Der Parlamentarische Rat 1948–1949 - Michael F. Feldkamp - E-Book

Der Parlamentarische Rat 1948–1949 E-Book

Michael F. Feldkamp

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Beschreibung

Am 1. September 1948 trat in Bonn erstmals der Parlamentarische Rat zusammen, um Verfassungsstrukturen für das westliche Nachkriegsdeutschland zu erarbeiten. Am 23. Mai 1949 war sein Auftrag erfüllt: das Grundgesetz wurde verkündet, wiederum in Bonn, zukünftiger »Sitz der Bundesorgane« der Bundesrepublik. Michael F. Feldkamp schildert in diesem Buch sachkundig den konfliktreichen Weg zum Grundgesetz. Er beschreibt die Vorgänge und Diskussionen im Parlamentarischen Rat selbst, aber auch die Ereignisse und die informellen Gespräche im Hintergrund. So entsteht ein plastisches Bild von den parteipolitischen Auseinandersetzungen und vom Ringen um Kompromisse zwischen verschiedenen Vorstellungen staatlicher Ordnung. Ein biographischer Anhang stellt alle Mitglieder des Parlamentarischen Rates vor. Zahlreiche Fotos zeigen den Rat bei seiner alltäglichen Arbeit und illustrieren dieses zentrale Kapitel in der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik.

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Seitenzahl: 358

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Michael F. Feldkamp

Der Parlamentarische Rat1948–1949

Die Entstehung des Grundgesetzes

Mit 23 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Wir danken dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland für die Kooperation beim Zugang zu dem Fotobestand »Parlamentarischer Rat« von Erna Wagner-Hehmke.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Überarbeitete Neuausgabe

© 2008, 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf dervorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Der Nordrhein-Westfälische Ministerpräsident Karl Arnold, Konrad Adenauer und Carlo Schmid nach Beratungen des Parlamentarischen Rates zum Besatzungsstatut.© SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo

Satz: Satzspiegel, Nörten-HardenbergEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-90143-5

Inhalt

Zum Geleit

Vorwort

Einleitung

I.  Vorgeschichte

1.Erste Konzepte einer Nachkriegsverfassung

2.Die Londoner Sechsmächtekonferenz

3.Die Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948

4.Die Koblenzer Beschlüsse

5.Die zweite Ministerpräsidentenkonferenz in Niederwald

6.Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (10.–23. August 1948)

7.Letzte Vorbereitungen

8.Die »Väter« und »Mütter« des Grundgesetzes

II.Anfänge

1.Die Eröffnungsfeier

2.Die Konstituierung am 1. September 1948

3.Vorbereitungen für die zukünftige Parlamentsarbeit

4.Der Geschäftsordnungsausschuß

5.Die Plenarsitzungen am 8./9. September 1948

III.Die inhaltliche Arbeit in den Fachausschüssen

1.Ausschuß für Grundsatzfragen

2.Ausschuß für Organisation des Bundes sowie Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege (sog. Kombinierter Ausschuß)

3.Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung

4.Ausschuß für Finanzfragen

5.Ausschuß für Wahlrechtsfragen

6.Ausschuß für das Besatzungsstatut

IV.Erste Beratungen über das Grundgesetz im Plenum und im Hauptausschuß

1.Die Plenarsitzungen am 20./21. Oktober 1948

2.Erstes Eingreifen der Alliierten

3.Interfraktionelle Besprechungen im Oktober/November 1948 und das Gespräch zwischen Ehard und Menzel

4.Aufnahme der Beratungen im Hauptausschuß

5.Das alliierte Memorandum vom 22. November 1948

6.Gespräche mit Vertretern der Gewerkschaften und der Kirchen

7.Die Besprechungen mit den Militärgouverneuren am 16./17. Dezember 1948, die »Frankfurter Affäre« und ihre Beilegung im Januar 1949

V.Grundgesetzarbeit und politisches Kalkül

1.Die weltpolitische Lage

2.Das Ruhrstatut und der »Fall Reimann«

3.Die zweite und dritte Lesung im Hauptausschuß und der Kompromiß im Fünferausschuß

4.Die Diskussion um den vorläufigen Sitz der Bundesorgane

5.Otto Nuschke in Bonn und die Gesprächsangebote des Deutschen Volksrats an den Parlamentarischen Rat

VI.Der Grundgesetzentwurf des Siebenerausschusses und die Alliierten

1.Das alliierte Memorandum vom 2. März 1949

2.Die Verhandlungen mit den alliierten Verbindungsoffizieren und Finanzexperten

3.Die Entscheidungen der Washingtoner Außenministerkonferenz der drei Westmächte am 5.–8. April 1949

4.Der kleine Parteitag der SPD in Hannover und das alliierte Memorandum vom 22. April 1949

VII.Der Abschluß der Arbeiten am Grundgesetz

1.Der interfraktionelle Kompromiß

2.Die Besprechung mit den Militärgouverneuren am 25. April 1949

3.Die Verabschiedung des Grundgesetzes

4.Die Genehmigung des Grundgesetzentwurfes durch die Militärgouverneure

5.Ratifizierung und Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949

Anhang

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates

Zeittafel

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Literatur

Personenregister

Sachregister

Zum Geleit

Der Parlamentarische Rat sollte eine »›Magna Charta‹ des deutschen öffentlichen Lebens« entwerfen. So sagte es 1948 der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Karl Arnold auf dem Festakt vor Beginn der Arbeitssitzungen im Museum König in Bonn. »Dem völlig auseinandergebrochenen deutschen Volke eine neue politische Struktur geben«, lautete der Auftrag in den Worten Konrad Adenauers, des Vorsitzenden des Parlamentarischen Rates.

Es galt, aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu lernen und nach dem Zivilisationsbruch im Nationalsozialismus die Grundlage für eine solide freiheitlich-demokratische Ordnung in Deutschland zu legen. Die Bürger waren vor dem Staat zu schützen. Und die Demokratie vor ihren Feinden.

Auf Weisung der drei westlichen Alliierten hatten die Ministerpräsidenten der Länder in der britischen, amerikanischen und französischen Besatzungszone den Parlamentarischen Rat einberufen, um eine Verfassung zu erarbeiten. Eine föderale Regierungsform mit einer »angemessenen Zentralinstanz« sowie der »Garantie der individuellen Rechte und Freiheiten« – wohl wissend, dass die neue Ordnung in der sowjetisch besetzten Zone und im Osten des geteilten Berlin nicht würde gelten können. So konnte sie damals nur ein Provisorium sein.

Das ist das Grundgesetz längst nicht mehr. Es hat sich bewährt – das können wir nach 70 Jahren Rechtsstaatlichkeit und der friedlichen Wiederherstellung der staatlichen Einheit – dem Beitritt der »neuen« Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes – festhalten.

Das Grundgesetz durfte anfangs keine Verfassung sein, aber es ist eine vorbildliche Verfassung geworden – eine, die hinreichende Möglichkeiten zur zeitgemäßen Veränderung bietet und die zugleich vor leichtfertigen Eingriffen geschützt ist. Die universellen Menschenrechte garantiert und dem markanten Kerngedanken von Artikel 1 folgt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Dieser Band führt uns die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes vor Augen: Wie sind die Mitglieder des Parlamentarischen Rates vor 70 Jahren vorgegangen, was haben sie in der schwierigen Nachkriegssituation diskutiert? Was bewegte sie? Und wer waren die vier Mütter und insgesamt dreiundsiebzig Väter des Grundgesetzes – unsere politischen Vorfahren, die damals so gut vorgesorgt haben? Wir verdanken Ihnen viel: ein tragfähiges Fundament für unser Zusammenleben – in Einigkeit und Recht und Freiheit.

DR. WOLFGANG SCHÄUBLEPRÄSIDENT DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES

Vorwort

Schon bald nachdem das vom Parlamentarischen Rat ausgearbeitete Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 verkündet worden war, gab es sowohl von ehemaligen Abgeordneten wie auch Historikern Bemühungen, die Vorgänge im Parlamentarischen Rat genau zu rekonstruieren. Zahlreichen Grundgesetzkommentaren wurden historische Einleitungen beigegeben, weil von Anfang an deutlich war, daß das Grundgesetz ohne den Kontext seiner Entstehung nicht verständlich ist, und weil für die Auslegung eines Rechtstextes seine Genese hilfreich, ja sogar unentbehrlich sein kann.

Anläßlich des zwanzigjährigen Jubiläums der Verkündung des Grundgesetzes im Jahre 1969 kamen im Wohnhaus des kurz zuvor verstorbenen Altbundeskanzlers Konrad Adenauer ehemalige Abgeordnete des Parlamentarischen Rates und Historiker zu einer Tagung mit dem Thema »Parlamentarischer Rat« zusammen. Zwischen beiden Gruppen entspann sich ein heftiger Streit um die Frage, inwieweit die Akten des Parlamentarischen Rates es ermöglichen, die Vorgänge zuverlässig darzustellen. Tatsächlich unterschieden sich die subjektiven Erinnerungen der damals noch lebenden »Verfassungsväter« zum Teil erheblich von den ersten Ergebnissen der geschichtswissenschaftlichen Forschung.

Heute, 70 Jahre später – bedeutende Zeitzeugen sind längst verstorben –, steht die Frage noch drängender im Raum, ob eine zuverlässige Darstellung der Geschichte des Parlamentarischen Rates erarbeitet werden kann. Doch was von den Historikern auf der Tagung 1969 noch nicht absehbar war und deswegen damals gar nicht erst in Betracht gezogen wurde, war die Reichhaltigkeit der Quellen, die erst in den Jahren danach zugänglich wurden.

So ist die siebzigjährige Wiederkehr der Entstehung des Grundgesetzes 2018/19 ein willkommener Anlaß, meine Darstellung der Geschichte dieses ersten westdeutschen Nachkriegsparlaments aus dem Jahre 1998 erneut zu veröffentlichen. Nicht nur das Grundgesetz ist bis zum Sommer 2018 durch inzwischen 62 Änderungsgesetze novelliert worden, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland hat sich sehr verändert. Eine erinnerungswürdige Grundgesetzänderung ist mit der Deutschen Einigung 1990 an der Präambel vorgenommen worden. Sie enthielt in ihrer ursprünglichen Fassung den Hinweis, daß der Parlamentarische Rat »auch für jene Deutschen gehandelt [hat], denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden«. Durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990, mit dem die fünf neuen Länder dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitraten, ist der politische Anspruch dieser Präambel erfüllt worden. Für die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes müssen jedoch die historischen Bedingungen im geteilten Deutschland der Nachkriegszeit wieder in Erinnerung gerufen werden.

Freilich kann im Rahmen dieser Studie nur eine überblicksartige Orientierung über die Geschehnisse gegeben werden. So wendet sich das Buch an jene Leser, die sich über den Parlamentarischen Rat und die Entstehung des Grundgesetzes aus erster Hand informieren möchten. Die Quellennähe mag ein wenig Zeitkolorit vermitteln und atmosphärische Bedingungen einfangen.

Der Text geht zurück auf die 2008 erschienene Neuausgabe. Er wurde ergänzt durch ein Verzeichnis der in den letzten zehn Jahren erschienenen Literatur, das freundlicherweise von Michael Timmermann, Bibliothek des Deutschen Bundestags erstellt wurde.

Berlin, am 8. Dezember 2018

Michael F. Feldkamp

Einleitung

Die Vorgänge im Parlamentarischen Rat sind für die Gründungs- und Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland von zentraler Bedeutung. In den Jahren von der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 bis zur Konstituierung des Parlamentarischen Rates im September 1948 erfolgten einschneidende Veränderungen, auch wenn der Kampf des einzelnen um das nackte Überleben den Blick auf politische Entwicklungen zunächst versperrte. Einige verantwortliche Militärs und Politiker der drei westlichen Besatzungsmächte stellten frühzeitig fest, daß mit Siegermentalität in einem Deutschland wenig auszurichten war, dessen Städte im Zweiten Weltkrieg vielfach zerstört worden war, das in vier Besatzungszonen eingeteilt war und dessen Ostgebiete von Polen und der UdSSR annektiert waren. Wenn es noch Ende 1945 überwiegend als abwegig erschien, so mußte Deutschland dennoch nach Ansicht weitsichtiger amerikanischer Politiker schrittweise seine Souveränität zurückerhalten. Geradezu programmatisch für die politische Neuorientierung der Westalliierten stand die »Rede der Hoffnung« des amerikanischen Außenministers James F. Byrnes in Stuttgart am 6. September 1946, in der er ankündigte, daß die USA »dem deutschen Volk die Regierung Deutschlands zurückzugeben« wünsche und ihm helfen wolle, »seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt«.1

Trotz einer fehlenden konkreten gemeinsamen Deutschlandkonzeption wurden die amerikanische und die britische Besatzungszone am 1. Januar 1947 zur Bizone zusammengeschlossen. Damit war die Teilung Deutschlands unvermeidlich geworden, ohne daß bei den Alliierten eine primäre Teilungsabsicht bestanden haben dürfte. In der Folge wurden der Wirtschaftsrat, Ernährungsrat, Verkehrsrat, Finanzrat und Verwaltungsrat für Post- und Fernmeldewesen als gemeinsame Organe der Länder in der Bizone gegründet. Der Wirtschaftsrat mit Sitz in Frankfurt am Main wurde aufgrund eines amerikanisch-britischen Abkommens vom 29. Mai 1947 über die »Neugestaltung der bizonalen Wirtschaftsstellen« zur ersten gesetzgebenden Körperschaft nach Art eines Parlaments umgestaltet und damit zu der wichtigsten wirtschaftspolitischen Einrichtung in der Bizone (25. Juni 1947). Die dabei entstandenen Verwaltungsstrukturen, die ab Februar 1948 zum »Vereinigten Wirtschaftsgebiet« zusammengeführt wurden, entwickelten sich zum Vorbild für die spätere Bundesregierung in Bonn.

Die Konfrontation gegensätzlicher Auffassungen der Großmächte Großbritannien, USA und später auch Frankreich auf der einen, der Sowjetunion auf der anderen Seite begünstigte bei den Amerikanern die seit 1947 favorisierte Alternative eines »Weststaates«. Damit erhielt das durch das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 geschaffene viergeteilte Deutschland neue geopolitische Strukturen. Als die UdSSR am 20. März 1948 aus dem Alliierten Kontrollrat auszog, verfolgten die USA um so entschlossener die schnelle politische und wirtschaftliche Integration der westlichen Länder. Mit dem nach dem amerikanischen Außenminister George C. Marshall benannten US-Wirtschaftshilfeprogramm vom 3. April 1948 und der Währungsreform am 20. Juni 1948 wurden weitere Schritte zu einer wirtschaftlichen Konsolidierung und staatlichen Organisation unternommen, die die UdSSR am 16. Juni 1948 mit ihrem Ausscheiden aus der Berliner Alliierten Stadtkommandantur und am 24. Juni 1948 mit der Berlin-Blockade beantwortete.

Die vorläufig letzte Etappe zur politischen Einheit Westdeutschlands wurde mit der Einberufung des Parlamentarischen Rates eingeläutet. Sein Ergebnis, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, ist bekannt und in zahlreichen Publikationen und Kommentaren thematisiert worden. Die maschinenschriftlichen Protokolle der Fachausschüsse fanden schon sehr bald Verwendung in der juristischen und staatswissenschaftlichen Literatur. Die Geschichtswissenschaft jedoch, sieht man von verstreut veröffentlichten Aufsätzen einmal ab, hatte den Parlamentarischen Rat insofern lange Zeit vernachlässigt, als daß sie eine wissenschaftlich fundierte, zusammenfassende Darstellung der politischen Geschichte des Parlamentarischen Rates nicht vorlegen konnte. Schon der 1949 geplante »Almanach«, der, »flüssig geschrieben«, als »Rechenschaftsbericht des Parlamentarischen Rates gegenüber dem deutschen Volke«2 gedacht war, scheiterte. Unveröffentlicht blieb die von Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955 dem ehemaligen Botschafter Anton Pfeiffer übertragene »Geschichte« des Parlamentarischen Rates, die nach dessen Tod 1957 von Josef Ferdinand Kleindinst – ebenfalls Mitglied des Parlamentarischen Rates – abgeschlossen wurde.3 Vermutlich auch weil sich schon im ersten Bundestagswahlkampf 1949 die politischen Parteien gegenseitig Vorhaltungen über ihre Positionen gegenüber den Alliierten und den Inhalten des Grundgesetzes machten, war an eine seriöse, wissenschaftlich ausgewogene und zuverlässige Aufarbeitung der Geschichte des Parlamentarischen Rates in den ersten Jahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland nicht zu denken.

Erst anläßlich des zwanzigjährigen Jubiläums der Verabschiedung des Grundgesetzes kamen 1969 Zeitzeugen und Historiker zusammen, um über die Geschichte des Parlamentarischen Rates zu diskutieren.4 Vielfach war Erinnertes nicht mit den Erkenntnissen der jungen Forscher in Einklang zu bringen. Beide Gruppen vermochten nicht zu erahnen, welch Quellenfülle seitdem in in- und ausländischen Archiven zugänglich gemacht wurde. Das Sekretariat des Parlamentarischen Rates verfaßte nicht nur Protokolle aller Fachausschußsitzungen, der Hauptausschußsitzungen und der Plenumssitzungen, sondern hat darüber hinaus gelegentlich auch Mitschriften von Ältestenratssitzungen und interfraktionellen Besprechungen gefertigt. Auch die Sitzungen der CDU/CSU-Fraktion wurden teils wörtlich mitgeschrieben. Bedauerlicherweise sind Aufzeichnungen der SPD-Fraktion nicht überliefert. Dagegen sind jedoch inzwischen Nachlässe verstorbener Abgeordneter und die hochinteressanten Archivalien der Alliierten Militärregierungen zugänglich geworden. Letztere enthalten gelegentlich sogar Aufzeichnungen von Telefongesprächen einzelner Abgeordneter, die die Geheimdienste der Alliierten abhörten.5 Die Akten und Protokolle des Parlamentarischen Rates sind inzwischen in einer gemeinsamen Quellenedition vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv publiziert worden.6

I. Vorgeschichte

1. Erste Konzepte einer Nachkriegsverfassung

Überlegungen zu einer deutschen Nachkriegsverfassung reichen zurück in die Jahre des Zweiten Weltkrieges, als Adolf Hitler auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. In Widerstandsbewegungen, etwa um General Ludwig Beck und den Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler oder im Kreisauer Kreis, aber auch in Exilgruppen, besonders sozialistischen und sozialdemokratischen Gruppen in Großbritannien und den USA, wurden Modelle entworfen, die sich im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 dadurch auszeichneten, daß sie einen demokratischen Staat vorsahen, in dem die wichtigsten Verfassungsorgane durch eine verstärkte Beteiligung der Länder oder aber durch ein Honoratiorenkabinett bzw. einen Senat kontrolliert werden sollten. Da schließlich alle Gruppen von leidvollen Erfahrungen im nationalsozialistischen Führerstaat in Deutschland geprägt waren, fand sich in vielen Verfassungsmodellen die Idee, Deutschland in ein geeintes Europa zu integrieren. Es galt, nationalstaatliches Denken zu überwinden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg forderte erstmals der britische Militärgouverneur Sir Brian Robertson am 12. Juni 1947 den im März 1946 von der britischen Militärregierung in Hamburg eingerichteten Zonenbeirat auf, sich zu den künftigen politischen Strukturen in Deutschland zu äußern. Mitglieder des Zonenbeirates, der weder eine selbständige Exekutive noch eine Legislative besaß, waren die von der Militärregierung berufenen Vertreter der Landes- und Provinzialregierungen, der Fachressorts für Gewerbe und Industrie, Ernährung und Landwirtschaft, Justiz usw. Nachdem die im Zonenbeirat vertretenen Parteien ihre Konzepte erarbeitet hatten, verabschiedete dieser am 30. Juli 1948 fast einstimmig, allerdings ohne die KPD, seine Denkschrift zu einer zukünftigen Verfassungspolitik.1 Dem darin veröffentlichten Verfassungsentwurf wurden die unterschiedlichen Ansichten der Parteien zur Erläuterung beigegeben, wobei auffallenderweise vielfach die föderalistischen Auffassungen vorangestellt wurden. Damit bekam der Verfassungsvorschlag des Zonenbeirates eine stark föderalistische Tendenz, die der SPD schon deswegen mißfiel, weil die Mehrheit im Zonenbeirat eigentlich einen zentralen Einheitsstaat forderte. Vielleicht – so urteilte der nordrhein-westfälische Innenminister Walter Menzel (SPD) – »wäre es richtiger gewesen, jeweils mit der Auffassung der stärksten Fraktion zu beginnen«.2

Im Stuttgarter Länderrat, der am 6. November 1945 als erstes länderübergreifendes Gremium nach dem Krieg für die amerikanische Zone seine Tätigkeit aufnahm, spielte der Föderalismus eine noch größere Rolle. In den süddeutschen Ländern war das Selbstbewußtsein der Ministerpräsidenten größer. Dort hatte der Föderalismus, gepaart mit dem Wunsch nach größtmöglicher Souveränität der deutschen Länder, eine lange Tradition, die im Kaiserreich und der Weimarer Republik vielfach erfolgreich aufrechterhalten wurde. Aus dem Länderrat kam der in anderen politischen Gremien abgelehnte Vorschlag, alle vier Besatzungszonen nach dem Vorbild der Bizone zusammenzuschließen.

Föderalistische Ziele verfolgte auch das von den süddeutschen Ministerpräsidenten beeinflußte Deutsche Büro für Friedensfragen (gegründet 1947), das sich ursprünglich mit der Erörterung der Angelegenheiten im Zusammenhang mit einem anstehenden Friedensvertrag beschäftigen sollte.3 Hier entwickelten bayerische Vertreter im Rückgriff auf Ideen einer »Verfassung der Vereinigten Staaten von Deutschland« (1946) die Forderung nach einer losen Zentralgewalt (Bundesstaat). Württembergische Vertreter sahen im bayerischen Vorschlag eine Überinterpretation ihres Konzeptes eines deutschen Staates, und bemängelten, daß in Bayern deutsche Einheit mit deutschem Einheitsstaat irreführenderweise gleichgesetzt worden sei. Sie bekräftigten, daß der Föderalismus nicht dazu diene, »sich von der Erbschaft des schwer belasteten Reiches loszusagen, indem man tut, als sei man länderweise aus Deutschland ausgewandert und könne im Irgendwo neue Staaten von Deutschen gründen«.4 Die Vorschläge der aus Mitgliedern des Büros für Friedensfragen begründeten »Süddeutschen Sachverständigenkommission für eine deutsche Verfassung« vom 16. Juli 1948 enthielten für den neuen Staat bereits die Bezeichnung »Bundesrepublik Deutschland« – ein Begriff, der erstmals von den Franzosen im Zusammenhang mit der Beratung der württembergisch-hohenzollernschen Verfassung im Mai 1947 ins Gespräch gebracht wurde.

Von den Parteien kamen zunächst wenige Anstöße für eine künftige Verfassung, da sie sich über die Besatzungszonen hinaus meist nur lose zusammengeschlossen hatten. Innerhalb der von CDU und CSU begründeten Union zeichnete sich eine starke föderalistische Prägung ab, die erst am 13. April 1948 in den »Grundsätzen für eine Deutsche Bundesverfassung« des »Ellwanger Freundeskreises« schriftlich niedergelegt wurden.5 Die SPD hatte sich schon in ihren von Walter Menzel und dem Parteivorsitzenden Kurt Schumacher beeinflußten »Nürnberger Richtlinien« von 1947 gegen »offenen oder versteckten Separatismus und Partikularismus« gewandt und forderte, daß die Verfassungen der Länder nichts enthalten dürften, was der »Reichseinheit entgegenstehen kann«.6 Ihr Verfassungskonzept stand mit einer zentralen Gesetzgebung und einer dezentralen Exekutive den föderalistischen Ansätzen der überwiegenden Zahl der bis dahin erarbeiteten Konzepte entgegen. Jene »Abweichler«7 wie Hermann L. Brill, Fritz Eberhard oder Wilhelm Hoegner, die sich im Länderrat oder seitens des Deutschen Büros für Friedensfragen für einen Staatenbund der Länder ausgesprochen hatten, mußten sich künftig im Interesse der von Schumacher beschworenen Einheit der Partei der offiziellen Linie unterordnen.

Die unterschiedlichsten Konzepte behandelten freilich nicht nur das Föderalismusproblem. Doch ließen sich hieran schon in den ersten Nachkriegsjahren die unterschiedlichen Meinungen herauskristallisieren, da immerhin die zentralistische Weimarer Verfassung Hitler zur Machtergreifung 1933 verholfen hatte.

2. Die Londoner Sechsmächtekonferenz

Die erste einschneidende Veränderung in der alliierten Nachkriegspolitik erfolgte mit der Londoner Sechsmächtekonferenz (23. Februar–6. März 1948 und 20. April–2. Juni 1948), auf der die Westmächte die Frage einer westdeutschen Verfassung erörterten.

Schon im Vorfeld der Außenministerkonferenz war den drei westlichen Alliierten, zu denen in London die Beneluxstaaten als unmittelbare Nachbarn Deutschlands hinzukamen, bewußt, daß die Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen keine dauerhafte Lösung bleiben durfte. Zugleich schien es ihnen nicht sinnvoll, trotz der augenblicklich scheinbar nicht realisierbaren Einheitsvorstellungen einen Wiederaufbau Westeuropas noch weiter hinauszuzögern. Deswegen hatten Amerikaner und Briten schließlich auch verfassungspolitische Diskussionen im Länderrat bzw. Zonenbeirat angeregt. Allerdings rangierte nicht nur bei den Briten die politische Einheit vor der Schaffung einer westdeutschen Verfassung; sie wünschten, darin »Türen dafür offen [zu] lassen, daß der Anschluß an die Ostzone ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden könne«.8

Während die USA in ihren verfassungspolitischen Überlegungen auf der Londoner Konferenz einen Weststaat vorsahen, in dem den Ländern ein erhebliches Eigengewicht zukommen sollte, die Briten jedoch über keine föderalistischen Verfassungserfahrungen verfügten und deswegen in den nächsten Monaten unvoreingenommen zentralistischen Konzepten der Deutschen begegnen konnten, erhielt für die Franzosen unter sicherheits- und machtpolitischen Aspekten ein deutscher Föderalismus geradezu existentielle Bedeutung. Es entsprach dem französischen Sicherheitsbedürfnis, auch künftig ein wirtschaftlich und politisch schwaches Deutschland als unmittelbaren Nachbarn zu haben. Aus diesem Grund suchten die Franzosen auf der Londoner Außenministerkonferenz auch bis zum Schluß den Auftrag zur Erstellung einer Verfassung für einen Weststaat mit Hinweis auf voraussichtlich zu erwartende russische Interventionen zu verhindern. Frankreich knüpfte schon 1947 seine Einwilligung zu einer Fusion der drei westlichen Besatzungszonen an klare Bedingungen. Darunter zählte die Anerkennung der Abtrennung des Saargebietes von Deutschland, eine französische Beteiligung an einer internationalen Kontrolle des Ruhrgebietes, ein föderalistisches Westdeutschland und eine möglichst lange andauernde Besatzungszeit. Mit der Einbeziehung der französischen Regierung in die Verfassungspläne der Londoner Konferenz war die letzte Hürde zur Schaffung der »Trizone« genommen, die allerdings erst durch das Washingtoner Abkommen vom 8. April 1949 formell ins Leben gerufen wurde.

Im Schlußkommuniqué der Londoner Außenministerkonferenz vom 7. Juni 1948 wurde herausgestellt, daß man sich darauf geeinigt hätte, »daß das deutsche Volk jetzt in den verschiedenen Ländern die Freiheit erhalten soll, für sich die politischen Organisationen und Institutionen zu errichten, die es ihm ermöglichen werden, eine regierungsmäßige Verantwortung soweit zu übernehmen, wie es mit den Mindesterfordernissen der Besetzung und der Kontrolle vereinbar ist, und die es schließlich auch ermöglichen werden, die volle Verantwortung zu übernehmen«. Die auszuarbeitende »Verfassung soll so beschaffen sein, daß sie es den Deutschen ermöglicht, ihren Teil dazu beizutragen, die augenblickliche Teilung Deutschlands wieder aufzuheben, allerdings nicht durch die Wiedererrichtung eines zentralistischen Reiches, sondern mittels einer föderativen Regierungsform, die die Rechte der einzelnen Staaten [Länder] angemessen schützt und gleichzeitig eine angemessene zentrale Gewalt vorsieht und die Rechte und Freiheiten des Individuums garantiert«. Ausdrücklich wurde in dem als »Londoner Empfehlung« bezeichneten Schlußkommuniqué der anzustrebende Einheitsaspekt in den Vordergrund gerückt und darauf verwiesen, daß »in keiner Weise ein späteres Viermächteabkommen über das deutsche Problem« ausgeschlossen, sondern der Weg zur deutschen Einheit erleichtert werden sollte.9 Zunächst aber bemühte man sich um eine Errichtung eines deutschen Weststaates.

Schon am 9. Juni 1948 erteilten die USA und Großbritannien und am 14. Juni 1948 Belgien, Luxemburg und die Niederlande ihre Zustimmung zu den Londoner Beschlüssen. In Frankreich erfolgte ihre Annahme erst, nachdem am 14. Juni 1948 die USA und Großbritannien drohten, auch ohne Frankreich die Beschlüsse umzusetzen. Damit wäre Frankreich von der weiteren Gestaltung Westdeutschlands ausgeschlossen worden. Somit ermächtigte die französische Nationalversammlung nach endlosen Debatten am 16./17. Juni 1948 gegen den Widerstand der Gaullisten und Kommunisten mit knapper Mehrheit (297:289 Stimmen) Außenminister Robert Schuman, die Londoner Beschlüsse nur unter der Voraussetzung anzunehmen, daß dem Sicherheitsbedürfnis und dem weiteren Empfang von deutschen Reparationsleistungen entsprochen sowie jede Möglichkeit der Wiedererrichtung eines autoritären und zentralistischen Deutschlands beseitigt werde.

Erst jetzt konnten die Militärgouverneure der drei Besatzungsmächte, Lucius D. Clay (USA), Pierre Koenig (Frankreich) und Sir Brian Robertson (Großbritannien), die Londoner Empfehlungen in eine auch von den Franzosen akzeptierte Textfassung bringen, die den Ministerpräsidenten übergeben werden konnte. Clay informierte schon am 14. Juni 1948 vorab die Ministerpräsidenten der US-Zone über die Pläne der Alliierten. Er wollte – wie auch Robertson am 29. Juni 1948 in seiner Rede vor dem Zonenbeirat – dem negativen Eindruck der »Londoner Empfehlungen« in der Öffentlichkeit entgegenwirken und deren »Deutschfreundlichkeit« herausstellen.10

3. Die Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948

Am 1. Juli 1948 nahmen die elf Ministerpräsidenten der drei westdeutschen Besatzungszonen im ehemaligen I.G.-Farben-Haus in Frankfurt, dem Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte, von den Militärgouverneuren die deutschlandpolitischen Entscheidungen der Londoner Sechsmächtekonferenz entgegen. Die Franzosen konnten erreichen, daß diese Sitzung sehr formell und zurückhaltend durchgeführt wurde. Das erweckte bei den ohnehin mißtrauischen Ministerpräsidenten nicht gerade große Hoffnung hinsichtlich der Absichten der Alliierten. Jeder General las ein Dokument vor; einen nahezu deprimierenden Eindruck hinterließ auf die Ministerpräsidenten, daß der französische Militärgouverneur Koenig in scharfem Ton das Dokument Nr. III mit den Grundsätzen für das Besatzungsstatut vortrug.

Die Frankfurter Dokumente11 waren in starker Anlehnung an die Londoner Beschlüsse formuliert worden:

1)In Dokument Nr. I wurden die Ministerpräsidenten ermächtigt (»authorized«), »eine Verfassunggebende Versammlung« einzuberufen, die spätestens am 1. September 1948 zusammentreten sollte. Diese Versammlung sollte »eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtige zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessen Zentralinstanz (»adequate central authority«) schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält«. Die Verfassung sollte, wenn sie nicht in Widerspruch zu den allgemeinen Grundsätzen des Dokuments stünde, von den Militärgouverneuren genehmigt und zur Ratifizierung durch ein Referendum in den beteiligten Ländern übergeben werden.

2)Dokument Nr. II kündigte unter Einbeziehung der Ministerpräsidenten eine Neuumschreibung gewisser Ländergrenzen an.

3)Mit Dokument Nr. III machten die Alliierten schließlich darauf aufmerksam, daß bei Erstellung einer Verfassung »eine sorgfältige Definition« der Beziehungen zwischen der westdeutschen Regierung und den Alliierten Behörden notwendig werde. In Grundzügen wurde ein Besatzungsstatut vorgestellt, das ein »Mindestmaß der notwendigen Kontrollen« über die Innen- und Außenpolitik des künftigen Deutschlands in Aussicht stellte.In einer Beilage zu Dokument Nr. III erklärten die Militärgouverneure ihre Bereitschaft, »die Ministerpräsidenten und die Verfassunggebende Versammlung in allen Angelegenheiten, die diese vorzubringen wünschen, zu beraten und zu unterstützen«.

Mit Dokument Nr. II war auf der Londoner Konferenz eine französische Forderung eingelöst worden, der zufolge eine Ländergrenzenreform der Grundlage der föderativen staatlichen Neuordnung dienen sollte. So versprach man sich stärkere Einflußmöglichkeiten und die Schaffung einer territorialen Sicherheitszone an der deutsch-französischen Grenze. Grundsätzlich sollte bei der Neuumschreibung der Territorien kein Land größer sein als Bayern oder Nordrhein-Westfalen.

Die drei Frankfurter Dokumente waren im übrigen wegen des heftigen französischen Widerstands während der Beratungen der Militärgouverneure möglichst allgemein gehalten worden. Darüber hinaus wurden einige Fragen, die in den Londoner Empfehlungen noch thematisiert waren (nämlich die Errichtung einer internationalen Ruhrbehörde und einer militärischen Kontrollbehörde12), nicht mehr berührt. Diese Angelegenheiten hätten die Frankfurter Dokumente zweifelsohne zusätzlich verschärft. Gegen den Willen der französischen Besatzungsoffiziere wollten Amerikaner und Briten einer Brüskierung der deutschen Ministerpräsidenten vorbeugen. Ebenfalls wurden – was auf deutscher Seite zunächst unbekannt blieb – einige Detailbestimmungen zur künftigen Verfassung zurückgehalten (siehe dazu das Memorandum vom 22. November 1948; Kapitel IV, 4), weil die Westmächte überzeugt waren, daß die Verfassunggebende Versammlung ohnehin viele Angelegenheiten in ihrem Sinne entscheiden würde und der Eindruck einer alliierten Einflußnahme unbedingt vermieden werden sollte.

Die Ministerpräsidenten gaben nach dem Verlesen der Frankfurter Dokumente zunächst keine Stellungnahme ab. Auch bestand unter ihnen kein Wunsch, schon so frühzeitig einen Termin zu nennen, bis wann sie ihre Stellungnahme den Militärgouverneuren vortragen wollten. Die Militärgouverneure drängten auch nicht. Sie wollten kein Ultimatum stellen wie noch zuvor im Juni 1948 bei der Umgestaltung des Wirtschaftsrates, als die Deutschen innerhalb nur eines Tages eine Entscheidung hatten herbeiführen müssen.13

Abbildung 1. Wegweiser »Parlamentarischer Rat – Pädagogische Akademie« auf dem Münsterplatz in Bonn. Ganz rechts das Denkmal für Ludwig van Beethoven.

Der Hinweis im Schlußteil des Dokuments Nr. III auf den freien Entschluß eines jeden Landes über die Annahme oder Ablehnung der Frankfurter Dokumente löste bei den Ministerpräsidenten gewisse Verwirrungen aus. Sie konnten nicht abschätzen, daß die Franzosen, auf deren Drängen der entsprechende Passus in das Dokument eingefügt wurde, damit die Hoffnung auf eine Revision der von ihnen ungeliebten Londoner Beschlüsse verbanden. Denn wenn nur ein Land die Frankfurter Dokumente ablehnen würde, müßte die Gründung eines Weststaates scheitern.

Immerhin wurden in der Frankfurter Besprechung die Länder erstmals nach dem Krieg von den Besatzungsmächten als einziges vorhandenes Rechtssubjekt angesehen. Die Ministerpräsidenten fühlten sich zu einer »Institution« aufgewertet und sahen sich als »Sprachrohr für die Deutschen«.14

Die ersten Tage nach Übergabe der Frankfurter Dokumente verstrichen mit intensiven Beratungen in den Länderkabinetten, den Landtagen und den Leitungsgremien der Parteien und Fraktionen.

Die CDU/CSU bejahte grundsätzlich die Ermächtigung zur Erarbeitung einer Verfassung, auch wenn ihr Vorsitzender in der britischen Zone, Konrad Adenauer, die Londoner Empfehlungen in einem privaten Schreiben als »katastrophal« bezeichnete und glaubte, der Versailler Vertrag von 1919 sei »dagegen ein Rosenstrauß« gewesen.15 Doch wünschte die Union durch die Länderparlamente einen »Parlamentarischen Rat« zu wählen, der die »vorläufigen organisatorischen Grundlagen« für den Zusammenschluß der drei Zonen schaffen und »die Interessen der deutschen Bevölkerung gegenüber den Besatzungsmächten zur Geltung« bringen sollte. Die Koppelung des Besatzungsstatuts an eine künftige deutsche Verfassung wurde von der CDU – wie auch der SPD – abgelehnt, weil der Eindruck vorherrschte, daß gleichzeitig mit der Verfassung auch das Besatzungsstatut durch Volksentscheid angenommen werden sollte.16 Das wäre einer »zivilen Kapitulation«17 gleichgekommen, da die Selbstbestimmung der Deutschen gefährdet gewesen wäre. Solange die Absicht bestand, die Verfassung durch eine Volksabstimmung anzunehmen, hätte das ferner ihre Ablehnung zur Folge haben können.

Die SPD hatte in Anlehnung an den Entschluß ihres Parteivorstandes vom 29./30. Juni 1948 in Hamburg auf die Einberufung einer Nationalversammlung und auf die Ausarbeitung einer Verfassung ebenfalls verzichten wollen. Sie forderte statt dessen die Ausarbeitung eines »Verwaltungsstatuts«, »Organisationsstatuts« oder »vorläufigen Grundgesetzes« durch einen Ausschuß der Länderparlamente. In Besprechungen unmittelbar vor der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz einigten sich die beiden großen Parteien darauf, eine Verfassung mit vorläufigem Charakter für die Westzonen erarbeiten zu wollen. Die Reform der Ländergrenzen sollte zunächst zurückgestellt werden, weil die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung schon auf den 1. September 1948 festgesetzt war und bis dahin nur wenig Zeit blieb.

4. Die Koblenzer Beschlüsse

Unter dem Vorsitz des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Peter Altmeier (CDU) trafen vom 8.–10. Juli 1948 die Ministerpräsidenten der westdeutschen Besatzungszonen auf dem Rittersturz bei Koblenz zusammen, um über das weitere Vorgehen und über eine Stellungnahme zu den Frankfurter Dokumenten zu beraten. Schon bei der Wahl dieses Tagungsortes wurde bewußt die französische Besatzungszone gewählt, um die Verbundenheit der bereits zusammengeschlossenen amerikanischen und britischen Besatzungszone mit der französischen zum Ausdruck zu bringen und um einer anhaltenden Isolation der französischen Besatzungszone zu begegnen.18 Aufgrund dieser politischen Vorzeichen wurde eine Teilnahme der vier ostdeutschen Ministerpräsidenten – die zuletzt auf der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz am 6./7. Juni 1947 mit westdeutschen Regierungschefs zusammengekommen waren – nicht in Betracht gezogen.

Im Verlauf der Konferenz trug jeder Ministerpräsident die Stellungnahme seines Landes vor. Daran schloß sich eine Diskussion über die drei Frankfurter Dokumente in kleineren Kommissionen an. Doch schon in der Generalaussprache kristallisierten sich vier Grundsätze heraus:

1)Die Frankfurter Dokumente sollten angenommen werden. Damit war die wichtigste Entscheidung zunächst einmal gefallen.

2)Die Schaffung eines westdeutschen Staates wurde jedoch abgelehnt. Die Einberufung einer Nationalversammlung kam für die Ministerpräsidenten in Anbetracht der Teilung Deutschlands keinesfalls in Frage.

3)Die Neuumschreibung der Ländergrenzen wurde als eine rein innerdeutsche Angelegenheit betrachtet, die ohne ein Mitwirken der Alliierten geklärt werden sollte.

4)Der Entwurf eines Besatzungsstatuts wurde ebenfalls abgelehnt, da er den Besatzungsmächten zu viele Sonderrechte auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet vorbehielt.

Hingegen beabsichtigten die Ministerpräsidenten nun, zu den ihrerseits als »Vorschlag« aufgefaßten Frankfurter Dokumenten konkrete Gegenvorschläge auszuarbeiten. In Kommissionsberatungen wurden die Ergebnisse der Generalaussprache konkretisiert. Den breitesten Raum nahmen die Fragen ein, in welche juristische Textform (Verfassung, Statut oder Gesetz) die staatliche Ordnung Westdeutschlands gefaßt werden sollte, wie das Gremium einberufen werden sollte und welche Kompetenzen es haben sollte. Schließlich wurde auch das Ratifizierungsverfahren eines solchen Dokuments diskutiert.

Die Ministerpräsidenten legten ihre Stellungnahme zu den Frankfurter Dokumenten am 10. Juli 1948 in einer Antwortnote den drei Generalen vor. Diese Koblenzer Beschlüsse, wie sie nach dem Tagungsort genannt wurden, zielten deutlich auf eine andere politische Staatsform ab, als sie den Militärgouverneuren vorschwebte. Die Beschlüsse waren »Ausdruck des Willens, an der Lösung der gestellten Probleme schöpferisch mitzuarbeiten und das in den [Frankfurter] Dokumenten gesteckte Ziel möglichst schnell und wirksam zu erreichen«. Doch gleichzeitig unterstrichen die Regierungschefs, keine Verantwortung für die Teilung Deutschlands übernehmen zu wollen und alles vermeiden zu wollen, »was dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates verleihen würde«. Bei diesem sollte es sich nur um ein »Provisorium« handeln, das die Spaltung zwischen West und Ost nicht weiter vertiefen durfte. Da ein Volksentscheid dem »Grundgesetz« ein Gewicht verleihen würde, das nur einer endgültigen Verfassung zukommen solle, rieten die Ministerpräsidenten, davon Abstand zu nehmen. Als Voraussetzungen für eine Verfassung wurden eine gesamtdeutsche Regelung und die Wiederherstellung der »deutschen Souveränität« genannt. Die Reform der Ländergrenzen sollte erst nach »eingehender Prüfung« vorgenommen werden, da »eine grundsätzliche und endgültige Lösung geboten« schien. Zu Dokument Nr. III wurde bemerkt, daß die angekündigten Beschränkungen eines deutschen Außenhandels entfallen sollten, statt dessen wurden deutsche Außenhandelsvertretungen unter alliierter Aufsicht vorgeschlagen. Schließlich baten die Ministerpräsidenten, »in regelmäßigen Zeitabständen« die Möglichkeit einer Revision der Besatzungsbeschränkungen und -kontrollen zu prüfen. Die Antwortnote endete mit einem Dank an die Militärgouverneure, die »durch ihre Initiative die Möglichkeit für eine immer weiter fortschreitende Entwicklung der Demokratie erweitert« hätten. Die Grundgedanken der Antwortnote der Ministerpräsidenten wurden in Stellungnahmen zu den einzelnen Dokumenten näher erläutert. Dazu zählte auch der Hinweis der Ministerpräsidenten, den Landtagen zu empfehlen, »eine Vertretung (Parlamentarischer Rat)« zu wählen und zu beauftragen, »ein Grundgesetz für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebietes der Westmächte« auszuarbeiten.19

General Clay, der sich sehr enttäuscht und verärgert zeigte, glaubte, die Ministerpräsidenten hätten mit den Koblenzer Beschlüssen die Frankfurter Dokumente und damit zugleich die Londoner Empfehlungen faktisch außer Kraft gesetzt. In einer Besprechung mit den Ministerpräsidenten der amerikanischen Besatzungszone stellte Clay am Abend des 14. Juli 1948 sogar in Frage, daß die Außenminister in neuen Verhandlungen ein »gleich günstiges Ergebnis« für Deutschland erreichen würden. Fast einer Standpauke gleich warf Clay den Ministerpräsidenten vor, ihre »wirklichen Helfer und Freunde, die Amerikaner, brüskiert« zu haben. Nicht nur, daß sie ihn (Clay) im Kampf mit den Sowjets um Berlin und die Entwicklung Westdeutschlands im Stich gelassen hätten, nein, sie hätten den Franzosen die gewünschte Gelegenheit gegeben, die unter großen Schwierigkeiten in London ausgehandelten Optionen für Westdeutschland hinauszuzögern. Damit sei das »Schicksal der Westzonen«, so Clay, »in die Hände« von General Koenig gelegt. Clay erwog sogar, die Pläne für eine westdeutsche Regierung ganz fallen zu lassen, ehe er sich – wie in Frankreich gewünscht – erneut auf eine Außenministerkonferenz der drei oder sechs Mächte einließe.20

Von britischer Seite erfolgten keine derart drastischen Reaktionen, was aber nebensächlich schien angesichts der starken Stellung von Clay bei den Militärgouverneuren. Von französischen Besatzungsoffizieren wurde wie erwartet betont, daß die Koblenzer Beschlüsse in der Tat weit von den Londoner Empfehlungen entfernt wären. Diese starken Abweichungen, so erklärten sie, würden erneute Verhandlungen auf Regierungsebene notwendig machen. Weil die Deutschen offensichtlich nicht bereit schienen, Verantwortung für die Teilung ihres Landes zu tragen, entwarf General Koenig die wenig günstige Perspektive, ein Besatzungsstatut zu erlassen und eine deutsche Verwaltung für alle drei Zonen in Abhängigkeit von den Besatzungsmächten einzusetzen.

Die Koblenzer Beschlüsse waren von den Ministerpräsidenten als ein aufrichtig gemeinter konstruktiver Vorschlag angesehen worden und sollten ihre »schöpferische« Mitarbeit an den Frankfurter Dokumenten zum Ausdruck bringen.21 Sonst hätte auch wohl kaum der Hamburger Bürgermeister Max Brauer (SPD) die Beschlüsse noch am 21. Juli 1948 als eine »staatsmännische Arbeit« bewertet.22 Ziel der Ministerpräsidenten war es, eine Verfassung zu schaffen, die durch eine in sich geschlossene und realpolitische Konzeption überzeugen sollte. Da die Ministerpräsidenten die konträren Auffassungen zwischen den Besatzungsmächten nicht kannten, vermochten sie die scharfe Reaktion von Clay unmöglich vorauszusehen. Die von ihnen hervorgerufene schwere Krise der deutsch-alliierten Beziehung war also unbeabsichtigt.

Die von den Ministerpräsidenten vermittelte Zuversicht über den Wert ihrer Beschlüsse wurde jedoch schon von Zeitgenossen in Frage gestellt, die die illusionären Wunschbilder der »Traumpolitiker« als Konsequenz einer »Vogel-Strauß-Politik« abtaten.23

Am 15./16. Juli 1948, ein Tag nach der Begegnung mit Clay, kamen die Ministerpräsidenten der drei Besatzungszonen zu Beratungen im Jagdschloß Niederwald bei Rüdesheim zusammen. Der Justizminister und stellvertretende Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern, Carlo Schmid (SPD), erklärte die Haltung Clays dahingehend, daß nach amerikanischer Auffassung dem zukünftigen deutschen Staat eine aktive Rolle im Kampf gegen die UdSSR zukommen sollte. Diese Rolle Deutschlands sah Clay demnach nun gefährdet. Da die Koblenzer Beschlüsse in den Landtagen eine positive Aufnahme gefunden hatten, fühlten sich die Ministerpräsidenten in ihren Ansichten jedoch bestätigt und sahen zuversichtlich weiteren Verhandlungen mit den Alliierten entgegen, fest entschlossen, von den Koblenzer Beschlüssen zunächst nicht abzurücken.

Abbildung 2. Konstituierende Sitzung des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 in der Pädagogischen Akademie. An der Seite sitzend, von rechts nach links: 1. Reihe: N.N. (Fotograf), Hans Ehard (CSU, Ministerpräsident von Bayern), Karl Arnold (CDU, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen), Christian Stock (SPD, Hessischer Ministerpräsident); 2. Reihe: Max Brauer (SPD, 1. Bürgermeister von Hamburg); Hans Troßmann (Leiter des Sekretariates des Parlamentarischen Rates), Gebhard Müller (CDU, Ministerpräsident von Württemberg-Hohenzollern); 3. Reihe: Wilhelm Kaisen (SPD, Senatspräsident und Oberbürgermeister von Bremen), Hermann Lüdemann (SPD, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein), Hinrich Wilhelm Kopf (DP, Ministerpräsident von Niedersachsen). Am Tisch vorne links Anton Pfeiffer (CSU), rechts Paul Löbe (SPD).

Angesichts der politischen Lage in Europa bemühten sich Clay und Robertson am 15. und 19. Juli 1948 in Verhandlungen mit General Koenig, diesen wieder auf die Londoner Empfehlungen festzulegen. Die drei Militärgouverneure einigten sich schließlich darauf, den Ministerpräsidenten die politischen Hintergründe der Londoner Entscheidungen deutlich aufzuzeigen und die Konsequenzen einer beharrlichen Ablehnung der Empfehlungen zu erläutern. Eine alliierte Expertengruppe wurde beauftragt, die Unterschiede der Frankfurter Dokumente und der Koblenzer Beschlüsse präzise herauszuarbeiten.

Nach der Bekanntgabe der Frankfurter Dokumente kam es am 20. Juli 1948 zur erneuten Zusammenkunft der Militärgouverneure mit den Ministerpräsidenten der drei Besatzungszonen. Der Vorsitzende General Robertson wies auf die Verbindlichkeit der Frankfurter Dokumente hin, die das »Ergebnis von Anweisungen« der Londoner Außenministerkonferenz gewesen waren. Er meinte, daß die deutschen Vertreter zwar nicht die Verantwortung für die deutsche Teilung auf sich nehmen bräuchten, wünschte jedoch, daß sie im Rahmen der Zuständigkeiten, die man ihnen einzuräumen würde, die volle Verantwortung tragen sollten. Wieder trug jeder der drei Generale die Erwiderung auf die Koblenzer Beschlüsse zu den einzelnen Dokumenten vor. Die Ausarbeitung eines Grundgesetzes statt einer Verfassung wurde von alliierter Seite abgelehnt. Der Modus für die Wahl der Abgeordneten der Verfassunggebenden Versammlung wurde den Ministerpräsidenten überlassen. Die Ratifizierung durch ein Referendum hielten die Alliierten für unverzichtbar; genauso beharrten sie auf ihre Mitwirkung bei der in Dokument Nr. II in Aussicht gestellten Ländergrenzenreform, weil diese Auswirkungen auf die Zonengrenzen haben würde. Der Parlamentarische Rat sollte sich damit ausdrücklich nicht beschäftigen. Zum Besatzungsstatut wurde bemerkt, daß eine Stellungnahme des Parlamentarischen Rates noch vor einer endgültigen Ausformulierung erwartet werde, weshalb vor Aufnahme der Verfassungsberatungen die Fertigstellung des Statuts nicht möglich sei. Das Besatzungsstatut, so wurde angekündigt, werde mit der Genehmigung der Verfassung veröffentlicht, so könne die Bevölkerung der Länder »völlig verstehen«, daß »die Annahme des Verfassungspapiers innerhalb des Rahmens eines Besatzungsstatutes« stattfinde.24

Nach einer Beratung unter den Ministerpräsidenten lenkte in einer Schlußerklärung der hessische Ministerpräsident Christian Stock (SPD) schließlich im Namen seiner Kollegen auf die alliierten Wünsche ein und versicherte, auf die Koblenzer Beschlüsse verzichten zu wollen, um so zu einer Stabilisierung der politischen Entwicklung im Sinne der Londoner Empfehlungen beizutragen. In ihrem Kommuniqué betonten die Militärgouverneure den »aufklärenden und informellen Charakter« der Beratungen und wiesen darauf hin, daß Entscheidungen nicht gefallen seien.25

5. Die zweite Ministerpräsidentenkonferenz in Niederwald

Am 21. Juli 1948 kamen die Ministerpräsidenten im Jagdschloß Niederwald erneut zusammen. Trotz ihrer Entscheidung, zugunsten der Londoner Empfehlungen auf die Koblenzer Beschlüsse zu verzichten, bildeten letztere jedoch weiterhin die Grundlage für die Diskussion. Zu den wichtigsten Entscheidungen der zweiten Ministerpräsidentenkonferenz zählten:

1)Die Wahl der Abgeordneten des Parlamentarischen Rates sollte durch indirekte Wahl in den Landtagen erfolgen.

2)Die Koblenzer Beschlüsse sollten als »Empfehlung« bestehen bleiben.

3)Die Bezeichnung »Grundgesetz« sollte möglichst beibehalten werden, zumal auch die Alliierten die Verfassung als Provisorium aufgefaßt hatten.

4)Die Ratifizierung des Grundgesetzes durch Referendum wurde weiterhin zugunsten einer Annahme in den Landtagen abgelehnt.

5)Ungeachtet des Hinweises der Militärgouverneure auf eine mögliche Auswirkung auf die Zonengrenzen sollte die Ländergrenzenreform weiterhin zurückgestellt werden.

Großen Eindruck auf die Ministerpräsidenten machte die Rede des Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter (SPD), der für die erkrankte amtierende Oberbürgermeisterin Louise Schroeder kam. Er kannte die Argumente, die bereits während der Konferenz auf dem Rittersturz zur Genüge ausgetauscht worden waren, nicht. So verwies er mit Nachdruck darauf, daß ein Fortbestehen der derzeitigen politischen Verhältnisse in Westdeutschland für die Berliner und die Deutschen im Osten unerträglich sei. Diese seien vielmehr durch alle demokratischen politischen Lager hindurch der Meinung, »daß die politische und ökonomische Konsolidierung des Westens eine elementare Voraussetzung für die Gesundung auch unserer Verhältnisse und für die Rückkehr des Ostens zum gemeinsamen Mutterland« sei.26 In dem Wunsch nach einer Berliner Beteiligung an den Grundgesetzberatungen kündigte Reuter die Entsendung einer Delegation an. Reuter traf mit seiner Rede offenbar »die Stimmung im Lande«.27 Nur mit Mühe wandte Schmid dagegen ein, daß es für ihn unvorstellbar sei, unter der bestehenden Besatzungsherrschaft eine »Verfassung in der Unfreiheit« zu schaffen, und diese auch noch zu »einem konstitutiven Element« machen zu wollen.28

In parallel zur Ministerpräsidentenkonferenz laufenden Gesprächen lenkten die von den Militärgouverneuren beauftragten alliierten Verbindungsoffiziere in der Frage des Referendums bereits ein, aus berechtigter Sorge vor Agitationen von »oppositionellen und destruktiven Elemente[n]«, die einem Abstimmungskampf vorausgehen dürften.29 In einem Memorandum an die Militärgouverneure teilten die Ministerpräsidenten mit, daß sie sich entschieden hätten, vom »Grundgesetz« zu sprechen, das am besten mit »basic constitutional law« übersetzt werden könnte.

Hinsichtlich der Ländergrenzenreform setzten die Ministerpräsidenten einen Ausschuß zur Überprüfung der Ländergrenzen ein, der sich am 27. Juli 1948 unter dem Vorsitz des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Hermann Lüdemann (SPD) konstituierte. Nach ergebnislosen Verhandlungen stellte der Ausschuß seine Arbeit bald ein. In einer Entschließung vom 1. Oktober 1948 befürworteten die Ministerpräsidenten den Zusammenschluß der südwestdeutschen Länder Württemberg-Baden (in der amerikanischen Besatzungszone) und Baden und Württemberg-Hohenzollern (in der französischen Besatzungszone), lehnten ein eigenständiges Land Südschleswig ab und wiesen auf die Notwendigkeit hin, vor der Ratifizierung des Grundgesetzes die bestehenden Enund Exklaven zu bereinigen und die Wiedervereinigung der durch Zonengrenzen durchschnittenen Gemeinden vorzunehmen.30

In angespannter Atmosphäre kamen die Militärgouverneure und Ministerpräsidenten am 26. Juli 1948 ein letztes Mal vor Einberufung des Parlamentarischen Rates zusammen. Wohl alle Teilnehmer wußten, daß in dieser Besprechung endgültige Entscheidungen fallen würden. Es war ein hohes Wagnis, den Militärgouverneuren letzte Zugeständnisse abzuringen, gleichzeitig aber den sehnlichst erwarteten Konsolidierungsprozeß nicht zu gefährden. Erst nachdem die Militärgouverneure sich zu Beratungen zurückgezogen hatten, erklärten sie ihr Einverständnis, die Bezeichnung »Verfassung« zugunsten des Terminus »Grundgesetz« mit dem erläuternden Zusatz »vorläufige Verfassung« fallenzulassen und ebenfalls in der Referendumsfrage den Ministerpräsidenten entgegenzukommen. Auch bewilligten die Besatzungsmächte die Einberufung eines Parlamentarischen Rates anstelle einer Verfassunggebenden Nationalversammlung sowie eine Terminverschiebung für die Vorlage der Vorschläge zur Ländergrenzenreform.

6. Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (10.–23. August 1948)

Der Vorschlag, einen Ausschuß von Sachverständigen einzuberufen, der Vorarbeiten für die künftige westdeutsche Verfassung leisten sollte, wurde von Ministerpräsident Stock erstmals am 1. Juli 1948 unterbreitet. Seine Einberufung auf die Herreninsel im Chiemsee ging jedoch auf einen Vorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard (CSU) zurück, der sich gegen die Bemühung von Nordrhein-Westfalen, die Tagung im eigenen Lande auszurichten, durchsetzen konnte. Am 21./22. und erneut am 25. Juli 1948 berieten die Ministerpräsidenten Näheres zur Einberufung des Sachverständigenausschusses, der einen Verfassungsvorschlag ausarbeiten sollte. Dieser sollte dem Parlamentarischen Rat als Grundlage dienen. Unverkennbar wurde damit eine Einflußnahme auf dessen zukünftige Arbeit versucht.

Der Ausschuß sollte sich nach ersten Überlegungen »ausschließlich« aus erfahrenen Beamten, also in der Mehrzahl Verwaltungsjuristen, zusammensetzen. Politische, gar parteipolitische Auseinandersetzungen sollten hintangestellt werden. Doch als die Mitglieder berufen waren, fiel auf, daß aus der amerikanischen und französischen Besatzungszone überwiegend Politiker, aus der britischen Zone jedoch zumeist Fachleute entsandt wurden. Es war zu befürchten, daß politische Überlegungen einen höheren Stellenwert in der Diskussion erhalten könnten als sachliche Argumente. Jedes Land schickte einen Bevollmächtigten in den Verfassungskonvent; hinzu kamen Mitarbeiter und gegebenenfalls Sachverständige. Stimmberechtigte Mitglieder waren: Oberlandesgerichtspräsident Paul Zürcher (Baden), Staatsekretär Josef Schwalber (Bayern), Bürgermeister Theodor Spitta (Bremen), Senatssyndikus Wilhelm Drexelius (Hamburg), Staatssekretär Hermann L. Brill (Hessen), Ministerialrat Justus Danckwerts (Niedersachsen), Referent für internationales Recht in der Landeskanzlei, Theodor Kordt (Nordrhein-Westfalen), Justiz- und Kultusminister Adolf Süsterhenn (Rheinland-Pfalz), Wirtschaftswissenschaftler Fritz Baade (Schleswig-Holstein), Justizminister Josef Beyerle (Württemberg-Baden) und Justizminister Carlo Schmid (Württemberg-Hohenzollern).31 Als Gast nahm der Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung Otto Suhr (SPD) aus Berlin teil. Der bayerische Staatsminister Anton Pfeiffer (CSU), der von der Bayerischen Landesregierung mit der Durchführung der vorbereitenden Arbeiten betraut wurde, übernahm auch die »allgemeine Leitung« der Tagung.32

Am 10. August 1948 eröffnete Pfeiffer im Klostertrakt des säkularisierten Augustiner-Chorherrenstifts auf der Insel Herrenchiemsee den Verfassungskonvent. Verhältnismäßig wenige Tage blieben den Delegierten, da im Frankfurter Dokument Nr. I für den 1. September 1948 die Einberufung des Parlamentarischen Rates festgelegt worden war. Frühzeitig hatte die bayerische Staatsregierung einen »Entwurf eines Grundgesetzes« und »Bayerische Leitgedanken für die Schaffung des Grundgesetzes« unterbreitet, die, deutlich als »private Arbeit« deklariert, »die Eröffnung des Gedankenaustausches« erleichtern sollten.33 Beide Entwürfe wurden kaum beachtet. Sie zeichneten sich durch einen ausgeprägten Föderalismus aus, der aber auch von den meisten übrigen Konventsteilnehmern propagiert wurde, die als Vertreter der Länderregierungen selbstverständlich auch große Ländervollmachten gegenüber dem Bundesstaat befürworteten. Davon wichen allenfalls die Verfassungspläne der SPD ab, die aber auch nicht den ungeteilten Zuspruch aller Parteiangehörigen erhielten.