Himbeerzeit - Valentina Cebeni - E-Book
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Himbeerzeit E-Book

Valentina Cebeni

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Beschreibung

Der Duft des Mandelgebäcks gibt ihr Hoffnung. Doch kann sie das Familienunternehmen wirklich retten?

Bella Italia während der bewegten 60er-Jahre und Rom im Taumel der Olympiade. Endlich das große Finale der Saga um die starken Fontamara-Frauen!


Voller Stolz hat Diana die Nachfolge ihrer Mutter im Familienunternehmen angetreten. Im Rom der 60er-Jahre herrscht Aufbruchsstimmung, durch die Straßen wehen Klänge von Rock ’n’ Roll und die modebewussten Frauen tragen Petticoats in allen Farben. Während dieser Zeit sollen auch die Olympischen Sommerspiele in Rom ausgetragen werden, und Diana sieht die große Chance für den Aufstieg ihres Unternehmens. Wer könnte schließlich dem Duft des Mandelgebäcks widerstehen? Doch während Rom von der Olympiade träumt, werden die Nöte Dianas immer größer. Kann sie das traditionsreiche Haus und den Ruf ihrer Familie retten, bevor es zu spät ist?

Lassen Sie sich von Valentina Cebeni auf das italienische Familienanwesen der Fontamaras entführen und lesen Sie auch die anderen Bände der Reihe:

1. Das Limettenhaus

2. Kirschblütensommer

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 553

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VALENTINA CEBENI wurde 1985 in Rom geboren. Die Region Latium mit seinen malerischen Gebirgen und dem grünen Hügelland kennt sie bereits seit ihrer Kindheit, und schon früh hat Valentina Cebeni ihre Leidenschaft zu ihrer Heimat und den Rezepten ihrer Familie entdeckt. In ihren Romanen erzählt sie so gefühlvoll wie warmherzig vom Glück, der großen Liebe und dem Schicksal, das alles verändern kann. Mit ihrer emotionalen Trilogie über die Frauen der Fontamara-Familie entführt sie ihre Leserinnen erneut nach Bella Italia.

Außerdem von Valentina Cebeni lieferbar:

Die Zitronenschwestern

Die Blütenmädchen

Die Wildrosentöchter

Der Orangengarten

Das Limettenhaus

Kirschblütensommer

VALENTINA CEBENI

Himbeerzeit

ROMAN

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 der Originalausgabe by Valentina Cebeni

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Brigitte Lindecke

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagabbildungen: ©Shutterstock/Woodhouse; ©Shutterstock/Daria Ustiugova

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-29154-9V001

www.penguin-verlag.de

1

Januar 1960

Die roten Rosen, die auf dem Schreibtisch standen, hatten ihren intensiven Duft verloren. Die äußeren Blütenblätter begannen bereits zu welken und würden bald abfallen.

»Dabei habe ich sie erst gestern bekommen«, bemerkte Diana leise. Sie legte den Stift auf das oberste Blatt des Stapels Dokumente, die sie noch unterschreiben musste, stützte ihr Gesicht in die Hand und schaute zum Fenster, das auf den Innenhof der Fabrik hinausging. An diesem Morgen war der Himmel über Rom blau und hell, nicht mal der Hauch einer Wolke wagte seine Schönheit zu stören. Darunter zeichnete sich die gezackte Silhouette der Dächer ab.

Von unten drangen die heiteren Stimmen der Auslieferungsfahrer herauf, die durch den Hof hallten, sie selbst konnte kaum das Schlagen ihres Herzens wahrnehmen, stellte Diana bitter fest. Sie löste den Blick von dem Panorama und wandte sich wieder den Papieren auf dem frisch polierten Schreibtisch zu, den liegen gebliebenen Briefen, den Anmerkungen ihrer Sekretärin zu den heutigen Terminen. Dann betrachtete sie die Fotografie in dem silbernen Bilderrahmen, ein Geschenk ihrer Schwester zum zehnten Hochzeitstag. Myriam hatte das Foto an ihrer Hochzeit mit Giovanni aufgenommen, Clio und Viola hatten es professionell vergrößern und rahmen lassen. Am Rand des Rahmens waren ihre Namen und das Datum der Hochzeit eingraviert.

Sie gähnte und sah dabei zerstreut auf die junge Frau mit dem Brautstrauß in der Hand, die oberflächlich lächelte, so schuldbewusst, wie es eine Braut, die ihren zukünftigen Mann kurz vor der Hochzeit betrogen hatte, nur sein konnte.

»Signora Fontamara, Ihre Schwester Myriam hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass sie am Eingang wartet«, hörte sie ihre Sekretärin sagen, die in der Tür aufgetaucht war.

Diana nickte, ohne den Kopf zu heben. »Danke, meine Liebe. Sagen Sie ihr, ich komme gleich.« Sie legte die Hand auf das dunkle Holz, der goldene Reif des Eherings war ein jeden Tag enger werdendes Joch, das sie kaum ertragen konnte. Sie hatte darauf bestanden, ihren Nachnamen zu behalten und ihn dort, wo es möglich war, weiterhin zu verwenden. Sie würde für immer eine Fontamara bleiben, auch wenn ihr Nachname offiziell Guida lautete.

Sie zog den Ehering ab und ließ ihn in die Handtasche gleiten. Bevor sie den Pelzmantel von der Garderobe nahm, blieb ihr Blick noch einmal an der jungen Frau auf dem Schwarz-Weiß-Foto hängen. Sie biss sich auf die Lippen und seufzte erneut, dann legte sie den Rahmen umgedreht auf den Schreibtisch und verließ eilig den Raum. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie rasch durch die Gänge der Fabrik, in der Hoffnung, etwas Trost in der Plauderei mit ihrer Schwester zu finden, mit der sie meist über leichte Themen, hin und wieder auch über Politik sprach. »Heute nehme ich dich mit in ein kleines Restaurant ganz in der Nähe. Sie haben sehr guten Wein, und ich will wenigstens mal eine Stunde lang abschalten«, sagte sie zu Myriam, die am Tor auf sie wartete, und hakte sich bei ihr unter. Doch sobald sie sich gegenübersaßen, jede ein Glas Rotwein in der Hand, konnte Diana dem prüfenden Blick ihrer Schwester nicht länger ausweichen.

»Herrgott noch mal, musst du mich so anstarren?«, fragte sie und tupfte sich mit der bestickten Serviette den Mund ab. »Du siehst aus, als würdest du mir gleich an die Gurgel gehen.«

Myriam ließ die Serviette in den Schoß sinken und atmete tief durch. Sie hasste Dianas Art, Problemen auszuweichen, und hatte es satt, ihr immer alles aus der Nase ziehen zu müssen. »Was ist los, Diana?«

»Warum fragst du?«

»Weil ich dich gut genug kenne, um zu wissen, dass etwas nicht stimmt, wenn du dich so benimmst …«

»Es ist alles in Ordnung«, schnitt Diana ihr Wort ab und nahm einen Schluck von ihrem Wein.

»… oder so mutlos wirkst«, brachte Myriam ihren Satz zu Ende und ließ sie nicht aus den Augen.

Diana schluckte und stellte das Glas ab. Sie hatte das Gefühl, in dem Rot auf der elfenbeinfarbenen Tischdecke zu versinken, dann räusperte sie sich und blickte zur Seite, wo die Kellner zwischen den Tischen hindurch zur Küche eilten, aus der jetzt wütende Stimmen zu hören waren.

»Diana …«

»Ich bin unglücklich, okay?«, sagte sie und schlug mit der Faust auf den Tisch, die Serviette immer noch umklammert. Sie blinzelte, um sich nicht von der Angst übermannen zu lassen, die in ihr aufstieg und mit jedem Atemzug größer wurde. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, ließ dann die Serviette fallen und begann ihr Filet zu schneiden. »Ich schaue auf das Fleisch auf meinem Teller und denke dabei an meine Ehe, ein Stück totes Fleisch, aus dem selbst der letzte Blutstropfen gewichen ist«, sagte sie, während sich der rötliche Fleischsaft auf dem Teller verteilte.

Myriam legte die Hände auf den Tisch und sah sie nachdenklich an. Dieses Gespräch hatten sie seit der Hochzeit ihrer Schwester, die immerhin schon sechzehn Jahre zurücklag, immer wieder geführt. »Die Dinge mit Giovanni laufen nicht so, wie du es dir vorstellst?«

Diana lächelte bitter. »Zwischen Giovanni und mir sind die Dinge noch nie so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Diese Ehe war eine schlechte Idee.«

»Vielleicht hast du es nie wirklich versucht«, gab Myriam zurück. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beugte sich nach vorne. »Hör mir mal zu«, sagte sie, bevor Diana etwas entgegnen konnte, »eine Ehe bedeutet immer Arbeit, und Kinder zu haben macht es wahrscheinlich noch schwieriger, aber man sollte versuchen, die Beziehung zwischen Frau und Mann so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.«

»Das sagt sich so leicht«, antwortete Diana und verschränkte die Arme vor der Brust. »Schade nur, dass Giovanni ständig arbeitet, und wenn er mal nicht im Krankenhaus ist, ist er immer für alles zu müde. Ich habe es satt, nur sonntags, dem einzigen Tag, an dem er in der Regel keinen Dienst hat, die übliche Runde durch die Stadt zu machen.«

»Dann mach du doch mal einen Vorschlag. Überrasche ihn, fahrt zum Beispiel mal ans Meer.«

»Mitten im Winter? Bist du verrückt?«

Myriam runzelte die Stirn, dieses Gespräch wurde immer anstrengender. »Das Meer im Winter ist pure Poesie, Diana.«

»Mag sein, aber mir ist das zu kalt, und ich will keine Erkältung riskieren, nur um ihn zu überraschen. Außerdem weiß ich nicht mal, ob es ihm gefallen würde. Er ist so langweilig, so …« Sie verzog missmutig das Gesicht.

»Aber Giovanni liebt dich, zählt das denn gar nicht?«

Diana lachte, dann musste sie husten und wandte den Kopf ab. Sie zog eine Zigarette aus der Tasche. »Diese lauwarme Liebe gibt mir nichts.«

Myriam senkte den Blick. »Und die Tatsache, dass er Marco als seinen Sohn angenommen hat, obwohl wir beide die Wahrheit kennen, zählt das auch nichts?«

Diana zuckte mit den Schultern. »Das war ja keine große Leistung, er hat nie Verdacht geschöpft. Er hält ihn für seinen Sohn. Das ist nicht gerade ein großer Liebesbeweis, oder?«

»Für dich sollte es das aber sein, du kennst schließlich die Wahrheit.« Sie nahm etwas Risotto auf die Gabel, ließ sie dann aber wieder sinken. »Und dann beschwerst du dich, dass Angelica immer den Konflikt mit dir sucht. Das ist doch kein Wunder, sie ähnelt dir. Aber vielleicht ahnt sie auch, dass etwas nicht stimmt.«

»Unsinn, meine Tochter ist genau wie ihr Vater, von mir hat sie nur das Aussehen. Ich hoffe, das reicht aus, um einen armen Teufel zu finden, der bereit ist, sie zu ertragen«, antwortete Diana und blies Ringe in die Luft.

»Wenn du so redest, muss ich an Mama und dich vor einigen Jahren denken«, sagte Myriam und verbarg ihr Lächeln hinter der Hand.

»Lass Mutter aus dem Spiel. Gib mir lieber einen Rat, wie ich Marco mit der Schule helfen kann. Er hat schon wieder eine schlechte Note bekommen, das wird seinem Vater gar nicht gefallen.«

Myriam nickte. Es war typisch für Diana, das Thema zu wechseln, wenn das Gespräch einen Verlauf nahm, der ihr nicht passte.

»Wenn du willst, könnte ich Mosè fragen, ob er mit ihm lernt.«

»Gute Idee, vielleicht macht er das ja. Hoffen wir, dass er nicht die schlechtesten Eigenschaften der Fontamaras geerbt hat, so wie seine Mutter.«

»Angela war gar nicht so übel, wenn man sie zu nehmen wusste. Sie war vielleicht ein bisschen kompliziert, aber sie war nicht bösartig.«

»Wenn du das sagst«, antwortete Diana in schneidendem Ton. »Hoffentlich hat Mosè etwas von dir und ist bereit, Marco zu helfen, sonst sieht es schlecht für ihn aus.«

»Marco sollte weniger an Mädchen und Musik denken und lieber ab und zu mal ein Buch in die Hand nehmen.«

»Klar, damit er wird wie Giovanni«, gab Diana sarkastisch zurück und strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Und wozu? Um die Fabrik zu übernehmen, wie es mein Mann gern hätte, damit ich zu Hause bleibe? Nein danke, dann sollen sie ihn lieber durchfallen lassen.«

»Du würdest deinen Sohn eher ein Schuljahr verlieren lassen, als dieses Thema mit deinem Mann zu klären? Das geht zu weit, Diana, selbst für deine Verhältnisse.«

Diana reagierte nicht. Sie starrte auf die sienabraunen Fliesen am Boden, während die Asche an ihrer Zigarette immer länger wurde. Sie dachte an Giovanni, der sich für sie ein Leben als Hausfrau wünschte. Doch sie stand gerne jeden Morgen auf, um ins Büro zu gehen. Dort hatte sie einen gewissen Einfluss und war nicht nur das Anhängsel eines Mannes, der sie wie eine Trophäe auf medizinischen Kongressen vorzeigte, zu denen sie ihn schon lange nicht mehr begleitete. Einen Moment lang beneidete sie ihre Schwester um ihre Hand ohne Ring und ihre abgetragene Strickjacke. Myriam hatte ihren Mann im Krieg verloren und trug ihren Ring zusammen mit ihrem Kreuz um den Hals. Sie lebt bescheiden, aber zumindest frei, dachte Diana und betrachtete sie.

»Diana, hör einmal auf mich, und rede mit deinem Mann. Ihr beide habt ein ernstes Kommunikationsproblem.«

»Bist du sicher, dass du mit mir nicht lieber über die Democrazia Cristiana reden willst? Über irgendeine wichtige politische Frage, etwas, worüber ihr im Plenum diskutiert, im Parteibüro, falls ihr den Ort noch so nennt, wo sich die Aktivisten treffen?« Sie drückte die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Auch eine interessante Neuerscheinung aus dem Buchladen wäre ein gutes Thema. Alles, nur nicht Giovanni und meine Ehe, bitte.«

Myriam griff nach der Gabel und schaute auf ihr inzwischen kalt gewordenes Essen. Das einstmals cremige Risotto war hart geworden, das Gelb der Safranfäden ähnelte einem impressionistischen Gemälde in hellem Orange. »Wie du meinst. Vielleicht freut es dich zu hören, dass ich vor einigen Tagen einen netten Brief von Lia bekommen habe. Ihr und Carlos geht es gut, sie haben mit der Plantage alle Hände voll zu tun. Sie hat mir ein bisschen Zucker geschickt und nach allen gefragt, sie wollte wissen, wie es uns und den Kindern geht und ob wir Geld oder irgendetwas anderes brauchen.« Sie hielt inne und schob ein paar Reiskörner über den Teller. »Komisch, dass ausgerechnet sie es mir ermöglicht hat, eine Wohnung für Clio, Viola, Mosè und mich zu kaufen. Sie hat extra ihr eigenes Haus teuer verkauft. Sie sorgt sich immer noch um uns.«

»Ich nehme an, das ist ganz normal. Weder du noch Clio noch Viola seid verheiratet«, antwortete Diana und piekte ein Stück Fleisch auf die Gabel.

»Ich war schon einmal verheiratet, und ich habe nicht vor, es ein zweites Mal zu tun.«

»Das kann ich gut verstehen. Bevor ich noch mal heirate, schicke ich sogar den Papst zum Teufel.«

Myriam warf ihr einen scharfen Blick zu und faltete dann die Serviette im Schoß zusammen. »Wenn mir jemand meinen Mann zurückgeben und mich fragen würde, ob ich ihn noch einmal heiraten würde, würde ich hundert Mal Ja sagen. Ihn zu verlieren war der größte Schmerz meines Lebens. Das ist eine Wunde, die sich niemals schließen wird.« Die Worte schossen förmlich aus ihrem Mund.

»Entschuldige«, sagte Diana leise, während Myriam nach ihrer Tasche griff und sie keines Blickes mehr würdigte. »Myriam, entschuldige, ich wollte dich nicht verletzen. Bitte bleib.«

»Ich muss los, in der Buchhandlung ist viel zu tun. Wir hören voneinander. Schönen Tag noch.« Sie wechselte noch kurz ein paar Worte mit dem Kellner und ging dann zur Tür. Als sie sie öffnete, wehte die Januarkälte herein, die unter die Kleidung und selbst in den Atem kroch.

Diana hatte die Hände auf die Tischdecke gelegt und starrte auf den Ausgang, durch den Myriam gerade verschwunden war. Sie bereute ihre Worte, sie war wieder einmal zu impulsiv gewesen. Das warf ihr auch Arrigo vor – der Mann, der seit einigen Monaten die Leere in ihrem Bett und in den endlosen Stunden des Tages füllte.

Warum verhalte ich mich nur immer so?, ärgerte sie sich über sich selbst und ballte die Fäuste.

2

Myriam nahm ein paar Bücher aus dem Karton mit den Neuerscheinungen und stellte sie ins Regal vor ihr. Seit Kriegsende arbeitete sie in der Buchhandlung, deren zwei kleine Schaufenster auf eine Seitenstraße hinausgingen, auf der nur die Anwohner unterwegs waren, und obwohl sich Italien in dieser Zeit grundlegend verändert hatte, von der Monarchie zur Republik geworden war und die einst verbotenen Parteien wieder im Parlament saßen, wurden in diesen nach Papier und Tinte riechenden Räumen Bücher aller Art verkauft, von Sachbüchern über Gedichtbände bis hin zu Abenteuerromanen. Ein Genre allerdings fehlte: Von Liebesromanen, die die Herzen der Kundinnen höherschlagen ließen, wollte der alte Besitzer nichts wissen.

»Solange ich lebe, kommen mir diese Schnulzen nicht ins Haus«, sagte er immer und zauberte »seiner Myriam«, wie er sie nannte, ein Lächeln auf die Lippen. Dabei zog er seine nachtblaue Fliege zurecht, die er seit Jahren über dem weißen Hemd trug, seine persönliche Buchhändleruniform.

Schade, dass er seit seinem letzten Anfall zu Hause im Rollstuhl sitzen muss, dachte sie bedauernd. Dann drängte sie den Gedanken beiseite, griff nach einer Neuauflage von »Der Sohn des Roten Kosaren« von Salgari, einem ihrer Lieblingsautoren, und nahm sich vor, ihren Chef heute Abend zu besuchen.

»Mit Emilio Salgari gehst du auf Nummer sicher, wenn du traurig bist. Seine Geschichten entführen dich in bessere Welten«, hörte sie eine tiefe Männerstimme hinter sich sagen. Sie drehte sich um und fand sich Mosè gegenüber, dem Sohn ihrer Cousine Angela, den diese ihm während des Krieges anvertraut hatte und den sie wie ihren eigenen Sohn großgezogen hatte. Sie lächelte.

»Was machst du denn hier? Ich dachte, du sitzt in der Bibliothek und lernst für die Prüfung morgen«, sagte sie und schob den Karton in einen anderen Gang voller Regale mit Buchrücken in allen Farben.

Mosè fuhr sich mit den Fingern durch die dichten dunklen Haare und rückte die Brille mit den dicken Gläsern zurecht, die er seit seiner Kindheit trug. »Ich war bis eben dort, und nach dem Abendessen wiederhole ich noch mal alles.«

Myriam schüttelte den Kopf. »Vor lauter Büffelei bekommst du noch einen Buckel wie Giacomo Leopardi, glaub mir.« Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Du vergräbst dich seit Monaten mit einer soldatischen Disziplin in den Büchern, dabei müsstest du doch längst wissen, dass du alles erreichen wirst, was du willst.«

Vor Stolz errötend schaute Mosè kurz zu Boden, doch als er wieder aufblickte und Angelica vor dem Schaufenster vorbeigehen sah, geriet mit einem Schlag seine Selbstsicherheit ins Wanken und es verschlug ihm fast den Atem. Sie waren gemeinsam aufgewachsen, wie Cousin und Cousine, als Kinder von Myriam und Diana, aber die Grenze, die Mosès Nachname Contrada, der Name seines Vaters Gino, zwischen ihnen gezogen hatte, hatte zugelassen, dass er Gefühle entwickelte, die keineswegs geschwisterlich waren. Angelica, Dianas Tochter, vereinte in ihrem fein geschnittenen Gesicht, den seidigen kastanienbraunen Haaren ihrer Mutter und den großen grünen, goldumrandeten Augen ihrer Großmutter mütterlicherseits, die immer voller Fragen waren, die Essenz der Fontamaras, während man bei ihm vergeblich nach augenfälligen Merkmalen seiner Ursprungsfamilie suchte. Er war groß und hager, ungeschickt im Umgang mit Mädchen, interessierte sich nicht für die jeweils herrschende Mode, aber umso mehr für Politik.

Myriam folgte dem Blick dieses Jungen, den sie liebte wie den Sohn, den sie selbst nie gehabt hatte, und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Diana hatte recht gehabt, Mosè hatte eine Schwäche für ihre Tochter.

»Angelica ist ein hübsches Mädchen, nicht wahr?« Prüfend schaute sie ihn an.

»Oh, Angelica ist sehr viel mehr als nur hübsch«, antwortete er, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Sie ist so intelligent, dass die Lehrer ihr erlaubt haben, ein Jahr zu überspringen, sodass sie früher ihren Abschluss machen und an die Universität gehen kann.« Er vergrub die Hände in der braunen Wollhose.

»Und woher weißt du das?«

»Ich habe ihr in Latein und Griechisch geholfen. Einige Punkte im Lehrstoff waren ihr nicht klar, sie hat mich gebeten, sie mit ihr durchzugehen.« Wieder rückte er die Brille zurecht, während Myriam ihm mit verschränkten Armen zuhörte.

»Sehr gut, was hältst du davon, auch Marco beim Lernen zu helfen? Er kassiert eine Sechs nach der anderen.«

»Marco ist nicht schlecht in der Schule, weil er dumm ist, sondern weil er sich nicht anstrengt«, gab Mosè kühl zurück. »Nichts ärgert mich mehr als ein Vatersöhnchen, das glaubt, die Welt liegt ihm allein wegen seines Nachnamens zu Füßen. Als hätte er keinerlei Verpflichtungen seiner Familie und der Gesellschaft gegenüber.«

»Du sagst es«, stimmte ihm Angelica zu, die gerade leise die Buchhandlung betreten hatte. Sie küsste ihre Tante auf die Wangen und lächelte Mosè zu, um sich gleich wieder an Myriam zu wenden. »Mein Bruder will nicht lernen, und Mosè kann keine Wunder bewirken. Marco meint, dass ihm alles zusteht, nur weil er ein Fontamara ist, aber wenn er sich weiterhin mit seinen nichtsnutzigen Freunden in der Stadt herumtreibt, statt zu lernen und sich in der Schule anzustrengen, wird er es im Leben zu nichts bringen. Das ist vergebliche Liebesmüh, glaub mir«, sagte sie entschieden und zog dann aus dem Korb mit den Büchern zum halben Preis einen kleinen Band mit rotem Umschlag und vergilbten Seiten heraus, die Kaffeeflecken und andere Spuren des Lebens zeigten. Ihre Augen wanderten rasch über die Zeilen, sie schien alles aufzusaugen. Mosè betrachtete sie fasziniert, während Myriam besorgt die Stirn runzelte und schließlich resigniert seufzte.

»Wie läuft es in der Schule, Liebes?«, fragte sie ihre Nichte, die das Buch zuschlug und es wieder in den Korb legte.

»Besser als gedacht. Auch dank Mosè«, fügte sie hinzu, wobei sie ihren Cousin ansah und sanft seinen Arm berührte. »Ohne seine Hilfe hätte ich es nie geschafft, ein Jahr zu überspringen. Unser Philosophieprofessor hat einfach keine Ahnung.«

Myriam zog die Augenbrauen hoch und lehnte sich an den Tresen. »Was meinst du damit?«

Angelica sah sie nacheinander an und seufzte: »Dieser Mann ist anscheinend im Mittelalter hängen geblieben.« Sie ließ die Arme sinken. »Er unterrichtet Philosophie, als würde er uns Märchen erzählen. Wie in der Grundschule. Als wären Frauen nicht in der Lage, einen komplexen philosophischen Gedanken zu erfassen, als wären wir geistig beschränkt. Es ist ungerecht und eine Beleidigung, und das habe ich ihm auch gesagt.«

»Und was sagt er dazu?«

»Nichts. Er stellt einfach die Ohren auf Durchzug und setzt dieses besserwisserische Lächeln auf, für das ich ihn ohrfeigen könnte«, schimpfte sie. »Wenn es nach Männern wie ihm ginge, sollten wir alle Hausfrauen werden und den ganzen Tag kochen, putzen und uns um die Kinder kümmern. Und wenn man andere Pläne hat, sehen sie einen an, als käme man von einem anderen Stern. Und legen dir Steine in den Weg, als ob das Wissen nur den Männern vorbehalten wäre.«

Mosè räusperte sich. »Das ist die Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, Angelica. Das Erbe der faschistischen Kultur.«

»Unkultur, meinst du wohl«, korrigierte sie ihn und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nenn es, wie du willst. So leicht wird sich jedenfalls daran nichts ändern lassen.«

»Es wird sich was ändern«, antwortete sie und reckte das Kinn. »Ebenso wie die Frauen dieses Landes dazu beigetragen haben, das Regime abzusetzen, werden sie es auch mit diesen dummen Konventionen machen, darauf wette ich. Wir müssen uns nur organisieren, dann hält uns keiner mehr auf.«

Mosè schüttelte nur schwach den Kopf und suchte in den Astlöchern des Tresens, in den Augen seiner Mutter nach Trost, nach Sicherheit, die ihm Angelica nicht geben wollte.

»Du scheinst sehr entschlossen zu sein, deine Meinung durchzusetzen«, stellte Myriam fest, die einem Paar, das soeben den Laden betreten hatte und sich neugierig umsah, zunickte.

»Das ist dein Verdienst, Tante. Du hast mich inspiriert«, sagte die junge Frau stolz. »Du hast während des Krieges geholfen all diese vielen Leben zu retten und hast gegen das Regime gekämpft, und jetzt bist du eine Frau, die sich politisch engagiert. Eines Tages möchte ich sein wie du.«

Myriam nahm das schmale Gesicht ihrer Nichte in beide Hände und küsste sie auf die Stirn. »Du musst du selbst sein und nicht wie die anderen. Und auch nicht wie ich, versprich mir das.«

Angelica sah ihr fest in die Augen, dann nickte sie. »Versprochen«, sagte sie leise, ehe sie sich zu Mosè umwandte und ihm ihren Arm anbot, um ihn zu einem Spaziergang einzuladen.

»Geht ruhig, und amüsiert euch«, sagte Myriam und sah ihnen durch das Schaufenster nach, wie sie Seite an Seite davongingen, Angelica wie immer in raschem Tempo und Mosè bemüht, mit ihr Schritt zu halten.

Sie ist zu schnell für dich, mein Schatz, dachte sie, während sie sich entfernten.

Dann reichte sie den beiden Kunden das gute Dutzend Bücher, das sie nach und nach neben der Kasse gesammelt hatten, und als das Glöckchen der Tür bimmelte und sie wieder allein war, tastete sie nach dem Stuhl neben sich und ließ sich darauf sinken. Sie dachte an das Mittagessen mit Diana, an die Anspielungen auf Angela, an den Krieg, die Schrecken, die sie hatte erleben müssen.

Und an Rachele, von der sie immer noch oft träumte, die junge Frau, der ihr Bruder Gabriel noch kurz vor seiner Abreise nach Griechenland ewige Liebe geschworen hatte, ehe er dort eine andere geschwängert und auch sie anschließend mit dem Baby hatte sitzen lassen. Kostas war ein Kind des Krieges wie so viele, Ergebnis der flüchtigen Beziehungen, die beim Durchzug der Truppen entstanden waren. Für ihn, der seinen Vater nie kennengelernt hatte, war der Krieg immer noch schmerzlich präsent, genau wie für sie, die jeden Monat Geld nach Griechenland schickte und hoffte, dass Gabriel seinen Sohn eines Tages besuchen würde.

Myriam seufzte, während draußen bereits das Licht der Straßenlaternen auf die Autos und Fahrräder fiel, die ihre Fahrer nach einem langen Arbeitstag nach Hause brachten.

Ist der Krieg wirklich vorbei, oder machen wir uns nur etwas vor, damit wir nachts wieder ruhig schlafen können?, fragte sie sich und blickte nachdenklich auf die »Politischen Reden« von De Gaspari, die neben ihr lagen.

Dieser Krieg wird nie enden, sagte sich Diana. Giovannis Gebrüll drang aus dem Wohnzimmer bis in die Küche, wo sie im Dunkeln saß. Nach einem Verhör beim Abendessen hatte Marco seine schlechte Note gebeichtet, und ihre Versuche, ihn zu verteidigen, hatten wenig genützt.

»Tja, mein Sohn«, murmelte sie und griff nach der Zigarette, die sie im Aschenbecher auf dem Fensterbrett abgelegt hatte. Sie sah in die dunkle, sternenlose Nacht, die Lichter der Häuser halfen ihr, sich im Gassengewirr des Viertels zu orientieren: gegenüber das Haus des Metzgers, ein Stück weiter die Wohnung des Anwalts, dahinter das Kreuz der Kirche und zur Rechten die Fassade des Hotels an der Ecke, in dem die Touristen wohnten, die einige Tage Zerstreuung in der Ewigen Stadt suchten, oder Geschäftsmänner auf der Suche nach einer Gelegenheit.

»Was für eine merkwürdige Zeit: Die einen bereichern sich immer mehr, die anderen hängen in der Luft und warten auf eine Chance«, flüsterte sie, als hinter ihr die entschlossenen Schritte ihrer Tochter zu hören waren.

»Mama, Marco und Papa streiten immer noch, ich weiß nicht, was ich noch tun soll«, sagte sie und streckte ihr hilflos die Hände entgegen.

Diana wandte sich kaum um, den Blick immer noch auf die Lichter der Stadt gerichtet. »Was soll ich machen? Marco wusste, dass sein Lehrer ein Patient seines Vaters ist, er hätte sich denken können, dass es früher oder später rauskommen würde …«

Angelica ließ den Kopf hängen, dann zuckte sie mit den Schultern, wie um die Traurigkeit ihrer Mutter abzuschütteln, und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Diana rauchte weiter, als das Läuten der Türglocke sie aus ihren Gedanken riss und sie zur Tür eilte. »Myriam, ist alles in Ordnung?«, fragte sie, als sie ihre Schwester vorfand.

»Ja, natürlich. Ich wollte dir nur sagen, dass du heute recht hattest.«

»In welcher Hinsicht?«

Myriam trat näher und flüsterte ihr ins Ohr: »Mit Mosè. Es ist genau, wie du gesagt hast.«

Diana brauchte einen Moment, bis sie begriff, dann nickte sie. »Du bist die Einzige, die es noch nicht bemerkt hat. Und meine Tochter, fürchte ich. Aber jetzt entschuldige mich, ich muss wieder rein.« Sie wollte gerade die Tür schließen, als der Streit so laut wurde, dass er in jedem Winkel zu hören war.

»Jetzt muss ich aber dich mal fragen: Ist bei euch alles in Ordnung?«, fragte Myriam mit großen Augen.

Diana wandte sich noch einmal um und schüttelte den Kopf. »Giovanni hat von Marcos schlechten Noten erfahren. Aber ich muss jetzt wirklich rein, Myriam, wir sehen uns morgen. Gute Nacht.« Ehe Myriam noch etwas erwidern konnte, schloss sie die Tür, abgelenkt von dem Gebrüll ihres Mannes, der Marco jetzt drohte, ihn aus dem Haus zu werfen, wenn er nicht endlich lernen würde.

»Deine Mutter und ich haben dein Verhalten satt. Entweder fängst du jetzt an zu lernen oder –«

»Ich kann doch immer noch arbeiten gehen, oder etwa nicht?«

Giovanni warf seinem Sohn einen vernichtenden Blick zu, als Diana ins Wohnzimmer kam. »Du gehst nicht arbeiten, verstanden?«, polterte er und drohte Marco mit dem Finger. »Du machst die Schule zu Ende, studierst Wirtschaft und übernimmst die Keksfabrik. Dann hat deine Mutter endlich mal Ruhe und kann das Leben einer normalen Frau führen.«

»Wie leben denn die normalen Frauen, Papa?«, mischte sich Angelica ein, die sich, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen zu engen Schlitzen zusammengekniffen, von der Tür löste, neben der sie stehen geblieben war. »Redest du von den Frauen, die sich den ganzen Tag zu Hause langweilen und das Geld ihrer Männer ausgeben, oder von den anderen, die sich den lieben langen Tag mit Haushalt und Kindererziehung herumschlagen?«

Giovanni legte die Fingerspitzen aneinander, dann ballte er die Hände zu Fäusten. »Angelica, du gehst besser auf dein Zimmer und lernst und mischst dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.«

»Was du über Frauen denkst, geht mich sehr wohl etwas an. Schließlich bin ich eine von ihnen«, stellte sie klar. »Und wenn Mama lieber arbeiten möchte, kannst du sie nicht zu Hause einsperren und Marco zu etwas zwingen, was er gar nicht will. Lass doch mich an seiner Stelle auf die Universität gehen, ich würde nämlich gerne studieren.«

»Angelica, bitte. Auch meine Geduld hat Grenzen, und heute Abend sind dein Bruder und du offenbar entschlossen, sie zu überschreiten.«

»Ganz im Gegenteil, aber das ist dir ja sowieso egal. Du willst einfach nichts hören, du denkst immer nur an das, was du willst, was du richtig findest. Aber du kannst uns nicht länger ignorieren. Marco, Mama und ich sind auch noch da, und wir haben ein Mitspracherecht.«

»Danke, Frau Anwältin, Ihre Analyse hat mir gerade noch gefehlt«, sagte er sarkastisch und trat einen Schritt zurück, um sie vorbeizulassen. »Und jetzt geh, bitte.«

Auf der Suche nach Unterstützung drehte Angelica sich zu ihrer Mutter um, aber die gab ihr zu verstehen, dass sie ihrem Vater gehorchen solle. Die junge Frau atmete tief durch. »Mit euch ist nicht zu reden«, murmelte sie und ging hinaus auf die Terrasse, die Dianas und Myriams Wohnungen verband. Dort fand sie Mosè vor, der in die Dunkelheit starrte.

Angelica zog den wollenen Morgenmantel, den sie sich eben noch übergeworfen hatte, enger um sich und bereute ihren wieder einmal vergeblichen Protest. Es war sehr kalt, jeder Atemzug durchfuhr sie wie ein eisiges Schwert, aber sie wollte nicht zurück in die Wohnung. Besser erfrieren als nachgeben, dachte sie und ging auf Zehenspitzen zu Mosè hinüber, der die Kälte gar nicht zu bemerken schien. Er stützte sich auf die weiße Betonbrüstung der Terrasse, die voller Kübel und Blumentöpfe war, um die sich Viola liebevoll kümmerte, und dachte über seine Träume und das Leben nach, dessen Sinn sich ihm meist entzog.

»Hier erfriert man ja«, sagte sie leise, und ihre Augen tränten vor Kälte. »Es sind bestimmt ein paar Grad unter null.«

»Fünf, um genau zu sein«, entgegnete Mosè und starrte weiter vor sich hin, während durch die Terrassentür hinter ihm fließendes Wasser zu hören war. Myriam machte den Abwasch, Minas helle Stimme sang Tintarella di luna, das neue Lieblingslied von Clio und Viola.

»Sie hören es jeden Abend, ich kenne es mittlerweile in- und auswendig«, meinte Mosè und vergrub die Hände in der Flanellhose. »Sie werden sich noch Ärger mit dem ganzen Haus einhandeln, wenn sie nicht aufhören.«

»Ach was, ein Lied tut doch niemandem etwas.«

»Sag das mal den Nachbarn. Die Frau unter uns hat sich schon zweimal beschwert.«

»Dann fordere sie doch beim nächsten Mal zum Tanzen auf. Vielleicht ist sie nur neidisch«, neckte Angelica und boxte ihn schelmisch in die Seite, aber heute Abend war nicht mal ihr zum Lachen zumute, die Worte ihres Vaters gingen ihr nicht aus dem Kopf. Sie legte die Hände auf das Sims und seufzte. »Es wäre schon, wenn jeder nach dem Rhythmus seiner Musik tanzen könnte.«

»Du tanzt doch gar nicht gerne. Deinem Bruder wirfst du immer vor, das sei Zeitverschwendung«, bemerkte Mosè, aber sie schüttelte den Kopf, den Blick auf die Stadt gerichtet, als suche sie nach Antworten auf Fragen, die größer waren als sie.

»Stimmt. Aber auch ich kann mich mal irren, oder?«

Mosè lächelte. »So etwas habe ich noch nie von dir gehört«, zog er sie auf, aber sie zeigte keine Regung. Er rückte etwas näher an sie heran, bis ihre Schultern sich berührten, und beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen.

»Mein Vater entscheidet immer für alle. Er entscheidet und ordnet an, was wir wollen, mein Bruder, meine Mutter und ich, interessiert ihn nicht.«

»Versuch mit ihm zu reden, so wie du mit mir gerade redest. Du hast doch eigentlich immer einen guten Draht zu ihm gehabt, oder nicht?«

»Das ist das, was meine Mutter sagt«, korrigierte sie ihn. Sie starrte auf den Lichtkegel, den die Straßenlaterne auf den Asphalt warf, legte die Hände um die Brüstung und umklammerte sie, dass die raue Oberfläche schmerzhaft in ihre Haut drang. Sie hatte so viel zu sagen, die Worte schwirrten durch ihren Kopf, aber ihr einziges Publikum war der junge Mann neben ihr, der in der Nacht da draußen Antworten suchte. Sie seufzte und versuchte mühsam, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Ich bin müde, ich gehe besser ins Bett«, sagte sie schließlich leise und wandte sich ab, um sich die Tränen von den Wangen zu wischen.

»Bist du sicher, dass du nur müde bist?«, fragte Mosè sanft und strich ihr über den Arm.

»Ja, ich bin es müde, die zu sein, die ich zu sein glaube, und in Wirklichkeit weiß ich gar nicht so genau, wer ich eigentlich bin.« Sie wandte sich zu Mosè um und lächelte ihn traurig an, dann zog sie den Gürtel ihres Morgenmantels enger und machte Anstalten, wieder hineinzugehen. »Ich gehe besser schlafen, sonst rede ich nur noch mehr Unsinn.«

»Das war überhaupt kein Unsinn, das war sehr interessant«, widersprach Mosè, aber sie lächelte nur resigniert.

»Für dich vielleicht, du verstehst mich anscheinend besser als ich selbst. Gute Nacht, Mosè, schlaf gut.« Sie drehte sich um und ging.

Er blickte ihr nach, ihre schmalen Schultern verschwanden in der Dunkelheit der Wohnung. »Gute Nacht, Angelica. Bis morgen.«

»Bis morgen«, hatte auch Giovanni gesagt, als er das Licht im Schlafzimmer gelöscht hatte, aber die Dunkelheit hatte ihr Versprechen einer entspannten Nachtruhe nicht eingelöst, und er lag immer noch wach und starrte ins Leere.

Er drehte sich auf die Seite und strich mit den Fingerspitzen sanft über den Rücken seiner Frau. Seit er sich neben sie gelegt hatte, kam ihm die Matratze wie ein Bett aus glühenden Kohlen vor, Zweifel und Gewissensbisse quälten ihn. »Schläfst du?«, fragte er leise.

Sie seufzte ungeduldig. »Warum? Hast du etwa noch etwas zu sagen?«

Giovanni seufzte ebenfalls und ballte die Fäuste. Der Abend war anders verlaufen, als er es sich erhofft hatte, nach dem Streit mit Marco und Angelica hatte er Dianas wütenden Blick ertragen müssen. Sie hatte wortlos das Wohnzimmer verlassen, und er war mit der Last seiner Überzeugungen allein zurückgeblieben.

»Du denkst, ich habe es mit Marco übertrieben, oder?«, versuchte er das Eis zu brechen.

Zur Antwort hob sie die Decke, in die sie sich eingewickelt hatte, etwas an, drehte sich zu ihrem Mann um und sah ihn an, das Gesicht in die Hand gestützt. »Das fragst du noch? Du hast ihn regelrecht angegriffen, und Angelica ebenfalls, dabei hat die Ärmste diesmal gar nichts getan.«

Giovanni steckte den Schlag ein und nickte. Es würde nicht leicht werden, aber er wollte es trotzdem versuchen. »Vielleicht hast du recht, aber ich kann nicht einfach hinnehmen, dass unser Sohn sich so verantwortungslos verhält. Als Eltern haben wir die Pflicht, ihn zu erziehen.«

»Gütiger Himmel, Giovanni«, platzte sie heraus. »Marco hat nur ein paar schlechte Noten bekommen, und du machst eine Staatsaffäre daraus. Du weißt doch, wie er ist. Er ist noch jung, viele junge Leute lernen nicht gerne. Das ist nun wirklich kein Drama.«

»Doch, das ist es, wenn du das Problem nicht sehen willst oder es ständig kleinredest. Die Firma braucht nun mal einen Nachfolger, du kannst nicht ewig arbeiten, und um ehrlich zu sein, ist das ohnehin keine Aufgabe für dich.«

Diana schluckte die Erwiderung herunter, die ihr auf der Zunge lag, und atmete tief durch. »Ich werde so lange arbeiten, wie meine Gesundheit es zulässt. Bei diesem Thema habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.« Ihr Gesicht verzog sich vor Wut und Frustration. »Vorhin hast du über mich gesprochen, als wäre ich gar nicht da. Aber ich bin hier, Giovanni. Es gibt mich, auch wenn es für dich die meiste Zeit nicht so aussieht.«

»Was redest du denn da, wie kommst du auf einen solchen Unsinn?«

»Ich erspare uns beiden lieber die Details«, antwortete sie gereizt, während er sie mit dem zärtlichen Blick ansah, den er für seine kleinen Patienten reserviert hatte, wenn sie sich aus Angst vor einer Spritze weinend an ihre Mütter klammerten.

»Du irrst dich, Schatz. Außerdem, glaub mir: Es ist gar nicht möglich, dich zu ignorieren, selbst wenn ich es wollte«, sagte er und strich ihr über die Wange.

Diana wich zurück und wandte das Gesicht ab. »Merkwürdig, ich hatte immer den Eindruck, dass dir das sehr gut gelingt. Und jetzt entschuldige, ich möchte gerne ein wenig schlafen, wenn du nichts dagegen hast. Ich bin sehr müde und habe morgen außerdem einiges zu tun.«

Sie drehte sich wieder auf die andere Seite und drückte ihr Kissen zurecht. »Gute Nacht«, sagte sie leise, aber auch nachdem Giovanni sich ebenfalls umgedreht und das Licht gelöscht hatte, fand sie keinen Schlaf. Sie presste die Faust auf den Mund und drückte die Augen fest zu, um nicht in Tränen auszubrechen.

Sie dachte an ihre Schwester Myriam, an ihre Unabhängigkeit, die sie gegen jeden Mann verteidigte, der sich ihr zu nähern versuchte, an die Leidenschaften, die sie pflegte, an ihre Aufrichtigkeit, und dann kam ihr Kuba in den Sinn, das Land, in dem sie geboren worden war, und das sich für immer in ihre Erinnerung eingebrannt hatte. Das einzige Land, in dem sie sich jemals wirklich frei gefühlt hatte.

Ihr Leben erschien ihr farbloser, seitdem sie als junges Mädchen die Villa Santa Maria verlassen hatte, und jetzt, da sie Ehefrau und Mutter war, eine Arbeit und eine Firma hatte, um die sie sich kümmern musste, fehlte ihr Kuba noch mehr. Es war eine Leere in ihrem Leben, die über alle kartografischen Grenzen hinausging, die sich selbst in Arrigos kleinen dunklen Augen einnistete, des Mannes, mit dem sie die Ängste, die sie quälten, zu lindern versuchte. Sie liebte ihn nicht, das wusste sie, aber sie genoss sein Charisma, die Lebenslust, die sie schon vor vielen Jahren verloren hatte. Eine Kraft, um die sie ihre Mutter immer beneidet hatte, die ihr jeden Tag mehr fehlte.

Ist das alles, was die Zukunft für mich bereithält? Eine Reihe flüchtiger Affären, mit denen ich mich über mein lauwarmes Bett, mein lauwarmes Leben hinwegtrösten will?, fragte sie sich und griff sich an den Hals, hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Still lag sie da, den Blick ins Dunkel des Schlafzimmers gerichtet, alle Sinne auf Empfang, mit angehaltenem Atem, als ob sie auf eine Antwort warten würde: Sie hörte das Geräusch von Autoreifen auf der Straße, das Knacken des Hauses, in dem sie seit Jahren wohnte. Marco hustete, während Giovanni neben ihr zu schnarchen begonnen hatte.

Sie schluckte desillusioniert, vergrub ihr Gesicht in den Händen und übergab sich der Einsamkeit der Nacht.

3

Mosè goss die Milch in den kleinen Topf und stellte ihn auf den Herd.

An diesem Samstagmorgen war es ruhig, am wolkenlosen Himmel war bereits die Sonne zu erahnen, obwohl es noch nicht ganz hell war. Fast alle Fensterläden der Wohnungen gegenüber waren noch geschlossen, nur ein paar Hausfrauen in Flanellmorgenmänteln traten, den Wäschekorb in die Hüfte gestemmt, an die Fenster, trotzten der Kälte der frühen Morgenstunden und hängten Bettlaken und Tischdecken an die dünnen, zwischen den Mauern gespannten Wäscheleinen.

Mosè klappte die Fensterläden auf und genoss diese Momente der vollkommenen Einsamkeit. Wenn er samstagsmorgens den Frauen gegenüber beim Wäscheaufhängen zusah, egal ob es Sommer oder Winter war, schien ihm alles so selbstverständlich, wie Teil eines jahrtausendealten Rituals, und dennoch, wenn er so darüber nachdachte, gab es doch Frauen, die davon nichts wissen wollten. Seine Gedanken gingen zu Angelica. Frauen, die nicht greifbar waren, den Kopf voller neuer Ideen, Frauen, die mit der Gesellschaft brechen wollten, aus der ihre Mütter stammten, aber immer noch Frauen, die an die Liebe glauben, überlegte er weiter. Er wandte sich zu der Kommode um, in der Myriam alte Fotos aufbewahrte. Vor einigen Tagen hatte er die Schubladen aufgezogen, getrieben von der nostalgischen Sehnsucht nach einer Vergangenheit, an die er sich kaum erinnern konnte, Antworten suchend auf den inneren Aufruhr, den er spürte, aber jemand war ihm zuvorgekommen. Das Hochzeitsfoto von Myriam und Giovanni lag nicht an seinem Platz, ein Zeichen dafür, dass seine Mutter ihren Schmerz noch immer nicht überwunden hatte.

»Guten Morgen«, sagte Clio, die gähnend in der Tür stand und sich streckte. Sie ging langsam zum Tisch, den Mosè schon für das Frühstück gedeckt hatte, und nahm sich einen Keks. »Bereit für die Synagoge?«

»Bitte?«

Clio fuhr ihm durch die dunklen Locken. »Heute ist Samstag, da musst du doch in die Synagoge, oder nicht?«

Mosè lächelte. »Natürlich, ich gehe gleich«, stammelte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bereite nur noch schnell das Frühstück vor. Ich habe schon die Milch aufgesetzt und den Tisch gedeckt. Es fehlt nur noch der Kaffee, glaube ich«, sagte er. Die Milch auf dem Herd begann zu kochen, Clio lief schnell zum Herd, drehte das Feuer aus und stellte den Topf beiseite.

»Ich mach das schon, nimm du das Brot aus der Tüte und stell es auf den Tisch, Myriam isst gern Brot zum Frühstück. Komisch, oder? Die Familie besitzt eine Keksfabrik, und Myriam tunkt morgens Brot in ihren Milchkaffee.«

Mosè trat ans Fenster und reckte den Hals, um einen Blick auf Angelicas Fenster zu erhaschen. Die Läden waren noch geschlossen. »Ich weiß, da ist sie nicht die Einzige«, sagte er leise und versuchte, sie durch die Spalten in den Läden zu erkennen, lauschte auf Geräusche aus der Nachbarwohnung, in Erwartung ihrer Verabredung. Ungeduldig wartete er darauf, dass die Zeiger der Küchenuhr verkündeten, dass es an der Zeit sei, eilte aus der Wohnung und blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Hinter der Wohnungstür gegenüber waren nervöse Stimmen zu hören, bis nach langen Minuten des Wartens endlich der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.

»Entschuldige die Verspätung, aber meine Eltern wollten mich nicht gehen lassen«, sagte Angelica außer Atem und schloss die Tür hinter sich, während sie mit der freien Hand ihren Mantel zuknöpfte und sich den Schal um den Hals schlang. »Erst haben meine Mutter und mein Vater heute Morgen kein Wort miteinander gesprochen, und plötzlich fingen sie an zu streiten. In letzter Zeit sind sie wie Hund und Katze, und Marco und ich stehen dazwischen und versuchen zu vermitteln. Das ist echt nicht einfach.« Sie verdrehte die Augen, während die Stimme ihrer Mutter durch die Tür drang.

»Kein Problem, ich hab höchstens zwei Minuten gewartet«, beschwichtigte er und zuckte zusammen, als er plötzlich Myriams Stimme hinter sich hörte.

»Vergiss nicht, den Rabbi von mir zu grüßen. Das ist so ein netter Mann«, erinnerte sie ihn und winkte beiden zum Abschied. »Und wenn ihr danach zum Lernen in die Bibliothek geht, esst vorher noch etwas. Ihr seid ja beide nur Haut und Knochen!«

Angelica nickte, und kaum waren sie aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden, zog sie Mosè in eine Ecke und fragte streng: »Warum hast du deiner Mutter immer noch nicht die Wahrheit gesagt?«

Mosè hielt die Bücher an die Brust gepresst und senkte schuldbewusst den Kopf. »Ich weiß, ich hätte es ihr sagen sollen, aber ich habe noch nicht den richtigen Zeitpunkt erwischt. Wahrscheinlich würde sie mir auch gar nicht zuhören.«

»Wer, Tante Myriam? Was redest du denn da, sie ist die geborene Zuhörerin! Ihr kann man alles anvertrauen, sie versteht mich tausendmal besser als meine Mutter, glaub mir«, sagte sie vorwurfsvoll und trommelte auf dem Lederband ihrer Handtasche.

Sie wartete, bis er sich wieder gefasst hatte, dann liefen sie gemeinsam los durch ein trostloses, kühles Rom. Es waren nur wenige Autos unterwegs, und wer mit dem Rad zur Arbeit fuhr, trat mühsam in die Pedale. Sie nahmen die Straßenbahn Richtung Zentrum und legten dann ein Stück Weg zu Fuß zurück, aber sie gingen nicht in Richtung Synagoge, sondern bogen zur Parteizentrale der Democrazia Cristiana ab.

Angelica blieb vor dem schlichten Seiteneingang stehen, vor dem sich ein Grüppchen junger Leute versammelt hatte – alle in Mosès Alter, junge Studenten mit dem Kopf voller Ideen und dem Wunsch, die Welt zu verändern. Sie hörte sie über Innenpolitik diskutieren, über die Schwierigkeiten der Regierung, die Legislaturperiode zu Ende zu bringen, die Spannungen in Algerien, die sich in den Tagen der Barrikaden entladen hatten sowie über Parteiinterna – die eine Seite unterstützte die Regierung Segni, die andere war der Meinung, er hätte sich dem Movimento Sociale zu sehr geöffnet. Mosè forderte sie auf, mit ihm hineinzugehen, und als die Diskussion lebhafter wurde, ging sie nicht, wie er ihr riet, sondern umklammerte die Stuhllehne vor ihr, beugte sich vor und verfolgte das Geschehen mit aufgerissenen Augen. »Man ist nicht an der Regierung, nur um zu regieren. Und sich mit ehemaligen Faschisten einzulassen, ist inakzeptabel. Solche Leuten dürfen nicht neben uns im Parlament sitzen«, rief ein junger blonder Mann in einem rostroten Pullover, den Angelica als einen der Moderatoren der Sitzung ausmachte.

»Aber ohne ihre Stimmen haben wir keine Mehrheit, und wer soll dann die notwendigen Reformen im Land durchsetzen? Im Parlament gibt es sonst keine Parteien, die sich ebenso von den Extremisten distanzieren wie wir, wir sind die einzige echte Alternative«, meinte ein anderer, mit kupferrotem Bart und einem Bleistift zwischen den fleischigen Fingern, der am Fenster saß.

»Jeder weiß doch, dass Segni Stimmen der MSI und der Monarchisten bekommt! Wo siehst du da die Distanz zu den Extremisten, wenn er mit den Faschisten gemeinsame Sache macht?«, rief ein Dritter, ein sommersprossiger Riese von fast zwei Metern, der erregt aufsprang. Eine leidenschaftliche und hitzige Diskussion entbrannte, schon bald flogen wüste Beschimpfungen hin und her, zwei Diskussionsteilnehmer waren kurz davor, sich zu prügeln.

»Lass uns gehen, hier ist es nicht mehr sicher«, flüsterte Mosè Angelica zu und nahm sie bei der Hand.

»Warte.«

»Wie bitte? Hier läuft gerade alles aus dem Ruder, glaub mir, wir sollten besser gehen.«

»Nein!«, schrie Angelica und entwand sich Mosès Griff, der sie erstaunt ansah. »Ihr habt alle recht, versteht ihr denn nicht, dass die eine Sache die andere nicht ausschließt?«, schaltete sie sich dann mit lauter Stimme in die Diskussion ein und zog sofort die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Sie spürte, wie sie gemustert, wie ihre Kleidung beurteilt wurde, weil sie die einzige Frau im Raum war, weil sie auf einer Versammlung, die nur Männern vorbehalten war, auch wenn das nicht ausdrücklich so gesagt wurde, das Wort ergriffen hatte, aber sie beschloss, sich von ihren zitternden Knien nicht zum Schweigen bringen zu lassen. Was sie zu sagen hatte, war wichtiger als das, was sie zu verlieren hatte, deshalb atmete sie tief durch und legte die Bücher, die sie bei sich trug, auf einem Tisch ab. »Viele hier haben etwas vielleicht noch nicht verstanden: Ja, es ist inakzeptabel, mit Leuten eine Regierung zu bilden, die vor einigen Jahren noch politisch Andersdenkende verfolgt und getötet haben, aber wenn man diese Parteien ausschließt, werden sie nur außerhalb des Parlaments ihre Zustimmung vergrößern. Und dann steht ihr bei den nächsten Wahlen wirklich mit dem Rücken zur Wand. Wenn man aber stattdessen versucht, diese Parteien unter Kontrolle zu halten, und schaut, welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit es beispielsweise mit den Sozialisten gibt, könnte man eine Basis schaffen für konkrete und notwendige Reformen, aber auf demokratische Art. Ich verstehe, dass sich die Führer dieser Partei von einer unbequemen Vergangenheit frei machen und sich nach links orientieren wollen, aber alles zu seiner Zeit. Das Ganze ist ein Drahtseilakt, wenn man heute einen falschen Schritt macht, kann das morgen verheerende Folgen haben, und ich glaube, niemand will einen zweiten Bürgerkrieg. Denn genau das steht zu befürchten.«

Die eben noch erhobenen Fäuste verschwanden in den Taschen, die wütenden Stimmen beruhigten sich und wurden zu einem überraschten Gemurmel, und überrascht waren auch die Blicke, die Angelica auf sich spürte. Plötzlich kam ihr der kleine Versammlungsraum mit den Postern der großen Parteiführer und den Parolen des Tages auf den beigefarbenen Wänden wie eine Theaterbühne vor, und sie war die Hauptfigur in diesem Stück.

»Das ist eine treffende Analyse. Es wäre interessant, deinen Standpunkt über die aktuelle politische Lage zu hören«, sagte der junge Mann im rostroten Pullover, ging auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Teodoro degli Alberici.«

»Angelica Fontamara«, sagte sie instinktiv, während Mosè ihr den Namen ihres Vaters zuflüsterte. »Meine Meinung zur aktuellen Lage ist rasch erzählt: Mir gefallen die Reformer, die Veränderungen in der Gesellschaft vor den anderen erkennen und sie umzusetzen versuchen, aber im Moment geht die DC wie gesagt das Risiko ein, sich von Minderheiten, die am besten gar nicht im Parlament wären, unter Druck setzen zu lassen. Aber da das nun mal derzeit so ist, muss man eine Möglichkeit finden, das Beste aus der Situation zu machen, um sie verändern zu können. Aber auch die Parteispitze muss sich engagieren und bereit sein, Kämpfe zu unterstützen, die nicht die ihren sind. Es wäre zum Beispiel wichtig, uns Frauen mehr als die paar Rechte zu geben, die wir mit Mühe erstritten haben. Ich rede gar nicht davon, das Recht auf Scheidung zu unterstützen, aber das könnte die DC tun, wenn sie nur wollte. Und es wäre auch aus wahltaktischen Gründen geschickt. Wir Frauen lassen uns vom Familienoberhaupt nicht mehr vorschreiben, wen oder was wir wählen sollen, wir fangen an, selbst zu denken, dem Himmel sei Dank.«

Der junge Mann unterdrückte ein Lächeln und blickte zu Mosè. »Ist das eine Freundin von dir?«

»Ja, meine Cousine. Entfernte Cousine«, sagte er und legte Angelica die Hand auf die Schulter, doch die lachte. »Entfernt? Unsere Mütter sind Schwestern!«, sagte sie und schüttelte den Kopf. Ihr Gegenüber lächelte.

»Gut, aber jetzt müssen wir los. Das weißt du doch.« Mosè schaute auf die Uhr.

»Ja, ich weiß, ich weiß«, seufzte sie. »Tut mir leid, ich muss gehen«, sagte sie zu Teodoro, der sie gleich zu den nächsten Versammlungen einlud. »Hier«, er hielt ihr einen Zettel hin, »da stehen alle geplanten Treffen dieses Monats mit dem jeweiligen Thema drauf. Vorausgesetzt natürlich, es kommt nichts Wichtigeres dazwischen. Du bist immer willkommen.«

Angelica faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Tasche, dann folgte sie Mosè nach draußen. Sie versuchte sich den staubigen Geruch des überhitzten und verrauchten Raumes einzuprägen. Der Rauch kratzte ihr noch immer in der Kehle, und sie musste husten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mosè, als sie draußen waren und sie sich vornüberbeugte und die Hände auf die Knie stützte.

»Ja, es ist nur der Rauch. Ich hasse das, man sollte das Rauchen in geschlossenen Räumen verbieten«, beklagte sie sich und umklammerte ihre Bücher fester. Sie sah auf die Uhr, und nachdem sie sich im Getto ein belegtes Brötchen gekauft hatten, gingen sie auf die Ponte Fabricio und stellten sich an das Geländer, um den Tiber zu betrachten, der unter den weiten Bögen hindurchfloss. »Wusstest du, dass das vielleicht die älteste Brücke Roms ist? Und die beliebteste bei Selbstmördern?«, fragte sie und schaute auf den Fluss, der sich um Baumstämme herumwand, die er auf seinem Lauf mitgerissen hatte, die kleinen Wasserfälle, die sein ununterbrochenes Gluckern plötzlich zu einem gewaltigen Rauschen anschwellen ließen, ein tiefes Heulen, das sich über der Stadt erhob.

Mosè trat neben sie, packte sein Brötchen aus und biss unentschlossen hinein. »Und wusstest du, dass Hunderte Juden während des Krieges diese Brücke überquert haben, um hier im Krankenhaus, das vom Vatikan verwaltet wird, Schutz zu suchen?«

»Ich weiß, dass Tante Myriam hier gearbeitet hat und dass sie auf ihrer Station Flüchtlinge versteckt haben.«

»Im ganzen Krankenhaus wurden Juden versteckt. Einige hat man sogar im Priesterseminar untergebracht, stell dir das mal vor.«

»Das wusste ich nicht.«

»Ich habe es durch Zufall erfahren. Ich komme oft hierher, und manchmal unterhalte ich mich mit Leuten aus dem Viertel. Einige wollen darüber reden, über die Schikanen, über die große Razzia im Oktober. Sie sprechen mit einer Selbstverständlichkeit darüber, dass es dir kalt den Rücken runterläuft.«

Angelica runzelte die Stirn und steckte das zur Hälfte gegessene Brötchen in ihre Tasche. »Entschuldige, aber wenn du dich den Leuten hier so nah fühlst, warum gehst du dann nicht in die Synagoge?«

Mosè zog die Brille aus und massierte sich die Nasenwurzel, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und setzte die Brille wieder auf. »Weil es keinen Sinn hat, gegen das anzukämpfen, das wir sind.«

»Das verstehe ich nicht.«

Er drehte sich zu Angelica um, die ihn neugierig ansah.

»Ich erzähle dir jetzt mal von einem Erlebnis, das ich in der Grundschule hatte«, begann er. »Wir haben einmal einen Ausflug in den Petersdom gemacht, ungefähr in dieser Jahreszeit oder in der Fastenzeit, und ich erinnere mich, dass mich beim Betreten der Basilika sofort etwas innerlich durchschüttelte. Ich kann es nicht gut in Worte fassen, es war wie eine Art Stromschlag. Zwischen diesen hohen Mauern, in der Stille dieses heiligen Ortes, an dem nur hin und wieder die Schritte einiger Priester zu hören waren, hatte ich zum allerersten Mal das Gefühl, dass meine Seele zu Hause war. Dort habe ich wirklich die Nähe Gottes gespürt, ich fühlte mich aufgenommen, umarmt, und jedes Mal, wenn mein Blick auf ein Kreuz fiel, ob gemalt oder als Skulptur, empfand ich ein Gefühl tiefer Zufriedenheit, als ob ich nach Jahren mit angehaltenem Atem endlich Luft bekam. Ich habe jahrelang die Synagoge besucht, weil meine Mutter es so wollte, ich habe alle Regeln befolgt, den Sabbat gehalten und alle jüdischen Feste gefeiert, weil es für sie wichtiger ist, dass ich mich an meine Wurzeln erinnere, als dass ich meinen eigenen Wünschen folge. Aber seit jenem Tag bin ich jeden Sonntag in die Kirche gegangen.«

Angelica riss überrascht die Augen auf. »Jeden Sonntag? Du warst doch noch ein Kind, wie hast du das gemacht?« Mosè lächelte und strich über den porösen Stein der Balustrade. »Eben, ich war noch ein Kind, und wenn ich meine Mutter oder meine Tante gebeten habe, mich mitzunehmen, haben sie mir das nicht verwehrt.«

Angelica trat ein paar Schritte zurück, um Mosè zu betrachten. Für sie war er immer ein gutherziger, aber etwas tollpatschiger, naiver Junge gewesen, doch nach diesen Worten war ihr, als hätte sie einen ganz anderen Mosè vor sich, einen Mosè, den sie nicht kannte.

»Du überraschst mich. Ich hätte nicht gedacht, dass du so raffiniert bist.«

Mosè nickte. »Das habe ich wohl von meinen leiblichen Eltern. Sie haben sich an eine sehr viel schwierigere Zeit anpassen müssen als ich, eine furchtbare Zeit. Ich bin nur ihrem Beispiel gefolgt: Ich bin in eine andere Haut geschlüpft, um nach meinen Regeln, meinen Prinzipien leben zu können. Vielleicht war das das Jüdischste, das ich je in meinem Leben getan habe.«

Angelica seufzte nachdenklich. Von Angela Fontamara, verheiratete Contrada, von der ihre Tante Myriam oft gesprochen hatte, im Gegensatz zu ihrer Mutter, die die Cousine nicht besonders hatte leiden können, von der Frau, die Mosè zur Welt gebracht und sich aus Liebe den Nazis entgegengestellt hatte, hatte sie nur eine sehr vage Vorstellung. »Eines Tages erzählst du mir von deiner Mutter. Von Angela, meine ich«, sagte sie, während Mosè den Blick wieder auf den Fluss richtete.

»Ich gehe in die Synagoge, aber nur ab und zu«, sagte er gedankenverloren. »Ehrlich gesagt mache ich es mehr für meine verstorbenen Eltern als für mich, denn jedes Mal, wenn ich im Tempel bin, fühle ich mich fehl am Platz. Aber ich weiß, sie hätten sich gewünscht, dass ich mit meinen Wurzeln verbunden bleibe. Nur manchmal sind sie so belastend, Angelica, sie wiegen manchmal so schwer, das kannst du dir gar nicht vorstellen.« Er fuhr sich durchs Haar, und sie legte ihre Hand auf seine.

»Es muss schrecklich sein, vorzugeben, jemand zu sein, der man gar nicht ist. Aber du musst das nicht tun. Deine Eltern, wo auch immer sie sein mögen, wollen dich bestimmt glücklich sehen, egal, ob du in die Kirche gehst oder in die Synagoge, meinst du nicht?«

»Sag das mal Myriam. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie sie reagiert, wenn sie erfährt, dass ich Kirchenrecht studieren will.«

»Ich finde, du solltest dich ihr anvertrauen. Erklär ihr, dass du dich der jüdischen Gemeinschaft nicht zugehörig fühlst, und hör endlich mit diesen Ausflüchten auf.«

»Ich kann nicht, verstehst du das nicht?«

»Warum?«

»Weil ich es nicht nur für meine Mutter, sondern auch für Myriam tue!« Er ballte die Fäuste. »Oft höre ich sie nachts schreien, sie hat Albträume von diesen furchtbaren Jahren, und von dem Tag, an dem meine Mutter umgebracht wurde. Meine Beziehung zur jüdischen Gemeinde ist für sie eine Art, sich an sie zu erinnern, Frieden zu schließen mit ihrer Vergangenheit. Ich kann ihr das nicht antun, nicht ihr, die mich wie einen Sohn aufgezogen hat. Und das hat sie nicht nur getan, weil sie es meiner Mutter versprochen hat, sondern weil sie mich wirklich liebt. Niemals werde ich vergessen, wie sie mich nach der Befreiung Roms aus dem Kloster abgeholt hat, in dem sie mich vor den Deutschen versteckt hatte. Als sie hereinkam und ich auf sie zugerannt bin, hat sie mich fest in den Arm genommen, und als ihre warmen Lippen mich auf den Kopf geküsst haben und sie weinte, habe ich ihre ganze Liebe gespürt. Wie kann ich sie da verraten?«

Angelica schwieg einen Moment, dann senkte sie den Kopf. »Du hast recht, was ich gesagt habe, war dumm. Lass uns gehen«, sagte sie plötzlich und griff nach seiner Hand, um ihn wegzuziehen von dieser Brücke, vom Getto und allem, wofür es stand, von den unzähligen Fragen, die ihr durch den Kopf gingen. Während die Straßenbahn sie unter dem grauen Himmel eines Spätwintertags wieder nach Hause trug, fragte sie sich, wo sie hingehörte und warum in ihrem Kopf alles so chaotisch und wirr war.

Auf ihrem hölzernen Sitz, gewiegt von der schaukelnden Bahn, die durch das Stadtzentrum fuhr, betrachtete sie Mosè, der vor ihr saß und überlegte, wie schwer es für ihn sein musste, dieses Schauspiel jahrelang aufrechtzuerhalten. Ich könnte so nicht leben, ich könnte mich nicht den Erwartungen der anderen unterordnen und meine eigenen Bedürfnisse zurückstellen, dachte sie bei sich, und sie dachte auch noch darüber nach, als ihre Haltestelle aufgerufen wurde und sie durch die Straße, die in das flammende Farbenmeer eines frühen Sonnenuntergangs getaucht wurde, nach Hause liefen.

»Zum Glück ist der Winter bald vorbei. Ich ertrage diese frühe Dunkelheit nicht mehr«, beschwerte sich Mosè und grüßte Don Luigi, der ihnen vom Kirchplatz zuwinkte.

»Ich schaue noch kurz bei Tante Viola vorbei. Wenn du willst, kannst du schon vorgehen.«

Er blieb stehen und lächelte. »Gut, dann gehe ich später noch in die Kirche, dann kann ich gleich morgen früh mit dem Lernen anfangen.«

»Gute Idee.«

Er nickte, machte einige Schritte und drehte sich dann noch einmal um. »Aber schon merkwürdig, dass du mich fragst, ob ich vorgehen will.«

»Warum?«

»Weil sonst immer du allen einen Schritt voraus bist.«

Sie schlang die Arme fester um die Bücher, die sie als Alibi mitgenommen hatten, und drückte sie an die Brust. »Manchmal hat man einen besseren Überblick, wenn man ein paar Schritte hinter den anderen bleibt«, antwortete sie, während der scharfe Wind durch die Gassen pfiff und an den Türen der Häuser rüttelte. Dann zog sie den Mantel enger und eilte in Richtung des Ateliers für Brautmoden, in dem ihre Tante arbeitete. Der Kontakt zu Viola war nicht sehr eng, Angelica war pragmatisch und wenig empfänglich für deren esoterische Welt, aber genau deshalb war ihre Tante jetzt die Einzige, die ihr die Antworten geben konnte, nach denen sie suchte.

Viola war gerade über einen fünf Meter langen Spitzenschleier gebeugt, sie arbeitete im schummrigen Licht einer Lampe, eine dicke Brille auf der Nase und eine Nadel in der Hand, die sie geschickt über den Stoff bewegte. Sie war schon ein paar Jahre in dem Atelier angestellt, aber Angelica hatte sich immer von dort ferngehalten. Sie betrat leise den Laden, die Glocke läutete, und sofort schoss eine junge Verkäuferin auf sie zu, um ihr das neuste Hochzeitskleid anzubieten. »Ich will nicht heiraten«, sagte sie und umklammerte ihre Bücher, »ich möchte zu meiner Tante.« Sie blickte sich suchend um.

»Was machst du denn hier, Liebes?«, begrüßte sie Viola, die kaum den Blick vom Stoff hob.

»Ich muss mit dir reden, Tante«, sagte sie und warf einen Blick zur Verkäuferin, die jetzt wieder mit den Sonderwünschen einer Braut beschäftigt war. Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf Viola.

»Ich höre«, ermutigte Viola sie, aber nachdem Angelica ihr ihre Gedanken mitgeteilt hatte, brachte ihre Tante ihre Überzeugungen ins Wanken.