicht, wie sie immer behauptete, jeden Tag mit ihm telefonierte. Und wenn sie es mal taten, sprachen sie nur über das Nötigste.

Sie verzog den Mund und stand langsam auf. »Ich weiß, was du gerade durchmachst. Es ist sicher nicht leicht, den Mann, den man liebt, in diesem Zustand zu sehen.« Calliope nickte und kratzte sich an der Stirn. Diana hatte mal wieder laut ausgesprochen, was sie selbst nur gedacht hatte. »Ich gehe jetzt besser.« Sie griff nach ihrer Tasche, an der Tür drehte sie sich noch einmal um. Das Gesicht ihrer Schwester war bleich und verhärmt. Seit Ettores Unfall war sie ein Schatten ihrer selbst, sie war nicht mehr die Rebellin, mit der ihr Vater nie zurechtgekommen war. Diana trommelte mit den Fingerspitzen auf den weißen Türrahmen, ein Fuß im Zimmer, den anderen draußen im Flur. »Du magst ja mit allem recht haben, aber eins solltest du dir aus dem Kopf schlagen: Es ist nicht deine Schuld. Du bist nicht gefahren, und du hast auch nicht die Leitplanke entfernt, weil sie verrostet war. Es war ein tragischer Unfall, und ich bin sicher, dass auch Ettore das so sehen wird, wenn er wieder aufwacht.«

Calliope verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte die grazile Gestalt ihrer Schwester im Gegenlicht. Das perfekte Lächeln, die perfekte Frisur, das perfekte Make-up. Diana hätte einem Blinden den Mond verkaufen können, aber sie konnte sie nicht überzeugen.

Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht und schaute auf den Türspalt zwischen Ettores Zimmer und dem Flur, wo eine Nachtschwester vorbeihuschte. Aus dem Nebenzimmer war ein Beatmungsgerät zu hören. »Gute Nacht, Diana, und danke für das Essen.«

4

Der Sommer kam mit Macht, die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, der Wind wehte Hitze heran.

Die Luft über den Straßen flirrte, die Fassaden der Barockpaläste Salinas hoben sich grellweiß darüber ab. Auf dem Marktplatz priesen die Händler ihre Waren an, die strahlend gelben Pfirsiche leuchteten in ihren Weidenkörbchen mit der Sonne um die Wette.

Auf ihrem Weg zu Ettore kaufte Calliope ein Körbchen, biss in einen Pfirsich und genoss den süßen Saft der prallen Frucht. Der Duft der frisch gewaschenen Kleidung ihres Mannes, die sie in einer Tasche über der Schulter trug, mischte sich mit den würzigen Aromen des in heißem Öl angebratenen Knoblauchs und der sonnengereiften Tomaten, die aus den geöffneten Küchenfenstern drangen. Frauen pfiffen und sangen Lieder, es war ein wildes Durcheinander alter Schlager, aktueller Hits und Volkslieder. Calliope glaubte Volare herauszuhören. Als sie um die Ecke bog, tauchte die Neorenaissance-Fassade des Ospedale Beata Vergine Addolorata auf, und der Zauber verflog.

Sie hasste diesen Ort aus tiefstem Herzen. Sie hasste die beiden symmetrisch angeordneten Palmen neben dem Eingang des Krankenhauses, deren Wedel im Wind hin und her schwangen, sie hasste den Geruch nach Desinfektionsmitteln in den Gängen, und noch mehr hasste sie die Blicke der Angehörigen der anderen Patienten, wenn sie im Aufzug den Knopf für die Intensivstation drückte. Jedes Mal musste sie ihre Tränen herunterschlucken. So viele Tränen waren längst getrocknet und hatten salzige Spuren auf den Wangen und auf der Kleidung hinterlassen.

Sie grüßte die Schwester am Eingang und ging mit den anderen Besuchern die marmorne Treppe zu den Aufzügen hoch, die Stufen waren abgetreten vom jahrhundertelangen Auf und Ab verzweifelter Angehöriger. Die Intensivstation lag genau gegenüber der Gynäkologie, und heute blieb sie etwas länger vor der Glasscheibe stehen als sonst, sie brauchte Leben und Lachen, um diesen Tag zu überstehen. Und Hoffnung. Eine Hoffnung, die in ihr wuchs, genau wie ein Kind.

Die Atmosphäre zu Hause in der Masseria war unerträglich geworden. Azalea beschwerte sich ununterbrochen über ihren unfähigen Schwager und ließ keine Gelegenheit aus, Calliope die alarmierenden Auftragszahlen und die Klagen des Personals zu unterbreiten. Diana hingegen saß stundenlang ungerührt im Sessel und blätterte durch ihre Modezeitschriften. Sie wirkte allerdings erschöpfter als sonst und verbarg ihre Augen hinter einer riesigen Sonnenbrille.

Es ist absurd, wie sehr ich den einzigen Ort hasse, an dem ich zur Ruhe kommen kann, dachte Calliope und wickelte den Pfirsichkern in ein Papiertaschentuch, um ihn später wegzuwerfen.

Im Flur, den sich die beiden Stationen teilten, bemerkte sie Ärzte in weißen Kitteln und Frauen in hellblauer Schwesterntracht, die mit Infusionsständern unterwegs waren. Sie nickte der Oberschwester zu, die ihr zu verstehen gab, dass ihre Schwiegermutter bereits zugegen war. »Danke«, murmelte sie und hob den Daumen.

Sie ging auf Ettores Zimmer zu, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Lucia wild mit den Armen rudernd herausgestürzt kam. Ihr Gesicht war feuerrot.

»Er hat die Augen geöffnet, Ettore hat die Augen aufgemacht!«, rief sie außer sich vor Freude.

Ihre Worte pumpten mit der Wucht eines Defibrillators durch Calliopes Körper, ihr war, als durchzucke sie ein Stromstoß. Sie ließ die Tasche mit der Kleidung fallen und rannte los, bewegte sich wie ferngesteuert.

Ettore war wach, endlich war er zurück.

Sie hielt sich am Türrahmen fest und starrte auf ihren Mann, der mit geöffneten Augen dalag und sich verwirrt umsah. Es war deutlich zu sehen, dass er nicht wusste, wo er war. Die Umgebung, die Geräusche, die Gerüche, alles war ihm fremd.

»Gott sei Dank«, schluchzte Calliope und schlug sich die Hand vor den Mund, während die Ärzte ins Zimmer stürmten.

»Er ist wach, verstehst du? Mein Ettore hat es geschafft, ein Wunder ist geschehen«, jubelte Lucia, die sich an sie klammerte, während ihr Tränen über die Wangen strömten und auf das Kostüm aus kostbarer Shantungseide fielen. Calliope starrte ins Leere, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war wie gelähmt und spürte Lucias knochige Finger, die sich in ihr Fleisch bohrten. Ihr Schluchzen war jetzt so stark, dass sie kaum noch Luft bekam.

Plötzlich durchfuhr sie ein stechender Schmerz, von der Brust bis hinunter zum Magen, der sich zusammenkrampfte. Ihre Welt, die in den Wochen nach dem Unfall stillgestanden hatte, hatte sich wieder zu drehen begonnen, und sie war zurück in einem Leben, von dem sie nicht wusste, wie es weitergehen würde.

Lucia und sie kamen aus zwei verschiedenen Welten. Die Witwe Benvenuti stammte aus einer adligen Familie, Calliopes Vorfahren dagegen waren Bauern gewesen, doch in diesem Moment waren alle Grenzen zwischen ihnen aufgehoben. In diesem Moment lagen sie sich weinend in den Armen, selig und überglücklich. Allerdings nur so lange, bis der behandelnde Neurochirurg Salvatore Valdi mit ernstem Gesicht auf sie zukam.

»Doktor, wie geht es meinem Mann?«, fragte Calliope und ging ihm entgegen, gefolgt von ihrer Schwiegermutter. Der Mann war wesentlich größer als sie, er nahm bedächtig die Brille ab und steckte sie in die Tasche seines Kittels. »Es ist zu früh, um etwas zu sagen. In den nächsten Tagen müssen wir Tests machen, um festzustellen, ob die lange Bewusstlosigkeit bleibende Schäden im Gehirn hinterlassen hat.«

»Aber kann er sprechen? Kann er uns erkennen?«, drängte Lucia und fuchtelte so heftig mit den Armen, dass ihr Brillantarmband klimperte.

Der Arzt räusperte sich: »Signora, ich verstehe Ihre Ungeduld, aber ich brauche Zeit, um mir ein Bild zu machen. Die einzige Antwort, die ich Ihnen im Moment mit Sicherheit geben kann, ist, dass Signor Benvenuti in der nächsten Zeit viel Ruhe braucht. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe noch andere Patienten.« Bei den Worten schaute er zu der Krankenschwester, die aus dem gegenüberliegenden Zimmer kam.

Lucia starrte der weiß gekleideten Gestalt, die neben der Schwester den Flur hinunterging, ungläubig hinterher. Ihre Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, ihre Lippen fest zusammengepresst. »Idiot, was bildet der sich ein? In meinen ganzen siebzig Jahren hat noch niemand so mit mir geredet. Und ich werde nicht zulassen, dass sich das ändert.« Sie rückte sich die Stola über den Schultern zurecht. Dann winkte sie eine Schwester heran und fragte nach Doktor Valdis Büro.

»Du wartest hier, ich bin gleich zurück«, sagte sie zu Calliope, die allerdings nicht vorhatte, auf dem Gang stehen zu bleiben. Sie hatte lange genug gewartet.

Nachdem auch die anderen Ärzte den Raum verlassen hatten, ging sie selbst hinein. Sonnenstrahlen erhellten das Zimmer und erzeugten eine geradezu heitere Atmosphäre, trotz der Maschinen. Ettore war wieder eingeschlafen, seine Augen waren halb geschlossen. Sie streichelte über seinen Ehering an ihrem Finger. Diese Augen waren es damals auf der Party bei ihrer Cousine in Bologna gewesen, die sie von Anfang an in ihren Bann gezogen hatten und die sie in den sieben gemeinsamen Jahren lesen und lieben gelernt hatte.

Auf Zehenspitzen schlich sie über den Marmorfußboden, um Ettore nicht zu wecken, und hielt den Atem an, als er plötzlich die Augen ganz aufschlug und sie anlächelte, wie nur er es konnte.

Wie er es auch an jenem Abend getan hatte, als er sie fragte, warum sie nicht auf die Zwischenräume zwischen den Pflastersteinen treten wollte, und sie ihm achselzuckend geantwortet hatte: »Weil sie wie Grenzen sind. Und ich mag keine Grenzen, die andere festgelegt haben.«

Bei dieser Erinnerung musste sie lächeln, dann beugte sie sich langsam über ihn. Sein Herzschlag, der von einer Maschine neben dem Bett überwacht wurde, beschleunigte sich, als sie sich neben ihn setzte. Ein Zeichen, dass er sie wahrnahm.

»Du kannst mich hören, oder?«

Sie fuhr ihm mit den Fingerspitzen durchs Haar, suchte nach seinem Geruch, der noch Stunden an ihr haftete, wenn sie miteinander geschlafen hatten. Dieser Geruch, der sie in den wenigen gemeinsamen Nächten in den Schlaf gewiegt hatte. Aber er war nicht mehr da. Genau wie die Wunden schien der ganze Körper desinfiziert worden zu sein.

Der Unfall hatte Narben in seinem perfekt modellierten Gesicht hinterlassen. Wie die Risse in den Gemälden alter Meister, die einer Restaurierung bedurften.

»Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das gemeinsam«, flüsterte sie und küsste ihn auf die Stirn. Noch einmal durchlebte sie die Gefühle der Nacht des Unfalls, und ihr kam wieder der Blumenstrauß in den Sinn, der wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war. Sie hatte die Rosen getrocknet und einzelne Blütenblätter zwischen die Seiten des Buches gelegt, das sie immer bei sich trug, Liebesgedichte von Nazım Hikmet, aus dem sie ihm nachts oft vorgelesen hatte.

Sie lächelte und fühlte zwischen Daumen und Zeigefinger Ettores dichtes Haar. »Du bist zurück, mein Schatz, das ist das Einzige, was zählt.«

5

Calliope war auf dem Weg von Salina ins Krankenhaus. Am ersten Abzweig bog sie in die Straße ein, die in das Industriegebiet der kleinen Stadt führte. Nachdem Ettore aufgewacht war, war sie im Morgengrauen für eine rasche Dusche in die Masseria zurückgekehrt und gleich wieder losgefahren, aber der Gedanke, wieder stundenlang auf einem Plastikstuhl ausharren zu müssen, war unerträglich gewesen. Lieber erst zur Nudelfabrik fahren, der Ort, an dem sie den größten Teil ihrer Kindheit verbracht hatte. Die späteren Umbauten hatten das Erscheinungsbild der Gesamtanlage verändert, doch die mattweißen Produktionshallen, die das zentrale Backsteingebäude flankierten, sahen immer noch so aus wie früher. Und Calliope wusste, dass trotz aller äußerlichen Modernisierungen das Herz der Fabrik unangetastet geblieben war.

Der Wind trieb sie zu den Wurzeln, den Wurzeln ihres Lebens, wo alles seinen Anfang genommen hatte. Der Prozess, in dem aus Mehl, Salz und Wasser Pasta wurde, war für sie wie die Geburt eines Kindes, die Entstehung neuen Lebens. Nur dass dieses Wunder in der Nudelmaschine begann. Wenn sie als Mädchen auf Azaleas Schoß gesessen hatte, war sie jedes Mal aufs Neue fasziniert gewesen, wenn sie den Nudelmacherinnen bei der Arbeit zusah.

An diesem Ort hat alles begonnen, dachte sie und lehnte sich an eine Wand, während sie die an- und abfahrenden Lastwagen, das Kommen und Gehen der Arbeiter und Arbeiterinnen beobachtete. Sie erinnerte sich, wie sie sich heimlich für ein Seminar für Firmenmarketing in Bologna eingeschrieben hatte, wo sie Ettore kennengelernt hatte. Ihren Eltern hatte sie erzählt, sie würde ihre Cousine besuchen.

Sie sog den für den Sommer so typischen Duft des wilden Thymians und den Geruch nach trockener Erde tief ein. Diese Straße war sie Hunderte Male mit dem Fahrrad entlanggefahren, damals aber war sie ein Feldweg gewesen, staubig und mit Schlaglöchern übersät. Sie erinnerte sich noch gut an die knorrigen Olivenbäume rechts und links des Weges, dort, wo jetzt Leitplanken waren. Wie oft war sie stehen geblieben und hatte den Kopf an die raue Rinde der Stämme gelegt! Gegen Ende des Sommers hatte sie sogar ab und zu ein paar Früchte stibitzt, um sie mit den anderen Oliven in der Sonne trocknen zu lassen, ehe sie nach traditionellem Familienrezept zu Olivenpaste verarbeitet wurden – eine köstliche Beilage zur Pasta. Sie lächelte versonnen, als sie die weiße Keramikschüssel voller dampfender Nudeln vor sich sah, und erinnerte sich fast wehmütig an die Gespräche über die ideale Kochzeit und die richtige Pasta-Sorte.

Für uns Costas war Pasta schon immer wie eine Religion, dachte sie und schaute zum Beifahrersitz, wo noch der orangefarbene Aktenordner mit den Quartalszahlen der Firma lag, den Ettore am Tag des Unfalls dort liegen gelassen hatte. Azaleas permanente Klagen hallten immer noch in ihr nach, nicht einmal die Freude über Ettores Erwachen aus dem Koma hatte ihre Sorgen um die Firma verdrängen können.

»Wir müssen Domenico Einhalt gebieten. Wenn wir diesen Größenwahnsinnigen nicht stoppen, ruiniert er die Firma«, hatte sie am Morgen erneut gedrängt, als sie im Garten Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen hatten. »Mit Ettore können wir nicht rechnen, er muss erst ins Leben zurückfinden, die Nudelfabrik ist da zweitrangig. Es ist an uns Costas, Ordnung in die Familie und in die Firma zu bringen«, hatte sie gesagt, als sie ihre Tochter nach den Autoschlüsseln greifen sah.

Als wäre das so einfach, dachte Calliope und sah einem Laster nach, der das Firmengebäude verließ.

Sie griff nach dem Handy und suchte Augustos Nummer. Sie wusste so wenig von ihrem Bruder, der bereits mit neun Jahren auf eine Privatschule in der Schweiz geschickt worden war und seit Langem in New York lebte. Wenn Augusto hier gewesen wäre, hätte Eugenio ihm und nicht Ettore die Leitung der Firma übertragen, hatte Azalea hinzugefügt.

Bevor sie seine Nummer wählen konnte, klingelte das Telefon. Sie schaute auf das Display. Lucia.

Sie nahm das Gespräch an. »Ja?«

»Wo bist du denn? Ich warte schon seit einer Stunde auf dich.«

Melodramatisch wie immer, dachte Calliope und klappte den Ordner auf. Sie blätterte durch die Briefe, auf denen oben in der Mitte das Firmenlogo prangte, der Name Costa, umrankt von einem Ährenkranz. Ein Design, das sie seit jeher altmodisch fand, aber ihr Vater hatte sich immer gegen ein moderneres Erscheinungsbild gewehrt. »Ich bin in der Fabrik.«

»Warum, gibt’s Probleme?«

Ich brauchte mal einen Moment für mich. Du und Azalea lasst mir ja keine Luft zum Atmen, hätte sie am liebsten geantwortet, entschied sich dann aber für eine Notlüge. »Ich musste den Kopf freikriegen und nachdenken«, sagte sie leise, worauf am anderen Ende ein hysterisches Lachen zu hören war.

»Nachdenken? Manchmal weiß ich wirklich nicht, was in dir vorgeht. Heute werden sie uns sagen, wie es mit Ettore weitergeht, und du musst nachdenken? Mich wundert nicht, dass der gute Eugenio nicht dich, sondern meinen Sohn an die Spitze der Firma gesetzt hat. Einer in dieser Familie muss ja mit beiden Füßen auf der Erde stehen!«

»Natürlich«, antwortete Calliope mechanisch und kickte einen Stein in Richtung der mit Unkraut überwucherten Böschung. Wilde Schönheiten, aber unerwünscht, das gilt in der Natur wie im Leben, dachte sie und seufzte. Der Waffenstillstand war zu Ende, falls es ihn überhaupt je gegeben hatte. Zwischen ihr und Lucia herrschte wieder kalter Krieg. »Ich komme so bald wie möglich.« Dann legte sie auf, breitete die Arme aus und ließ sich vom Wind durchpusten, der ihr sein Lied sang, wie damals als Kind, als das Leben noch nicht so kompliziert war. Im Sommer war sie barfuß durch die Getreidefelder gelaufen und sonntags hatte sie sich im Trockenraum versteckt, wo die Spaghetti in langen Fäden über den Holzstangen hingen.

Ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück, zu den Bienen von Onkel Peppe, dem Dorfdeppen von Salina, der im Sommer einen kleinen Stand an der Straße aufbaute, um den Touristen Honig zu verkaufen, obwohl dort nie welche vorbeikamen. Schließlich kauften die Einheimischen ihm den Honig ab, weil sie dem armen Kerl etwas Gutes tun wollten. Kiloweise Honig, aus Mitgefühl und Solidarität mit einem Mann, der leider nicht das Glück hatte, mit einem so wohlklingenden Namen geboren worden zu sein wie die Signora Benvenuti.

Nur Lucia rümpft immer die Nase, wenn sie ihn sieht, dachte sie und begrüßte ihn in Gedanken mit einem Lächeln, das sich unter ihren windzerzausten Haaren versteckte. Dann kam ihr wieder das Telefonat mit ihrer Schwiegermutter in den Sinn. Sie hasste es, wenn sie ihr in ihrer herrischen Art Anweisungen gab, als wäre sie eine Dienstbotin und nicht die Frau, die ihr Sohn als Partnerin fürs Leben ausgewählt hatte. Sie behandelte sie wie Onkel Peppe.

Sie stieg wieder ins Auto, startete den Motor und gab Gas, die weiß getünchten Mauern und ihre dunklen Gedanken ließ sie in einer weißen Staubwolke hinter sich. Als sie mit Ettores Tennistasche in der Hand in das Krankenzimmer kam, blieb sie überrascht auf der Schwelle stehen: Er hatte seine Lieblingsjeans und ein weiß-blau gestreiftes Hemd an. Er bewegte sich nicht, war aber wach, im Gegensatz zu den Vortagen, an denen er noch vor sich hin gedämmert und sie angesehen hatte wie eine Fremde, als ob der Anblick von Calliopes Körper, der sich früher lustvoll an ihn geschmiegt hatte, plötzlich unerträglich für ihn geworden war.

»Hallo«, sagte sie und stellte die Tasche auf den Boden, während Lucia, die neben ihrem Sohn saß, nur kurz die Hand hob. Langsam ging sie auf Ettore zu. »Hallo, mein Lieber«, flüsterte sie leise und wollte ihm über die Schulter streichen, aber als er ihre Hand näher kommen sah, wandte er sich ab und zog die Augenbrauen hoch. Sie zuckte zurück und runzelte ungläubig die Stirn. »Was ist?«, fragte sie, aber weder er noch Lucia, die aus dem Fenster auf die Umrisse des barocken Kirchturms blickte, antworteten.

Sie räusperte sich und suchte nach einer Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten. Aber ihr fiel nichts auf. Das Bett war gemacht, auf dem Nachttisch standen eine halb volle Flasche Wasser, ein Glas Pfirsichsaft und zwei weitere Gläser. Die Anzeige auf dem Monitor war unauffällig.

»Könnte mir mal bitte jemand sagen, was hier los ist?«, fragte sie jetzt nachdrücklicher und versuchte Blickkontakt zu ihrem Mann herzustellen, der sich ostentativ abwandte und den Kopf zu seiner Mutter drehte. In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein junger Mann mit karamellbrauner Haut und kaffeebraunen Augen betrat den Raum. Er trug ein Hoodie mit dem Logo einer amerikanischen Universität und ausgewaschene Jeans und hatte so viel Gel im schwarzen Haar, dass Calliope das Geburtsdatum, das auf seinem umgehängten Ausweis stand, kaum glauben konnte. Er wirkte eher wie ein Jugendlicher, der gerade mit der Schule fertig war. Sie wollte sich ihm in den Weg stellen, als er den mitgebrachten Rollstuhl aufklappte und ihn neben Ettores Bett postierte. Calliopes Hals war wie zugeschnürt, nackte Angst verschlug ihr den Atem. »Guten Tag«, sagte der Mann mit einem ausgeprägten lateinamerikanischen Akzent und reichte ihr die Hand. »Me llamo Santiago Duarte, ich bin Signor Benvenutis Physiotherapeut.«

»Calliope Costa, ich bin die Ehefrau«, stammelte sie, ihre Stimme zitterte. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Der Rollstuhl führte ihr die Realität schonungslos vor Augen. Ihr Leben würde nie wieder so sein wie früher, der Unfall in den Kurven vor Salina hatte alles verändert. Professor Valdis Worte kamen ihr wieder in den Sinn. Waren die Untersuchungsergebnisse etwa da? Waren die Folgen des Komas für das Nervenzentrum doch gravierender als erhofft? Wieder starrte sie auf den Rollstuhl. Ein Gebilde aus Stahlrohren mit einem Sitz aus Stoff. Allein sein Anblick ließ sie erschauern.

Schlagartig war alles nur noch schwarz-weiß, da war keine Stimme, kein Zeichen, um die bösen Geister zu vertreiben, sie sah nur Ettore, sein versteinertes Gesicht, seine müden Augen, die noch schwermütiger wirkten als der düstere Sommerhimmel. Ein schwülwarmer Wind bewegte die Palmwedel im Park und war selbst noch im Krankenzimmer zu spüren.

Eine Amsel hüpfte auf das Fensterbrett und pickte nach ein paar Brotkrumen, die Lucia dort verstreut hatte, während Calliope den Blick nicht von ihrem Mann lösen konnte.

Sie versucht nur zu überleben, wie wir alle