Die Wildrosentöchter - Valentina Cebeni - E-Book
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Die Wildrosentöchter E-Book

Valentina Cebeni

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Beschreibung

Ein Roman so verführerisch wie der Duft wilder Rosen ...

Als ihre große Liebe Lorenzo stirbt, glaubt Cassandra, nie mehr glücklich werden zu können. In ihrer Trauer widmet sie sich voll Hingabe den Weinreben und Rosenstöcken auf dem toskanischen Gut, das ihr Mann hinterlassen hat. Doch dann findet sie einen auf das Jahr 1944 datierten Liebesbrief. Fasziniert beginnt Cassandra Nachforschungen anzustellen, die in die Vergangenheit ihrer Familie führen. Als ihr Großvater jede Auskunft verweigert, bekommt sie Hilfe von Enea, dem ernsten, aber attraktiven Chorleiter des Dorfes. Und während die Rosen auf dem Gut zu blühen beginnen, kommen die beiden einer tragischen Liebesgeschichte auf die Spur ...

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Seitenzahl: 380

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VALENTINA CEBENI wurde 1985 in Rom geboren. Bereits seit ihrer Kindheit liebt sie es, Geschichten zu erzählen. »Die Wildrosentöchter« ist nach »Die Zitronenschwestern« und »Die Blütenmädchen« der dritte Roman der Bestsellerautorin. Ihr neuer Roman spielt in einem kleinen toskanischen Dorf und erzählt von Familie, Zusammenhalt, Liebe und einem Familiengeheimnis, das auch einen Neuanfang bedeuten kann.

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Aus dem Italienischen vonIngrid Ickler

Die italienische Originalausgabe erscheint 2019 bei Garzanti, Mailand.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2019 by Valentina Cebeni

Licence agreement made through Laura Ceccacci Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by

Penguin Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro

Umschlagmotiv: © Guido Cozzi/Atlantide Phototravel/GettyImages; tamayura/sumroengchinnapan/naKornCreate/StevanZZ/Schutterstock

Redaktion: Sylvia Spatz

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-24444-6V003

www.penguin-verlag.de

Prolog

August 1944

Ihre Feder löste sich vom Papier, noch bevor die Tinte trocken war, weil die Sirenen das Nahen der alliierten Bomber ankündigten.

Anita ging zum Fenster und schaute hinaus. Draußen über dem Feld leuchtete silbern die Nacht. Nur ein Monat zuvor war dieses Rechteck voller leuchtender Sonnenblumen gewesen, ein wogendes Meer aus Gelb. Dieser Sommer hatte sie für immer verändert, sie spürte es nicht zuletzt an ihrem Körper, in dem ein neues Leben heranwuchs.

Während die Sonne die Erde austrocknete und die Weinreben dunkelrot färbte, war sie wochenlang bei glühender Hitze durch das Feld gestreift, das sich gelb bis zum Horizont erstreckte. Trotz des Krieges, trotz allem war sie voller Lebenslust gewesen in diesem magischen Sommer.

Irgendwann würde der Krieg zu Ende sein, dachte sie, als sie in die dunkle Nacht hinausschaute. Ein neuer Sommer würde kommen, die Menschen würden die Reben pflücken, den Wein keltern und dabei singen. Und aufhören, einander zu hassen, und dann endlich würde Friede sein.

Das ferne Brummen der Bomber riss sie aus ihren hoffnungsfrohen Gedanken, und sie kroch unter den Tisch. Jeder musste Deckung suchen. Am Fenster zu stehen, war bei Fliegeralarm verboten. Wenn der Hauswart, deutsche Militärpolizei oder kollaborierende einheimische Ordnungskräfte sie erwischten, gab es Ärger. Sie nahmen es sehr ernst mit den ihnen übertragenen Aufgaben. Alle mussten unsichtbar werden wie Gespenster und sich in Wohnungen, Kellern oder Bunkern verbergen.

Den Menschen blieb nichts, als zu beten oder zu weinen.

Anita schluckte und schaute zu ihrem Pappkoffer unter dem Feldbett. Wie viele andere auch musste sie sich nach Udine begeben. Halb Montelupo war schon evakuiert worden, weil es hier nicht mehr sicher war, denn die Front rückte seit der Landung der Alliierten in Sizilien ein Jahr zuvor immer näher. Aber sie würde ihren Heimatort nicht verlassen, ohne vorher ihr Versprechen einzulösen.

Sie küsste das hölzerne Kruzifix um ihren Hals und verbarg es wieder unter der Bluse, öffnete die Läden und ließ sich vorsichtig aus dem Fenster nach unten gleiten, bis ihre Füße die vom nachmittäglichen Regen noch feuchte Erde berührten. Ein letztes Durchatmen, ein stilles Gebet, dass ihre Mutter nicht wach würde, und sie verschwand im Dunkel der Nacht.

Das Fahrrad hatte sie an der Stelle versteckt, wo sie sich von ihrem Bruder Adelchi verabschiedet hatte, der in den Bergen als Partisan gegen die Faschisten kämpfte, denn seit der Absetzung Mussolinis, der Kapitulation Italiens und der darauf folgenden Kriegserklärung an Hitler-Deutschland war Mittelitalien von den einstigen Waffenbrüdern besetzt worden. Deshalb kamen Nacht für Nacht die Flugzeuge und überzogen das Land mit Bomben.

Es war weder sicher zu gehen noch zu bleiben, doch bevor sie Montelupo verließ, musste sie ihre große Liebe retten.

Anita löste ihr Halstuch, deckte damit die schwach leuchtende Lampe ab und stieg auf ihr Rad, trat kraftvoll in die Pedale, bog auf die Landstraße ein und radelte an den Bewässerungskanälen neben den Feldern entlang, bis sie die hohen Zypressen erreichte, die rechts und links des Weges standen, der nach La Carraia führte.

Sie liebte den Duft der Erde, Symbol des immer wieder neu entstehenden Lebens – sie liebte diese Landschaft, das Rascheln der silbern glänzenden Blätter der Olivenbäume im sanften Nordostwind, die golden leuchtenden Kornfelder mit ihren prallen Ähren. In den Weinbergen warteten die Reben still auf die Ernte, die noch warmen Blätter umhüllten schützend die sich dunkel färbenden Trauben.

Wer weiß, ob sie dieses Jahr überhaupt jemand ernten würde, dachte sie und fuhr den langen Anstieg hinauf, der zur Rückseite des Herrenhauses führte.

Innerhalb der Begrenzungsmauer standen uralte Rebstöcke, schmiegten sich seit über hundert Jahren an die verwitterten Steine, ein grün-roter Schleier, der ihr Geschichten von der Sonne und dem Wein und von den Geheimnissen einer Familie zuflüsterte, die ihr, ihrer Mutter und ihrem Bruder Arbeit und Brot gab.

Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht, stieg ab und kniete sich vor einem großen, hohen Rosenbusch nieder, während in der Nähe ein Höllenfeuer vom Himmel herabregnete. Sie musste sich beeilen. Aus ihrer Umhängetasche zog sie eine große, rechteckige Keksdose und stellte sie auf den Boden.

Das Leben blühe selbst auf den härtesten Böden, hatte man ihr vor wenigen Tagen gesagt, und genau in diesem Moment empfand Anita Innocenti die Wahrheit dieser Worte.

»Ciao, mein Schatz«, murmelte sie mit einem Lächeln und begann zu graben.

1

Dezember 2003

Der Blick von La Carraia auf Montelupo war atemberaubend.

In der diesigen Winterluft sah der kleine Ort wie verzaubert aus, denn ein Schleier schien über allem zu liegen, tauchte die Silhouette der Kirche San Biagio, die umstehenden Häuser mit den erdfarbenen Dächern, das zinnenbewehrte Rathaus auf dem großen Platz, die Weinberge und Olivenhaine, die sich außerhalb der Mauern mit den beiden Stadttoren entlangzogen, in ein sanftes Licht. Und dahinter breitete sich die typische toskanische Hügellandschaft aus.

Ich seufzte, während die Dachbalken aus Eichenholz in der Kälte knackten.

Es war Dezember. Die Kinder warteten ungeduldig und voller Vorfreude auf Weihnachten, die Straßen des kleinen Ortes waren vom Duft der Holzfeuer in den Stuben erfüllt. Ich hörte die Musik der Dudelsackpfeifer, der Zampognari, und die der Händler, die jeden Morgen ihren Stand auf der Piazza delle Erbe aufschlugen und den Frauen ihre Waren aufschwatzten, während die Männer in der Bar saßen und über Fußball diskutierten.

Fröstelnd zog ich mir die Ärmel des schwarzen Pullovers über die Handgelenke, um meine Finger zu wärmen.

Ich war traurig, wie fast jeden Tag seit einem Jahr. Der Kalender erinnerte mich daran, dass das Datum, das für mich immer den Nachgeschmack einer Niederlage haben würde, unaufhaltsam näher rückte. Der vierundzwanzigste Dezember. Als ich in der Fensterscheibe mein trauriges Gesicht mit den heruntergezogenen Mundwinkeln sah, wandte ich den Blick ab und wischte mir mit der Hand über die Stirn.

In diesem Moment hörte ich rasche Schritte auf der Treppe. Schnell schaltete ich das Gas unter der Espressokanne aus und schaute zur Tür. Da stand er, der kleine General, der mich in den letzten zwölf Monaten am Leben gehalten hatte: meine Schwiegermutter Mercedes. Sie war zwar nur einen Meter sechzig groß, hatte aber einen eisernen Willen und scharfe stahlblaue Augen.

Eine Frau von altem Schlag, die in der Familie die Zügel mühelos in der Hand hielt, die Blätterteig noch selbst machte und nichts von modernen Küchengeräten hielt. Sie hatte mich in der dunkelsten Stunde meines Lebens fest in den Arm genommen und mich eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr losgelassen. Seit jeher hatte sie den Herausforderungen des Lebens ins Auge geblickt, schon als Kind hatte sie seine Grausamkeit kennengelernt – sie war vom Pferd gefallen und hinkte seitdem.

Trotzdem hatte sie sich nicht unterkriegen lassen, war die Seele des großzügigen Anwesens auf dem Hügel, das seit Jahrhunderten den Carrais gehörte.

Obwohl sie diesen Namen erst seit ihrer Eheschließung trug, war sie La Carraia, bildete eine Einheit mit diesem Besitz, war kraftvoll wie die Rebstöcke und die Olivenbäume, deren Erzeugnisse weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt waren, und sanft wie der Wind, der vom nahen Lago delle Rose herüberwehte. Vor allem jedoch war sie die Mutter eines Sohnes, den sie entgegen aller Gesetze der Natur vorzeitig zu Grabe hatte tragen müssen.

Meinen Ehemann.

Lächelnd sah ich sie an. Sie und Aurora hatten am Abend zuvor Perlen aufgefädelt und dabei einen Heidenspaß gehabt. Die Kette schmückte jetzt ihre Brille.

»Guten Morgen«, begrüßte ich sie – sie antwortete mit einem Seufzen und verschränkte die Arme über dem ausladenden Busen. Erst auf den zweiten Blick fiel mir ihr angespannter Gesichtsausdruck auf. Er verhieß nichts Gutes, denn normalerweise war sie optimistisch.

»Stimmt etwas nicht?«

»Wie man’s nimmt«, murmelte sie und stampfte mit dem Fuß auf den gekachelten Küchenfußboden. »Zumindest ist es ärgerlich.«

Als sie den Kaffeeduft roch, schenkte sie sich eine Tasse ein, goss Milch aus dem Kühlschrank dazu und griff nach der hölzernen Zuckerdose, deren Deckel mein Mann immer dreimal drehte, bevor er sich einen Löffel Zucker nahm. Das war seine Art gewesen, das Glück zu rufen, wie er es nannte. Viel genutzt hatte es ihm nicht.

»Gibt es Schwierigkeiten?«, hakte ich nach, weil ich nicht verstanden hatte, was sie meinte.

Mercedes rückte die Brille zurecht, ihre Brust hob und senkte sich unter dem bordeauxfarbenen Kaschmirpullover, den ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.

»Es geht um Primo. Du weißt ja, er ist auf einer Eisplatte ausgerutscht und hat sich den Oberschenkelknochen gebrochen. Nichts Ernstes, behaupteten die Ärzte im San Carlo di Ottona, doch wie es aussieht, ist es zumindest sehr langwierig. Nun ja, er dachte bereits seit einer Weile darüber nach, die Leitung des Chores abzugeben, immerhin ist er nicht mehr der Jüngste. Bloß stehen wir jetzt eine Woche vor dem Konzert ohne Dirigenten da«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Absagen oder verschieben können wir nicht mehr.«

»Warum nicht?«, fragte ich, aber ich musste sie nur ansehen, um zu verstehen, dass ich dieses Thema besser mied. Gedankenverloren rührte ich in meiner Tasse und schaute zu, wie das Weiß sich mit dem Braun vermischte. »Und jetzt?«

Mercedes setzte sich zu mir an den Tisch und schlug die Beine übereinander.

»Fürs Erste hat er einen Ersatz gefunden, der heute Nachmittag zur Probe kommt. Vorausgesetzt, er schafft es, die Straßen sind glatt, und wer weiß, ob sie bis dahin frei sind.«

Sie deutete auf die Glastür zum Garten, hinter der man zwei Zitronenbäume sah, die gut geschützt der Winterkälte trotzten, während sich Dutzende Alpenveilchen, die vom Frühjahr bis zum Herbst mit ihren weißen, lila und rosa Blüten erfreuten, in den Schutz der wärmenden Hauswand duckten. Ich schob den Vorhang zur Seite, und mein Atem hinterließ kleine Kreise auf der kalten Scheibe.

Inzwischen hatte ich mehrere Winter in diesem Haus inmitten der Weinberge verbracht, die sich je nach Jahreszeit in eine andere Farbe kleideten, und doch begeisterte mich dieses Schauspiel jedes Mal aufs Neue. Die gewundenen Wege, die nackten Weinstöcke, die sich wie Krallen in den schneebedeckten Boden bohrten, die Olivenbäume, deren silberne Blätter unerschütterlich der Kälte widerstanden.

Ich lächelte der steinernen Fassade des Kirchturms von Montelupo zu, dessen Glockengeläut jetzt kurz vor den Feiertagen die Gläubigen zur Messe rief, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Ich schob mir eine Strähne aus dem Gesicht und trat einen Schritt zurück, während ich zusah, wie schüchterne Flocken vom windstillen Himmel fielen. Erneut begegnete mir in der Scheibe mein Spiegelbild, mein bleiches Gesicht mit den riesigen grünen Augen, in denen kein Strahlen mehr lag, und den kurzen Haaren, die ich neuerdings trug, weil ich mich so weit wie möglich von der Frau entfernen wollte, die mir von meinem Hochzeitsfoto auf der Kommode entgegenlächelte. Bald musste ich sie mal wieder schneiden lassen, dachte ich und schaute zu meiner Schwiegermutter, die mich aufmerksam beobachtete.

»Mach dir keine Sorgen, ich fahre dich mit Aurora zur Kirche und auch wieder nach Hause«, sagte ich.

»In Ordnung, aber vielleicht wartest du dann auf uns, nicht dass du unnötig hin und her fährst bei dem Wetter«, schlug sie vor, wenngleich ich die Idee, dass sie Aurora mit in den Chor schleppte, nie gut gefunden hatte – allerdings hatte Mercedes in diesem Fall vielleicht sogar recht, und es war gut für meine Tochter. Dennoch hasste ich in manchen Momenten ihre pragmatische Art.

Bei seinem Eintreten fiel mir sofort auf, wie sich über alles in dem großen, hohen Gebäude Spannung legte. Die Mädchen aus dem Chor, die ihre Rucksäcke und iPods auf die vorderste Kirchenbank geschmissen hatten und jetzt vor dem Altar standen, wandten die Köpfe, um einen Blick auf den Mann zu erhaschen, der rasch durch das Längsschiff auf sie zukam. Er trug eine Umhängetasche über der Schulter und eine rote Windjacke unter dem Arm.

»Entschuldigt bitte die Verspätung, die Straßenverhältnisse sind nicht die besten heute«, sagte er und lächelte entwaffnend.

Ich schaute weiter zu meinem kleinen Mädchen, hatte mich in eine Bank seitlich des Altars gesetzt, damit Aurora mich immer im Blick hatte und sich nicht verloren fühlte, denn sie tat sich schwer mit Menschen, die ihr nicht vertraut waren. Seit Lorenzos Tod hatte sie sich regelrecht eingekapselt, und die diversen Ärzte, die wir aufgesucht hatten, stellten immer das Gleiche fest: selektiver Mutismus.

Organisch fehlte ihr nichts, es war der Schmerz, der sie bisweilen verstummen ließ.

In der Luft lag Weihrauchduft, die Kirche war von warmem Kerzenlicht erhellt, und ich gab mich Gedanken hin, die ich sonst lieber vermied. Ich wollte nichts von diesem Mann, der da am Kreuz hing und mich betrachtete, ich wollte meine Ruhe. Er und ich lagen im Streit, und ich hatte nicht die Absicht, ihm das zu verzeihen, was er mir angetan hatte.

Mit dem Zeigefinger tastete ich nach Lorenzos Ehering, den ich um den Hals trug, umklammerte ihn und wiederholte den Namen meines Mannes wie ein Mantra, als ob ich damit das Bild verscheuchen könnte, das mich so sehr quälte: ein Sarg vor dem Altar, darauf ein Blumenkranz und davor Don Anselmo, der die Totenmesse las.

»Darf ich?«

Ich fuhr herum, bemerkte erst jetzt den Mann mit der Tasche und der roten Windjacke und einem freundlichen Lächeln, das mich an Lorenzo erinnerte.

»Ja«, antwortete ich knapp und schaute wieder zu Aurora, die so zart und zerbrechlich aussah wie ein Papiervogel bei einem Sturm.

»Gut, dann lasse ich das hier liegen. Ich bin Enea.« Er streckte mir seine Hand entgegen und zwang mich auf diese Weise, ihn anzusehen.

Für den Standard in Montelupo lag er eindeutig über dem Durchschnitt, er war hochgewachsen wie ein Basketballspieler, hatte ein offenes Gesicht, unbändige goldblonde Haare und einen bräunlichen Teint, als käme er geradewegs aus der Sonne. Irgendwie sah er aus wie die Hauptdarsteller der Hollywoodstreifen aus den Neunzigerjahren, mit seiner ausgebleichten Jeans und seinem himmelblauen Rollkragenpullover.

»Cassandra Carrai«, antwortete ich und schüttelte ihm kräftig die Hand, damit er nicht glaubte, dass ich eine der Frauen war, die bei seinem Anblick in Verzückung gerieten, ihn bewundernd anstarrten und sehnsuchtsvoll seufzten. Er indes machte keine Anstalten, meine Hand freizugeben, deshalb machte ich erst mal deutlich, dass ich mit dem Chor nichts am Hut hatte. »Ich begleite lediglich meine Tochter. Es ist das kleine Mädchen vorne rechts, sehen Sie sie?« Ich deutete auf Aurora, die sich an ihrer Großmutter festklammerte. »Und die Frau daneben ist meine Schwiegermutter Mercedes.«

Meine Stimme klang unfreundlicher als beabsichtigt, dazu ein bisschen von oben herab, aber ich wünschte mir einfach, dass er endlich aufhören würde, mich anzustarren wie eine Außerirdische. Zumindest ließ er jetzt meine Hand los.

»Sehr erfreut, gleich die ganze Familie kennenzulernen. Bitte entschuldigen Sie mich, die Sänger warten auf mich«, sagte er ungerührt und zwinkerte mir fast vertraulich zu, bevor er in Richtung Altar davonmarschierte.

Es folgten eine kurze Begrüßung und einige klärende Nachfragen zum Stand der Proben, während ich erneut meinen Gedanken nachhing und meine Blicke über die Heiligenfiguren in ihren Nischen entlang des Seitenschiffs schweifen ließ.

Die Kirche San Biagio hatte etwas Einladendes, obwohl ich Kirchen eigentlich nicht mochte. Es gefiel mir, hier zu sitzen, im Schein der flackernden Kerzen die feierliche Ruhe des Gotteshauses auf mich wirken zu lassen, die lächelnden Heiligenfiguren zu studieren und die große Krippe zu bewundern, die der Priester in einer Seitenkapelle hatte aufbauen lassen.

Erst die hellen Stimmen des Chores rissen mich aus meiner Versunkenheit.

Ich erkannte die ersten Takte von Adeste fideles, »Herbei, o ihr Gläubigen«, einem in aller Welt gesungenen Weihnachtslied. Es klang so emphatisch, so kraftvoll, ganz anders als bei Primo, dem alten Dirigenten. Vielleicht, dachte ich, lag es ja an Eneas exakten, entschlossenen Armbewegungen, mit denen er Einsätze und Lautstärke steuerte.

Energisch und kraftvoll, diese Adjektive drängten sich mir geradezu auf, als ich ihn dirigieren sah. Hoch aufgerichtet, sämtliche Muskeln angespannt, stand er wie ein Feldherr vor den Sängern. In seinem Gesicht hingegen spiegelten sich die Gefühle, die die Musik in ihm auslöste.

Dieser Mann verkörperte Präzision und Dynamik und zugleich Leidenschaft und Emotionalität.

Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Bis auf ein Paar, das unentwegt auf den Marmorboden starrte und dabei die Hand der Großmutter umklammert hielt: Auroras. Sie tat nicht einmal so, als würde sie mitsingen, wiegte sich hin und her und vermied konsequent, den Mann mit dem Taktstock anzusehen.

»Kurze Pause«, sagte Enea und schlug die Partitur zu, während die Chormitglieder kurz etwas tranken und sich leise über den neuen Dirigenten ausließen.

Ich sah, wie Aurora von den anderen weg- und auf mich zustrebte, dabei energisch an Mercedes’ Hand zerrend. Mein Herz wurde schwer, vor allem als dann auch noch Enea auf die beiden zuging, auf sie einredete und dabei von einer zur anderen schaute.

Die Miene meiner Schwiegermutter verhieß nichts Gutes, und so erhob ich mich von meinem Platz und gesellte mich zu den dreien.

»Was ist los?«, schaltete ich mich ein, die Arme kampfbereit vor der Brust verschränkt.

Zwar hatte nicht ich die Idee mit dem Chor gehabt, doch ich würde nicht so ohne Weiteres zulassen, dass meine Tochter beiseitegeschoben wurde. Ausgemustert als unfähig, nicht brauchbar.

»Nichts Schlimmes, ich habe lediglich den Eindruck, dass Aurora nicht singen möchte«, sagte er und fuhr sich über die Haare, dabei trat er von einem Fuß auf den anderen. »Signora Carrai, oder besser Mercedes, hat mir erklärt, dass die Kleine … nun ja, ziemlich schweigsam ist.«

Ich atmete laut aus und schaute dem Mann, der nach nur einer halben Stunde mein Feind geworden war, fest in die Augen.

»Würdest du mit Aurora zur Krippe gehen?«, bat ich meine Schwiegermutter, beugte mich dann zu meiner Tochter herunter und schob ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Hast du die Mühle schon gesehen, mein Schatz? Sie sieht ganz echt aus mit dem Rad, das Wasser schaufelt.« Meine Tochter nickte stumm und ahnte nichts von meinen Hintergedanken. Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Geh sie dir noch mal anschauen, ja, und zeig sie deiner Großmutter, die kennt sie noch nicht.«

Ich küsste sie auf die Stirn und schob sie sanft zu Mercedes, die sich sogleich ihrer annahm und die Seitenkapelle mit der Krippe ansteuerte. Dann wartete ich, bis sie außer Hör- und Sichtweite waren – meiner Schwiegermutter war es sicher nicht recht, wenn sie mit anhören musste, wie ich den neuen Dirigenten wegen seiner, wie ich fand, recht unsensiblen Äußerungen über Aurora zur Rede stellte.

»Meine Tochter ist nicht schweigsam, sie leidet an selektivem Mutismus. Sie ist völlig normal, spricht und spielt wie jedes andere Mädchen ihres Alters, außer bei Fremden, da ist sie anders. Primo wusste das, und es war bisher nie ein Problem.«

»Entschuldigung, ich finde durchaus, dass das ein Problem ist und wir nicht so tun sollten, als wäre es keins«, erwiderte er sehr bestimmt, fast ein wenig barsch. »Mir tut es wirklich leid für Aurora, aber das hier ist ein Chor. Und in einem Chor wird gesungen«, sagte er abschließend und schaute mir kampfbereit in die Augen.

Er war entschlossen, meine Tochter auszuschließen, so viel war klar.

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und sah, um Fassung ringend, zu den Heiligenfiguren hinüber. Zum Teufel, von denen würde mir bestimmt keiner helfen, weder gegen den Dirigenten noch gegen sonst wen. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und atmete tief durch.

»Damit ich das richtig verstehe: Sie wollen mir sagen, dass Sie meine Tochter aus dem Chor ausschließen, dem sie vor einem Jahr beigetreten ist?«

»Wenn sie nicht das tun will, was man in einem Chor tut, nämlich singen, dann ja. Regeln sind Regeln, vielleicht sollten Sie es mit einer Spiel- oder Tiertherapie versuchen. Funktioniert bei schwierigen Kindern recht gut. Habe ich zumindest gehört.«

»Sie ist kein schwieriges Kind«, erwiderte ich laut und scharf. Es war mir egal, ob mich die anderen hörten, schließlich musste nicht ich mich schämen. Aufgebracht machte ich einen Schritt nach vorn. »Aurora braucht einfach etwas Zeit und etwas mehr Rücksichtnahme als die anderen. Das ist alles. Ich appelliere an Ihre christliche Nächstenliebe, die ihr Kirchenleute immer gern in den Mund nehmt und jeden Sonntag davon singt – jetzt halten Sie sich mal daran! Oder gilt das Gebot nur für die Dauer der Messe?«

»Sie verstehen da was falsch«, wandte er ein.

Eine Hand legte sich beruhigend auf meinen Arm, doch ich wischte sie weg, ich wollte mich nicht beruhigen lassen. Im Gegenteil, ich kam gerade erst in Fahrt.

»Meine Tochter braucht das Gefühl, willkommen zu sein, und sollte nicht wegen einer Kleinigkeit verurteilt werden«, fuhr ich mit erhobener Stimme anklagend fort. »Sie braucht Geduld und muss Selbstvertrauen gewinnen, irgendwann wird sie schon den Mund aufmachen und singen. Und dann sagen Sie mir bitte nicht, dass sie nicht gut genug singt. Wichtig ist, dass sie sich aufgenommen fühlt in diesem Kreis, auch wenn aus ihr keine neue Callas wird. Und Sie mit Ihren Regeln und Prinzipien haben kein Recht, sie auszuschließen. Zumal es niemanden stört, wenn sie nicht singt.«

Erschöpft hielt ich inne und kämpfte gegen die Flut meiner Gefühle an. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Einen Augenblick lang versuchte ich mir vorzustellen, wie ich auf ihn gewirkt haben musste. Eine zierliche Frau, die wie eine Löwin ihr Junges verteidigte. Und als ich mich zum Chor umdrehte, wurde mir klar, dass alle mich so sahen und dass man mein Verhalten missbilligte. Vor allem die älteren Chormitglieder. Ringsum begegnete ich verständnislosen Blicken. Manche, kam es mir vor, zweifelten offenbar an meinem Verstand.

Ich konnte es ihnen nicht verdenken.

Krampfhaft bemühte ich mich, meine Tränen zurückzuhalten und den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken, und konzentrierte mich wieder ganz auf Enea. Seine Wangen waren leicht gerötet, die Kiefer fest zusammengepresst, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Es waren seine Augen, die mich stutzen ließen. Sie hatten fast alle Farbe verloren, wirkten verschwommen grau wie Schneeflocken, die aus einem grauen Himmel auf die graue Erde fielen. Eine unendliche Melancholie lag darin, als wollten sie eine Geschichte erzählen, die ich noch nicht kannte.

»Es tut mir leid, Signora Carrai, für Sie wie für Ihre Tochter, doch …«

Ich schüttelte den Kopf, griff nach meiner Tasche und nach Auroras Mantel. Er hatte sich wieder in der Gewalt.

»Lassen Sie es gut sein, ich habe verstanden, Sie müssen nichts mehr sagen«, unterbrach ich ihn, wickelte mir den Schal um den Hals und rief meine Tochter, die nach wie vor die Krippenlandschaft betrachtete.

»Komm, lass uns gehen«, sagte ich, als sie zu mir kam, und hob sie hoch.

Zum Glück ahnte sie nichts von dem Streit um ihre Person. Mercedes hingegen sehr wohl.

»Was war los?«, fragte sie argwöhnisch. »Ich habe da aus der Ferne vage was mitgekriegt …«

Ein letztes Mal ließ ich meinem Ärger freien Lauf und stampfte mit dem Absatz meines Stiefels wütend auf den Boden.

»So, wie es aussieht, sind wir hier nicht erwünscht«, stieß ich hervor und marschierte, Aurora auf dem Arm, zum Ausgang, ohne mich noch einmal umzudrehen. Sobald ich die Kirche verlassen hatte, würde sicher ein allgemeines Flüstern und Tratschen anheben. Aber es interessierte mich nicht. Sollten die da drinnen doch reden, wenn sie wollten.

Sie und ich waren stärker.

Wir hatten gelernt, dass wir stärker sein mussten.

2

Und dann kam der Tag, vor dem ich mich so fürchtete.

Ich hatte ihn langsam auf mich zukommen sehen – der Weihnachtsschmuck, der jeden Tag in den Schaufenstern leuchtete, erinnerte mich ebenso daran wie die riesige Tanne, die meine Schwiegermutter mitten im Wohnzimmer hatte aufstellen lassen mit Hunderten von Lichtern und Girlanden und unzähligen anderen Dekorationen.

Oder die Weihnachtslieder im Radio, die von Tag zu Tag immer häufiger gespielt wurden, und der traditionelle Lorbeerkranz, der mit einem Mal an der schweren, alten Eingangstür von La Carraia hing. Zudem drang aus der Küche ständig der Duft nach Plätzchen und Lebkuchen, nach Zimt, Honig, Sternanis und kandierten Früchten, Schokolade, Trockenfrüchten und Puderzucker, als ob wir eine ganze Schulklasse zu versorgen hätten. Dabei füllten die Namen von Auroras Freundinnen gerade mal eine halbe Seite in meinem Adressbuch.

Und so waren die Mauern des ehrwürdigen Herrenhauses in diesen Tagen von Heiterkeit erfüllt trotz meiner schwarzen Kleidung und der Kette mit dem Ring um meinen Hals. Zum Glück, denn ich war drauf und dran gewesen, die Schönheit des Weihnachtsfestes über meinem Kummer zu vergessen, doch als dann die vier Kerzen, jede für einen Adventssonntag, auf dem Küchentisch standen, überkam mich ein warmes Gefühl, ebenso beim Anblick des lebensgroßen Rentiers aus Weidenzweigen, das vor der Balkontür seinen Platz gefunden hatte.

Die Winterlandschaft tat ein Übriges.

Der Garten war dick verschneit und sah aus wie die Kulisse von einem der märchenhaften Weihnachtsfilme, die Aurora jeden Abend anschaute. Sie lag auf dem Sofa, die Beine auf den Schoß ihrer Großmutter gebettet, den Kopf in meinen, und naschte Schokolade aus dem Adventskalender, den ihr Mercedes geschenkt hatte.

Meine Schwiegermutter hatte sich zwischenzeitlich mächtig ins Zeug gelegt, um die Sache mit Aurora und dem Chor zu regeln. Wie sie es geschafft hatte, war mir ein Rätsel, jedenfalls gelang es ihr, Enea die Erlaubnis abzutrotzen, dass Aurora wieder an den Chorproben teilnehmen durfte, ob sie nun sang oder nicht. Als ich sie danach fragte, meinte sie bloß geheimnisvoll, das sei eines der kleinen Weihnachtswunder und ich solle dankbar dafür sein. Mehr nicht.

Natürlich war ich erleichtert, aber als ich auf einer leeren Bank Platz nahm, um auf den Beginn des Konzerts zu warten, in derselben Kirche, in der ich eine Woche zuvor vor den Augen von halb Montelupo eine Szene hingelegt hatte, verging mir jedes Glücksgefühl.

Eingehüllt in meinen Mantel, senkte ich betreten den Blick auf meine im Schoß verschränkten Hände und wagte erst langsam nach vorne zu schauen, wo der Chor Platz nehmen würde und wo Kerzen und Weihnachtssterne in allen Farben und Größen standen. An der Krippe hatte sich eine Schlange gebildet. Von meiner Bank aus konnte ich, wenn gerade mal eine Lücke entstand, sogar Einzelheiten dieser bezaubernden orientalischen Krippenlandschaft erkennen. Palmen und Sand, Kamele und Dromedare, karge Hügel mit kleinen Dörfern, die in die Felsen gebaut waren und in denen es selbst Werkstätten und Marktstände mit bunt bemalter Ware gab, Schäfer mit ihren Tieren, die Mühle, die von richtigem Wasser angetrieben wurde, dazu der berühmteste Stall der Menschheit.

Wenngleich ich mich vor Weihnachten gefürchtet hatte, berührte mich die Krippe irgendwie, und ich fühlte mich mit einem Mal mit all den Menschen verbunden, die ebenfalls hierhergekommen waren, um dieses Fest zu feiern.

Dann zogen in zwei Reihen die Sänger und Sängerinnen ein und stellten sich rund um den Altar auf. Sie alle trugen etwas Rotes, einen Anstecker oder eine Fliege. Aurora hatte sich für eine scharlachrote Zopfschleife entschieden und marschierte stolz, Hand in Hand mit ihrer Großmutter, zu ihrem Platz.

Enea bildete das Schlusslicht.

Seine Frisur wirkte unverändert wild, aber er trug dem Anlass und seiner Rolle als Dirigent angemessen einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Auf eine Krawatte allerdings hatte er verzichtet, das war ihm wohl zu viel der Förmlichkeiten. Und dass Don Anselmo ihm wegen des offenen Kragens einen missbilligenden Blick zuwarf, quittierte er mit einem Lächeln. Mir gefiel diese kleine Geste der Rebellion, auch wenn ich seinen Blicken auswich. Unsere Auseinandersetzung wirkte noch nach. Einerseits war es mir inzwischen peinlich, andererseits hatte ich ihm sein mangelndes Verständnis für Aurora bislang nicht wirklich verziehen.

Ich schloss die Augen, und bald darauf erfüllte Musik das Kirchenschiff und umhüllte mich wohlig zusammen mit der Wärme, die eine Reihe von kleinen Öfchen erzeugte. Irgendwie fühlte ich mich geborgen wie in einem schützenden Kokon. Die klaren Stimmen, die schönen, alten Lieder, die von einer ganz besonderen Familie und dem Wunder der Liebe erzählten, rührten an mein erstarrtes Herz. Ich schluckte und tastete nach dem Ehering meines Mannes an der Kette um meinen Hals und nach meinem eigenen, den ich am Finger trug.

Diese beiden Ringe symbolisierten, zusammen mit Auroras rundem Gesicht, meine Familie.

Die Erinnerung konnte ein perfider Feind sein, der einen von hinten überfiel, sich in die Stille des Schmerzes schlich und ihn verstärkte, wenn man am empfindlichsten war, dachte ich. Wie jetzt, denn prompt tauchte mit der Musik Lorenzos Gesicht vor meinem inneren Auge aus der Dunkelheit auf, in die ich es immer verbannte, wenn der Schmerz unerträglich wurde.

In diese Kirche waren wir früher gemeinsam an Weihnachten gegangen, um Mercedes singen zu hören, hatten uns an den Händen gehalten und von den Kindern geträumt, die wir einst haben würden, hatten uns in die Augen gesehen und waren uns sicher gewesen, dass wir nicht mehr zu unserem Glück brauchten. Alles, was wir wollten, war dieses Wir, ein Ring und das Versprechen: dass wir uns nie trennen wollten.

Die Worte waren davongeflogen wie ein Papierdrachen auf dem Weg in die Wolken.

Plötzlich spürte ich jemanden neben mir. Lorenzos Gesicht glitt in die Dunkelheit zurück, während mein Herz wie verrückt klopfte und eine unbekannte Hand mir Trost anbot. Sie war rau, ihr Griff kraftvoll – eine Hand, die zupacken konnte. Ringe drückten sich in meine Handfläche, und ein Duft nach Freesien stieg mir in die Nase, der mich an den Frühling erinnerte, an meine Mutter und an die vielen Sommer an der Côte d’Azur – ein Duft nach Umarmungen, nach Gutenachtgeschichten und salziger Luft.

Ich öffnete die Augen und drehte mich langsam um. Lange silbergraue Haare umrahmten das hagere Gesicht einer mir unbekannten Frau, die mich anlächelte. Sie trug eine Tunika und eine weite weiße Hose, ihre Haare waren zu einem Zopf geflochten, der bis zur Hüfte reichte und den sie mit einem Band zusammengefasst hatte. Ihre Hände waren lang und dünn, trotzdem strahlten sie eine starke Wärme aus, genau wie ihr offenes, ruhiges und freundliches Lächeln.

»Entschuldigen Sie, ich glaube nicht, dass ich Sie kenne«, stammelte ich und schaute auf unsere verschlungenen Finger, doch die Frau machte keine Anstalten, den Griff zu lösen.

Sie sah mich an mit dem gleichen zärtlichen Blick, den man einem Kind schenkt, das sich wehgetan hat. »Nein, wir kennen uns nicht, da haben Sie recht.«

»Warum …?«

»Ich kannte Ihren Mann, ich war seine Reiki-Therapeutin während der Zeit, als er gegen seine Krankheit kämpfte. Eines Tages stand er vor der Tür meiner Praxis und flehte mich an, ihm zu helfen. Ich konnte nicht ablehnen. Er duldete keinen Widerspruch, nicht wahr?« Sie bedachte mich mit einem komplizenhaften Lächeln. »Jedenfalls habe ich etwas für Sie«, fuhr sie fort und hielt mir eine flache Papiertüte hin, die mit einem Klebestreifen und etwas Bast verschlossen war.

»Die ist von ihm, oder?«

»Ich glaube, dass es wichtig für Sie ist, die Nachricht zu kennen, die diese Tüte enthält.«

Beinahe hätte ich ungläubig gelacht, ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Eine Unbekannte, die mir eine Botschaft von meinem toten Mann übermitteln wollte. Eine Tüte, um deren Inhalt sie geheimnisvoll herumredete. Das Ganze war surreal, bis auf die Frau selbst – die war real.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll«, flüsterte ich, aber die Frau nahm erneut meine Hand und drückte sie fest.

Wieder spürte ich die Wärme, den Trost, die Liebe, die von ihr ausging. Sie sprach von meinem Schmerz, ohne dass ein Wort über ihre Lippen kam, sie nahm ihn an, wie ich es nicht tun konnte.

»Alles wird gut, mein Schatz. Alles wird gut.«

Sie hauchte diese Worte in mein Herz, ließ langsam meine Hand los und verschwand. Sie war wie eine Erscheinung gewesen. Ich wusste bloß, dass sie mir diese unscheinbare Verpackung gab, während Mercedes’ klare Stimme vom Altar aufstieg und sich in dem großen Kirchenschiff verbreitete. Viel mehr bekam ich nicht mit, denn meine Aufmerksamkeit war auf die helle Papiertüte gerichtet, die auf der dunklen Bank lag. Was verbarg sich darin? Ich konnte das Ende des Konzerts kaum erwarten.

Auf das, was dann passierte, war ich in keiner Weise vorbereitet.

Als wir wieder zu Hause waren, brachte ich Aurora ins Bett und legte zusammen mit Mercedes die Geschenke unter den hell erleuchteten Baum im Wohnzimmer. Erst als meine Schwiegermutter sich zurückgezogen hatte, öffnete ich die Tüte.

Und dann starrte ich wie gebannt auf den Flachbildfernseher, den Lorenzo mir wenige Monate vor seinem Tod geschenkt hatte, und sah und hörte meinen Mann auf einer DVD, die er selbst aufgenommen hatte.

Er saß in seinem Morgenmantel und dem weißen T-Shirt aus Biobaumwolle, das er so gemocht hatte, abgemagert von der Krankheit, auf demselben Sofa wie ich gerade. Seine Haare waren nachgewachsen, wenngleich erst spärlich, hellblond mit ein paar kupferfarbenen Strähnen, die gleiche Farbe wie sein Bart. Damals betrachteten wir die Stoppeln als ein Zeichen, dass es aufwärtsging mit ihm. Zwar hustete er immer wieder, doch er war nach wie vor der Mann, den ich geheiratet und der mein Leben bereichert hatte.

»Mein Herz, ich weiß, dass du auf eine Nachricht dieser Art nicht gefasst bist, vor allem nicht ein Jahr nach meinem Tod. Ich habe diesen Weg gewählt, weil ich weiß, dass du Abschiede hasst. Iris wird dir diese DVD geben, nachdem sie mir geholfen hat, in Frieden von dieser Welt zu gehen. Sie hat mir die Ruhe zurückgegeben, die mir die Krankheit genommen hat, und deshalb habe ich sie ausgewählt. Für dich. Für uns. Ich habe sie gebeten, dir die DVD erst nach einem Jahr zu geben, denn ich weiß, dass du Zeit brauchst. Dann, hoffe ich, bist du so weit, selbst Advent und Weihnachten ohne mich zu ertragen und vielleicht sogar ohne mich Marshmallows auf dem Rost in der Küche zu grillen. Und diese DVD ist mein Geschenk an dich, ich selbst bin dein Geschenk. Hier bin ich.«

Er öffnete seinen Morgenmantel, und ich konnte seine vernarbte und durch die Einstiche und Blutentnahmen zerstochene Haut sehen. Bis zum Schluss nahm er sich nicht wirklich ernst.

»Okay, okay, ich bin nicht mehr besonders knackig, du hingegen schon«, sagte er und lächelte in die Kamera, als würde er mich weinend vor ihm sitzen sehen. »Du bist fantastisch und verdienst etwas Besseres als die Erinnerung an ein halb lebendes oder halb totes Exemplar wie mich. Wenn du diese DVD siehst, ist ein Jahr vergangen, seit ich dich verlassen musste, mein Schatz, und wenn ich dich richtig einschätze, dann vegetierst du immer noch dahin. Du hast die Pausentaste gedrückt wie in einem Film und wartest auf bessere Zeiten. Hast dich eingeschlossen in einer Blase aus Schmerz und vertrauten Gewohnheiten, an denen du dich mit aller Macht festklammerst. Das schmeichelt mir, aber ich weiß, dass du mich geliebt hast und mich immer lieben wirst. Auch wenn du ausgehst und dich amüsierst und all die Dinge genießt, die wir gemeinsam gemacht haben. Du liebst mich selbst dann, wenn du dich nach allen Regeln der Kunst stylst und dich der Welt als sexy präsentierst. Sogar wenn du im Bett eines anderen Mannes aufwachst, wird deine Liebe zu mir nicht erloschen sein, das weiß ich. Diese Krankheit und die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben haben mich gelehrt, dass Liebe nichts mit Besitz zu tun hat, sondern ein Traum ist, den zwei Menschen teilen. Und diesen Traum haben wir nicht verloren, ich lebe ihn jetzt in diesem Augenblick, während du in der Küche stehst und mir diesen schrecklichen Ingwersmoothie zubereitest, damit mir nicht mehr so übel ist. Wobei, unter uns gesagt, er der Hauptgrund ist, warum ich mich übergeben muss. Aber das hindert mich nicht daran, weiter unseren gemeinsamen Traum zu leben – und ich werde ihn immer leben, jedes Mal, wenn du an mich denkst. Über den Tod hinaus. Deine Gedanken kommen durch die Wolken zu mir, das hat mir ein Mönch versprochen, der mit mir im Krankenhaus die Chemo gemacht hat, und wenn das jemand sagt, der sein Leben lang Sandalen und Kutte getragen hat, selbst im Winter, dann glaube ich ihm.«

Er faltete die Hände und lächelte auf diese besondere Weise, wie immer, wenn das Gespräch eine ernste Wendung nahm. Wie damals etwa, als er um meine Hand anhielt, oder in Situationen, wenn er etwas sagte, das ich nicht hören wollte.

»Mein Schatz, du musst wieder lachen. Lachen, verstehst du? Nicht diese Sache mit den halb verzogenen Lippen wie Kermit von den Muppets, das kannst du gut. Nein, ich meine ein richtiges Lachen.«

Als sein Blick durch den Raum wanderte, wich mit einem Mal die Heiterkeit aus seinen Zügen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schaute zum Fenster, wo die kahlen Bäume und Büsche zu sehen waren, seine Augen wurden feucht, und er tastete mit den Fingern nach seinem Ehering.

»Cassandra, meine Liebe, du musst leben, richtig leben. Du bist stärker als die Welle, die uns mitreißen möchte«, murmelte er. Er klang verzagt wie damals, als man ihm eröffnete, dass es keine Hoffnung mehr gab, zog ein Taschentuch aus seinem Morgenmantel und putzte sich energisch die Nase. Dann versuchte er tief und regelmäßig zu atmen, um die schmerzhaften Krämpfe zu besiegen, die seine Tage begleiteten. »Ich habe meinen Kampf verloren, doch du bist mein Zuhause, meines und das unserer Tochter. Du wirst für Aurora leben, wenn du es am Anfang nicht für dich tun kannst, aber irgendwann wirst du hoffentlich in den Spiegel schauen und die wunderbare Frau sehen, die ich so sehr liebe. Und dann wirst du lachen, und ich werde mit dir lachen, oben im Himmel. Du lachst, weil mit einem Mal alles strahlender wird, und der liebe Gott weiß, dass wir das brauchen. Wir alle brauchen das. Lach für mich, für Aurora und vor allem für dich. Lebe, mach unserer Liebe dieses große Geschenk, ich bitte dich, und beweise dem Tod, dass man Körper trennen kann, nicht indes die Seelen, die bleiben vereint. Lebe.«

Seine Hand deckte das Objektiv ab, ich legte meine Stirn gegen seine Handfläche und suchte vergeblich nach ihrer Wärme. Die Lichter am Baum spiegelten sich auf dem glänzenden Holzfußboden, und ich rollte mich vor dem ausgeschalteten Fernseher zusammen.

Irgendwann kam Mercedes und schloss mich in die Arme.

»Er hat recht, mein Schatz«, flüsterte sie mir ins Ohr, aber ich löste mich von ihr, erhob mich und ging zum Fenster.

Es war Weihnachten, ich schaute dem Schnee zu, der auf die Bäume und die kahlen Rebstöcke fiel, die an der Grundstückgrenze standen und die ältesten auf dem Gut waren. Ein Stamm fiel mir besonders ins Auge, weil er sich so schwer an die Mauer lehnte, als würde er sonst umfallen. Er war erschöpft und krank, genau wie ich. Vernachlässigt, vom Leben vergessen, auch von mir. Obwohl ich Lorenzo versprochen hatte, mich um ihn zu kümmern, denn er war für unsere Liebe so etwas wie ein Symbol gewesen. Ich hatte mir gewünscht, dass er mit Lorenzo sterben würde, doch er war immer noch am Leben.

Hartnäckig und zäh, wie ich es sein sollte – so wie es mir mein Ehemann auf dieser DVD, seinem Vermächtnis, ans Herz gelegt hatte.

Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper, während ich mir die Zweige und Äste genauer ansah, und drehte mich dann langsam zu Mercedes um, die stehen geblieben war und wartete.

»Wie soll man überleben, wenn man so geliebt wurde?«

»Nicht sollen, müssen«, antwortete sie und erstickte meine Seufzer in einer Umarmung. »Man muss, mein Schatz, weil Lorenzo es so wollte, weil Liebe über den Tod hinausgeht und es deshalb im Tod keinen Schmerz und keine Trauer gibt. Du«, sie nahm mein Gesicht in ihre Hände, »du hast meinem Sohn wunderbare Jahre geschenkt, selbst als wir alle wussten, dass es keine Hoffnung mehr gab, und deshalb bin ich dir ewig dankbar. Du hast ihn geliebt, wenngleich alles anders kam als erwartet. Das hat er gewusst, er hat deine Liebe gespürt, und deshalb konnte er so ruhig gehen. Und genau aus diesem Grund musst du nach vorne sehen. Damit wirst du nicht die Erinnerung an eure Liebe aus deinem Herzen verbannen, du wirst sie weiterhin wertschätzen und das Versprechen, das ihr euch gegeben habt, am Leben halten.« Sie deutete auf den unter dem Schnee schlafenden Garten. »Du bist stärker als dieser Winter, ich weiß es. Ich war nicht stark genug, um dem Schmerz über seinen Tod etwas Positives entgegenzusetzen, du kannst es. Du bist die Rose unter dem hundertjährigen Weinstock, die schönste Rose, die uns seit Ende des Krieges beschert wurde. Du bist die Hoffnung. Für mich, für Aurora und gleichfalls für Lorenzo, wo immer er sein mag.«

Ich schaute ihr in die Augen, schluckte meine Tränen hinunter und führte sie zum Sofa, wo wir uns setzten und unsere Finger miteinander verschränkten. Sie hatte ihren Sohn verloren und ermutigte mich dennoch immer wieder, nach vorne zu sehen, mahnte mich, dass es nicht falsch war zu leben. Ich an ihrer Stelle hätte diese Kraft wahrscheinlich nicht gehabt. Deshalb griff ich nach der Fernbedienung und richtete sie auf den DVD-Player.

»Wollen wir uns Lorenzo zusammen ansehen?«

3

Ich öffnete die Tür zum Garten und ging nach draußen, hatte genug vom Weihnachtsessen, von der gezwungenen Heiterkeit, den Geschichten von Massimo Gori, dem Uraltfreund der Familie Carrai und Verwalter des Weinguts. Seit Lorenzos Tod kümmerte er sich um alles, erstattete mir und Mercedes regelmäßig Bericht und wurde im Gegenzug mit seiner Frau zu allen Fest- und Feiertagen eingeladen.

Alles schön und gut, aber heute hatte ich genug von großen Gefühlen und wollte nicht immer als Witwe behandelt werden. Seufzend strich ich mir die Haare zurück und blieb vor dem schmiedeeisernen Gartentor stehen. Mein Kopf war leer.

»Ich bin ein Monster«, murmelte ich und schaute an mir herunter auf mein rotes Kleid, das ich heute statt des üblichen Schwarz trug.

»Nein. Überhaupt nicht.«

Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Enea stand vor mir, ein Päckchen in der Hand. Er lächelte wie üblich.

»Sie?«

»Ich«, antwortete er und öffnete seinen Mantel, »ich möchte das hier Mercedes geben, sie hat es gestern in der Kirche vergessen.«

»Gut, ich bringe es ihr«, sagte ich und streckte meine Hand aus.

Überrascht händigte er mir das Päckchen aus. »Sie mögen mich nicht sonderlich, oder?«

»Wie bitte?«

»Nun ja, wenn Sie mich nicht hereinbitten, muss das ja einen Grund haben.«

Ich errötete und dachte an unseren Zusammenstoß in der Kirche während der Probe und daran, dass ich ihm dankbar sein müsste, dass er Aurora wieder in den Chor aufgenommen hatte. Stattdessen verhielt ich mich abweisend. Er hingegen war gleichbleibend freundlich.

»Nein, was reden Sie denn da«, stammelte ich und winkte ihm, mir zu folgen.

Er öffnete das Tor und kam herein, blieb jedoch sogleich bei den alten Weinstöcken an der Umgrenzungsmauer stehen.

»Haben Sie eine besondere Beziehung zu Reben?«

»Sie sind meine Leidenschaft, mein eigentlicher Beruf, um genau zu sein.«

»Ich dachte, Sie sind Chorleiter?«

Als er lachte, quoll aus seinem Mund eine kleine weiße Dampfwolke, und in seinen Wangen zeigten sich zwei Grübchen.

»Die Musik war immer Teil meines Lebens, meine Eltern waren Musiker, aber den Weinbau habe ich im Blut. Er war meine erste große Liebe, und die vergisst man ja bekanntlich nicht, stimmt’s?«

Ich senkte den Blick und schaute auf das silberne Geschenkband, das er um das Päckchen geschlungen hatte. Dann nickte ich.

»Ja, so sagt man, allerdings denke ich, dass es mehr als eine unvergessliche Liebe im Leben eines Menschen gibt. Mindestens drei, habe ich kürzlich in einem Artikel gelesen.«

Er erwiderte meinen Blick und lehnte sich gegen einen Feigenbaum. »Wie viele unvergessliche Lieben sind Ihnen denn schon begegnet?«

Irritiert über diese persönliche Frage, verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Sie sind ein echt komischer Typ, wissen Sie.«

»Ach was, ich bin einfach nur neugierig.«

Lächelnd warf er den Kopf in den Nacken, um den Himmel zu betrachten, der sich blutrot färbte. Ich zitterte, so langsam wurde mir in meinem leichten Kleid kalt.

»Ich muss wieder rein, sonst erfriere ich, und die da drinnen geben eine Suchmeldung nach mir raus. Außerdem habe ich ja ein Geschenk abzugeben«, sagte ich und winkte mit dem Päckchen.

»Okay, als Weihnachtsmann gehen Sie aber nicht durch«, meinte er und löste sich vom Baum. »Und ich sollte mich vielleicht besser auf den Heimweg machen und nicht in ein Familienfest platzen.«

»Wie Sie meinen, verraten Sie mir bloß vorher noch, warum ich nicht zum Weihnachtsmann tauge.«

»Weil dieser nette Kerl mit dem weißen Bart immer freundlich ist und lächelt. Können Sie das überhaupt?«

Gegen meinen Willen entlockte er mir ein Grinsen, und ich schwenkte das Päckchen. »Dann gehe ich mal.«

Enea winkte zum Abschied und stapfte los, blieb indes wenige Meter vor dem Tor stehen und drehte sich noch einmal um. »Cassandra?«

»Ja?«

»Wie viele?«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und schüttelte den Kopf über seine Hartnäckigkeit. Schließlich reckte ich zwei Finger in die Luft, ein bisschen schamhaft zwar, weil ich einem nahezu völlig Unbekannten so etwas Intimes preisgab. Er zählte laut und hob den Daumen.

»Was meinen Sie damit?«

»Dass Sie in Ihrem Leben noch Platz für das Glück haben«, erklärte er und drehte sich um.