Die Blütenmädchen - Valentina Cebeni - E-Book
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Die Blütenmädchen E-Book

Valentina Cebeni

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Beschreibung

Ein kleines Dorf in der Toskana. Der Zauber alter Dinge. Eine Liebe, die zu neuem Leben erwacht.

Mit gebrochenem Herzen kehrt Dafne in ihr Heimatdorf in der Toskana zurück. Dort will sie über eine verlorene Liebe hinwegkommen und ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Als sie die Werkstatt ihres Großvaters betritt, hat sie eine Idee: Sie wird diese neu eröffnen, um geliebte, aber ausgediente Gegenstände zu restaurieren und ihnen zu neuem Leben zu verhelfen. Der junge Handwerker Milan unterstützt sie dabei. Doch dann fällt Dafne eine alte Taschenuhr in die Hände, die derjenigen Milans zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie ahnt plötzlich, dass er nicht zufällig in ihr Dorf gekommen ist …

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Seitenzahl: 455

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Valentina Cebeni wurde 1985 in Rom geboren. Bereits seit ihrer Kindheit liebt sie es, Geschichten zu erzählen. Mit »Die Zitronenschwestern«, ihrem Debüt in deutscher Sprache, und den »Blütenmädchen« geht sie dieser Leidenschaft nach. Sie erzählt darin von Familie, Liebe, der Suche nach dem Glück und den Geheimnissen, die die schönsten Orte ihrer Heimat verbergen.

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Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Die Italienische Originalausgabe erscheint 2018 bei Garzanti, Mailand.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

1. Auflage 2018

Copyright © 2018 by Valentina Cebeni

Licence agreement made through Laura Ceccacci Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 bei

Penguin Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro

Umschlagmotiv: P2007/Getty Images

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-21894-2V002

www.penguin-verlag.de

Prolog

An diesem Morgen wimmelte es auf dem Meraner Bahnhof von Menschen. Bald würden die Züge in Richtung Front abfahren, das Stimmengewirr der Wartenden wurde von dichten Rauchwolken gedämpft, die aus den Schornsteinen der bereits unter Dampf stehenden Lokomotiven quollen.

Ein wenig verloren inmitten der hechtgrauen Uniformen des österreichischen Kaiserreichs stand Maria Elena in ihrem leichten Mantel da, wurde fast zerquetscht von den Massen junger Soldaten, die ihren Kriegsdienst höchst widerwillig antraten. Sichtlich bedrückt wechselten sie letzte Abschiedsworte mit ihren Müttern, Ehefrauen, Verlobten und Schwestern. Diese bemühten sich, ihre Angst zu verbergen, ihren Liebsten Mut zu machen und sich ihr Bild noch einmal einzuprägen – der Schmerz und die Trauer würden für viele von ihnen noch früh genug kommen.

Aus dem Augenwinkel beobachtete Maria Elena die Abschiedsszene, verfolgte, wie der eine oder andere der Soldaten bei der Rosenverkäuferin auf dem Bahnsteig noch eine der prächtigen Blüten erstand, das Symbol der Liebe als Ausdruck der Hoffnung auf ein Wiedersehen und als Versprechen, das sie eigentlich nicht geben konnten.

Maria Elena schluckte schwer, zog ihren Schal fester und ging weiter.

Sie war seinetwegen hier. Wegen ihres Liebsten, der sie mit einem der Züge in Richtung Norden verlassen würde. Anders als die meisten wurde er nicht von Angehörigen begleitet, die ihn nicht ohne einen letzten Gruß ziehen lassen wollten. Nach einem Streit mit dem Vater hatte er das Elternhaus verlassen, sogar das Studium abgebrochen und schlug sich seitdem alleine durch.

Sie hingegen musste ihm noch einmal in die Augen schauen, um darin die Maria Elena zu sehen, die er in ihr zum Leben erweckt hatte. Und um ihm jetzt, in der Stunde des Abschieds, zu sagen, was sie noch nie zu sagen gewagt hatte.

Suchend stellte sie sich auf die Zehenspitzen, reckte den Kopf und ließ den Blick über den Bahnsteig schweifen, zuckte bei jedem schrillen Pfiff zusammen, der die Abfahrt eines anderen Zuges ankündigte, und fürchtete zu spät zu kommen.

Wie sollte sie ihn in dieser gesichtslosen Menge der Abschiednehmenden nur finden, wie sich einen Weg zu ihm bahnen?

Maria Elena kämpfte sich mit vorgestreckten Armen weiter durch die Menschenmenge, ballte entschlossen die Fäuste. Ihr Herz pochte wild.

»Du bist hier, das spüre ich. Bloß wo, mein Geliebter?«, flüsterte sie mit geschlossenen Augen und konnte ihre Tränen kaum zurückhalten. Sie betete, irgendwo den Klang seiner Stimme zu hören, sie musste ihn finden, durfte ihn nicht so einfach ziehen lassen.

Erleichtert atmete sie auf, als sie ein unverwechselbares Lachen hörte. »Augustus!«

Ohne zu zögern, raffte sie ihren Rock so hoch, dass er sie nicht beim Laufen behinderte, und hastete seiner Stimme durch die Menge entgegen. Schon sah sie ihn, er stand am Waggonfenster und unterhielt sich mit einem Freund.

Sie rief und winkte, doch sie war so außer Atem, dass sie lediglich ein heiseres Krächzen herausbrachte. Als er sie entdeckte, lächelte er.

»Augustus«, hauchte sie, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie musste ihn berühren, seine Nähe spüren – sie musste in den Waggon. Aber die Tür war durch einsteigende Soldaten blockiert, und so blieb ihr als einzige Möglichkeit, auf die schmale metallene Leiste zu steigen, die sich oberhalb der Räder wie ein Trittbrett an allen Wagen entlangzog, und sich an seinem Fenster festzuklammern.

Und so konnten sie sich doch noch prüfend in die Augen sehen wie an jenem Tag, als sie in seinen Armen zur Frau geworden war, atemlos, keuchend unverständliche Worte flüsternd, die ihnen ihre Herzen eingaben.

An diesem Morgen mussten jedoch Blicke ausreichen und das ersetzen, was sie sich gern gesagt hätten.

»Maria«, murmelte er und beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen, einmal und noch einmal, vielleicht das letzte Mal, während der Schaffner die Pfeife an die Lippen führte. »Ich will, dass du das hier nimmst«, fügte er hinzu und drückte ihr etwas silbrig Glänzendes in die Hand.

Sie zuckte zurück und schüttelte den Kopf. Es war eine Uhr, in deren Gehäuse eine Rose eingraviert war.

»Augustus, was soll das bedeuten?«

»Ein Versprechen, mein Liebling. Unsere Zeit wird kommen, und diese Uhr soll dich daran erinnern. Jedes Mal, wenn du dich einsam fühlst, öffnest du den Deckel und denkst an unsere Liebe und an unser Wiedersehen.« Seine Stimme klang jetzt fast beschwörend. »Vergiss mich bitte nicht«, fügte er mit erstickter Stimme hinzu.

Verwirrt starrte Maria Elena auf das Zifferblatt, während der Zug ruckelnd anfuhr und sich auf den langen Weg an die Front machte. Zeit, von der schmalen Leiste auf den Bahnsteig zu springen. Sie taumelte und wäre um ein Haar gestürzt, fing sich jedoch gerade noch ab, die Uhr sicher in ihrer Hand verwahrt, und lief neben dem Waggon her.

»Augustus«, rief sie mit dem Mut der Verzweiflung, »ich will nicht in der Hoffnung auf die Zukunft leben, ich will dich jetzt. Bitte steig aus dem Zug, ich bitte dich von ganzem Herzen.«

»Maria«, presste er hervor, die Finger so fest um den Rand des geöffneten Fensters gekrallt, dass die Knöchel weiß hervortraten, das Gesicht plötzlich angespannt und voller Schmerz und Trauer.

Er war einer unter vielen anderen Gefangenen im Strudel der Weltgeschichte, die sich um Gefühle nicht kümmerte und keine Rücksicht nahm auf die Wünsche und Hoffnungen der blutjungen Soldaten, die gerade in eine ungewisse Zukunft geschickt wurden. Viele, viel zu viele davon in den sicheren Tod.

Draußen auf dem Bahnsteig atmete Maria Elena im Laufen tief durch. »Ich liebe dich«, sagte sie auf Deutsch, zum ersten Mal in der für sie fremden Sprache.

Es zerriss ihr fast das Herz. Kaum hatte sie die Liebe gefunden, schon hatte sie sie wieder verloren. Und ihre verzweifelten Versuche, Augustus aufzuhalten, blieben vergeblich.

Auch seine Augen füllten sich mit Tränen. Abrupt wandte er sich vom Fenster ab und verschwand im Inneren des Waggons, um kurz darauf mit einem Strauß roter Rosen in der Hand wiederaufzutauchen.

Er streckte ihr die Blumen durchs Fenster entgegen. »Heirate mich!«, rief er in seiner und dann noch einmal in ihrer Sprache: »Sposami!«

Ihre Blicke trafen sich. Seine Worte wurden vom Fauchen der Dampflok auf dem Nachbargleis übertönt, rußiger Rauch hüllte sie ein, aber noch immer schwenkte Augustus den Strauß so heftig, dass es Blütenblätter regnete.

»Sposami«, wiederholte er und warf ihr die Rosen zu, bevor der Zug den Bahnhof verließ.

Maria Elena stand am Ende des Bahnsteigs, der sich langsam leerte, und sah zu, wie ihr Glück davongetragen wurde. Dennoch war ihr Herz voller Hoffnung auf eine Liebe, die unsterblich sein würde.

1

1. September 2002

Ein Windstoß brachte die Blätter des Kalenders neben der Tür zum Flattern und erinnerte daran, wie schnell die Zeit verging.

»Schon wieder September«, murmelte die Großmutter und betrachtete die Weintrauben, die als Symbol für diesen Monat auf dem Kalender abgebildet waren. September, der Monat des Wandels. Die Zeit zwischen den bittersüßen Sommertagen, die jetzt nur noch Erinnerung waren, und dem Beginn der kälteren Jahreszeit, in der das Leben in der Natur nach einem letzten üppigen Farbenrausch immer langsamer wurde, bis es schließlich in Winterstarre verfiel.

Der Wind trug herbstliche Düfte in Clelias Küche, in der Altes und Neues, Vergangenes und Gegenwärtiges lebendig waren. Die Regale an den Wänden quollen über vor Pfannen, Töpfen und sonstigen Küchenutensilien, die sich im Laufe eines langen Lebens angesammelt hatten.

In diesem Raum hatte Dafne vor fast dreißig Jahren ihre ersten Worte gesprochen.

Jetzt saß sie am Küchentisch, die Hände auf der makellos sauberen Tischdecke verschränkt, und starrte zu dem antiken Schränkchen hinüber, auf das ein Lichtstrahl fiel. Genauer auf ein Schreiben mit einem Hermesstab als Logo, das dort lag. Darin war in dürren Worten von Krebs die Rede, ein paar wenige Zeilen, darunter die Unterschrift des Onkologen sowie eine Tabelle mit Zahlen und unverständlichen Zeichen.

Dass sie Angst hatte, würde niemand erfahren. Bisher zumindest hatte sie keinerlei Gefühlsregung gezeigt, nicht einmal als der Arzt ihr die Diagnose mitgeteilt hatte.

Seufzend sah sie nach draußen, wo das goldene Sonnenlicht langsam hinter den Hügeln verschwand, die Torralta begrenzten.

Hier war sie zu Hause.

»Nimm doch einen Keks, ich habe sie gestern extra für dich bei Lavandai gekauft, es ist deine Lieblingssorte.«

»Danke, Großmutter, ich hab keinen Appetit.«

»Ich weiß, mein Schatz, ich weiß. Du hast Angst, aber du wirst sehen, wir schaffen das. Alles wird gut.«

Die schmale, vom Alter gezeichnete Hand der Großmutter fuhr zärtlich über die Wange ihrer Enkelin. »Dafne, bitte«, beharrte sie.

Ein resignierter Seufzer, der aus den Tiefen des Ozeans zu kommen schien, dann berührten sich die ausgestreckten Hände der alten und der jungen Frau. Beide sahen einander in die Augen, sie brauchten keine Worte.

Dafne senkte den Blick, schlang fröstelnd die Arme um den Oberkörper. Der Wind schien ihr mit einem Mal durch Mark und Bein zu fahren, und wieder einmal überfiel sie das beklemmende Gefühl, die Erde würde sich unter ihr auftun. Sie hatte Angst, schreckliche Angst – fürchtete sich davor, der unheilvollen Realität ins Auge zu sehen. Schon die unmittelbaren Konsequenzen waren belastend genug – wie etwa die Tatsache, dass sie ihre Haare verlieren würde.

Verzweifelt krallten sich ihre Finger in die weiche Wolle ihres Pullovers, beschwörend richtete sich ihr Blick auf die traumhaft schöne Landschaft mit ihren Hügeln und Weinbergen, als könnte sie ihr wenn schon nicht Heilung, so wenigstens Hoffnung, Frieden und Vergessen schenken.

Deshalb war sie hergekommen, aber irgendwie versagte diesmal der Zauber.

»Warum kommst du nicht ganz zurück?«, hörte sie die Großmutter sagen. »Hier in Torralta kennst du jeden, du wärst nicht so allein.«

Eine Falle, dachte Dafne. Sie musste aufpassen, nicht schon wieder einen Fehler zu machen. Um die Antwort hinauszuzögern, nahm sie nun doch einen Keks aus der kleinen Dose, die Großvater Levante vor vielen Jahren aus einem Vogelhaus gebastelt hatte.

»Du weißt genau, dass das nicht geht. Ich habe meinen Job in Rom, mein Leben.«

»Dein Leben, sicher«, antwortete Clelia und strich mit den Fingern über die Stickerei der Serviette. »Ettore meinst du damit.«

Ein letzter Strahl der untergehenden Sonne traf Dafnes Wange, überzog sie mit seinem goldroten Schein. Die Liebe zu ihrem Chef war ein heikles Thema: schwer zu erklären, kompliziert und gedanklich Lichtjahre von dem stillen, einfachen Leben in Torralta entfernt.

»Großmutter, bitte.«

»Nein, jetzt hörst du mir mal zu. Dieser Mann ist für dich unerreichbar, und das weißt du genau. Vor allem in dieser Situation. Glaubst du etwa, dass er an deiner Seite bleibt, wenn er von deiner Krankheit erfährt?«

Als sie sah, dass Dafne erstarrte und ihr Tränen in die Augen schossen, bedauerte Clelia ihre Worte sofort und wandte den Blick ab. Vielleicht war es besser, zu schweigen und darauf zu hoffen, dass früher oder später die Einsicht über den Stolz siegen würde. Sie wusste genau, dass sie, was Ettore betraf, bei ihrer Enkelin auf taube Ohren stieß. Wenn es um diesen Mann ging, setzte bei ihr der gesunde Menschenverstand aus – da gab es keine Regeln, bloß noch Gefühle. Nicht einmal die Schwangerschaft seiner Ehefrau hatte daran etwas zu ändern vermocht.

»So einfach ist das nicht«, murmelte Dafne, brach den Keks in der Mitte durch, ließ die Krümel auf die cremefarbene Leinenserviette regnen und fuhr mit den Fingerspitzen über die rauen Zuckerkristalle. Rau und hart, wie alles an diesem Tag. »So einfach ist das eben nicht«, wiederholte sie, während sie mit dem Teelöffel versuchte, die Kekskrümel zu retten, die im Milchkännchen schwammen.

Und wer rettete sie?

2

Oktober 2005

Dafne war gerade aus dem Bus gestiegen, ihren Koffer in der einen, die Plastiktüte vom Supermarkt in der anderen Hand. Hinter ihr lagen hundertzwanzig Stunden nahezu ununterbrochener Arbeit. Sie schwankte ein wenig auf ihren hochhackigen Manolo-Blahnik-Schuhen, und ihr Körper steckte in einem hautengen Kleid, in dem sie kaum Luft bekam. Aber nur noch eine Ecke, dann hatte sie es geschafft.

Seit ein paar Jahren wohnte sie bereits in dieser Straße. Vor der Haustür stellte sie den Koffer ab und nestelte die Schlüssel aus der Tasche. Wie jeden Tag streckte die Romni, die an der Hauswand ihren Stammplatz hatte, die Hand in der Hoffnung auf die Barmherzigkeit vorübergehender Passanten aus, die ihr ein paar Münzen gaben.

»Hast du Hunger?«, erkundigte Dafne sich, warf dabei einen Blick in ihre Tüte, aus der eine Flasche Chianti herausschaute, außerdem eine Schachtel mit Briekäse, deren blaues Etikett zwei Engelsköpfe zierten. »Viel habe ich nicht, aber ein Stück Brot und etwas Käse gebe ich dir gerne ab.«

Die Frau wandte den Kopf ab wie jedes Mal, wenn sie ihr etwas anbot.

»Wie du willst.« Dafne schüttelte den Kopf, steckte den Schlüssel ins Türschloss und betrat den hellen Marmorfußboden des Hausflurs, als sie die Frau hinter sich rufen hörte.

»Was ist?«

»Gib mir deine Hand.«

Zweifelnd schaute Dafne sie an. »Du willst mir aus der Hand lesen? Ist das dein Ernst?«

»Seitdem ich hier vor diesem Haus sitze, bist du die einzige Bewohnerin, die mich überhaupt bemerkt. Gib mir deine Hand«, beharrte die Frau mit slawischem Akzent.

Gehorsam stellte Dafne Koffer und Einkaufstüte ab und streckte der Frau die Hand entgegen. Sie hatte schon Dutzende Geschichten über Roma mit angeblich übersinnlichen Kräften gelesen und glaubte keine einzige. In ihren Augen war das Schicksal eine Mischung aus bewusst getroffenen Entscheidungen und Unvorhersehbarem. Und selbst wenn eine Voraussage eintreten sollte, blieb das Zufall, sonst nichts.

»Du bist unglücklich.«

Dafne lächelte. »Auf die Idee hätte ich genauso gut allein kommen können.«

»Schweig«, wies die Romni sie an und studierte konzentriert die kaum sichtbaren Linien ihrer Handinnenfläche, die ineinander übergingen und sich wieder trennten, als würde es sich bei ihnen um eine Schatzkarte in Geheimschrift handeln. »Du lebst ein Leben, das nicht dein eigenes ist. Ein trauriges Leben. Du bist allein, sehr allein«, urteilte sie und sah Dafne mit einem wissenden Blick an. Dann hielt sie plötzlich inne. »Was ist das?«

Dafne folgte ihrem Blick, der sich auf eine Narbe neben ihrer Pulsader heftete. »Keine Ahnung, die war immer schon da.«

»Hm«, nickte die Frau, fuhr mit der Fingerspitze über die feine Linie und drückte dann fest zu.

Eine intensive Wärme stieg in Dafne auf, strahlte bis ins Herz aus. Als die Romni schließlich aufhörte, ihre Handinnenfläche zu pressen, tupfte auch sie sich den Schweiß von der Stirn.

»Du hast eine Gabe, ich konnte sie spüren«, sagte sie. »Sie war lange Zeit vergraben, jetzt kehrt sie zurück.«

»Von welcher Gabe sprichst du?«, fragte Dafne misstrauisch und wollte die Hand zurückziehen, doch die Romni hielt sie fest, presste sie erneut und zeichnete dann mit dem Zeigefinger die unregelmäßige Linie nach.

Plötzlich stieg in Dafne eine Erinnerung auf, die sie schon lange verloren geglaubt hatte.

Damals war sie neun gewesen und hatte in der Werkstatt ihres Großvaters herumgestöbert, der mit alten Sachen handelte, mit Antiquitäten ebenso wie mit allerlei Trödel. Dabei war ihr Blick an einer Kiste hängen geblieben, in der vergilbte Fotos, elegante Lederhandschuhe und eine Haarbürste mit silbernem Griff lagen.

Neugierig hatte sie die Hand danach ausgestreckt und mit einem Mal die Frau auf den Fotos vor sich gesehen. Wie sie mit gelockten kurzen Haaren im Stil der Zwanzigerjahre, eine Fuchsstola um die Schultern gelegt, vor einem matt erleuchteten Spiegel allein in ihrer Garderobe saß, nachdem der donnernde Applaus verebbt war. Sie machte einen irgendwie melancholischen Eindruck, trotz der roten Rosen auf dem kleinen Tisch. Plötzlich aber leuchtete ihr Gesicht auf, als hätte jemand an die Tür geklopft. Nicht irgendjemand, sondern er, der Geliebte. Sie hatte die Handschuhe übergestreift und war nach draußen gegangen, in die kalte Abendluft einer Stadt irgendwo in Europa, die Dafne nicht kannte. Bereit für eine Nacht voller Jazzmusik und Tanz, die ein tragisches Ende finden sollte. Dafne hatte sich vorgestellt, wie ein Polizist im karamellfarbenen Trenchcoat und mit einer vom Alkohol rauen Stimme auf das blutverschmierte Engelsgesicht mit den erloschenen Augen blickte. Sie war die Liebe seines Lebens gewesen, ohne dass sie es jemals erfahren hatte.

Mit einem Mal fiel Dafne wieder ein, wie oft sie den Erinnerungen nachgespürt hatte, die sich in der Werkstatt des Großvaters verbargen. Sie liebte es, die Gegenstände in die Hand zu nehmen, an ihnen zu riechen und die Schicksale dahinter zu entdecken.

Schätze für die Ewigkeit, Requisiten aus fernen Zeiten, Überbleibsel aus fremden Leben.

Sie hatte die Leidenschaft des Großvaters für solche Dinge geteilt, und der alte Levante hatte sie bereits als ideale Nachfolgerin für sein Geschäft gesehen. Clelia hingegen hatte sich sehr über die Fragen ihrer Enkelin aufgeregt. Was sollte dieses Interesse an der Vergangenheit, an den Geschichten anderer Menschen? Warum beschäftigte sich ein Mädchen von neun Jahren mit so etwas?

»Um meine Geschichte zu finden«, hatte Dafne ihr damals altklug erklärt.

Dieser Satz hatte das Blut in Clelias Adern gefrieren lassen. Lange überlegte sie, der Enkelin den Besuch der großväterlichen Werkstatt einfach zu verbieten. Doch obwohl Dafne weiterhin dort herumkramte, fand sie nie eine Antwort auf ihre Fragen. Bis heute nicht.

»Okay, das genügt.« Dafne zog die Hand weg und gab der Romni zwanzig Euro, den einzigen Schein, den sie bei sich hatte. Zu ihrem Erstaunen lehnte die Frau ab.

»Geschenkt ist geschenkt«, sagte sie, hob abwehrend die Hände.

»Wie du meinst. Einen schönen Abend noch«, erwiderte Dafne, nahm Koffer und Tüte, ging zum Aufzug und fuhr zu ihrer Wohnung hinauf.

Dort zog sie sich um, aß etwas und setzte sich anschließend im Wohnzimmer auf den Boden, den Rücken gegen das Sofa gelehnt, ein Glas Wein neben und die ganze Nacht vor sich.

Da die Luft des römischen Oktoberabends noch recht lau war, stand das Fenster offen, um den vielleicht letzten sanften Herbstgruß hereinzulassen. Bald würde der Winter Einzug halten mit schneidend kaltem Wind und ätzendem Rauch aus den Schornsteinen, der die Luft verpestete.

Von draußen drangen die Stimmen der Studenten an ihr Ohr, die laut auf der Piazza unten plauderten. Grinsend dachte sie daran, dass der eine oder andere Nachbar sich wahrscheinlich wieder beschweren würde. Sie selbst hatte nichts gegen diesen unbeschwerten Ausdruck von Lebenslust – noch vor wenigen Jahren wäre sie selbst eine von ihnen gewesen. Dafne hatte das Studentenleben geliebt, dieses Gefühl, tun und lassen zu können, was man wollte. Diese scheinbar grenzenlose Freiheit. Ohne Verpflichtungen zu haben, ohne Kompromisse eingehen zu müssen. Die ganze Welt schien ihr offenzustehen.

Es waren verrückte Jahre gewesen.

Sie hatte schließlich ihr Journalismus-Studium abgebrochen und sich der Innenarchitektur zugewandt, ihrer wahren Leidenschaft. Es war eine gute Entscheidung gewesen, denn mit einem Mal war es ihr vorgekommen, als würde sie nach einer langen Zeit der Orientierungslosigkeit endlich wieder durchblicken. Sie bekam einen Job in einem angesehenen Architekturbüro, trug eng anliegende Prada-Kleider und hatte plötzlich eine Affäre mit einem verheirateten Mann, der sie mit auf Kongresse nahm, um seiner Ehe zu entfliehen.

Jene Dafne, die Emily Dickinson gelesen und literweise Orangenblüten- und Vanilletee getrunken hatte, war Vergangenheit. Die Flügel hatte sie abgestreift, die Narben, die das Leben hinterließ, verdeckte sie.

Das Klirren von Glas riss sie aus ihren Gedanken. Bestimmt hatte einer der Studenten eine Bierflasche fallen lassen. Versonnen fuhr sie mit dem Zeigefinger über die sinnliche Form der Chianti-Flasche. Wein, kein Bier mehr. Sie war eindeutig erwachsen geworden – was allerdings zugleich bedeutete, dass die Zeit unerbittlich und stetig dahinfloss, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

Auch dieses Jahr neigte sich schon wieder dem Ende zu. Die majestätischen Platanen, die die Piazza umrahmten, kündigten mit ihrem Rauschen die stille Jahreszeit an, und erst im Frühjahr würde alles wieder zu neuem Leben erwachen. Und welche Zukunft gab es für sie? Durfte sie ebenfalls auf einen tröstlichen Neubeginn hoffen?

Seufzend drehte sie sich zur Seite, ihre Hand tastete nach dem Smartphone, um erneut die letzte Nachricht abzuhören, die Ettore ihr hinterlassen hatte.

Meine Liebste, ich kann nicht. Ich kann Giada nicht verlassen. Nicht jetzt, wo wir ein Kind erwarten und alles gut aussieht nach der Tragödie vor zwei Jahren. Du weißt, wie sehr sie damals gelitten hat. Es wäre ungerecht, sie so zu verletzen, gerade jetzt, wo sie so glücklich ist. Verzeih mir, verzeih mir, meine Liebste.

Noch ein letzter Schluck, und die Flasche war leer. Ihr Mund verzog sich zu einem gequälten Lächeln. In diesen vier Wänden hatten sich Szenen eines erbittert geführten Krieges abgespielt, der nicht selten die Spielregeln eines fairen Miteinanders verletzt hatte, das wusste sie nur zu gut.

Sie zog die Knie an die Brust, bedeckte sie mit dem nachtblauen Seidenmorgenmantel, den ihr Ettore einige Tage nach ihrem letzten Ultimatum geschenkt hatte. Bis zu diesem Moment hatte sie immer wieder nachgegeben und geduldig seine Entschuldigungen akzeptiert.

Aber was zu viel war, war zu viel.

Mit seiner letzten Nachricht war ihre Grenze erreicht. In ihrem Stolz verletzt, hatte sie ihre ganze Verachtung und, ja, auch ihre Empörung, ihre Wut herausgeschrien, hatte sich weder zurückhalten können noch wollen.

Er würde seine Frau nie verlassen, ein Kind war etwas Endgültiges – etwas, das immer zwischen ihr und ihrem Glück stehen würde. Geburtstage, Weihnachten und andere Feiertage, sonntägliche Mittagessen bei den Großeltern, die Sommerferien am Meer, da blieb kein Platz für eine heimliche Geliebte. Viele Wochen würden sie sich nicht sehen, vielleicht nicht mal miteinander telefonieren können. Und die Wochenenden gehörten sowieso der Familie.

Wahrscheinlich würde sie warten müssen, bis der kleine Prinz oder die kleine Prinzessin größer und aus den Kinderschuhen rausgewachsen war – erst dann würden Ettore und sie mit etwas Glück ihre Liebe leben können. Dafne spürte, dass zumindest sie nach so langer Zeit keine Kraft mehr für einen neuen Start haben würde. Schließlich hatte sie es schon jetzt satt, ständig auf ihn zu warten und sich in Dauerbereitschaft zu halten. Sie brauchte ihn hier und jetzt, doch dazu war er nicht bereit.

Sie kippte den letzten Schluck Chianti hinunter und stellte das leere Glas auf das helle Parkett neben ihr Kündigungsschreiben. Für sie kam es nicht infrage, unter diesen Umständen weiterhin dort zu arbeiten. Ohnehin war Dafne lediglich wegen Ettore geblieben, denn ihre Vorstellungen kollidierten immer öfter mit der modernen Ausrichtung des Architekturbüros. Während sie bei Konzepten eher den Landhausstil und den Charme vergangener Epochen bevorzugte, hielten sich ihre Kollegen lieber an abgefahrene Designs.

»Dort ist sowieso kein Platz mehr für mich«, murmelte sie und beschloss, ins Bett zu gehen.

Der Radiowecker riss sie gegen halb fünf aus einem kurzen Schlaf. Überrascht stellte Dafne fest, dass sie keine der am Vortag gefällten Entscheidungen bereute. Stolz ging sie ins Bad, um in die gusseiserne Wanne aus den Dreißigerjahren zu steigen. Und zwar mit Schuhen. Ihre hochhackigen, glänzend schwarzen Pumps – Ettores Lieblingsschuhe – mussten dran glauben, wurden als Symbol für ihren Neuanfang geopfert.

Nachdenklich musterte Dafne die Schuhspitzen, die aus dem Schaum hervorblitzten, und erinnerte sich daran, wie lange sie gemeinsam unterwegs gewesen waren, um einem Mann hinterherzulaufen, der nie wirklich ihr gehört hatte. Sie waren über rote Teppiche und Marmorböden von Grandhotels stolziert, aber am Ende des Tages, zu Hause, hatte sie sie immer als Erstes erleichtert abgestreift. Diese Schuhe, elegant und schmerzhaft zugleich, waren ein letzter Zwang, dessen sie sich entledigte.

»Endlich frei«, seufzte sie und starrte an die Decke.

Nach ihrem Bad räumte sie den Kühlschrank leer, stellte der Nachbarin ein paar Blumentöpfe vor die Tür und packte ihre Sachen. Alles andere würde sie später erledigen, wenn sie sicher war, dass sie bei ihrer Entscheidung, Rom zu verlassen, blieb.

Dann belud sie den alten roten Alfa Romeo ihres Großvaters, einen Giulietta Spider, und legte sich noch ein paar Stunden schlafen, bevor sie gegen Mitternacht in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen Richtung Norden losbrauste. Sie brauchte eine neue Perspektive, ihr Leben sollte endlich einen neuen Rhythmus bekommen. Ihren eigenen.

3

Vier Steinstufen, flankiert von Geranien und Hortensien, dahinter der Rosenbogen. Zu Hause. Innerlich aufgewühlt presste sie eine Hand aufs Herz und musste lächeln, als sie Babettes fröhliches Meckern hörte, die wie immer auf der Suche nach frischem Grün im Garten umherstreunte. Selbst die Ziege schien sich über ihre Heimkehr zu freuen.

Das Haus, in dem sie aufgewachsen war, lag still im Morgennebel. Tausende von Wassertröpfchen, Reste des nächtlichen Taus, hingen an den Rebstöcken ringsum. Die Landschaft schlief an diesem Sonntagmorgen noch, genau wie die Menschen, die diese Felder bestellten. In den Ställen drängte sich das Vieh aneinander und erwartete ungeduldig einen neuen Tag draußen auf den Weiden. Selbst die Kirchenglocken schwiegen, als wollten sie die morgendliche Stille nicht stören.

Dafne gab sich einen Ruck und ging auf das Haus zu, dessen Fenster jeden Gast freundlich einzuladen schienen, und läutete. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr beklommen. Ihre Füße schienen auf der Türschwelle festzukleben.

Von drinnen waren Schritte zu hören, und nach kurzer Zeit tauchte das verschlafene Gesicht ihrer weißhaarigen Großmutter auf. Clelia war außer Atem und sah aus, als hätte man sie mitten aus einem Traum gerissen. Sie setzte die Brille auf und stieß einen Überraschungsschrei aus.

»Mein Schatz, was machst du denn hier? Um diese Uhrzeit?«, fragte sie schließlich und deutete auf die Uhr an Dafnes Handgelenk, die deren Großvater gehört hatte.

Doch warum sie ohne jede Vorwarnung hier auftauchte, war eigentlich nebensächlich. Sie konnte die Freude über ihr Kommen in den grünblauen Augen ihrer Großmutter sehen, die jetzt wie zwei Edelsteine funkelten.

Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung sank Dafne in ihre ausgebreiteten Arme.

»Ich konnte nicht mehr bleiben«, flüsterte sie, das Gesicht gegen den Flanellmorgenmantel gepresst.

Clelia schluckte sämtliche Vorwürfe hinunter und küsste ihrer Enkelin bloß stumm die Tränen von den Wangen. Sie wartete, bis Dafne etwas sagen konnte.

»Ich komme nach Torralta zurück, für immer«, eröffnete Dafne ihr, als sie sich etwas beruhigt hatte. »Vorausgesetzt natürlich, du willst mich hier haben.«

Clelia zog verwundert die Augenbrauen hoch.

»Das ist dein Zuhause, du brauchst keine Erlaubnis, um zurückzukommen«, erwiderte sie leise und blickte durch die nach wie vor geöffnete Tür in den milchig weißen Himmel, zog den Morgenmantel fester um sich und streckte die vom Schlaf steifen Glieder. »Komm rein, ich mach uns Frühstück. Komm schon«, drängte sie, und zugleich erhellte ein strahlendes Lächeln ihr Gesicht.

Drei Jahre lang hatte Clelia auf diesen Augenblick gewartet und nie verstanden, dass Dafne weder Rat noch Hilfe anzunehmen bereit war, sondern ihr Leben in Rom alleine auf die Reihe kriegen wollte. So lange schon hatte sie ihre Enkelin nicht mehr gesehen.

»Du hast Glück, gestern war Margherita da und hat mir Eier vorbeigebracht.« Sie wandte sich in Richtung Küche und winkte Dafne zu, ihr zu folgen. »Als ob ich’s geahnt hätte, habe ich Joghurtkuchen gebacken, so wie du ihn magst. Sogar mit diesen süßen, saftigen Rosinen … Wie heißen sie gleich?«

»Zibibbo«, antwortete Dafne, die in das vertraute, heimelige Chaos des Hauses einzutauchen begann.

»Genau, Zibibbo«, nickte Clelia. »Ich setze Kaffee auf und mach uns ein bisschen Milch warm. Du siehst gar nicht gut aus, bestimmt isst du nicht genug. Du bist ja nur noch Haut und Knochen!«

Sie hielt inne, um ihrer Enkelin prüfend ins Gesicht zu sehen. Dafne lächelte. Typisch Großmutter, wie sie mit kleinen, schnellen Schritten, die Brille an der Perlenschnur um den Hals, durch die Küche lief und tausend Dinge auf einmal tat. Seit dem Tod ihres Mannes war Clelia auf sich allein gestellt, kümmerte sich um das Haus und versorgte zusätzlich zwanzig Ziegen. Dennoch war sie bereit, für ihre Enkelin alles stehen und liegen zu lassen.

»Ich kann gar nicht glauben, dass ich wirklich hier bin«, murmelte Dafne und blieb im Wohnzimmer stehen, während ihre Großmutter sich in der Küche zu schaffen machte. Nach den drei Jahren wieder über den altvertrauten Terrakottaboden zu gehen, war wie eine Reise in die Vergangenheit. Nichts hatte sich verändert, alles war so, wie sie es in Erinnerung hatte: der Duft nach Lavendelwachs, mit dem Clelia die Möbel polierte, die Häkelarbeit auf dem Sessel neben dem Fenster, die Wolldecke zusammengefaltet auf der Armlehne, die Volieren, die vielen Bücher und frischen Blumen im ganzen Haus – ihrem Zuhause.

Und dennoch war irgendetwas anders geworden, doch was? Lag es an den herbstlich braun gefärbten Blättern, die der Wind gegen das Fenster wehte? An der kühlen Luft, die sie frösteln ließ?

»Der Kaffee ist fertig«, rief ihr die Großmutter zu, und ihre Stimme hallte von den dicken Wänden wider.

Wie sie da in der Küche stand, den Morgenmantel fest um sich geschlungen, wie sie Kaffee eingoss und dicke Scheiben Kuchen abschnitt, kam sie ihr einmal mehr wie die gute Seele des Hauses vor. Ohne sie wäre La Limonaia, wie das Anwesen der Familie hieß, nichts.

»Worauf wartest du? Komm endlich, der Kaffee wird kalt«, fügte sie hinzu.

Folgsam setzte sich Dafne auf ihren angestammten Platz, eine dampfende Tasse Milchkaffee und ein großes Stück Kuchen vor sich.

»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte sie und deutete auf den Teller.

Clelia schüttelte energisch den Kopf. »Red nicht, iss!«

Dafne gehorchte, als wäre sie wieder das kleine Mädchen von früher, ließ zu, dass ihre Großmutter das tat, was Großmütter offensichtlich tun müssen: sich um das Wohl der anderen kümmern. Ohne Murren aß sie ihren Teller leer, saß später warm eingemummelt auf dem Sofa, schaute mit Clelia alte Schwarz-Weiß-Filme und löffelte dabei genüsslich Eis.

Die Tage vergingen und legten sich wie eine warme Decke um ihre Schultern und um ihre Seele, bis Dafne eines Abends nach dem Abspann von Casablanca von der Romni und den Erinnerungen erzählte, die diese Frau bei ihr wieder hatte aufleben lassen.

»Es war alles so realistisch, du hättest dabei sein sollen. Mir kam es vor, als wäre ich wieder neun Jahre alt, so klar und deutlich standen mir die Bilder vor Augen«, sprudelte es aus ihr heraus.

Und plötzlich bemerkte sie, dass der Löffel in Clelias Fingern zitterte und ihre Augen ganz starr wurden. Dafne griff nach ihren Händen.

»Alles in Ordnung?«

Ihre Großmutter antwortete nicht, zuckte lediglich seltsam abwesend mit den Schultern. Erst nach einigen Minuten überwand sie ihre Starre, nahm die Serviette und tupfte sich damit die Lippen ab, als ob nichts passiert wäre.

»Sicher, mein Schatz, alles in Ordnung.«

Dafne schob die Decke beiseite und musterte sie eindringlich. »Wirklich?«, hakte sie nach. »Du bist leichenblass, und niedriger Blutdruck kann das bei unserem Zuckerkonsum kaum sein.«

»Es geht mir gut, glaub mir«, beschwichtigte Clelia sie, strich ihr sanft über die Wange und sah ihr fest in die Augen. »Versprich mir, dass du dem Geschwätz solcher Leute nicht glaubst. Du weißt nie, ob sie es ernst meinen oder es bloß auf dein Geld abgesehen haben.«

»Da kann ich dich beruhigen«, erwiderte Dafne und dachte an den Zwanzigeuroschein. »Diese Frau wollte keinen Cent von mir. Nicht mal was zu essen. Rein gar nichts.«

»Aha.« Mehr sagte Clelia nicht, bevor sie wieder in tiefes Schweigen versank.

Dafne hatte das sonderbare Gefühl, dass ihre Großmutter an einen fernen Ort gereist wäre, der ihr ganz allein gehörte, oder als hätte sie sich in Erinnerungen an ein Leben verloren, das Dafne nicht kannte. So geistesabwesend hatte sie Clelia nie zuvor erlebt.

»Was ist denn los?«, bohrte Dafne nach.

Mit einem Mal straffte sich die Großmutter und sah sie an: »Warum schauen wir nicht noch einen Film? Die Nacht ist schließlich noch jung, und ich habe Pistazieneis und Eis mit Waldfrüchten in der Gefriertruhe.«

»Es ist zwei Uhr morgens.«

»Na und? Du willst mich hoffentlich nach Casablanca nicht einfach ins Bett schicken!«

Dafne warf ihr einen prüfenden Blick zu, denn Clelias gerötete Wangen passten so gar nicht zu ihren blutleeren Lippen, und das merkwürdige Leuchten in ihren Augen schien einer verborgenen Erinnerung zu gelten. Doch Dafne hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, was die Großmutter vor ihr verbarg.

Stattdessen stampfte diese – auch das war völlig ungewohnt – mit dem Fuß auf den Boden und deutete ungeduldig auf den Fernseher. Seufzend gab Dafne nach und startete den nächsten Film.

4

Bei ihrer Ankunft in La Limonaia hatte Dafne ihr Smartphone ausgeschaltet und in die Schublade verbannt, um eine Auseinandersetzung mit Ettore zu vermeiden, aber die sich häufenden Eiscremepackungen im Mülleimer waren sichtbare Zeichen dafür, dass Ettore nicht ihr einziges Problem war.

Er fehlte ihr zweifellos, vor allem nachts. Sie vermisste seine Liebesschwüre, die er ihr die vergangenen Jahre zu später Stunde auf das Handy geschickt hatte. Doch das allein war nicht der Grund, dass sie Nacht für Nacht an die Decke starrte und sich selbst tagsüber, wenn sie die Ziegen molk und Käse machte, antriebslos und leer fühlte. Sie hatte Rom verlassen, um neu anzufangen, bloß war sie seit ihrer Ankunft noch keinen Schritt weitergekommen.

Das Leben, ihr Leben, war nach wie vor ein nebulöses Nichts.

Ein einziges Fragezeichen, dachte sie, als sie vor einem Teller Kohlsuppe saß, den Blick grüblerisch auf die Schale mit den letzten Feigen der Saison gerichtet. Ihre Großmutter hatte sich, seit sie hier war, mit unendlicher Geduld bemüht, sie von den trüben Gedanken abzulenken, die sich um ihre unglückselige Liaison mit Ettore drehten. Doch wenn Dafne sie fragte, warum sie so seltsam auf die Geschichte mit der Romni reagiert habe, wich sie aus. Und auch zu Dafnes vermeintlicher Kindheitserinnerung schwieg sie beharrlich. Dabei war Dafne sicher, dass die Großmutter ihr etwas verheimlichte, das wichtig für ihre Selbstfindung wäre. Nie hätte sie gedacht, dass sie ihre sonst so gelassene Großmutter mit diesen Fragen so aufwühlen konnte.

Clelia ihrerseits drängte Dafne ununterbrochen dazu, über die gescheiterte Beziehung zu Ettore zu reden.

»Wenn es auch nichts an deinem Schmerz ändert, ist es doch wichtig, dass du dich jemandem anvertraust«, hatte die Großmutter eines Abends gesagt, nachdem Dafne zuvor wieder einmal ihren Fragen ausgewichen war. Daraufhin war Dafne aufgestanden, hatte die alte Jacke ihres Großvaters übergestreift und war zur Tür gegangen.

So ähnlich verlief es auch jetzt. Die Großmutter drängte, die Enkelin wich aus.

»Ich muss raus, ich brauch frische Luft«, erklärte sie entschieden.

»Dafne, warte«, bat die Großmutter.

»Alles in Ordnung, ich muss einfach nur raus, sonst ist nichts«, beteuerte die Enkelin, doch das stimmte nicht.

Sie log, und sie wusste es, denn im Grunde war sie wütend auf die ganze Welt, und besonders auf sich selbst. Heftig warf sie die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Treppenstufen, die Arme um die knochigen Knie geschlungen. Der Abend roch nach Regen und ertrunkenen Träumen. Der Wind ließ die Zweige tanzen, trieb tiefliegende Wolken über den Himmel und wirbelte ihre Gedanken durcheinander.

Der Garten hingegen lag still da. Die Sommerblumen waren weitgehend verblüht, die letzten Blüten des Rosenbogens weinten Tauwassertränen. Die Zitronenbäume waren bereits mit Sackleinen umwickelt, um sie vor dem Frost zu schützen, der schon bald von den Hügeln herunterkriechen würde. Fröstelnd schlang sie die Arme um die Schultern und stellte sich Ettores Frau vor, die mit einem Lächeln auf den Lippen in ihrem gemütlichen Bett lag und friedlich schlief – eine Frau, die sich ihres wunderbaren Lebens sicher war. Plötzlich verspürte sie Neid. Ein giftiges und bösartiges Gefühl, das ihr wie ein Dolch in die Brust stach.

Es war alles ihre Schuld, dachte sie, stützte das Kinn auf die Knie und starrte dabei auf den Kleinen Bären, der zwischen den Wolken hervorblitzte.

Wehmütig vergrub sie das Gesicht im warmen Stoff der Jacke, die noch immer nach dem Tabak ihres Großvaters Levante roch. Er allein hatte ihre Fantasie zum Leuchten bringen können, indem er sie in seiner Werkstatt herumkramen, in alten Zeitschriften blättern und in all dem angesammelten Krimskrams stöbern ließ. Manchmal kam es Dafne vor, als hätte er magische Kräfte besessen.

Während er sie auf seinen Knien schaukelte, pflegte er Geschichten über Piratenschätze zu erfinden, nur weil er bemerkt hatte, wie sie fasziniert auf eine Streichholzschachtel aus dem Jahr 1870 gestarrt hatte. Oder er träumte mit ihr von einer Zukunft als Astronautin, wenn sie etwa am helllichten Tag durch ein altes, kaputtes Teleskop in den Himmel geschaut hatte.

»Das ist ein ganzes Leben her«, murmelte sie verzagt und hatte das Gefühl, ihn und seine Träume verraten zu haben.

In Ettores Studio in Rom waren alle auf die Moderne ausgerichtet gewesen, auf revolutionäre Perspektiven – für Althergebrachtes, antike Möbel oder die Geschichten, die dahintersteckten, interessierte sich dort niemand.

»Wir zwei haben uns verstanden, was, Großvater?«, flüsterte sie und rieb sich mit dem Stoff seiner Joppe über die Wange.

Ein Miauen von der Straße her ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken und erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie die Katze sah, dachte sie sofort an Macchia, die gescheckte Katze mit dem verstümmelten Schwanz und den leuchtenden Augen, die als Kind ihr Ein und Alles gewesen war.

»Miez, komm her«, lockte sie, aber die Katze, die ein Halsband mit Glöckchen trug, spazierte weiter die Straße hinunter in Richtung der Ortsmitte.

Als Dafne zum Tor ging, sah sie, wie die Katze sich nach ihr umdrehte, als ob sie auf Dafne wartete. Sie folgte ihr lächelnd. Sie hatte ohnehin keine Lust, zurück ins Haus zu gehen und Clelia womöglich noch einmal Rede und Antwort stehen zu müssen.

Also ließ sie La Limonaia hinter sich und folgte der Katze, sog den würzig-süßen Duft der Weinberge ein, die das Dorf umgaben, das aus einer mittelalterlichen Festung entstanden war.

Bald würden hier Touristen von nah und fern einfallen, um den neuen Wein in den Kellern der Winzer zu kosten. An den Sonntagen wären die Straßen von Maroniverkäufern gesäumt, die geröstete Esskastanien anboten. Hier bin ich zu Hause, dachte sie, während der Himmel über ihr mit dem Horizont zu verschwimmen begann – ihr kam es so vor, als wäre der Landschaft eine schwarze Glocke übergestülpt worden, aus der bereits die ersten schweren Tropfen fielen.

Dann brach das Unwetter los.

Die Hände in den Jackentaschen vergraben und den Kopf zwischen die Schultern gezogen, ging sie schneller, hastete durch die menschenleeren Gassen, dicht an den Hauswänden entlang, um dem immer stärker werdenden Regen wenigstens ein bisschen auszuweichen. Es hatte etwas Surreales, mitten in der Nacht durch das wie ausgestorben daliegende Dorf zu laufen, noch dazu bei einem Unwetter, das nicht mehr nur Wassermassen über dem Ort ausschüttete, sondern auch Hagelkörner, die prasselnd auf die Dächer und die kopfsteingepflasterten Straßen fielen und alles mit einer dünnen Eisschicht überzogen.

Hin und wieder suchte sie unter Dachvorsprüngen oder Balkonen Schutz. Dabei beobachtete sie Benedetto, den liebenswerten »Dorftrottel«, der wie jeden Tag vor dem Schlafengehen eine Zigarette auf der Terrasse rauchte. Wie immer trug er seinen Schlafanzug – egal ob es drei oder dreißig Grad waren –, während seine neunzigjährige Mutter im Fernsehen eine südamerikanische Soap in ohrenbetäubender Lautstärke verfolgte.

»Es hat sich nichts verändert«, murmelte Dafne und strich die regennassen Haare zurück, die ihr im Gesicht klebten.

Als der Regen etwas nachließ, tauchte die Katze wieder auf, sah sie aufmunternd an und setzte sich wieder in Bewegung, sobald sie sicher war, dass Dafne ihr folgte. Vor Levantes alter Werkstatt blieb sie stehen.

»Hierher wolltest du mich also führen?«, flüsterte Dafne und wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte.

Ihr kam aufs Neue die Kiste mit den Fotos, den Lederhandschuhen und der Haarbürste mit dem silbernen Griff in den Sinn, dazu ein seltsamer Traum, der seit ihrer Rückkehr nach La Limonaia Nacht für Nacht wiederkehrte: von einem Mädchen mit blonden Zöpfen und einer roten Baskenmütze, das sie lächelnd ansah. Und jetzt diese Katze.

Lächelnd schüttelte sie den Kopf und betrachtete das Werkstattschild mit dem Namen ihres Großvaters an der durchnässten Mauer, das fast völlig von Efeu überwuchert und kaum noch lesbar war. Der Briefkasten hingegen, den der alte Levante aus einer Milchkanne gefertigt hatte, war nach wie vor problemlos zu erkennen. Zeichen einer Vergangenheit, der die Zeit nichts anhaben konnte.

Clelia hatte es nach dem Tod ihres Mannes, der inzwischen eine ganze Reihe von Jahren zurücklag, bisher nicht geschafft, die Werkstatt samt Inventar zu verkaufen – in diesen Mauern steckte schließlich ein ganzes Leben. Auch Dafne hing an diesem erinnerungsträchtigen Ort und war froh, dass er noch da war.

Viele Sonntage hatte sie hier gemeinsam mit ihrem Großvater verbracht. Unvergessene Momente, die nur ihnen beiden gehörten und die sich für immer in ihr Herz eingebrannt hatten. In der Adventszeit etwa beluden sie oft den kleinen Laster mit ihren Raritäten und verkauften sie auf den Weihnachtsmärkten der Region. Dabei gab es für sie so viel Bratäpfel und Zuckerwatte, dass sie abends oft mit Bauchschmerzen nach Hause kam. Doch um nichts auf der Welt hätte sie diese Tage missen wollen. Dank Levante und seiner Geschichten hatte sie die Magie, den Zauber des Lichts und die geheimnisvolle Energie, die durch seine Werkstatt schwebte, zu spüren gelernt, und längst vergessene Dinge waren dort zu neuem Leben erwacht.

Jetzt stand sie vor der Tür zu ihrer Kindheit, während über ihr der Himmel wütete.

Sie streckte die Hand aus, um über das raue Holz des Schildes zu streichen, als ein Blitz den Himmel erhellte. Dafne verstand es als Zeichen. Das hier war ihr Leben, das war der Weg, dem sie folgen wollte. Sie war dazu geboren, sich um alte Gegenstände und Dinge zu kümmern, sie liebevoll zu gestalten, wie vor Jahren etwa das alte geblümte Kissen vom Flohmarkt, das sie für sich in eine flippige Umhängetasche verwandelt hatte. Vielleicht war das die Gabe, von der die Romni gesprochen hatte: die Geschichten von in Vergessenheit geratenen Dingen zu erspüren und diese mit neuem Leben zu erfüllen.

War das nicht der Fingerzeig, auf den sie gewartet hatte? Es war immer ihr Traum gewesen, eine Art Werkstatt für vergessene, ausrangierte Dinge zu betreiben, sie wiederzubeleben und daraus Neues zu erschaffen. Unwillkürlich musste sie an die vielen Spielsachen verwöhnter Kinder denken, die in Kellern verstaubten und schließlich achtlos weggeworfen wurden. Alles, was man nicht mehr brauchte, wurde heutzutage entsorgt. Weg damit! Ettore und ihre Beziehung waren das beste Beispiel dafür. Doch diese Geschichte gehörte nun unwiderruflich der Vergangenheit an. Sie wollte ihrem Leben eine neue Richtung geben und ihre Kraft darauf verwenden, in Vergessenheit geratenen Dingen eine zweite Chance zu geben.

Und damit sich selbst.

Und trotz aufkeimender Bedenken, der Herausforderung vielleicht nicht gewachsen zu sein, vertraute sie einer inneren Stimme, die ihr sagte, dass ihr in dieser Werkstatt alles gelingen, dass sie hier ihre Bestimmung finden werde. Ein Leben, das endlich zu ihr passte.

»Du wirst mir helfen, nicht wahr, Großvater?«, sagte sie und rieb ihr Kinn an dem abgewetzten Jackenärmel. Dann öffnete sie die Tür, die – wie in Torralta üblich – nicht zugesperrt war. Das Refugium des Großvaters urplötzlich vor Augen zu haben, traf sie wie ein Fausthieb. Erinnerungen stiegen in ihr auf, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Um sich nicht darin zu verlieren, schaltete sie das Licht ein und betrachtete das vertraute Chaos, das inzwischen mit einer dicken Staubschicht überzogen war.

Es gab hier kaum ein Durchkommen, überall lagen und standen Dinge, die Großvater irgendwo entdeckt hatte, teilweise in Regalen aufgereiht, teilweise in Kisten verstaut, die entweder noch nicht ausgeräumt oder nicht mehr an einen Käufer ausgeliefert worden waren. Auf Haftzetteln war ihr Inhalt vermerkt. In einer Ecke des Raumes entdeckte sie einen Schmiedeofen, die letzte Anschaffung vor Levantes Tod. Auf dem massiven Arbeitstisch warteten seine Pfeife und sein Brillenetui auf einen Besitzer, der nie mehr zurückkehren würde.

Als sie sich weiter vorarbeitete, fiel ihr Blick mit einem Mal auf eine Schale Milch am Boden. Dafne erschrak. War hier etwa ein ungebetener Gast? Instinktiv ballte sie die Fäuste in der Jackentasche und hielt atemlos nach etwas Ausschau, womit sie sich verteidigen konnte. Eine Holzfeile fiel ihr ins Auge. Besser als nichts, dachte sie und griff danach.

»Ist da jemand?«, rief sie, gab sich Mühe, nicht zu zittern, und umklammerte mit schweißnassen Händen die Feile. »Wer immer du bist, zeig dich. Ich will keinen Ärger, aber du hast hier nichts verloren.«

Ihre Stimme klang schrill, all ihre Sinne waren geschärft.

Als zwischen den Kisten polternde Geräusche zu hören waren, lugte sie vorsichtig um die Ecke und entdeckte die Katze, die offenbar mit ihr hereingeschlüpft war. Voller Erleichterung ließ sie die Feile fallen und brach in ein leicht hysterisches Gelächter aus.

»Du hast das ganze Chaos hier angerichtet?«, fragte sie gespielt vorwurfsvoll und beugte sich nach unten, um die Katze heranzulocken.

Den Schwanz steil nach oben gerichtet, stolzierte sie zu ihr. Und sie sah fast genauso aus wie ihr Liebling aus Kinderzeiten: eine Streunerin mit bunt geflecktem Fell, das Gesicht akkurat zweigeteilt, auf der einen Seite schwarz, auf der anderen rot, und mit jadegrünen Augen, die sie fixierten.

»Du siehst wirklich genauso aus wie meine Katze von früher, weißt du?«, murmelte sie und streichelte zärtlich das wohlig schnurrende Tier. »Sie hieß Macchia – und du, wer bist du?«

»Sie heißt Guache.«

Dafne schrie auf, schnellte hoch und starrte entsetzt auf den Mann, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war: einen hünenhaften Kerl mit Dreitagebart in Jeans und Pulli. Er mochte etwa in ihrem Alter sein, doch im Blick seiner stahlblauen Augen lag irgendetwas, das ihn älter erscheinen ließ. Gefährlich sah er zum Glück nicht aus.

»Wer bist du?«, stammelte Dafne, während Guache sich an ihren Hosenbeinen rieb und um Aufmerksamkeit bettelte.

Der Eindringling hob die Hände, sodass die Decke, in die er sich gewickelt hatte, zu Boden rutschte. »Ich heiße Milan Kerla«, erklärte er laut und deutlich.

Dafne musterte ihn genauer. Sie schien ihn aus dem Schlaf gerissen zu haben, denn er wirkte ebenso überrascht wie sie. Außerdem sah er unsicher aus und ein wenig ängstlich. Von ihm hatte sie mit Sicherheit nichts zu befürchten. Wie er so vor ihr stand, hatte Dafne das Gefühl, dass er sogar ein bisschen traurig wirkte, und verspürte sogleich einen Anflug von Mitleid.

Bloß was zum Teufel suchte er mit seiner Katze in der Werkstatt ihres Großvaters?

Eine ganze Weile standen sie sich gegenüber, taxierten einander stumm im schummrigen Schein der alten Schiffslaterne, die einmal einem Cousin gehört hatte, der Fischer gewesen war. Jeder wartete offenbar darauf, dass sich der andere erklärte. Und nachdem sich Dafnes anfängliche Angst gelegt hatte, wagte sie sich vor und stemmte die Hände in die Hüften.

»Bist du hier eingebrochen? Das ist Privatbesitz, und du legst dich hier einfach schlafen. Mal ganz zu schweigen davon, dass die Räume nicht gerade gemütlich sind mit dem Gerümpel, das überall herumsteht.«

Milan zuckte mit den Schultern und verschwand dabei fast in seinem zu großen Pullover. Er starrte verlegen auf seine verschmutzten Schuhe, zwischen denen Guache sich zufrieden schnurrend zusammengerollt hatte.

»Ich brauchte einen Unterschlupf, und da die Tür offen war … Weißt du, ich war völlig erschöpft und musste mich irgendwo ausruhen, aber das ist vermutlich keine Entschuldigung.«

Er hob den Kopf, und ein angedeutetes Lächeln umspielte seine Lippen, während seine Augen unverwandt auf Dafne ruhten, die ihrerseits den Blick nicht abzuwenden vermochte. Ihr Gewissen regte sich. Hatte sie ihm unrecht getan? Bestimmt hatte er mit seinem Eindringen keinerlei böse Absichten verfolgt. Nein, in seinen Augen meinte sie vielmehr einen wehmütigen Ausdruck zu erkennen, als hätte er schon einmal in einen tiefen Abgrund geblickt. Jetzt wandte er sich ab, griff nach seinem Seesack und wollte die Werkstatt verlassen.

Dafne legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zurückzuhalten.

Unbeabsichtigt berührte sie dabei ein Band, das er ums Handgelenk trug. Es kam ihr bekannt vor, und dann fiel es ihr wieder ein. Eine Freundin von der Uni hatte ihre Abschlussarbeit über den Balkankrieg geschrieben und war bei ihren Recherchen auch auf kunstvolle Armbänder gestoßen, die junge Frauen selbst hergestellt hatten, um mit ihrem Verkauf die Flucht in den Westen zu finanzieren. Sie sahen genauso aus wie das, das Milan trug. Damals hatte die Gewalt ein klar erkennbares Gesicht, und diese Armbänder erzählten die Geschichten vieler trauriger Schicksale.

»Alles in Ordnung?«, fragte Milan.

Dafnes Arm zuckte zurück, als stünde das Armband unter Strom. Sie schüttelte sich, um die schrecklichen Bilder, die sich ihr aufdrängten, wieder loszuwerden.

»Komm, setz dich.« Milan schob eine Bücherkiste zu ihr hin und bot ihr aus seiner Trinkflasche einen Schluck Wasser an. »Du siehst ganz schön fertig aus«, sagte er und beugte sich über sie, aber sie hörte gar nicht, was er sagte. Sie starrte wie gebannt auf das Armband, und unwillkürlich fragte sie sich, was dieser Mann, der damals noch ein Junge gewesen sein musste, in diesem Krieg erlebt haben musste.

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, murmelte sie abwesend.

Milan kratzte sich am Kinn und setzte sich im Schneidersitz ihr gegenüber. »Ist dir schwindlig? Vielleicht hast du einen zu niedrigen Blutdruck. Du bist nämlich plötzlich leichenblass geworden und warst völlig weggetreten. War richtig beängstigend.«

Dafne entspannte sich ein wenig und musste plötzlich laut auflachen.

»Findest du das witzig?«, erkundigte Milan sich verwundert.

»Ja, finde ich«, erwiderte sie und legte sich die Hand auf die Brust. »Noch vor wenigen Minuten hast du mich zu Tode erschreckt, und jetzt kümmerst du dich um mich. Irgendwie verrückt.«

»Okay, das leuchtet mir ein«, gab er zu.

Eine Weile schwiegen beide. Draußen trommelte der Regen heftig aufs Dach. Dafne zwang sich aufzustehen, aufmerksam beobachtet von Milan, dem weder ihre fahle Gesichtsfarbe noch ihr abwesender Blick gefielen.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, erkundigte er sich noch einmal besorgt.

»Ja doch. Alles in Ordnung«, gab sie zurück, aber in Wirklichkeit fühlte sie sich bleischwer, als hätte man sie plötzlich aus einem tiefen Schlaf aufgeschreckt, den sie kaum abzuschütteln vermochte.

»Wie du meinst.« Milan nahm den Seesack und ging zur Tür. »Pass auf dich auf.«

Vier Worte zum Abschied, den Dafne mit einem Mal gar nicht mehr wollte.

»Warte«, sagte sie und ging auf ihn zu.

Fünf Buchstaben, um eine Revolution in ihrem Innern zu entfesseln. Plötzlich kam sie sich zerrissen vor. Was zum Teufel ging gerade mit ihr vor? Sie verstand sich selbst nicht.

Milan blieb stehen, vor Anspannung traten die Adern an seinem Hals hervor. »Keine Sorge, ich habe nichts angefasst oder weggenommen, du kannst nachsehen.«

Als er den Seesack öffnen wollte, wehrte sie ab. »Nicht nötig, du kannst bleiben, wenn du willst.«

Nachdenklich spielte sie mit einer ihrer Locken. Warum hatte sie ihm diesen Vorschlag gemacht? Weil er ihr geholfen hatte? Oder weil er so verloren wirkte und ihr leidtat? Oder einfach weil es dem eigenen Ego schmeichelte, etwas Gutes zu tun?

»Zumindest heute Nacht«, setzte sie hinzu und deutete auf die Sturzbäche, die aus den Regenrinnen schossen, während Guache sich auf die Hinterpfoten stellte, um weiter gestreichelt zu werden.

Milans Blick wanderte durch die Werkstatt, dann zu Dafne. Seine Augen hatten die Farbe eines leuchtenden Sommerhimmels, auch wenn in ihnen ein Anflug von Melancholie lag.

Er schwieg einen Moment. »Gut, danke«, sagte er schließlich und lächelte sie zum ersten Mal an.

»Okay.« Dafne schüttelte den Pony aus der Stirn.

»Dann gehe ich wohl besser«, sagte sie unbestimmt.

So langsam dämmerte ihr, wie unmöglich die Situation war. Mitten in der Nacht stand sie in einer verlassenen Werkstatt allein mit einem wildfremden Mann, den sie hier beim Schlafen überrascht und den sie trotzdem zum Bleiben aufgefordert hatte. Entschlossen straffte sie die Schultern und klatschte so laut in die Hände, dass es von den Wänden widerhallte.

»Gut, ich mach mich auf den Weg, es ist ja spät genug. Morgen früh komm ich aber noch mal vorbei, okay?«

Milan nickte. Wieder schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht, während Dafne versuchte, nicht über Guache zu stolpern, die ihr ständig zwischen den Füßen herumstrich. »Sie ist genau wie meine Macchia«, sagte sie gedankenverloren.

Sie beugte sich nach unten und strich ihr zärtlich über den Kopf. »Und jetzt lässt du mich gehen, ja?«

»Natürlich«, schaltete Milan sich ein und nahm die Katze hoch, die sich sofort in seine Arme kuschelte. »Es reicht, Guache, stör die junge Dame nicht.«

»Dafne.«

»Wie?«

Sie sah ihm in die Augen, in denen sie die gleiche Trauer erkannte wie in ihren eigenen. »Ich heiße Dafne Merisi. Einfach Dafne«, korrigierte sie sich rasch.

Er nickte wieder und streichelte Guache über das weiche Fell. »Gut, Dafne.« Er flüsterte ihren Namen fast, seine Stimme klang wie Samt. »Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Milan«, wisperte Dafne und beugte sich ein letztes Mal zu der Katze hin, die in seinen Armen schnurrte. Dabei bemerkte sie eine Tätowierung auf seinem Hals: Odi et amo. Ich hasse und ich liebe. Die Schrift verdeckte eine hässliche Narbe, von der sie den Blick gleich wieder abwandte. »Gute Nacht, Süße«, murmelte sie.

Rasch verließ sie die Werkstatt und ging durch die leeren Gassen des schlafenden Ortes nach Hause, gefangen in einem Labyrinth aus Gedanken und Gefühlen, die in ihr tobten. Was hatte das alles zu bedeuten? Plötzlich tauchte dieser Typ in ihrem Leben auf! Und was faszinierte sie so an seinem Armband? Welche Geschichte verbarg sich dahinter?

All das fragte sie sich noch immer, während sie in einem viel zu großen türkisfarbenen T-Shirt zu Hause im Bad stand und sich die nassen Haare kämmte. Auch im Traum verfolgten sie diese Fragen, und das Lächeln des Mädchens mit der roten Baskenmütze vermischte sich mit Milans Lächeln, bei dem sie nicht so recht wusste, ob sie es liebenswert oder unheimlich fand.

Das Knacken und Ächzen der Balken, Treppen und Holzdielen riss sie aus dem Schlaf, draußen heulte der Wind und peitschte die Zweige des Nussbaums gegen ihr Fenster. Dafnes Herz raste, sie spürte, wie sich Hitze in ihrem ganzen Körper ausbreitete, aber es war nicht Angst, die das Blut durch ihren Körper rauschen ließ, sondern das Gefühl, endlich wieder lebendig zu sein.

Irgendwie hatte der Unbekannte aus der Werkstatt sie berührt. Und sie fragte sich, ob Milan seinem Schicksal auf der Spur war. Genau wie sie selbst.

5

»Einen starken Cappuccino mit wenig Schaum, bitte«, sagte Dafne und fügte hinzu: »Ich stehe heute Morgen irgendwie neben mir, ich hatte gestern ein verrücktes Erlebnis, das mir nicht aus dem Kopf geht.«

Ihre Freundin Ginevra, deren Eltern die Bar und Trattoria in Torralta gehörte, hatte sich in den drei Jahren, die sie sie nicht gesehen hatte, kein bisschen verändert. Ginevra trug noch immer tief ausgeschnittene T-Shirts und hatte noch immer das gleiche laszive Lächeln auf den Lippen, das ihr Gäste, jedoch manchmal auch Ärger einbrachte.