Die Zitronenschwestern - Valentina Cebeni - E-Book
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Die Zitronenschwestern E-Book

Valentina Cebeni

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Beschreibung

Der erste Roman der Bestsellerautorin

Elettras früheste Kindheitserinnerung ist der Duft von Anisbrötchen. Ihre Mutter war eine begnadete Bäckerin, deren Köstlichkeiten direkt den Weg zum Herzen der Menschen fanden. Doch seit sie schwer erkrankt ist, steuert die Bäckerei der Familie auf den Bankrott zu. Und Elettra ist ganz auf sich allein gestellt, denn sie erfuhr nie, wer ihr Vater ist. Als sie von einer kleinen Insel im Mittelmeer hört, auf der ihre Mutter die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht haben soll, reist sie kurz entschlossen dorthin. Inmitten von Zitronenhainen stößt sie auf ein verlassenes Kloster, das eine alte Liebe verbirgt – und vielleicht das große Glück.

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Seitenzahl: 566

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Aus dem Italienischen von Sylvia Spatz und Brigitte Lindecke

Die italienische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»La ricetta segreta per un sogno« bei Garzanti, Mailand.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2016 by Valentina Cebeni

Licence agreement made through Laura Cecacci Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Penguin Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Umschlagmotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com und Blixa 6 Studios/CreativeMarket.com

Redaktion: Angela Troni

ES · Herstellung: IH

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-19540-3 V004

www.penguin-verlag.de

Allen Frauen und ihrer außergewöhnlichen Stärke gewidmet

Prolog

Sommer 1940

In der Ferne raschelten Blätter, der Wind trug das Versprechen des nahenden Sommers mit sich.

»Sieh nur, Joséphine, der Abend ist voller Magie.«

Ein helles Augenpaar folgte dem Zeigefinger hinauf zu den letzten Sonnenstrahlen des Tages, die den Horizont zum Glühen brachten.

»Stimmt. Und schau dir nur mal an, wie groß die Wolken sind.«

»Wie riesige Zitronen, genau wie die bei uns im Garten«, fügte Edda hinzu und fischte aus dem Korb, den sie zwischen sich und ihre Freundin gestellt hatte, ein Geleebonbon.

Das Bonbon war wie ein winziges Stück von einem Sonnenstrahl, kaum größer als ein Zuckerwürfel, aus Zitronensaft und luftgetrockneter, in Honig getauchter Zitronenschale. Edda hatte einen ganzen Tag gebraucht, um sie herzustellen. Stolz auf ihr Werk, betrachtete sie die goldenen Farben des von einer dünnen Zuckerschicht umhüllten Bonbons: ein Stückchen Mittelmeersonne. Sie schob das Bonbon zwischen die Lippen und riss freudig erstaunt die Augen auf, als sich in ihrem Mund der Geschmack eines ganzen Inselsommers entfaltete. Wilde Blumen, Salz, weiße Tischdecken, die in der Sonne trockneten, Karaffen voll eiskalter Zitronenlimonade, die sie schluckweise tranken, während sich die Nonnen in ihre Zellen zurückzogen und am Himmel die ersten Sterne funkelten – ein allabendliches Abenteuer, das sie stets mit ihrer besten Freundin teilte. Das Bonbon, das sie jedes Mal wieder auf eine Reise schickte, trug die ganze Magie jener drei Sommermonate in sich. Es waren die schönsten ihres Lebens, ihre Zeit mit Joséphine.

Gierig saugte sie den fruchtigen Zitronengeschmack auf, während ihre Freundin sie verblüfft ansah.

»Die Bonbons, die ich gestern für Schwester Anne gemacht habe, sind unglaublich lecker geworden, du musst unbedingt eines probieren«, sagte Edda und griff in den Korb. »Nimm, ich habe sie extra für dich gemacht, Joséphine. Du magst doch so gerne Zitronen.«

»Schon, aber die Bonbons sind doch der Nachtisch für das Mittagessen mit dem Bischof morgen. Die Schwestern werden böse auf uns sein, wenn sie das herausfinden, und dann bestrafen sie uns wieder.«

»Wenn sie’s überhaupt merken«, sagte Edda augenzwinkernd. »Schwester Anne habe ich gesagt, dass die Bonbons nichts geworden sind, und habe dafür ein Glas mehr mit kandierten Zitronenschalen vorbereitet. Die hier sind alle für uns. Eigentlich für dich, weil du sie so sehr magst.« Lächelnd griff sie nach der Hand ihrer Freundin, die glücklich nickte.

Ihr Schweigen wurde nur vom Zirpen der Grillen unterbrochen, die eine schwüle Nacht ankündigten. Der Ostwind fuhr in die Zitronenbäume auf der Terrasse und verbreitete ihren verführerischen Duft. Unten vom Fischerdorf tönte aus einem Radio ein altes Lied über verratene Liebe zu ihnen herauf, eine samtige Frauenstimme. Die beiden Mädchen lagen auf der Terrasse des Klosters und träumten den Sommer herbei.

»Joséphine?«

»Ja?«

Edda drehte sich auf die Seite und stützte sich auf einen Arm. Ihr Stirnrunzeln verriet, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. »Glaubst du, man kann jemanden so liebhaben wie eine Schwester, auch wenn sie gar keine richtige Schwester ist? Ich meine, wenn sie andere Eltern hat?«

Ihre Freundin setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. Sie taten ihr weh. Während der gestrigen Abendandacht hatten die beiden sich davongestohlen, wofür man sie mit aller Härte bestraft und einen ganzen Tag lang ohne etwas zu essen oder zu trinken in ihren Zellen eingesperrt hatte. Bis ihre beste Freundin sich mit einem Korb voller Süßigkeiten auf der Terrasse eingefunden hatte.

Nichtsdestotrotz hätte sie alles auf der Stelle noch einmal ganz genauso gemacht, da war Joséphine sich sicher. Denn seit Edda ins Kloster gekommen war, war es endlich vorbei mit ihrer Einsamkeit.

Sie rollte den Ärmel ihres Baumwollgewands hoch und zeigte ihrer Freundin den Halbmond auf der Innenseite ihres Handgelenks, der heller war als die übrige Haut. »Natürlich geht das. Wir zwei haben einen Pakt miteinander, erinnerst du dich?«

Edda nickte und zeigte triumphierend ihrerseits eine kleine Narbe. »Freundinnen fürs Leben«, sagte sie leise, als wäre es eine Zauberformel.

»Zitronenschwestern«, scherzte Joséphine und zerteilte ein goldfarbenes, süßes Geleebonbon.

Zitronenbonbons

Zutaten

200 g Zucker, 100 ml Zitronensaft, 1 EL mit Honig kandierte Zitronenschale, 12 g Gelatine, 1 TL natürliches Vanillearoma, Zucker zum Dekorieren

Zubereitung

Die Gelatine mindestens zehn Minuten lang in kaltem Wasser einweichen, die Zitronenschale in kleine Würfel schneiden.

Zucker, Zitronensaft und Vanillearoma in einen Topf geben und bei mittlerer Hitze zum Kochen bringen. Nach zwei Minuten die ausgedrückte Gelatine hinzufügen und umrühren, bis diese sich vollständig aufgelöst hat. Die Flamme ausstellen und die Masse in pralinengroße Silikonförmchen füllen, in die vorher jeweils ein kandierter Zitronenschalenwürfel gelegt wurde. Die Bonbons abkühlen lassen, aus den Förmchen lösen und in Zucker wälzen.

1.

Mit verschränkten Armen verharrte Elettra vor der verschlossenen Tür. Vor ihren Augen baumelte das Schild mit der Aufschrift »La Bottega dei Sogni – Der Traumladen«. Einer der beiden Aufhänger war kaputt, aber es hatte keinen Sinn mehr, ihn zu reparieren.

Sie redete sich Mut zu und trat ein letztes Mal über die Schwelle. Was für ein Vormittag. Sie hätte alles dafür gegeben, ihn einfach aus dem Kalender streichen zu können, doch da war nichts zu machen. Die Sonne war aufgegangen wie jeden Morgen und hatte ihr zahlreiche Erinnerungen beschert.

»Ich tauge weder zum Kochen noch zum Backen, und das hast du genau gewusst«, sagte sie zu dem Foto ihrer Mutter.

Es hing an einer der Wände, die mittlerweile leer waren wie fast der gesamte Laden, und zeigte eine rätselhafte Frau, die Elettra in Gedanken stets beim Vornamen anredete und nicht mehr mit Mama. Jedenfalls seit Edda im Koma lag. Als wollte sie betonen, dass sie von nun an auf eigenen Füße stand, so wie es ihr beider Schicksal offenbar gewollt hatte. Sie sah der Frau auf dem Foto sehr ähnlich, hatte den gleichen olivenfarbenen Teint und ebenfalls langes schwarzes Haar. Nur woher ihre grünen Augen stammten, wusste Elettra nicht.

»Wenn ich nur halb so gut backen könnte wie du, dann wäre alles anders gekommen. Die Leute würden Schlange stehen, um meine Kuchen und Brote zu kaufen, genau wie damals bei dir. Aber du wolltest ja nicht einsehen, dass ich nicht so bin wie du und einfach keine Lust habe, mein Leben hinterm Herd zu verbringen. Du wolltest, dass ich in deine Fußstapfen trete, obwohl du genau wusstest, dass ich andere Träume hatte. Dass ich in New York diesen verdammten Master in Journalismus machen wollte. Daraus ist aber nichts geworden, nachdem das Stipendium ausgelaufen war und das nötige Geld fehlte. Du dagegen«, sagte sie kopfschüttelnd und wischte sich die bitteren Tränen der Enttäuschung von den Wangen, »du warst felsenfest davon überzeugt, dass ich alles von dir lernen kann. Dass ich, wenn ich erst kochen und backen könnte, die Leute genauso froh machen könnte wie du. Was für ein absurder Plan. Jahrelang hast du mir gepredigt, dass gutes Essen Leib und Seele zusammenhält, dass selbst die einfachsten Kekse ein gebrochenes Herz heilen können. Ich habe dir mehrfach klarzumachen versucht, dass mir das Talent dazu fehlt. Genutzt hat es nichts. Und jetzt stehe ich hier. Die Bäckerei ist bankrott und ich muss ganz alleine damit klarkommen, weil ich außer dir nie jemanden hatte. Nichts hast du mir von meinem Vater erzählt, rein gar nichts. Für dich sei diese Geschichte beendet und begraben, hast du immer gesagt, und die Vergangenheit solle man ruhen lassen. Alles, was vor meiner Geburt war, auch deine Kindheit, waren deiner Meinung nach Erinnerungen, die nur dir allein gehörten.«

Als sie wieder draußen auf der Straße stand, hüllte Elettra sich in ihren Mantel und marschierte los. Ein Ziel hatte sie nicht. Sie überlegte, ob sie ihren Exfreund Walter anrufen sollte. Seit Kurzem war es aus zwischen ihnen und es schmerzte immer noch. Was seine Eltern wollten, war ihm wichtiger gewesen als die Liebe zu ihr. Es wäre ein Leichtes gewesen, seine Nummer zu wählen, aber sie brachte es nicht fertig.

Sie brauchte den Rat einer guten Freundin. Ihr Blick wanderte zu der Telefonzelle in der Mitte der Piazza. Einen Moment später warf sie ein paar Münzen, die sich in ihren Taschen versteckt hatten, in den silberfarbenen Schlitz.

»Pronto?«

Ihre Kehle war wie zugeschnürt, nur mit Mühe bezwang ihre Stimme die Angst. »Esther?«

Das eine Wort genügte, um die Freundin am anderen Ende aufhorchen zu lassen. Sie war schon so gut wie auf den Beinen.

»Sag mir, wo du steckst. Ich komme.«

»Nein, ist schon gut. Es ist spät und Sarah braucht auch ein bisschen Zeit mit ihrer Mutter.«

»Hör auf mit dem Quatsch und sag mir lieber, wo du bist«, beharrte Esther. Die beiden kannten sich seit Kindertagen.

»Ich bekomme schier keine Luft mehr, wenn das so weitergeht, drehe ich noch durch«, flüsterte Elettra. »Die Bäckerei ist pleite und die Behandlungskosten für Edda explodieren. Der Arzt will eine neue Therapie ausprobieren und ich gebe ein Heidengeld aus, damit sie nicht stirbt. Aber es geht ihr schlecht, und ich weiß nicht, wie lange ich mir das noch leisten kann.«

»Elettra …«

»Ich bin arbeitslos, Esther. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen, wie ich meine Rechnungen bezahlen soll, mir fehlt sogar der Mut, meine Mutter zu besuchen und nachzusehen, wie es ihr geht. Allein der Gedanke an sie, wie sie in diesem Bett liegt mit all den Schläuchen um sie herum, macht mich fertig. Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Ich … Ach, keine Ahnung, Esther. Ich wünschte, sie würde mir sagen, was ich tun soll. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier, an meiner Seite, aber ich bin allein. Da ist niemand.«

»Ich bin doch da«, entgegnete ihre Freundin. »Und Edda steht dir auch zur Seite. Sie hört es, wenn du mit ihr redest, ganz sicher. Die eigene Mutter lässt einen nicht im Stich, also los, geh sie besuchen, und danach kommst du zu mir. Ich muss mit dir reden.«

Mit dem Ärmel wischte Elettra die Wimperntusche ab, die ihr die Wangen herabgelaufen war. »Ich kann nicht schon wieder Geld von dir annehmen, das weißt du.«

»Deinen Stolz kannst du getrost beiseitelassen. Dank der Kontakte, die mein Vater in der Branche hat, habe ich ziemlich viele Geräte verkauft. Bald kommt also Geld in die Kasse.«

Ein tiefer Seufzer durchbrach das Schweigen in der Leitung. »Wirklich?«

»Ja, wirklich. Aber eins musst du mir versprechen.«

Elettra nahm das letzte Geldstück aus ihrer Jackentasche und ließ es in den Schlitz fallen. »Was denn?«

»Dass du einen Teil von dem Geld verwendest, um zu verreisen.«

Ein bitteres Lachen. »Und wovon soll ich deiner Meinung nach die Reise bezahlen? Ich habe keine Arbeit mehr, meine Mutter braucht teure Medikamente und ich stehe am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass dies der richtige Zeitpunkt für eine Kreuzfahrt in die Karibik ist«, erwiderte sie.

»Ich habe damit nicht gemeint, dass du ans andere Ende der Welt fahren sollst«, gab Esther gekränkt zurück. »Wie gesagt, in dieser Woche dürften die ersten Zahlungen eingehen. Geld ist also kein Problem mehr. Und ein Urlaub ist immer noch besser, als jahrelang einen Psychiater zu bezahlen, oder?«

»Esther …«, begann Elettra, aber ihre Freundin brachte sie zum Schweigen.

»Ich flehe dich an, tu ausnahmsweise einfach mal das, was ich dir sage«, sagte sie sanft.

Elettra lächelte. Sie war nicht überzeugt, dass der Vorschlag ihrer Freundin die beste Lösung war, doch allein wenn sie an den heutigen Tag dachte, an dem sie sich so weit wie möglich weg wünschte, hatte Esther vielleicht gar nicht so unrecht.

2.

Im Warteraum der Klinik beschlich Elettra der Gedanke, dass sie es schlicht nicht ertragen würde, bei ihrer Mutter am Bett zu sitzen. Mit beiden Händen umklammerte sie das Goldmedaillon, auf dem die Heilige Elisabeth von Ungarn abgebildet war, die Schutzpatronin der Bäcker. Edda verehrte sie so sehr, dass sie ihr zu Hause einen eigenen kleinen Altar errichtet hatte.

Elettra presste das Medaillon gegen die Brust. Sie wusste nicht recht, warum sie es bei sich trug. Sie hatte das Schmuckstück auf der Kommode liegen sehen und nicht anders gekonnt, als es mitzunehmen. Der Gesichtsausdruck der Heiligen wirkte verträumt, er vermittelte Frieden und eine Ruhe, die Elettra in den dreiunddreißig Jahren ihres Lebens noch nie erfahren hatte. Sie wendete das Schmuckstück hin und her und stutzte, als sie bemerkte, was am Rand eingraviert war: Île du Titan. Das war ihr bisher nicht aufgefallen. Der Name sagte ihr nicht viel, aber sie ging davon aus, dass er eines von Eddas Geheimnissen war.

»Eins von vielen«, sagte sie mit verbitterter Stimme zu sich selbst. Ihre Mutter hatte alles mit in ihre weiße, leere Traumwelt genommen: die Tage, die Wolken, ihr Lächeln.

Fest entschlossen, den Heimweg anzutreten, griff Elettra nach ihrer Tasche. Doch als sie sich erhob, spürte sie, wie ein warmer, intensiver, wohlbekannter Duft sie einhüllte. Sie runzelte die Stirn und versuchte ihn mit einer Erinnerung zu verbinden. Der Geruch nach Mehl mit einer Prise Zucker war ihr wohlvertraut, nur woher kam die leicht pikante Note? Da trug eine Brise ihr eine Erinnerung zu, die sie zusammenfahren ließ. Der Duft war unverkennbar, es gab keinen Zweifel. Er stammte von Eddas Anisbrötchen.

Sie liebte die Gewürzbrötchen über alles und hatte mit einem Mal wieder das Bild vor Augen, wie sie diese als Kind in ihre heiße Milch getunkt hatte, bis die Zuckerglasur sich langsam auflöste. Sie erinnerte sich deutlich an die Anissamen, die wie ein Feuerwerk im Mund ihren Geschmack nach Sommer entfalteten. Elettra wartete immer schon sehnsüchtig am Abend vorher, wenn Edda den Teig mit dem leicht fermentierten Duft zubereitete. Gut und unverfälscht hatte er gerochen.

»Mein Gott«, murmelte sie, die Hand auf die Lippen gepresst. Ich bin kurz davor durchzudrehen, dachte sie und blickte den Krankenhausflur mit den vielen Wäsche- und Medizinwagen hinunter. Ihre Eindrücke konnten nichts mit der Realität zu tun haben, sie entsprangen einzig und allein der lebhaften Fantasie einer jungen Frau voller Sehnsüchte.

»Nein, mein Kind, sei unbesorgt. Das hat alles seine Richtigkeit«, ertönte eine raue Stimme in ihrem Rücken.

Elettra schluckte unmerklich, das Blut stockte ihr in den Adern. Offenbar hatte jemand sie gehört, obwohl sie nur in Gedanken mit sich selbst gesprochen hatte. Oder hatte sie etwa doch laut gedacht? Sie atmete einmal tief durch und drehte sich um.

Hinter ihr saß eine alte Dame im Rollstuhl, die sie aus farblosen Augen ansah. Elettra versuchte ihre wachsende Verlegenheit mit einem Lächeln in den Griff zu bekommen, doch obwohl die Frau blind war, bekam sie anscheinend alles mit.

»Ich heiße Eva und ich bin eine Freundin von Edda. Freut mich, dich kennenzulernen«, fügte sie mit der Stimme einer Raucherin hinzu.

»Sie kennen mich?«, fragte Elettra. Ihr war beim Anblick dieses schmächtigen, in ein türkisfarbenes Plaid gehüllten Körpers nicht wohl.

»Zwangsläufig, schließlich spricht Edda immer nur von dir.«

Elettra wurde hellhörig. Aha, darauf will sie also hinaus. Wie oft hatte sie schon gelesen, dass wehrlose Menschen von einem selbst ernannten Medium eingelullt und um den Besitz gebracht worden waren, Betrügerinnen gab es allerorten. »Hören Sie, wenn Sie auf mein Geld aus sind, dann sind Sie an der falschen Adresse«, sagte sie, doch die Dame schüttelte den Kopf.

Elettras aggressive Erwiderung schien sie nicht aus der Ruhe zu bringen. Sie legte die Hände in den Schoß und seufzte tief. »Lass das Gefasel und hör mir zu. Deine Mutter macht sich Sorgen um dich«, sagte sie und wedelte sanft mit der Hand. »Sie möchte nicht, dass du dir zu viele Gedanken um die Bäckerei machst, die war ohnehin nicht mehr zu retten, sondern kümmere dich lieber um dich selbst. Sie findet, du siehst ein bisschen verhärmt aus.«

Elettra trat ein paar Schritte zurück. Verhärmt – ein Wort, das Edda gerne benutzte. Trotzdem blieb sie auf der Hut. »Tut mir leid, ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem«, sagte sie kurz angebunden. »Meine Mutter liegt seit einem Jahr im Koma und ist gar nicht in der Lage, eine Unterhaltung zu führen. Und was mich angeht: Mit mir ist alles in Ordnung, vielen Dank.«

»Da bin ich aber anderer Meinung, du siehst aus wie eine Vogelscheuche.«

Elettra war so verdutzt über diese Unverschämtheit, dass es ihr kurz die Sprache verschlug, doch dann hatte sie genug von der Alten. »Tut mir leid, ich muss los.«

Sie umklammerte ihre Tasche und wollte nur noch weg hier, doch kaum hatte sie sich zum Gehen gewandt, machte die Alte Anstalten, sich aus dem Rollstuhl zu erheben.

»Warte!«, rief sie Elettra nach. Sie schlug mit der Faust auf die Armlehne und holte unter großer Anstrengung tief Luft. »Ich soll dir von Edda ausrichten, dass du Anisbrötchen backen sollst, aber gib nicht so viel von den geriebenen Orangenschalen dazu wie sonst immer.«

Eine Erkenntnis durchfuhr Elettra, und sie blieb wie angewurzelt stehen. Niemand außer ihr und Edda kannte diese Zutat bei dem Rezept.

»Woher wissen Sie …?«, fragte sie, doch die Alte kam ihr zuvor.

»Denk dran, Elettra, für die angegebene Menge Mehl nicht mehr als zwei Teelöffel. Wenn die Brötchen fertig sind, schlag sie in ein Leinentuch. Es liegt im Küchenschrank und hat einen Fleck, der von dir stammt. Als du acht Jahre alt warst, hast du Kaffee darauf geschüttet. Bring die Brötchen auf dem schnellsten Weg zum Kloster Santa Elisabetta auf der Isola del Titano. Wenn mich nicht alles täuscht, trägst du etwas von deiner Mutter bei dir, das dir den Weg weist«, sagte die blinde Dame und fuhr sich über den Hals. »Einen ganz besonderen Kompass.«

Elettra traute ihren Ohren nicht. Woher wusste diese Frau von dem Medaillon? Das war unmöglich. Seitdem ihre Mutter im Krankenhaus lag, hatte sie es nicht mehr getragen. Trotzdem, dachte sie und wurde neugierig.

Die Alte zeigte nun mit dem Finger auf sie. »Auf der Insel findest du die Antwort auf alle deine Fragen, mein Mädchen, du darfst dich allerdings durch nichts und niemanden beirren lassen. Hör nicht auf die Geschichten, die sich die Leute auf diesem unwirtlichen Flecken Land erzählen, und leg die Brötchen zu Füßen der Heiligen ab. Biete sie ihr als Gabe dar und bete, dann wird sie dich erhören. Fürchte dich nicht«, fuhr sie fort, »alles wird gut. Alles.«

Atemlos hörte Elettra zu, alle ihre Vorbehalte gegenüber der schmächtigen Dame waren wie weggefegt.

»Ich muss jetzt gehen, mein Mädchen«, verabschiedete die Blinde sich leise.

»Warten Sie!«, rief Elettra und ging vor ihr in die Knie.

Unterdessen war die Oberschwester im Korridor erschienen und übernahm den Rollstuhl.

»Eva, sagen Sie mir doch, wofür genau soll ich beten? Was befindet sich auf dieser Insel?«, flehte sie.

Die Schwester warf ihr einen wütenden Blick zu, manövrierte kurz den Rollstuhl und wandte sich zum Gehen.

Elettra sprang auf und packte sie an den Schultern. »Ich bitte Sie, lassen Sie mich mit ihr sprechen. Es ist wichtig.«

Die Oberschwester schüttelte ihre Hand ab und taxierte sie von Kopf bis Fuß. »Die Signora ist sehr krank, wenn Sie vielleicht ein wenig Respekt zeigen könnten und den Anstand hätten, sie in Ruhe zu lassen«, warf sie ihr an den Kopf und machte sich auf den Weg.

Der Rollstuhl entfernte sich leise und trug Eva und ihre Geheimnisse mit sich fort.

Die erhofften Antworten, die Vergangenheit – alles war aufs Neue entschwunden.

Wie gebannt blieb Elettra im Korridor stehen und sah zu, wie die Oberschwester die hilflose Frau in ihr Zimmer zurückbrachte.

Der Zauber war gebrochen, der Anisduft verschwunden.

Anisbrötchen

Zutaten

1 kg Mehl, 200 g Zucker, 25 g Hefe, 600 g Milch, 1 EL Honig, 1 Eigelb, 4 EL Anissamen, geriebene Schale von einer Orange, 1 EL Öl, 1 Prise Salz

für die Glasur

1 Eiweiß, Zucker, Zitronensaft

Zubereitung

Die Hefe mit einem Esslöffel Honig in ein wenig lauwarmer Milch auflösen und mindestens zehn Minuten ruhen lassen. Auf einer Arbeitsfläche Mehl, Zucker, Salz und die Anissamen mischen, aufhäufen und eine Mulde in die Mitte drücken. Dort Eigelb, Öl und nach und nach die restliche Milch und zuletzt die aufgelöste Hefe hinzugeben.

Alle Zutaten vermischen und den Teig einige Minuten kräftig durchkneten, bis er eine elastische Konsistenz hat. In einer gut geölten Schüssel so lange gehen lassen, bis sich das Volumen verdoppelt hat. Anschließend orangengroße Brötchen daraus formen und diese auf einem Backblech anordnen. Mit einem Küchentuch abdecken und nochmals eine Stunde gehen lassen.

Die Brötchen mit dem Eigelb bestreichen und in den auf 170 Grad vorgeheizten Ofen schieben. Einen kleinen Topf mit warmem Wasser dazustellen und ungefähr 30 Minuten backen.

Für die Glasur Eiweiß und Zucker verrühren, bis eine klare, sämige Masse entstanden ist, dann einige Tropfen Zitronensaft hinzufügen. Die erkalteten Brötchen damit bestreichen.

3.

In dem Haus, in dem sie all die Jahre mit ihrer Mutter gewohnt hatte, stand Elettra nun schon seit Stunden vor der Statuette und starrte die Heilige an. Die Arme der Figur verharrten in einer Geste, die Freundlichkeit ausdrückte, und Elettra suchte darin nach einer Antwort. Laut der Legende hatte die junge Witwe von Ludwig IV. von Thüringen das für Arme und Kranke bestimmte Brot einst in Rosen verwandelt, um es im Verborgenen zu horten. Das machte sie zur Schutzpatronin für das Bäckerhandwerk und die Krankenpflege. Ihr Leben lang hatte sich die Witwe dafür eingesetzt, die Not von Bedürftigen zu lindern.

Eine faszinierende Geschichte, die Edda ihr als kleines Mädchen jeden Abend aufs Neue hatte erzählen müssen. Nur leider half sie Elettra auch nicht weiter bei dem, was ihr gerade durch den Kopf ging. Ihre Mutter war von Klosterschwestern aufgezogen worden, weil ihren Eltern die Mittel dazu fehlten. Das war alles, was Elettra über die Kindheit ihrer Mutter wusste. Die Eltern hatten das Mädchen eines Morgens dem örtlichen Priester anvertraut, der es zum Kloster brachte, wo Edda fortan als Küchenhilfe arbeitete. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass sie liebevoll aufgenommen wurde und eine Schulbildung erhielt. Irgendwann hatte sie das Kloster von einem Tag auf den anderen verlassen und war aufs Festland gezogen, wo es ihr nach vielen Jahren gelang, eine Bäckerei zu eröffnen.

»Doch das ist noch lange keine Erklärung dafür, wie du auf diese winzige französisch-italienische Insel gelangt bist, von der Eva mir erzählt hat. Und auch nicht, welche Rolle die Isola del Titano und das Kloster in deinem Leben gespielt haben«, überlegte Elettra laut und suchte im Leben ihrer Mutter nach weiteren Indizien – vergeblich. Das Ganze blieb für sie ein ungelöstes Rätsel.

Edda war all die Jahre hartnäckig gewesen. Nie war ihr ein unbedachtes Wort entschlüpft, niemals hatte sie dem Wunsch ihrer Tochter, mehr zu erfahren, nachgegeben.

Kopfschüttelnd erinnerte Elettra sich an ihren letzten Streit und das Schweigen zwischen ihnen. Sie trat näher an den kleinen Altar gleich neben dem Eingang heran, um die heruntergebrannte Kerze zu wechseln. Die neue in den Händen, bat sie die junge Adelige aus Thüringen um Beistand für ihre Mutter. Wenn sie doch nur irgendwie zu ihr zurückkommen könnte.

»Bitte, bitte«, wiederholte sie mit gepresster Stimme. Dann hielt sie inne. War es wirklich wahr? Betete sie gerade tatsächlich eine Heiligenfigur an und hoffte auf ein Zeichen? Was war nur in sie gefahren?

Ich muss endlich aufhören, mir was vorzumachen, schimpfte sie sich stumm, während sie die Frau mit den verschreckten Zügen musterte, die ihr aus dem Flurspiegel entgegenblickte. Dann ging sie in Eddas Schlafzimmer zu der Kommode, in der ihre Mutter ein leichtes Beruhigungsmittel aufbewahrte. Sie öffnete eine Schublade und versuchte, nicht an die perfekt gebügelte und nach Farben sortierte Wäsche zu denken und auch nicht allzu genau hinzusehen. Doch als sie die Hand zwischen den weichen Stoff schob, genau an der Stelle, wo Edda ihre sogenannten Zaubertropfen aufbewahrte, stieß sie mit den Fingerkuppen gegen etwas Hartes.

»Unmöglich«, stotterte sie, als ihr klar wurde, dass sie eine Fahrkarte in den Händen hielt. Sie war auf ihre Mutter ausgestellt und trug ein Datum vom letzten Jahr.

Als ihr Blick Richtung Zimmerdecke und ihre Gedanken zu Edda wanderten, die ein paar Kilometer weiter im Krankenhaus lag, lag der alte Vorwurf auf ihren Lippen. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und versuchte das Reiseziel zu entziffern. Es war die Isola del Titano, ausgerechnet der Ort, den auch die geheimnisvolle Blinde erwähnt hatte. Elettra spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte, doch dann fiel alle Anspannung von ihr ab und wich einer verrückten Gewissheit.

Mit der Fahrkarte in der Hand lief sie den dunklen Korridor entlang.

Die Heilige hatte ihre Gebete erhört, wenn auch auf ihre Art. Diese Fahrkarte hier war ganz sicher keine Einbildung, sondern echt, schließlich hielt sie das Papier in den Händen. Das waren eindeutig zu viele Zeichen und Zufälle, zu viele Fragen. Anscheinend wollte ihre Mutter im vergangenen Jahr auf die Isola del Titano fahren und hatte außerdem ein Medaillon mit dem eingravierten Namen der Insel getragen. Dafür musste es einen Grund geben. Elettra spürte, dass sie etwas unternehmen, dass sie irgendwie reagieren musste. Auf dem Weg in die Küche wäre sie fast gerannt.

Kaum hatte sie die Zutaten zusammengesucht und auf den Tisch gelegt, eilte sie ans Telefon.

»Pronto?«

»Ich bin’s – Elettra. Ich bräuchte Anis.«

»Hallo, Elettra, wie schön, von dir zu hören.«

»Bitte fang jetzt bloß nicht an, mir eine Predigt zu halten, es ist wichtig«, sagte sie eindringlich.

Ihre Freundin schnaubte unwillig. »Wozu brauchst du denn um diese Uhrzeit Anis?«

»Das ist eine komplizierte Geschichte, Esther. Bitte.«

»Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du mich aus dem Bett gescheucht hast, weil du spontan Lust hast zu backen?«

Elettra holte tief Luft. »Hör zu, ich kann es dir jetzt nicht erklären. Ich bitte dich nur um ein paar Anissamen. Hast du welche da oder nicht?«

»Wann brauchst du sie denn?«

Sie war fast am Ziel. Elettra hielt den Telefonhörer umklammert. »Sofort.«

Esther kannte diesen dringlichen Tonfall und verzichtete auf weitere Fragen. Kurz darauf war sie aus dem Nachbarhaus herübergeeilt und stand in ihrem getupften Schlafanzug, der unter dem Saum ihres Mantels hervorlugte, mit einem Tütchen in der Hand vor der Tür. Elettra bat sie herein und widmete sich gleich wieder der weichen, klebrigen Teigmasse, die sie gerade bearbeitet hatte.

»Hier ist der Anis.« Esther stellte das Tütchen an dem einzigen Fleck ab, der auf dem Tisch noch frei war, und sah ihrer Freundin beim Kneten zu. »Machst du diese Anisplätzchen, bei denen man ganz schnell sein muss?«

Elettra antwortete mit einem leisen Brummen, da es ihre volle Konzentration und nicht wenig Kraft erforderte, die Zutaten zu vermischen. Sie durfte nichts falsch machen. Dieses Mal nicht.

Sie hatte Eddas Rezept in der alten Keksschachtel oben auf dem Kühlschrank gefunden und beim Durchlesen an sich halten müssen, um nicht zu fluchen, denn es fehlten sämtliche Mengenangaben.

»Typisch Mamma!«, hatte sie ausgerufen und das Rezept mit vor Anspannung steifen Fingern zusammengeknüllt. Doch ihr Gedächtnis ließ sie nicht im Stich.

Sie nahm eine Handvoll Mehl und ließ es auf die Arbeitsfläche rieseln. »Ich backe keine Kekse«, sagte sie nach einer Weile und durchbrach damit Esthers verbohrtes Schweigen.

Sie schlug zwei Teigenden übereinander, formte den Teig erst zu einem Strang und dann zu einem Zopf, den sie mehrmals mit der flachen Hand klopfte, ehe sie wieder von vorne begann. Elettra hörte erst auf, als ihr die Kraft ausging. Die ganze Zeit über sagte sie kein Wort, auch wenn sie sich ihrer Freundin gerne anvertraut hätte. Am liebsten hätte sie Esther von ihren Gebeten vor der Heiligenstatuette und von dem Anisduft erzählt, der in der Luft lag, wo immer sie sich gerade aufhielt, doch Esther hätte sie nicht verstanden. Das war auch wirklich zu viel verlangt.

Sie öffnete das Säckchen, aus dem ein zartes Anisaroma aufstieg, schob den Teig mit den Fäusten auseinander und ließ etwas von dem Inhalt hineinrieseln.

»Ich fahre weg«, verkündete sie.

Esther, die gerade energisch den Espressokocher zusammenschraubte, wandte sich um und sah ihre Freundin an. In ihrem Blick stand Erleichterung. »Fantastisch! Du solltest wirklich mal ein bisschen die Seele baumeln lassen«, murmelte sie und massierte Elettra die Schultern. Dann gab sie ihr einen leichten Klaps auf den Arm und entzündete die Gasflamme auf dem Herd. »Erzähl, wohin geht die Reise?«

Elettra musste lächeln. Zwar gefiel Esther die Idee mit der Reise, aber mit dem Ziel war sie bestimmt nicht einverstanden. »Auf die Isola del Titano.«

Schweigen. Ein Überraschungscoup, jetzt musste sie ihrem Gegenüber Zeit geben, die Nachricht zu verarbeiten.

Esther runzelte die Stirn. »Und wo liegt die genau?«

»Im Mittelmeer zwischen Korsika und Sardinien, sie ist halb französisch, halb italienisch.«

»Du sprichst doch gar kein Französisch.«

»Stimmt, einst hat dort eine kleine französische Gemeinschaft gelebt, heute dagegen ist alles zweisprachig, daher werde ich keine Probleme haben, mich zu verständigen.«

Esther nagte an den Lippen, dachte angestrengt nach. »Jetzt erinnere ich mich wieder. Der Name ist mir gleich bekannt vorgekommen. Ich habe vor einiger Zeit in einem Reisemagazin etwas über die Insel gelesen«, sagte sie und klatschte freudig in die Hände. Doch ihre Zufriedenheit wich sofort Besorgnis. »Bist du sicher, dass du da hinwillst? Auf eine winzige einsame Insel irgendwo im Mittelmeer? Soweit ich verstanden habe, ist die Isola del Titano das ideale Reiseziel für Leute, die unberührte Natur lieben. Ich kenne dich zumindest ein bisschen, daher wage ich zu behaupten, dass das nicht der richtige Ort für dich ist, meine Liebe.«

»Doch. Das ist genau der richtige Ort«, erwiderte Elettra zerstreut. Evas Worte schwirrten ihr durch den Kopf und die eigentümliche Ermahnung der alten Dame, sich nicht von der Meinung anderer über dieses Fleckchen Erde und seine Bewohner beunruhigen zu lassen. Beunruhigung war genau das, was ihr aus dem Blick ihrer Freundin entgegensprang.

Esther räusperte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Insel soll sehr merkwürdig sein, und die Vorstellung, dass du dorthin fährst, gefällt mir überhaupt nicht.«

»Was soll das heißen, merkwürdig?«

»Anscheinend ist die Insel in zwei Teile geteilt und die Bewohner auf der einen Seite sprechen nicht mit denen auf der anderen. Die Frauen tragen ausnahmslos Schwarz, und alle wissen von deiner Anwesenheit, obwohl du keiner Menschenseele begegnet bist. Die Alten sprechen von einem Fluch, der auf dem unbewohnten, oder besser, nicht länger bewohnten Teil der Insel lastet. Es kursieren Gerüchte über Menschen, die auf unerklärliche Weise im Meer ertrunken sind und deren Geister in Sturmnächten auf der Suche nach ihren Häusern an den Küsten spuken sollen. Manche Gegenden kann man angeblich nicht betreten, weil einem schwarz gekleidete Frauen den Weg versperren. Kein angenehmes Reiseziel, glaub mir.«

Elettra konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Das hört sich ja grauenhaft an«, sagte sie. »Seit wann glaubst du, was in der Zeitung steht?«

»Seitdem meine beste Freundin sich in den Kopf gesetzt hat, auf eine einsame Insel mit komischen Bewohnern zu fahren. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass deine Pläne sicher etwas mit deiner Mutter und deiner Fixierung auf ihre Vergangenheit zu tun haben.«

Sie legte den Kopf schief, um Esther besser in die Augen sehen zu können, doch die wich ihrem Blick aus.

Ihre Freundin hätte das alles nie und nimmer verstanden. Sie war zu sehr Verstandes- und Zahlenmensch, um ihre Wahrnehmungen begreifen zu können. Esther hätte sie bestenfalls für verrückt erklärt und sich allem verschlossen, was nur mit dem Bauch zu begreifen war. Ihre Freundin würde alles daransetzen, sie von der Reise abzubringen, und Elettra wollte ihre Freundschaft nicht auf die Probe stellen.

»In manchem magst du recht haben«, gab sie zu, denn sie stand mit dem Rücken zur Wand. »Aber ich habe das Gefühl, dort endlich das zu finden, was meine Mutter mir all die Jahre vorenthalten hat.«

»Wusst’ ich’s doch!«, rief Esther kopfschüttelnd aus. »Wann hörst du endlich auf, ihr Vorwürfe zu machen? Edda liegt im Koma, sie ist schwer krank und braucht deine Hilfe.«

Elettra versenkte eine Faust im Teig. »Und ich, brauche ich etwa keine Hilfe?«, entfuhr es ihr. Sie war wütend und ließ ihrem Schmerz und ihrer Verbitterung freien Lauf. »Wo war meine Mutter, als ich sie nach meinem Vater gefragt habe, nach ihrem Leben, als ich sie angefleht habe, mir etwas von sich zu erzählen? Wo war sie, als mir von einem Tag auf den anderen die Verantwortung für das Geschäft vor die Füße gefallen ist? Ich hatte nicht mal Zeit zum Nachdenken, geschweige denn für einen Versuch, das Leben zu leben, das ich mir erträumt habe.«

»Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.«

»Ach nein? Und dass ich am Ende mein Leben und meine Träume aufgeben musste, um ihrem Wunsch zu entsprechen? Dass ich eigentlich gerne Journalistin geworden wäre und stattdessen Torten und Plätzchen aus dem Ofen geholt habe, weil meine Mutter es so wollte? Hat das alles deiner Meinung nach auch nichts damit zu tun?«

»Elettra …«

»Und dass meine Mutter alles daran gesetzt hat, damit ich mir kein eigenständiges Leben aufbauen konnte, hat das etwa auch nichts damit zu tun?«, blaffte sie, rot vor Wut.

»Nein!«, widersprach Esther heftig, über die aufflammende Wut ihrer Freundin empört. »Mein Gott, Elettra, deine Mutter hatte einen Unfall, sie hat doch nicht geplant, dich mit dem Geschäft alleine zu lassen.«

»Was weiß ich denn!«, schrie Elettra und breitete die Arme aus. Ihre Stimme überschlug sich vor Verzweiflung, wie bei einem kleinen Mädchen, das sich verraten fühlt, weil es am Vatertag den Namen der Mutter selbst auf die Grußkarte schreiben muss. Wie bei einer Frau, die zu einem Leben gezwungen ist, das sie sich niemals ausgesucht hätte. »Ich weiß überhaupt nichts mehr«, fügte sie kleinlaut hinzu und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und ihr Rücken bebte, als sie trocken schluchzte. Sie hätte gerne geweint, aber es kamen keine Tränen.

Verwirrt und voller Sorge sah Esther sie an. Dann kniete sie sich vor ihre Freundin hin und nahm ihre Hand. »Wie lang willst du bleiben?«, erkundigte sie sich.

»So lange wie nötig, ich weiß es nicht«, antwortete Elettra und blickte verstohlen zum Tisch hinüber. Der Wutausbruch war ihr auf einmal peinlich. »Ich würde dich bitten, nach dem Haus zu sehen und dich um Edda zu kümmern, bis ich zurück bin.«

»Weißt du denn schon, wann du fährst?«

»Ja.«

»Gut.«

»Das ist keine Flucht, Esther.«

»Das habe ich auch nicht behauptet.«

»Aber du denkst es, ich sehe es dir an.«

»Vielleicht.« Esther schenkte ihr ein halbes Lächeln. »Trotzdem verstehe ich dich, es ist nicht einfach für dich.«

Sie hatte recht. Elettra brauchte zwar dringend Abstand, doch sie hatte nicht die Absicht, ihre Mutter im Stich zu lassen, im Gegenteil. Nach den jüngsten Ereignissen war sie entschlossener denn je, ihr näherzukommen, um in Eddas Leben endlich den Grund für ihre eigene Ruhelosigkeit zu finden.

Sie schaute auf den Teig, der sich unter dem Geschirrtuch wölbte, und wusch sich das Mehl von den Armen.

»In der letzten Zeit sind zu viele merkwürdige Dinge passiert, und jetzt, da ich mich nicht mehr um den Laden kümmern muss, will ich endlich all das herausfinden, was mir so lange vorenthalten worden ist«, sagte sie, während sie sich die Hände abtrocknete.

Esther seufzte. Elettra war offenbar fest entschlossen. Sie nahm zwei Tässchen vom Regal und gab in beide ein wenig Zucker, ehe ihre Freundin den Kaffee einschenkte.

»Und, wann genau geht es los?«, fragte sie und nahm sich ein Kuchenstück von dem kleinen Papptablett, das neben der Spüle stand. Es trug noch das Logo der Bäckerei.

Elettra stellte die Zuckerdose zurück an ihren Platz und trank den heißen Kaffee. »Bald«, sagte sie.

»Dann sind die Anisbrötchen also für die Reise?«

Der Timer ertönte, der Hefeteig war zum ersten Mal aufgegangen. Vor dem Zubettgehen musste sie jetzt nur noch Brötchen daraus formen und diese bis zum nächsten Morgen erneut ruhen lassen.

Sie strich mit der Fingerkuppe über die Zuckermasse, dann sagte sie mit hoffnungsvollem Blick: »Die sind für eine Reise, so lang wie ein ganzes Leben.«

4.

Die Fähre zwischen der Isola del Titano und dem Festland fuhr in die geschützte Hafenbucht ein. Hinter dem mächtigen Schiff lagen eine breite Spur goldfarbener Schaumkronen und eine schier endlos lange Reise. Davor ragten riesige, von Wacholder und wilder Iris überwachsene Felsen auf, von denen sich ein Leuchtturm abhob.

Mit einem Becher Kaffee in der Hand und tief in ihre Jacke vergraben, stand Elettra auf der Brücke und betrachtete die stolze Schönheit der Landschaft vor ihr. Als sie hörte, dass der Motor der Fähre abgestellt wurde und der Bug sich mit metallenem Kreischen öffnete, seufzte sie erleichtert auf. Kurz darauf lief sie über den schwankenden Steg aufs Festland, fest entschlossen, das Panorama zu genießen: den kleinen Touristenhafen mit dem knappen Dutzend Anlegestellen und den Stegen, daneben der Hafen für die Fischer, ein verwitterter Holzsteg voller Reusen und Kisten in der prallen Sonne, dahinter ein Hügel, der mit Erika, rotem Wacholder und Erdbeerbäumen überwuchert war.

Die Insel schien sie willkommen zu heißen. Lächelnd strich sie sich eine Locke aus der Stirn, während sie mit der anderen Hand die Tasche mit den Brötchen umklammert hielt. Dann atmete sie tief durch. Endlich war sie auf diesem Fleckchen Erde mitten im Meer angekommen und konnte sich nicht sattsehen. Um sie herum das Chaos eines morgendlichen Marktes, improvisierte Stände mit Früchten, Strandschirme gegen die Sonne, daneben unzählige Paletten. Hinter den Verkaufstischen standen Frauen in schwarzen, wadenlangen Baumwollröcken und dunklen Blusen. Das silberne, zu festen Kränzen geflochtene Haar stand im Kontrast zu ihren erhitzten Gesichtern. Sie pressten Papiertüten gegen die Brust, aus denen Tomaten und fast orangenfarbene Pfirsiche herauslugten. Die Kundinnen hielten beim Gehen den Kopf gesenkt und ließen sich wortlos Früchte und Gemüse abwiegen, selbst beim Bezahlen wechselten sie kein Wort miteinander. Die Frauen waren stumm und ihre Augen ausdruckslos. Niemand sprach sie an, und die in Trauergewänder gehüllten Gestalten schienen ihre Umgebung gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Wie eine Prozession von Geistern, dachte Elettra. Die Schattengestalten, denen die Gluthitze offenbar nichts ausmachte, traten zurück, um die Ankömmlinge hindurchzulassen. Die Einheimischen begegneten ihnen, als hätten sie die Pest. Komisch, dachte sie wieder und beobachtete die schwarz gekleideten Frauen, die sich nach und nach in den Gassen des Städtchens verloren.

Elettra öffnete ihre Tasche, um einen Blick auf ihre Backwaren zu werfen, aber die Reise hatte ihnen wider Erwarten nichts anhaben können. Der Geruch nach Anis war sogar noch intensiver geworden. Die Brötchen kamen ihr vor wie kleine, würzig duftende Kometen, die ihr den Weg zur Wahrheit weisen würden.

Bevor sie sich eine Unterkunft besorgte – sie war überhastet aufgebrochen und hatte völlig vergessen, ein Zimmer in einer billigen Pension (alles andere überstieg ihr Budget) zu reservieren –, wollte sie erst einen anderen Ort aufsuchen.

Auf einer Piazza fragte sie eine Einheimische nach dem Weg und wandte den Blick nicht von den knotigen Händen ab, die ihr die Richtung wiesen. Die schmalen Augen der Frau, die ihr bis zur Schulter reichte, und die veränderte Tonlage, nachdem sie das Kloster erwähnt hatte, ignorierte sie einfach.

»Sie meinen das von Lea und diesen Elendigen auf der anderen Inselseite?«, fragte die Frau und musterte sie von Kopf bis Fuß.

Elettra schüttelte den Kopf, sie verstand den Dialekt der Alten nur schwer. »Nein, nein, ich meine das Kloster der Heiligen Elisabeth«, wiederholte sie verwirrt.

Die Frau verzog das Gesicht und schlug sich mit der Faust auf die Brust, um einen Hustenanfall zu unterdrücken. »Nun geh schon, möge Gott dir auf dem Weg zu diesem unseligen Ort beistehen«, sagte sie kurz angebunden und lief weiter.

Hilflos und mutterseelenallein stand Elettra auf dem staubigen, von Häusern umgebenen Platz. »Kein sehr freundlicher Empfang«, murmelte sie und machte sich verzagt auf den Weg.

Bald verlor sie in der sonnenverbrannten, verwucherten Landschaft die Orientierung. Zu Hause hatte sie sich noch über Esthers Bedenken, was die Insel und ihre Eigenarten anging, lustig gemacht, aber jetzt kam ihr der Gedanke, dass ihre Freundin vielleicht doch nicht übertrieben hatte. Immer wieder bog Elettra auf unbefestigte Straßen und Wege ab. Was hatte die zahnlose Alte noch mal gesagt? Bis zum Kloster war es weniger als eine halbe Stunde, war sie sich anfangs sicher gewesen, aber nach einer Stunde auf der einsamen Straße, auf der es nichts außer Eidechsen und streunende Hunde gab, blieb sie erschöpft stehen.

Von dem Kloster noch immer keine Spur. Sie wischte sich über die Stirn und ging den Weg ein Stück zurück. Wo war sie nur falsch abgebogen? Die Straßen waren hier alle ähnlich, nichts als Erde und Steine. Die Feldwege, die sich durch die Vegetation schlängelten, sahen einer aus wie der andere, und die sengende Sonne erschwerte die Orientierung.

Trotzdem, hier ist es wie im Paradies, dachte Elettra, als sie auf einer Hügelkuppe hinter einer Kurve ein Gebäude entdeckte. Von dem alten, heruntergekommenen Anwesen blätterte überall der Putz ab und zwischen den verbliebenen Dachziegeln wuchs Unkraut. Vielleicht war dies ja das Kloster? Zielstrebig ging sie darauf zu.

Oben auf dem Hügel angekommen, wandte sie sich um und nahm die Landschaft in Augenschein. Unter ihr erstreckte sich ein Tal, so schön, dass sie völlig vergaß, wie müde sie war. Ihre Augen tränten fast von dem gleißenden Sonnenlicht, doch die Farbe des Meeres in den Buchten zwischen ausgeblichenen Felsen war sensationell, sie erinnerte an Nacht und Tiefe.

Sie begriff, woher diese Insel ihren Namen hatte. Vor ihr ruhte, auf einer Seite über die gesamte Länge der Insel bis ins Grün hineingestreckt, ein Gigant. Die Gegenden vor ihm und in seinem Rücken hätten nicht unterschiedlicher sein können: auf der einen Seite der pittoreske, belebte Hafen, auf der anderen das Kloster, umgeben von kargen, unwirtlichen Höhenzügen. Hier hatte die Natur ganz offensichtlich die Herrschaft übernommen und die Wildnis wirkte undurchdringlich. Verlassene Häuser hatte sie ebenso vereinnahmt wie die vom Winter zerborstenen Bäume. Dazwischen immer wieder helle, gewundene Streifen: einsame Wege.

In diese Richtung waren die Frauen in Schwarz vom Markt gegangen, wie Elettra beobachtet hatte, eine Prozession aus dunklen, gebeugten Gestalten, die schweigend Körbe auf den Köpfen balancierten. Irgendwann waren sie wie verschluckt gewesen von der nahezu unbewohnten Wildnis, in der nichts anderes zu gedeihen schien als Unkraut.

Wer weiß, was sich dort unten befindet, dachte Elettra und lächelte dem Giganten zu, dem Wächter der Insel, auf der die Luft nach Geheimnissen duftete. Vorsichtig drückte sie das halb geöffnete Klostertor auf, das zwei mächtige Zitronenbäume flankierten.

Die kühle Luft im Kreuzgang erfrischte sie. Sie auf dem Rücken zu spüren, war angenehm, ebenso die Stille zwischen den Säulen. Sie lief auf dem Gang einmal um den kleinen Platz herum und stolperte ein paar Mal über kaputte Marmorplatten, weil sie nach oben geschaut hatte. Die Brötchen schienen unterdessen ein Eigenleben zu entwickeln und pochten wie Herzen gegen den Stoff der Tasche.

Hört auf, dachte Elettra und schlug kurz mit der flachen Hand auf die Tasche. Ihr war klar, wie verrückt das aussehen musste, aber in den vergangenen Tagen war die Grenze zwischen der realen und einer irrealen Welt fließend geworden.

Sie lauschte angestrengt, um sich zu versichern, dass sie nicht die einzige Menschenseele in diesen moosüberwachsenen Mauern war, aber jegliches Leben schien sich, wenn überhaupt, hinter den Türen des Kreuzgangs zu verbergen. Eine davon war nur angelehnt und Elettra lugte neugierig durch den Spalt. Es war nichts zu hören, nicht einmal das Rascheln von Stoff.

Widerstrebend setzte sie ihren Erkundungsgang fort, doch als sie die mit Zitronenbäumen voll goldgelber Früchte und blühenden Hortensien bewachsene Nische entdeckte, machte ihr Herz einen freudigen Sprung.

Dort war sie, die Heilige.

Mit vor Aufregung trockenem Mund ließ Elettra die Tasche fallen. Sie spürte die intensive Wärme auf ihrer Haut wie ein sanftes Streicheln nach großer Anstrengung, zugleich durchströmte ein tiefes Glücksgefühl ihren müden Körper. Sie umklammerte Eddas Medaillon und atmete tief durch. Genau danach suchte sie, nach ihrer Geschichte – und der ihrer Mutter.

Die Faust gegen die Brust gepresst und mit einem Gebet auf den Lippen, näherte sie sich der Heiligen, um sie vorsichtig zu berühren.

»He, du«, sagte sie liebevoll, während ein herber Zitrusduft sie umwehte.

In ihren Ohren hallte Evas Ermahnung wider, sich auf dem schnellsten Weg auf die Insel zu begeben, dann erschien vor ihrem geistigen Auge die Fahrkarte, die sie zufällig gefunden hatte, als hätte ihre Mutter sie nicht nur vor ihr, sondern auch vor sich selbst versteckt.

»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Elettra erstarrte und zog mit einem Ruck die Hand weg. Sie trat einen Schritt zurück, räusperte sich und hob ihre Tasche auf.

»Ja, bestimmt. Ich war auf der Suche nach der Heiligenfigur, um ehrlich zu sein«, stotterte sie, verärgert über ihre Unsicherheit. Sie raffte ihr Haar im Nacken und drehte sich um wie ertappt. Ihre Beine zitterten, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. »Ich habe gerufen und niemanden bemerkt, daher bin ich einfach eingetreten. Tut mir leid, ich wollte bestimmt nicht stören«, druckste sie herum.

Statt zu antworten, schüttelte die Frau nur den Kopf und schenkte ihr das freundlichste Lächeln, das Elettra jemals gesehen hatte. Es war anziehend und bezaubernd zugleich und verströmte Frieden.

»Sie stören überhaupt nicht. Jeder, der möchte, darf die Heilige besuchen und ehren«, sagte sie und berührte die Figur sanft mit den Kuppen ihrer langen, schmalen Finger. Sie hatte eine dunkle Stimme, weich wie der Morgennebel, der vom Horizont aufsteigt und sich langsam im Sonnenlicht auflöst.

Elettra nickte und presste ihre Tasche fest an sich. Evas Anweisungen vor den Augen einer Fremden in die Tat umzusetzen, war ihr peinlich. Doch das Gesicht der Fremden hatte etwas Einnehmendes, das sie entspannte. Es lag wohl an ihrem Blick und dem offenen, vertrauenerweckenden Lächeln.

»Ich war ziemlich lange unterwegs«, sagte sie und hoffte, die andere möge die unausgesprochene Bitte begreifen und sich zurückziehen.

Stattdessen trat sie einen Schritt näher. »Das habe ich mir schon gedacht, Sie kommen mir auch nicht bekannt vor«, antwortete die Frau.

Elettra sah ihr Gegenüber stumm an, wie hypnotisiert von ihrem Blick.

»Sie kommen aus …?«

Sie schüttelte sich kurz. »Eigentlich ist es gar nicht so weit weg, aber ohne Flugzeug und Fähre schafft man es ja nicht auf diese Insel«, erklärte sie. »Ich dachte schon, ich würde nie ankommen.«

»Jeder kommt an dem Ort an, den das Schicksal für ihn bestimmt.«

Im Geiste wiederholte Elettra die Worte, sie wollte den Satz unbedingt in Erinnerung behalten. Zwar war sie gerade dabei, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, hatte allerdings nicht den Eindruck, als könnte sie es wirklich bestimmen. Evas Worte und die gefundene Fahrkarte hatten sie zu der Reise veranlasst, sie hatte sich nicht aus freien Stücken dazu entschieden.

»Ich will nur kurz bleiben, dann lasse ich die Klosterschwestern wieder in Ruhe.«

Ihr Gegenüber errötete leicht und breitete die Arme in einer Geste aus, die das gesamt Gebäude einschloss. »Hier leben keine Klosterschwestern. Sie können so lange bleiben, wie Sie möchten.«

»Ach so, dann habe ich da wohl etwas durcheinandergebracht.«

»Ich gehöre keiner kirchlichen Gemeinschaft an«, sagte die Frau lächelnd und zeigte dabei ihre blendend weißen Zähne.

Elettra fiel auf, dass die Unbekannte gar nicht die übliche Schwesterntracht trug, sondern ein schlichtes türkisfarbenes Kleid. Sie wusste immer noch nicht, was sie denken sollte.

»Lea Coureau, freut mich, Sie kennenzulernen«, kam ihr die andere zuvor und reichte ihr die Hand.

»Elettra Cavani«, stellte sie sich vor.

Im Geiste hörte sie wieder die durchdringende Stimme der Alten in dem Hafenstädtchen und erinnerte sich an deren angewiderten Gesichtsausdruck, als sie das Kloster erwähnt hatte. Sie schüttelte Lea die Hand und betrachtete ihr Gesicht. Die schmal geschnittenen Augen und der herzförmige Mund hatten etwas Verschlossenes. Als sich ihre Blicke trafen, nahm sie in der anderen etwas Ungelöstes wahr, doch der Eindruck verschwand wieder, noch bevor er zu einem klaren Gedanken werden konnte.

Aus einem der Fenster in den oberen Stockwerken drang ein Klirren. Elettra blickte nach oben und sah gerade noch, wie sich ein Vorhang bewegte und eine Hand am Fenster erschien. Sie wandte sich um und wollte sich bei Lea danach erkundigen, doch die war bereits hinter einer der Säulen des Kreuzgangs verschwunden. Ihre Schritte entfernten sich und wurden bald darauf von diffusen Geräuschen überlagert. Elettra schüttelte ihre Unruhe mit einem Achselzucken ab und wollte gerade die Tasche öffnen, als sich der Kreuzgang mit wohlvertrauten Düften aus Eddas Küche füllte.

»Edda!«

Elettra fuhr herum.

Ganz deutlich hatte sie eine Stimme gehört, die den Namen ihrer Mutter rief. Sie verharrte vor der Heiligenstatue auf den Knien und spähte nach oben, um sich davon zu überzeugen, dass alle Fenster zum Klosterhof geschlossen waren. Ich bin völlig erschöpft, aber durchgedreht bin ich noch nicht, dachte sie. Die Fassade war unverändert, weshalb sie wohl oder übel davon ausgehen musste, dass ihre Fantasie ihr gerade einen Streich gespielt hatte. Sie rieb sich über die Augen. Ist das wirklich bloß Einbildung?, fragte sie sich und betrachtete die in weißes Leinen eingewickelten Brötchen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, und ihr fielen die Ermahnungen wieder ein, die Eva ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Sie würde niemals die Wahrheit erfahren, wenn sie jetzt aufgab. In Ordnung, ich mache alles, was ihr wollt. Oder besser, was du willst, wie immer, verbesserte sie sich.

Sie legte die Brötchen vor der Heiligen ab und senkte den Kopf, als neue Hoffnung ihre Brust erfüllte. Dann konzentrierte sie ihre Gedanken auf Eddas Antlitz und ihr Lächeln, das niemals verging. Wie Eva es ihr gesagt hatte, kniete sie sich auf die beschädigten Marmorplatten und betete zu der Heiligen. Stumm bat sie darum, dass Edda aus ihrem Koma erwachen möge.

Langsam kam sie innerlich zur Ruhe. Zum ersten Mal fühlte sie sich wohl und ihrer Mutter sehr viel näher als während des ganzen vergangenen Jahres, wenn sie ihre Hand gehalten hatte. Das muss dieser besondere Ort sein, versuchte sie sich an einer Begründung.

Als sie sich wieder erhob, spürte sie Leas Blick in ihrem Rücken und war sich sicher, dass nicht alles ihrer Einbildung entsprungen sein konnte.

»Hast du das eben auch gehört?« Sie war einfach zum Du übergegangen.

Lea strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Was denn?«

Elettra deutete auf die Reihen der geschlossenen Fenster. Was soll ich ihr denn bloß sagen? Sie hält mich bestimmt für verrückt, dachte sie. Sie hielt den Griff ihrer Tasche so fest umklammert, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Ich dachte vorhin, ich hätte eine Stimme gehört …«

»Das kommt vom Zauber des Klosters«, antwortete Lea unerschütterlich. »Hier scheint die Zeit stehen zu bleiben, man setzt sich auf den Brunnenrand, schaut hinunter aufs Wasser und merkt gar nicht, wie sie vergeht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das passiert mir auch manchmal, nur leider bleibt die Zeit nicht wirklich stehen. Sie fließt dahin, und die guten wie die schlechten Dinge kommen und gehen mit ihr.« Ihr Tonfall klang leicht verbittert und auch ihr Lächeln war verblasst.

Elettra nickte. Sie hatte sich mit einer Hand an einer der Säulen des Kreuzgangs abgestützt und fühlte, wie der Stein atmete. Dieser Ort war geradezu lebendig, ein jahrhundertealter Odem umwehte die Mauern, vermutlich war es die von den Gegenständen bewahrte Erinnerung.

»Was führt dich hierher?«, flüsterte Lea.

Die Luft war merklich abgekühlt, und seit Elettra die Klosteranlage betreten hatte, war ihr jedes Zeitgefühl abhandengekommen. »Ich bin wegen meiner Mutter hier«, sagte sie spontan und bemühte sich, nicht zu zittern.

Lea war neugierig geworden. »Bedeutet ihr die Heilige Elisabeth so viel?«

»Ja, das auch, aber es geht um mehr. Ich habe das Gefühl, dass zwischen meiner Mutter und diesem Ort eine ganz besondere Verbindung besteht, aber sicher bin ich mir nicht.«

»Hat deine Mutter Gedächtnisprobleme?«, erkundigte sich Lea mitfühlend, ihre Stimme war leiser geworden.

Mitgefühl. Das Wort schwirrte Elettra durch den Kopf, und sie konnte den Blick nicht von Lea lösen. Sie lächelte ihr Gegenüber dankbar an. Es war zu verlockend, der sympathischen Lea ihr Herz auszuschütten, und sie wagte es. »Meine Mutter liegt seit einem Jahr im Koma«, stotterte sie. Dieser Satz fiel ihr immer am schwersten. Sich einzugestehen, dass die Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte, die sie geliebt und mit der sie gestritten hatte, eine andere geworden war, erschien ihr mit jedem Mal unerträglicher. »Ein Gehirnschlag. Ich glaube nicht, dass sie je wieder zu sich kommen wird. Die Ärzte sind nicht sehr zuversichtlich.«

Verärgert und traurig zugleich schüttelte sie den Kopf. Sie war ratlos, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte, doch dann spürte sie, wie Lea ihr die Hand drückte und sie mit ihrer Gegenwart tröstete. Sie blieb eine Fremde, doch Elettra wurde sich bewusst, dass sie in diesem Moment niemanden lieber an ihrer Seite hatte. Sie lächelte dankbar und setzte zu einer Erklärung an, doch Lea brachte sie mit einer Geste zum Schweigen.

»Hör auf zu suchen. Wenn du willst, kannst du hierbleiben. Natürlich nur, falls du nicht schon eine andere Unterkunft hast.«

»Nein, darum geht es nicht«, sagte Elettra und ließ die Schultern hängen. »Ich möchte bloß niemandem zur Last fallen.«

»Keine Sorge, das tust du nicht. Das Kloster gehört mir und ist entweiht. Hier leben schon seit Jahren keine Schwestern mehr, und wie du dir vorstellen kannst, gibt es mehr Zimmer, als ich bewohnen kann.« Mit einem Nicken wies sie auf den Gebäudekomplex, der den Kreuzgang umgab, während Elettra versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Es hatte gutgetan, sich endlich jemandem anzuvertrauen, ohne auf jedes Wort zu achten, dennoch verspürte sie leise Zweifel.

»Bleib heute Nacht hier«, wiederholte Lea ihr Angebot. »Du bist völlig erschöpft, außerdem ist der Weg zum Hafen im Dunkeln nur schwer zu finden«, fügte sie hinzu und wies auf den Sonnenuntergang.

Elettras Blick huschte zwischen Lea und der leeren Tasche hin und her. Vermutlich hatte sie recht, die Gefahr, sich in der Dunkelheit auf der Insel zu verirren, wuchs mit jeder Minute. Was sie jetzt brauchte, waren eine Dusche und ein frisches Bett. Zweifel und Ängste hatten Zeit bis morgen.

Lea erriet ihre Gedanken. »Falls es um die Kosten geht, ich verlange kein Geld. Wenn es dir bei uns gefällt, kannst du so lange bleiben, wie du willst. Sofern du ein bisschen im Haushalt mithilfst, versteht sich«, sagte sie freundlich.

Doch Elettra hörte ihr schon nicht mehr zu, sie war gleich beim ersten Satz hellhörig geworden. »Uns?«

»Ja, genau. Seit ein paar Jahren leben noch zwei weitere Frauen hier, Dominique und Nicole. Wir bilden eine kleine Frauen-WG. So etwas wie eine Familie.«

»Ach«, murmelte sie beeindruckt.

»Was ist, gehen wir?«, drängte Lea.

Elettra konnte diese Einladung beim besten Willen nicht ablehnen. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sagte sie und breitete die Arme aus.

Dann ergriff sie Leas kühle Hand und ließ sich von ihr zu ihrer Unterkunft geleiten. Während des kurzen Rundgangs entging ihr allerdings nicht, wie heruntergekommen das Kloster war. Die Marmorböden waren beschädigt, das Holz an den Fensterrahmen war rissig von der Sonne und von Kletterpflanzen überwuchert, die die Fassade überzogen, in den Räumen waren die Wände von grünlichem Schimmel bedeckt, und die Feuchtigkeit hatte dafür gesorgt, dass auch im Treppenhaus der Putz abblätterte und sich auf den Stufen ablagerte.

Überall roch es modrig, was Lea jedoch nicht weiter zu stören schien. Nach mehreren Korridoren und Räumen durchquerten sie einen unbenutzten Saal und kamen an einer kleinen, entweihten Kapelle vorbei, die den Alten aus dem Dorf nach wie vor als Ort des Trostes diente, wie Lea erzählte. Dann betraten sie den oberen Stock, in dem sich einst die Zellen der Schwestern befunden hatten. Vor den ansonsten kahlen Wänden stachen die gewaltigen Türrahmen aus Nussbaumholz besonders stark hervor. Elettra war beeindruckt, auch wenn sie sich davor fürchtete, sich zwischen den Klostermauern wie eine Gefangene vorzukommen.

Vor einer geschlossenen Zelle blieb Lea stehen. Die Tür öffnete sich erst, nachdem sie entschlossen dagegen gedrückt hatte.

»Angekommen«, sagte sie und lehnte sich gegen die Tür, damit diese nicht wieder zufiel. »Ich halte für alle Fälle immer ein Zimmer bereit. Nachher bringe ich dir noch frische Laken und ein paar Decken für die Nacht, falls es kalt wird. Wie du siehst, ist es kein Luxushotel, aber ganz gemütlich«, erklärte sie.

Elettra sah sich um. Ein Tisch mit Stuhl, ein kleiner Schrank und unter dem Fenster mit Blick aufs Meer ein Bett, darüber ein großes Holzkreuz, das über die Träume wachte. Die Einrichtung war spartanisch, doch alles wirkte sauber und bequem. Sie stürzte zum Fenster, auf der Suche nach Wegzeichen von ihrer Wanderung. Enttäuscht stellte sie fest, dass sie nichts wiedererkannte.

Hinter ihr erneut Schritte, dann Leas Atem unmittelbar in ihrem Rücken.

»Den Hafen kannst du von hier aus natürlich nicht sehen.« Sie wies in die vom Fenster abgewandte Richtung. »Das Kloster liegt auf der anderen Seite, diese Küste hier ist vermutlich neu für dich. Meiner Meinung nach ist es der schönste Teil der Insel, die wirkliche Isola del Titano«, erklärte sie und zwinkerte ihr zu.

Elettra strich über den salzverkrusteten Fensterrahmen und schaute auf die dunklen Umrisse auf dem Meer.

»Dann muss ich mich wohl oder übel mit ein paar Fischerbooten begnügen«, erwiderte sie.

Lea stand nur stumm da, eine Schulter gegen die Tür gelehnt. Unterdessen versuchte Elettra an der kargen Einrichtung Spuren von ehemaligen Bewohnern zu entdecken. Die Tasche stellte sie mitten auf dem Tisch ab und das wenige Gepäck neben die Tür.

»Mir ist heute etwas Merkwürdiges aufgefallen«, begann sie.

Lea war sofort hellwach. »Was denn?«

»Seit ich die Hafengegend verlassen habe, ist mir kein einziger Mann mehr begegnet, nur noch schwarz gekleidete Frauen, die mit gesenkten Köpfen Richtung Kloster gelaufen sind. Mir kommt es fast so vor, als gäbe es einen grundlegenden Unterschied zwischen diesem Teil der Insel und dem, wo der Hafen liegt. Es ist, als wären sich die beiden Teile irgendwie nicht einig«, sagte Elettra und musste wieder an den gehässigen Tonfall der Alten auf der Piazza denken.

»Stimmt. Wir und die Bewohner von der anderen Inselseite sind sehr verschieden. Wie du selbst bemerkt hast, gibt es hier bei uns keine Männer.«

»Warum nicht?«

»Die haben sich vor einiger Zeit davongemacht. Aber das ist eine lange Geschichte, an der keiner gerne rührt. Seitdem gibt es einen tiefen Graben zwischen den beiden Fraktionen«, erwiderte Lea knapp, und ihre Gesten verrieten ihre Ungeduld.

»Verstehe«, sagte Elettra nur.

Lea wirkte mit einem Mal distanziert und angespannt. Anscheinend hatten ihr Elettras Beobachtungen zum Inselleben nicht gefallen. Sie schaute ostentativ Richtung Fenster, auf das Meer hinaus.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, erkundigte sich Elettra, um das Schweigen zu beenden.

Lea schüttelte den Kopf und schien mit einem Lächeln alle dunklen Gedanken vertreiben zu wollen. »Mach dir keine Gedanken, alles in Ordnung«, versicherte sie und fügte hinzu: »Warum gehen wir nicht was essen? Ich sterbe vor Hunger und will dich auch den anderen beiden vorstellen.«

Damit hakte sie sich bei Elettra unter und zog sie mit sich.

5.

Die erste Nacht auf der Insel stand für Elettra ganz im Zeichen des Windes, der mehrfach auffrischte und sich wieder beruhigte. Sie wälzte sich in den nach Lavendel duftenden Laken und konnte kein Auge zutun. Dann wurde die Stille von einer lauten Stimme durchschnitten.

»Edda!«, rief jemand, genau wie zuvor.

Mit vor Schreck geweiteten Augen fuhr Elettra hoch. »Es war also doch keine Einbildung«, murmelte sie, die Hand gegen die Brust gedrückt.

Schweißgebadet vor Anspannung, schlug sie die Decke zurück und stürzte zur Tür, doch auf dem langen Korridor zwischen den kahlen Wänden war niemand zu sehen. Aus der Nähe drang das Geräusch von leichten Schritten an ihr Ohr, kurz darauf erblickte sie an der Treppe Leas Gesicht, von einer Kerze angeleuchtet.

»Hast du das auch gehört? Eine Stimme hat gerade einen Frauennamen gerufen«, sagte Elettra und hielt sie an der Treppe auf.

Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Nicole und Dominique sind bereits in ihren Zellen, und ich war gerade oben und habe die Läden geschlossen. Der Wind muss dich erschreckt haben.«

Verwundert zog Elettra die Augenbrauen hoch. »Der Wind?«