Der Patient H. M. - Luke Dittrich - E-Book

Der Patient H. M. E-Book

Luke Dittrich

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Beschreibung

Im Sommer 1953 wird Henry G. Molaison, der schon seit vielen Jahren an heftigen epileptischen Anfällen leidet, im Alter von 27 Jahren von dem Chirurgen William Scoville operiert. Scoville möchte mit der Entnahme von zwei Dritteln des Hippocampus die Epilepsie heilen. Nach der Operation leidet Molaison bis zu seinem Tod 2008 stattdessen an schwerer Amnesie. Durch seine besondere Erinnerungsschädigung wird "Patient H. M.", wie man ihn fortan nennt, zu einem hochbegehrten "Versuchskaninchen" für die Disziplinen Gedächtnisforschung und Neuropsychologie – und zum am intensivsten untersuchten Forschungsobjekt aller Zeiten. Dies ist seine Geschichte und gleichzeitig die Geschichte des Chirurgen Scoville. Luke Dittrich enthüllt verstörende, lange geheim gehaltene Tatsachen aus Scovilles Leben als Wissenschaftler und Privatmann und gibt faszinierende Einblicke in die Geschichte der Hirn- und Gedächtnisforschung. Übersetzt von Pascale Mayer.

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Seitenzahl: 684

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Für Bambam, Lolo, Laska und Anwyn

© 2018 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Stuttgart

Copyright © 2016 by Luke Dittrich

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Patient H. M. A Story of Memory, Madness and Family Secrets

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: STUDIO LZ, Stuttgart

Umschlagmotiv: Photo of Patient H. M. by Luke Dittrich. Copyright © Suzanne Corkin, 2013, used by permission of The Wylie Agency (UK) Limited.

Lektorat: Carsten Tergast, Leer

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-7766-2839-5

www.herbig-verlag.de

Der Mensch ist sicherlich kein schlechteres Versuchskaninchen, nur weil er sprechen kann.

PAULBUCY

Jeder Tag ist für sich selbst alleine. Egal, welche Freude ich hatte. Und egal, welches Leid.

HENRYMOLAISON

INHALT

Prolog

TEIL I: URSPRÜNGE

1

Der Sturz

2

Schrumpelblei und Riffelkupfer

3

Traumberufe

4

Die Brücke

5

Arline

TEIL II: WAHNSINN

6

Der Bisamapfelweg

7

Wasser, Feuer, Elektrizität

8

Melius Anceps Remedium Quam Nullum

9

Die Gebrochenen

10

Raum 2200

11

Sunset Hill

12

Experiment geglückt, Patient tot

13

Uneingeschränkter Zugriff

14

Ekphorie

15

Der Staubsauger und der Eispickel

TEIL III: DIE JAGD

16

Und es wurde aufs Meer hinausgebracht

17

Proust auf dem Op-Tisch

18

Glückliche Unglücksfälle

19

Henry Gustave Molaison (1926–1953)

TEIL IV: ENTDECKUNG

20

Blinder Eifer

21

Von Affen und Menschen

22

Sterne Deuten

23

Das Hurensohn-Zentrum

24

Ein M. I. T. Forschungsprojekt mit dem Titel »Der amnestische Patient H. M.«

TEIL V: GEHEIMKRIEGE

25

Dewey schlägt Truman

26

Ein netter, folgsamer Mann

27

Man muss nach Niagara gehen, um die Niagarafälle zu sehen

28

Patient H. M. (1953–2008)

29

Der Geruch von Knochenmehl

30

Jeder Tag ist für sich selbst alleine

31

Post Mortem

ANHANG

Epilog

Danksagung

Luke Dittrichs Reaktion auf die Kritik des Massachusetts Institute of Technology (Anmerkung der Redaktion)

PROLOG

Das Labor bei Nacht. Gedimmtes Licht. Ein iMac streamt die Pat-Metheny-Version einer Ennio-Morricone-Melodie, während Dr. Jacopo Annese mit einem kleinen Malpinsel in der Hand vor seinem belüfteten Biosicherheitsschrank sitzt und behutsam eine schrumpelige Scheibe auseinanderfriemelt. Die Scheibe schwimmt in einer Kochsalzlösung in einer flachen schwarzen Plastikschale und sieht genauso aus wie ein Stück Ingwer in einem guten Sushi-Restaurant, wo man den Ingwer nicht einfärbt, sondern ihn so blass lässt, wie er ist. Annese nimmt seinen Pinsel und entfaltet das Stück Gehirn sachte mit einem geübten Tupfen und Zupfen. Die Scheibe verwandelt sich in eine Silhouette, erkennbar als das, was sie ist. Man sieht nun, welchem Organ sie entstammt, selbst wenn man nicht, wie Annese, ein Neuroanatom ist.

Er liebt ruhige Nächte wie diese, wenn seine Laborassistenten ihm alles bereitlegen, was er benötigt – die nummerierten Probenbehälter, die Malpinsel, die leeren Objektträger aus Glas –, und ihn dann mit seiner Musik und seiner Arbeit allein lassen.

Gekonnt bringt Annese die Scheibe auf dem Objektträger, den er zur Hälfte in die Plastikschale getaucht hat, in Position. Er neigt den Kopf zur Seite und sieht sich die Scheibe von jedem Winkel aus genaustens an, um zu prüfen, ob er sie richtig ausgerichtet hat. Wenn man auf den Objektträger schaut, muss die linke Hemisphäre in der rechten Hälfte des Blickwinkels erscheinen, so als würde man geradewegs in die Augen des Besitzers dieses Gehirns schauen. Obwohl Gehirne im Groben symmetrisch sind, so sind sie es doch nicht ganz, und Annese ist mit der Topografie dieses bestimmten Exemplars, mit all seinen Hirnfurchen, den leicht asymmetrischen Sulci, mittlerweile sehr vertraut. Genau in der Mitte dieser Scheibe, in einem Bereich, der normalerweise ein stützendes Gefüge aus Nervengewebe enthalten würde, finden sich stattdessen zwei klaffende Löcher, eines in jeder Hemisphäre. Annese achtet besonders darauf, diese Löcher nicht zu verformen, zu verzerren, oder gar ihre Ränder einzureißen. Mit der Spitze seines Malpinsels tupft er mühsam und akribisch an ihrem zerfransten Saum entlang. Diese Löcher sind auf ihre eigene spezielle Art und Weise historisch und wertvoll. Annese möchte nicht in die Geschichte eingehen als der zweite Arzt, der dieses besondere Gehirn geschändet hat.

Noch ein paar leichte Stupser mit dem Pinsel, und Annese macht sich daran, den Objektträger aus der Schale zu ziehen. Bevor er Wissenschaftler wurde, hat er als Koch gearbeitet. Er bedient sich oft gewisser Küchenanalogien, um seine Vorgehensweisen zu erklären. Die Kunst der Histologie sei dem Backen sehr ähnlich, sagt er, denn in beidem müsse man alles feinstens kalibrieren, es bliebe kaum Raum zum Improvisieren. Kurz darauf ruht der Objektträger, seine Ladung perfekt in Position gebracht, sicher auf der lauwarmen Oberfläche eines Stövchens, wo er die Nacht über zum Trocknen verbringen wird.

Annese greift nach einem weiteren kryogenen Fläschchen, Nummer 451, und schraubt den Verschluss ab. Bevor er den nächsten Objektträger behutsam in die Plastikschale eintaucht, dreht er sich zu mir und lächelt.

»Sehen Sie, wie viel ich zu tun habe, um den Scherbenhaufen wegzuräumen, den Ihr Großvater hinterlassen hat?« sagt er.

Es gab Dinge, die Henry gerne tat.

Er liebte es, Tiere zu streicheln. Das Bickford-Pflegeheim war eine der ersten Eden-Alternative-Einrichtungen in Connecticut, was bedeutete, dass es neben den ungefähr achtundvierzig Patienten auch drei Katzen, vier oder fünf Vögel, eine Handvoll Fische, einen Hasen und einen Hund namens Sadie beherbergte. Henry verbrachte Stunden damit, in seinem Rollstuhl im Innenhof zu sitzen, den Hasen auf seinem Schoß und Sadie an seiner Seite.

Er liebte es, die Züge vorbeirauschen zu sehen. Sein Zimmer, Nummer 133, lag am hinteren Ende des Pflegeheims, und von seinem Fenster aus konnte er mehrmals am Tag zusehen, wie ein Amtrack an der Backsteinhülse der alten Papierfabrik vorbeidröhnte, die verlassen auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand.

Er liebte Silbenrätsel. Stundenlang löste er ein Silbenrätsel nach dem anderen, ganze Hefte voll davon. Viele der wissenschaftlichen Arbeiten, die sich über die letzten sechs Jahrzehnte mit Henry befasst haben, beschreiben seine Gier auf Kreuzworträtsel. In seinen späteren Lebensjahren stellten sie jedoch eine zu große Herausforderung für ihn dar, und er beschäftigte sich stattdessen mit einfachen Wortsuchrätseln.

Er liebte alte Filme. Bogart und Bacall, diese Zeit. African Queen. Vom Winde verweht. Der unsichtbare Dritte. Heute nennen wir sie Klassiker, aber natürlich waren es für Henry keine Klassiker. Er bat darum, einen dieser Filme zu sehen, und eine Krankenschwester oder ein Aufseher steckte eine Videokassette ein. Fernsehgeräte erschreckten ihn nicht, denn die Fernsehtechnologie wurde während seiner Zeit entwickelt. Aber er hat es nie geschafft herauszufinden, wie man sich eine Fernbedienung zunutze macht.

Er liebte es, mit Menschen zu reden. Er erzählte ihnen Geschichten. Er erzählte immer und immer wieder dieselben Geschichten, und er erzählte sie immer und immer wieder mit derselben Begeisterung. Wenn jemand ihn fragte, ob er sich daran erinnern könne, dass man sich zuvor schon mal begegnet war, antwortete er mit »Ja« und fügte hinzu, dass er glaubte, man sei einst befreundet gewesen. Hatte man nicht die gleiche Schule besucht? Selbst wenn ihn seine Unsicherheit bei solchen Fragen frustrierte, blieb er doch üblicherweise freundlich und gut gelaunt. Fügsam auch. Wenn die Wissenschaftler ihn abholten, um ihn mit ins Labor zu nehmen, widersprach er nie. Und wenn die Krankenschwestern ihn dazu aufforderten, nahm er fast immer seine Medikamente. Wenn er sie einmal nicht einnahm, was selten genug vorkam, dann wussten die Krankenschwestern, wie sie ihn leicht gefügig machen konnten. Es war ein kleiner Trick, der über Jahrzehnte hinweg von einer Schwester zur nächsten weitergereicht worden war.

»Henry«, würde eine Krankenschwester sagen, »Dr. Scoville besteht darauf, dass Sie sofort Ihre Medikamente nehmen!«

Und er würde unweigerlich gehorchen.

Diese Strategie ging auf bis zum Ende, bis Henry starb. Die Tatsache, dass Dr. Scoville bereits Jahrzehnte zuvor gestorben war, und dass Henry Jahrzehnte vor Scovilles Tod schon gar keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt hatte, spielte keine Rolle. Scoville blieb eine Autoritätsfigur in Henrys Leben, denn Henrys Leben war nicht mehr vorangeschritten seit jenem Tag im Jahr 1953, als Dr. William Beecher Scoville, mein Großvater, einige kleine, aber wichtige Teile von Henrys Gehirn entfernt hatte.

Ich erinnere mich noch, wie ich meinem Großvater im letzten Winter seines Lebens einen verschneiten Hügel hinauf folgte.

Ich glaube, er trug einen hellblauen Parka, und in meiner Erinnerung ist sein Parka ausgeleiert und abgewetzt, obwohl das sehr untypisch für meinen Großvater gewesen wäre. Ich spreche hier von einem Mann, der mal von einem New York Times-Reporter als »fast unwirklich in seiner eleganten Erscheinung« beschrieben wurde. Aber da ist er nun mal, in meiner Erinnerung: ein abgewetzter blauer Parka. Vielleicht trug mein Großvater sogar eine Wollmütze, so eine mit einem Bommel obendrauf, die er sich übers pomadige Haar gezogen hatte. Sein Haar kämmte er stets mit Olivenöl, sagt meine Mutter.

Wir gingen zum Schlittenfahren.

Ich erinnere mich an Schnee, einen weißen Himmel, ein paar Bäume. Kälte. Den Hügel zusammen raufstapfen.

Er zog einen altmodischen hölzernen Rodelschlitten hinter sich her, groß genug für uns beide. Als er die Spitze des Hügels erreichte, hielt er inne, sah zurück zu mir und wartete auf mich.

Warum erinnere ich mich an all das?

Ich erinnere mich, weil durch meine Augen, meine Ohren, meine Haut eine gewaltige Kaskade an Eindrücken auf mich herabstürzte – Bilder, Klänge, Strukturen, die kahlen Bäume, die Mütze meines Großvaters, das Knirschen unserer Stiefel im frischen Schnee – und diese Eindrücke zu irgendwelchen kleinen, aber wichtigen Teilen meines zehnjährigen Gehirns geleitet wurden. Das hat sich dann an die Arbeit gemacht und all diese ungefilterten Wahrnehmungen in etwas verwandelt: Eine Erinnerung, die noch immer in mir wohnt, drei Jahrzehnte später, und die ich noch immer bei Gelegenheit abrufen kann, um sie, unsicher und mit blinzelnden Augen, ans Licht zu zerren.

Aber eins nach dem anderen.

Unsere Erinnerungen erschaffen uns. Alles, was wir sind, ist alles, was wir waren. Das war schon immer so, und es ist so offensichtlich, dass man es kaum sagen muss. Doch obwohl unsere Erinnerungen uns erschaffen, haben wir erst vor Kurzem begonnen zu verstehen, wie wir unsererseits Erinnerungen erschaffen. Die Geschichte, die diesem Verständnis zugrunde liegt, ist die Geschichte, die ich in diesem Buch erzähle. Es kommen Helden darin vor und Schurken, sie ist zugleich tragisch und romantisch, brutal, aber auch zärtlich. Mein Großvater spielt darin eine Rolle, aber was ich erzähle, geht weit über meinen Großvater hinaus.

Dies ist eine Geschichte über die Wissenschaft, die Natur, das Wesen des Menschen. Und sie beginnt, wie so viele Geschichten, mit einem Sturz.

TEIL I

URSPRÜNGE

Kapitel Eins

DER STURZ

Im nordwestlichen Winkel des Colt Park, im Herzen von Hartford, Connecticut, thronte eine drei Meter hohe Bronzestatue des Namensgebers dieser Grünfläche auf einem Granitsockel. Eine Seite des Sockels war übersät mit eingravierten Worten, die Samuel Colt huldigten, dem Erfinder der .45 Colt Revolverpatrone. Aber der Junge, der auf die Statue zuschlenderte, hätte diese Worte nicht lesen können, selbst wenn er es gewollt hätte, denn er trug seine Brille nicht. Es war Essenszeit am Abend des 3. Juli 1933 oder 1934, höchstwahrscheinlich, aber die genaue Jahreszahl ist nur eine von vielen Dingen, über welche sich Wissenschaftler in den folgenden Jahrzehnten stritten. Die Wohnung seiner Familie, die sich in der zweiten Etage eines Gebäudes ohne Fahrstuhl befand, lag ungefähr vierhundert Meter entfernt. Er war sieben oder acht Jahre alt und schon mindestens dreimal umgezogen. Sein Vater war Elektriker, verdiente nicht viel Geld und musste dort hingehen, wo auch immer es Arbeit gab. Für den Jungen muss es manchmal verwirrend gewesen sein, all diese Zuhause, die an ihm vorbeirauschten, all diese Neuanfänge. Er hatte blondes Haar, strahlend blaue Augen und ein süßes, unsicheres Lächeln.

Eine steile Straße umsäumte das nördliche Ende des Parks. Wenn der Junge sie überquerte und einige Nebenstraßen entlanglief, konnte er ein wenig Zeit gewinnen und seinen Nachhauseweg abkürzen. Seine Augen waren vielleicht nicht die besten, aber seine Ohren funktionierten tadellos. Er hörte keine Autos kommen, als er vom Bürgersteig auf die Straße trat, um sie zu überqueren. Der Radfahrer, der die steile Straße heruntergeschossen kam, sah Henry erst, als es bereits zu spät war.

***

Hippokrates Asklepiades, ein griechischer Arzt, der im vierten Jahrhundert v. Chr. auf der Insel Kos geboren wurde, gilt gemeinhin als Vater der modernen Medizin. Obwohl sein Familienname auf eine Verwandtschaft mit Asklepios hindeutet, auch Äskulap genannt, dem in der griechischen Mythologie verehrten Gott der Heilkunst, erlangte Hippokrates gerade dadurch Ruhm, dass er die revolutionäre Behauptung aufstellte, Götter hätten in der Medizin nichts zu suchen. Heiler jedweder Art gibt es schon, solange es die Menschheit gibt, aber Hippokrates war einer der Ersten, der die Magie, die Spiritualität und die Religion ablehnte, auf die sich die meisten seiner Vorgänger stets verlassen hatten. Stattdessen machte er sich daran, die Ursprünge unserer Gebrechen in unserem physischen Umfeld und in unseren Körpern selbst zu verorten.

Diese Herangehensweise erläuterte Hippokrates ausführlich in seiner Schrift »Über die heilige Krankheit«. Der Titel war etwas irreführend, da Hippokrates der Krankheit, um die es ihm dabei ging, einen anderen Namen gegeben hatte, nämlich Epilepsie, aus dem Griechischen epilambanein, was so viel bedeutet wie »packen«, »erfassen« oder »überfallen«. Und diese Epilepsie, schrieb er, »scheint mir in keiner Beziehung göttlicher oder heiliger zu sein als die übrigen Krankheiten, sondern einen ebenso natürlichen Ursprung zu haben wie sie.« Er kritisierte die »Hexenmeister, Sühnepriester, Marktschreier und Scharlatane« unter den Ärzten dafür, dass sie »Göttlichkeit« als Vorwand benutzten, als eine Nebelwand, die von der eigenen Unfähigkeit, die Krankheit zu heilen, ablenken sollte. Er machte sich über seine Kollegen lustig, die den Göttern für die mannigfaltigen Auswüchse der Epilepsie die Schuld gaben: »Und wenn der Kranke das Meckern einer Ziege nachahmt oder mit den Zähnen knirscht, und wenn er nach der rechten Seite hinfällt, dann sagen sie, das käme von der Göttermutter. Wenn der Kranke aber lauter und stärker schreit, dann sagen sie, das klänge wie das Wiehern eines Pferdes, und davon sei Poseidon die Ursache. Wenn aber dem Kranken Kot entfährt – was ja oft bei den von dieser Krankheit Befallenen vorkommt –, dann heißt es, das wirke die Wegeschützerin Enodia. Wenn aber die Exkremente dünner und häufiger sind, wie bei den Vögeln, dann käme das von Apollon Nomios. Und wenn nun der Fallsüchtige Schaum aus dem Munde spuckt und mit den Füßen um sich tritt, dann sei Ares daran schuld.«

Nachdem er all diese göttlichen und heiligen Erklärungen verworfen hatte, präsentierte Hippokrates seine eigene aufsehenerregende Erklärung: »Das Gehirn ist der Ursprung dieses Leidens«, schrieb er, »so wie es auch der Ursprung vieler anderer großer Krankheiten ist. Und in welcher Art und aus welchem Grunde diese Krankheit sich entwickelt, dies will ich nun ganz einfach erklären.«

Natürlich hat Hippokrates’ darauf folgende Erklärung über die Ursachenforschung der Epilepsie die Zeit nicht überdauert. Seiner Ansicht nach war das Gehirn ein pneumatisches Organ, das abwechselnd mit Schleim und Galle pulsierte. Es stand in einer empfindlichen Wechselwirkung mit den Winden, und wenn der falsche Wind der falschen Person zur falschen Zeit um die Nase wehte, dann konnte das verheerende Schäden anrichten. Wenn beispielsweise der Westwind einem von der Konstitution her phlegmatischen Kind ins Gesicht peitschte, konnte das zur Folge haben, dass das Gehirn dieses Kindes vorübergehend »schmolz«, womit ein epileptischer Anfall ausgelöst würde. Hippokrates’ Rezept für ein solches Kind war, es vor dem Westwind zu schützen und es stattdessen dem Nordwind auszusetzen, der das »geschmolzene« Gehirn vermutlich wieder zum Erstarren und in Ordnung bringen würde.

Was Hippokrates so bedeutend macht, ist nicht etwa, dass er die Ursprünge der Epilepsie aufgedeckt und ihre Heilung erfunden hätte – denn er tat beides nicht –, sondern dass er begann, am rechten Ort zu suchen: nicht im Himmel, nicht auf dem Olymp, sondern auf dem noch geheimnisvolleren Gelände im Inneren unserer Köpfe.

Seit dieser Zeit sind viele Ärzte, die sich mit dem Phänomen der Epilepsie beschäftigt haben, dem Beispiel Hippokrates’ gefolgt. Sie wagten sich tiefer und tiefer hinab in die Windungen unseres Gehirns auf der Suche nach einer säkularen Erkenntnis der »heiligen Krankheit«.

Und als in den frühen 1930er-Jahren ein Radfahrer einen kleinen Jungen auf einer Straße in Hartford, Connecticut, über den Haufen fuhr, hatten sie gerade begonnen, ein paar Antworten zu finden.

Stellen wir uns einmal vor, wir wären in Henrys Schädel.

Und stellen wir uns einmal vor, es wäre genau der Moment, nachdem das Fahrrad ihn erwischt hat, aber bevor er auf dem Boden aufschlägt. Der Moment, in dem er weder steht noch liegt, sondern durch die Luft schwebt.

Sein Gehirn schwebte in diesem Moment auch. Geborgen lag es eingebettet in einem Becken warmen Nervenwassers, als sich plötzlich alle möglichen heftigen Empfindungen in ihm breitmachten. Der Schmerz des Zusammenpralls mit dem Fahrrad, die Bruchstücke von Bildern der Umgebung, die vor ihm aufblitzten, als es ihn umhaute, der Anblick des sich rasend schnell nähernden Bodens, der Klang seines unfreiwillig hervorgestoßenen Keuchens, das Gefühl, wie seine gewellten Haare sich sträubten, als er durch die Luft flog – all diese Empfindungen und viele mehr wurden von den Nerven in seiner Netzhaut, in seinem Gehörgang, auf seiner Haut, in seinem Gleichgewichtsorgan übermittelt und prasselten nun auf sein Gehirn nieder, das die empfangenen Reize zu dem multidimensionalen Eintopf verarbeitete, den wir als momentanes Bewusstsein wahrnehmen.

Und jetzt stellen wir uns einmal den Aufprall vor.

Henry landete auf der linken Seite seines Kopfes. Er schlug so hart auf dem Boden auf, dass ein tiefer, zweieinhalb Zentimeter langer klaffender Schnitt, direkt über seiner Augenbraue, ihm die Stirn aufriss. In diesem Moment wirkten auf sein Gehirn sogenannte Torsionskräfte ein. Diese Verdrehungskräfte bewirkten, dass sich Henrys Gehirn in seinem Schädel von links nach rechts drehte. Zeitgleich schwappte es in seinem wässrigen Nest nach vorne, gegen die hauchdünne Membrane der weichen Hirnhaut, Pia Mater, und die dickeren Membrane der Spinnengewebshaut und der harten Hirnhaut, Dura Mater. Das Gewicht des Gehirns drückte diese Häute zusammen, bis es gegen die unnachgiebige Schädelwand geschmettert wurde. Henrys Gehirn verformte sich, so wie ein Gummiball es tut, wenn er auf eine harte Oberfläche trifft, und sprang dann wieder zurück. Je nachdem, wie schnell Henrys Gehirn unterwegs war, und je nachdem, wie kräftig es zurücksprang, drückte es auf seinem Rückweg erneut die verschiedenen Lagen zusammen, die es normalerweise schützen, diesmal auf der anderen Seite des Schädels. Diese zweite Stoßwirkung wäre etwas weniger brutal gewesen als die erste. Und wäre das Gehirn ein drittes Mal zurückgesprungen, dann hätte es dies mit noch geringerer Geschwindigkeit getan. Innerhalb einer Sekunde hörte es auf, hin- und herzuspringen. Die Aufprallkraft verflüchtigte sich, und Henrys Gehirn kehrte zurück in seinen ursprünglichen Zustand, selig schwimmend in einem warmen Schoß von Nervenwasser.

Aber der Schaden war schon angerichtet.

Während des Aufpralls und der ersten Erschütterung, in dem Moment, als Henrys Gehirn sich drehte und zusammengedrückt wurde, als es in seinem Schädel hin- und herschnellte, geschahen mehrere Dinge. Einige davon waren rein physischer Natur und sind leicht zu verstehen: Neuronen und Gliazellen – der Stoff, aus dem unser Gehirn gemacht ist – wurden zerrissen. Andere Dinge, die in jenem brutalen Moment geschahen, waren chemischer und elektrischer Natur und sind ungleich schwieriger zu erklären. Wenn ein Gehirn eine Kombination aus Drehkraft und der Einwirkung stumpfer Gewalt erfährt, so wie in Henrys Fall, dann geschieht aus Gründen, die wir noch immer nicht gänzlich nachvollziehen können, Folgendes: In absoluter Synchronität öffnen die vor Ort gebündelten Neuronen die Schleusentore, so dass Elektrizität explosionsartig durch die schlanken, schlauchartigen Nervenzellfortsätze, die Axone, strömt. An deren Spitzen werden Neurotransmitter freigesetzt, welche die Synapsen zwischen den Enden der Axone und den wartenden Dendriten anderer sich in der Nähe befindlicher Neuronen überbrücken. Diese Neuronen lösen ihrerseits ebenfalls Elektrizitätsstöße aus. Folglich verursacht ein immer größer werdender Tsunami an Neurotransmittern einen überwältigenden Anstieg in der Gehirnaktivität. Welche Empfindungen und Gedanken auch immer vor diesem einschneidenden Moment in Henrys Gehirn stattgefunden hatten – Angst, Schmerz, Verwirrung –,

sie alle wurden durch die plötzlich erhöhte Gehirnaktivität ausradiert. Man kann sich das wie einen Stromstoß vorstellen, der einen Computer lahmlegt. Auf ähnliche Weise wurde auch Henry lahmgelegt.

Fünf Minuten lang: nichts. Henrys Gehirn ging wie üblich seiner Arbeit nach, verrichtete seine autonomen, lebenserhaltenden Aufgaben, aber der Ort, an dem sein Bewusstsein wohnte, war vorübergehend vom Netz genommen.

Dann ging er langsam wieder online.

Henry öffnete seine Augen. Wie eine Flutwelle brach die Welt wieder über ihn herein, das lebhafte Getümmel, der Lärm in der Innenstadt Hartfords, die Stimmen der Menschen, die sich in einer Traube um ihn herum versammelten, die Schmerzen der klaffenden Schnittwunde auf seiner Stirn, die klebrige Wärme des Blutes, das sein Gesicht hinunterlief: Der stete Marsch des Erlebens und Empfindens wurde fortgesetzt.

Er war wieder da, aber er war nicht mehr derselbe.

Der nächste Tag war der 4. Juli, Independence Day, und Henry ging mit seiner Familie zum Picknick. Das Wetter war perfekt für einen Ausflug: warm, kein Regen. Die Wunde auf seiner Stirn war genäht worden, und über seinem linken Auge klebte ein Pflaster. Einige zogen ihn deshalb auf und fragten ihn, ob er sein eigenes kleines Feuerwerk veranstaltet hätte.

»Du bist wohl schon früh aus den Federn und hast mit Böllern gespielt«, sagte jemand.

Henry lachte. Er schien in Ordnung. Er fühlte sich in Ordnung.

Doch bald darauf begannen die Anfälle.

Obwohl man die genauen Ursprünge von Henrys Epilepsie niemals hundertprozentig ergründen wird, glauben viele Wissenschaftler, der Sturz sei dafür verantwortlich. Der körperliche Schaden könnte es gewesen sein: Wenn Hirnverletzungen heilen, tendieren die zurückbleibenden Narben dazu, epileptogen zu sein – also epileptische Anfälle zu verursachen. Außerdem könnte das sogenannte Kindling-Konzept als Erklärung herangezogen werden; to kindle bedeutet »entfachen« oder »anzünden«. Diese Theorie besagt, dass eine Art von Kurzschluss, wie er in Henrys Gehirn zur Zeit des Unfalls stattgefunden hat, einen neuen Mechanismus hervorruft, einen gefährlichen krampfartigen Kreislauf, der mit der Zeit immer aktiver wird. Demnach hätte eine kurze neuronale Entladung eine Veränderung der Nervenzellen bewirkt, so dass diese Zellen immer häufiger und stärker reagieren und es so zu häufigeren und stärkeren Krampfanfällen kommt.

Zuerst waren es leichte Anfälle. Kurze Momente der Unaufmerksamkeit, Momente der Benommenheit, kleine Aussetzer.

Aber die Saat war gesät, und Henrys Verwandlung in »Patient H. M.«, das am meisten erforschte Individuum in der Geschichte der Neurowissenschaft, hatte begonnen.

Sein richtiger Name ist: Henry.

Ich kann auch noch genauer werden: Henry Gustave Molaison.

Es gab eine Zeit, zu der ich Henrys Namen nicht hätte verraten können. Er war ein Geheimnis.

Fast sechs Jahrzehnte lang haben die Wissenschaftler, die Henry erforschten, seinen Namen geheim gehalten. Wenn sie über ihn schrieben, waren sie sehr vorsichtig, nicht zu viel zu verraten, aus Angst, die Öffentlichkeit könne ihn ausfindig machen. Und sie waren erfolgreich. Unter den Hunderten von Dokumenten, die bis ins kleinste Detail die Experimente festhielten, die man in den fünfundfünfzig Jahren zwischen Henrys Operation und seinem Tod an ihm durchführte, fand sich kein einziges Stück Papier, das Informationen enthielt, die über eine vage biografische Vorstellung des Patienten hinausgegangen wären.

Wenn Sie genügend dieser Dokumente gelesen hätten, wäre es Ihnen gelungen, ein lückenhaftes Bild von Henry zu zeichnen: An einer Stelle wäre Verwandtschaft in Louisiana erwähnt worden. An anderer Stelle sein Geburtsjahr, 1926. Ein drittes Dokument hätte den Namen seines Vaters, Gustave, preisgegeben. Ein viertes hätte verraten, dass Henry ein Einzelkind war.

Und so weiter.

Doch tatsächlich war das meiste, angefangen mit der grundlegendsten aller Tatsachen, seinem Namen, ein wohlgehütetes Geheimnis für die Welt außerhalb der Wissenschaft.

***

Henry Gustave Molaison wurde am 26. Februar 1926 in Manchester, Connecticut, geboren.

Sechsundzwanzig – zwei – sechsundzwanzig.

»Wenigstens kann man sich’s leicht merken«, hatte er den Wissenschaftlern oft mit einem Lächeln gesagt.

Sie fragten ihn immer und immer wieder nach seinem Geburtstag, manchmal fünf, sechs, sieben Mal in einer einzigen Sitzung. Und obwohl er sich nie daran erinnern konnte, dass man ihn gerade erst nach seinem Geburtstag gefragt hatte, hatte er die Antwort immer sofort parat, und sie fiel immer gleich aus: Sechsundzwanzig – zwei – sechsundzwanzig.

Auf andere Fragen folgten weniger gleichbleibende Antworten.

»Henry«, fragte ihn ein Wissenschaftler eines Nachmittags, ungefähr fünfzehn Jahre, nachdem das Experiment begonnen hatte. »Könnten Sie mir noch mal ein wenig über ihre früheste Erinnerung erzählen, sehr früh in Ihrem Leben, als Sie noch ganz klein waren, das Allererste, woran Sie sich erinnern?«

»Ach, Herrje«, sagte Henry. »Das ist ein Mischmasch da drin.«

Er hielt inne. Er befand sich in einem Labor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), aber dessen war er sich nicht bewusst. Als die Wissenschaftler ihn zuvor gefragt hatten, wo er denn glaubte zu sein, hatte er gemutmaßt, dass er wohl in Kanada sei.

»Na ja, also«, fuhr er fort. »Das so genau festzumachen, also zeitlich …«

Henry pausierte wieder. Er rauchte eine Zigarette.

»Das zu finden, was davor oder danach war, meine ich«, sagte er. Er hatte eine angenehme, sanfte Stimme mit einem starken Neuenglandakzent der amerikanischen Nordostküste. Man konnte fast seine Gedanken in seinem Gehirn umherschwirren hören, als er weit zurück in seine Kindheit reiste. Diesmal war seine früheste Erinnerung ein Ort. Ein kleines blaues Haus, in dem die Molaisons einmal gelebt hatten.

Ein anderes Mal, während derselben Sitzung, war seine früheste Erinnerung eine Person.

»Ich kann mich an meinen Großvater erinnern«, sagte er. »Wir gingen zusammen spazieren. Ich war sehr, sehr klein. Mir kam ein, ähm, na ja, so spontan kam mir ein großer Mann in den Sinn, aber er ist, er war nicht groß. Mittelgroß. Nicht kräftig gebaut. Wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn immer in einem grauen Anzug vor mir. … Er hat ganz anders als mein Vater ausgesehen, selbstverständlich. … Er war, ähm, ich glaube, so eins dreiundsiebzig groß.«

»Ihr Vater?«, fragte der Wissenschaftler.

»Groß«, korrigierte ihn Henry, »Großvater. Weil mein Vater fast exakt eins dreiundachtzig groß war, Da haben vielleicht, ach, gerademal ein paar Millimeter oder so gefehlt, und dann wäre er genau eins dreiundachtzig gewesen.«

»Und wie groß sind Sie?«, fragte der Wissenschaftler.

»So spontan kommt mir eins achtundachtzig in den Sinn.«

»Ganz schön groß«, sagte der Wissenschaftler.

»Ja, ich weiß, ich bin größer als mein Vater«, sagte Henry.

»Lebt Ihr Vater noch?«, fragte der Wissenschaftler.

Henry dachte einige Augenblicke über die Frage nach, bevor er antwortete. »Da bin ich mir mit mir selber nicht so eins. Ganz spontan denke ich, dass er noch lebt. Aber dann denke ich, natürlich, dass er abberufen wurde.«

»Sie sind sich nicht sicher?«, sagte der Wissenschaftler.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Henry. »Ich kann’s nicht, na ja, nicht so genau sagen.« Er machte wieder eine Pause, ehe er fortfuhr. »Er lebt, aber dann auch wieder nicht.«

Henrys Vater war drei Jahre zuvor verstorben. Der Wissenschaftler machte sich Notizen und fragte dann erneut nach Henrys frühester Erinnerung.

»So, Henry, und jetzt möchte ich, dass Sie so weit wie möglich in Ihre Kindheit zurückgehen und versuchen, mir zu beschreiben, was Sie als Ihre allererste, allerfrüheste Kindheitserinnerung sehen, die Erinnerung, die Ihrer Meinung nach vor allen anderen kommt.«

»Na ja, ich, ähm, ich kann mich daran erinnern, wie ich zum ersten Mal Schlitten gefahren bin …«

Er beschrieb, wie er sich in der Spruce Street, in Manchester, Connecticut sah. Mitten im Winter. Er erinnerte sich, wie ein Pferdeschlitten von einem Pferd gezogen wurde. Er glaubte, Schlitten und Pferd gehörten dem Vater seiner Spielkameraden, den beiden Brüdern Frankie und Jimmie. Während er die Geschichte erzählte, nahm er immer mehr Fahrt auf, wurde detaillierter in seinen Beschreibungen und verlor sich in seiner Erinnerung. Das Pferd war auf dem Weg zur Stallung, wo es neu beschlagen werden sollte. Frankie, Jimmie und Henry saßen mollig warm eingemummelt hinten in dem Pferdeschlitten. Ein paar ortsansässige Kinder, an denen sie vorbeifuhren, warfen Schneebälle nach ihnen, aber der Schlitten schützte sie.

Henry kicherte.

»Das war gut«, sagte er. »Ich mochte das.«

Der Wissenschaftler nickte.

»Sie können sich an Dinge vor der Operation ganz gut erinnern, nicht wahr?«

Später, als eine Studentin das Tonband dieser Sitzung transkribierte, vermerkte sie in Klammern, dass Henry die Antwort auf diese letzte Frage mit gedämpfter Stimme sprach und dass er den Tränen nahe war.

»Ja«, flüsterte Henry. »Davor, ja. An davor erinnere ich mich.«

Kapitel Zwei

SCHRUMPELBLEI UND RIFFELKUPFER

Als ich ungefähr acht Jahre alt war, erhob sich mein Großvater während eines Weihnachtsessens von seinem Stuhl am Kopfende des Tisches und ging in sein Arbeitszimmer. Als er einige Minuten später zurückkam, hielt er etwas in seiner Hand. Er platzierte das Objekt neben seinem Teller: Es war ein zerschrumpeltes Stück dunklen Metalls, nicht viel größer als das Radiergummi auf einem Bleistift. Ich schaute es mir an und fragte mich, was es wohl sein mochte. Dann setzte mein Großvater sich wieder hin und erzählte uns eine Geschichte.

Stamford, Connecticut, zur Jahrhundertwende. Ein Einbrecher brach in das Haus eines jungen Mannes ein. Der wachte auf, nahm die Pistole, die er in seinem Nachttisch aufbewahrte, und zielte auf den Eindringling. Aber die Waffe klemmte. Die Waffe des Einbrechers klemmte nicht. Eine Kugel durchstieß die Brust des jungen Mannes und traf auf eine Rippe, welche die Kugel umlenkte, weg von seinem Herzen. Der junge Mann überlebte und bewahrte die Kugel als mahnendes Memento auf. Letztendlich vermachte er sie seinem Sohn, meinem Großvater.

Die Kugel lag für den Rest des Abendessens neben dem Teller meines Großvaters. Ich fand es gleichzeitig faszinierend und furchterregend, über ihre Geschichte nachzudenken. Wenn sie ihr Ziel nicht verfehlt hätte, dann hätte es meinen Großvater, seine Kinder, seine Kindeskinder, die meisten Menschen, die um diesen Tisch herumsaßen, nie gegeben. Es war eine Frage von Zentimetern, ein glückliches Zusammenspiel von mangelnder Treffsicherheit, Knochen und Ballistik gewesen. Ein paar Zentimeter hatten den entscheidenden Unterschied gemacht, die Nachwirkungen haben über die folgenden Generationen hinweg ihre Kreise gezogen.

Im Haus meines Großvaters gab es noch andere Artefakte, viele davon waren genauso faszinierend wie die Pistolenkugel – der gebleichte menschliche Schädel zum Beispiel, der auf einem Regal im Arbeitszimmer stand – und einige waren genauso furchterregend. Jeder einzelne dieser Gegenstände hatte seine eigene Geschichte.

An einer Wand im Esszimmer hing ein aus Holz geschnitztes Totem. Es war ungefähr einen Meter lang und stellte irgendeinen heidnischen König oder Gott mit einem schwermütigen Gesichtsausdruck dar. Mein Großvater hatte das Totem während einer Reise nach Südamerika geschenkt bekommen, als Ausdruck der Dankbarkeit für eine Operation, die er durchgeführt hatte. Allem Anschein nach war die Holzfigur einmal ein Objekt der Anbetung gewesen, vor allem weil sie manchmal weinte, denn es rieselten Wassertropfen aus ihren Augenwinkeln. War es der schwankenden Luftfeuchtigkeit im Wandel der Jahreszeiten zuzuschreiben? Reagierte das Holz einfach darauf? Wahrscheinlich war es so. Oder es war Zauberei. Mein Großvater hat das Totem wegen seiner Schönheit geschätzt, seinen Emotionen gegenüber blieb er allerdings unsentimental. Als er es nach Hause brachte, ließ er es lackieren, bevor er es an die Wand hängte. Seitdem hat es keine Träne mehr vergossen.

An der Wand neben der Haustür hing etwas, das auf den ersten Blick auch wie Stammeskunst aussah. Es war aus Metall, etwa zwanzig Zentimeter lang und hatte eine grüne Patina. Das obere und das untere Ende waren ähnlich halbmondartig geformt, wobei in das obere Ende ein Gesicht geschnitzt war. Das untere Ende hatte kein Gesicht, war aber zu einer messerscharfen Spitze geschliffen worden. Dieses Objekt war Teil einer Sammlung meines Großvaters von antiken neurochirurgischen Instrumenten der Inka. Das obere Ende war ein Griff, das untere Ende eine Klinge. Es hat mich tief beeindruckt. Nicht wegen seines Alters, sondern wegen seines Zwecks. Irgendwo, Hunderte von Jahren in der Vergangenheit und Tausende von Kilometern weiter südlich, zu einer Zeit und an einem Ort, die unglaublich weit entfernt waren vom warmen Zuhause meines Großvaters an der Ostküste der Vereinigten Staaten, war dieses Relikt dazu gebraucht worden, die gleiche Arbeit zu erledigen, die mein Großvater verrichtete. Ich stellte mir vor, wie der halbmondförmige Metallbogen Fleisch durchschnitt, den Knochen darunter freilegte und noch tiefer drang. Ich fragte mich immer, ob daran wohl noch altes Blut klebte.

Die Neurochirurgie, welcher Art auch immer, verlangt von demjenigen, der sie ausüben will, mindestens zwei beängstigende Eigenschaften: den Willen, sich gewaltsam einen Weg in das Gehirn eines anderen Menschen zu verschaffen, und die Hybris zu glauben, man könne die Probleme dort drinnen beheben.

***

Die frühe Geschichte der Neurochirurgie wurde in Schädeln geschrieben, nicht in Worten.

Hunderte von Schädeln, Tausende von Schädeln, über die ganze Welt verstreut. In Europa, Afrika, Südamerika, Asien. Schädel von Menschen unterschiedlicher Rassen, unterschiedlicher Gesellschaften, unterschiedlicher Jahrtausende. All diese unterschiedlichen Schädel erzählen Variationen ein und derselben Geschichte.

In diesen Schädeln sind Löcher. Menschengemachte Löcher. Vor über zehntausend Jahren begann der Mensch, Löcher in die Schädel anderer Menschen zu schneiden.

Medizinhistoriker haben herausgefunden, dass die Löcher in antiken Inkaschädeln aus Peru, sofern diese überhaupt Löcher hatten, fast immer auf der oberen linken Seite zu finden waren, der sogenannten linken frontoparietalen Region. Die Inka waren eine martialische Kultur. Sie kämpften harte Kämpfe, mit Keulen und Knüppeln, standen dem Gegner hautnah gegenüber. Wie moderne Menschen auch waren sie überwiegend Rechtshänder. Wenn ein Rechtshänder mit einem Knüppel auf den Kopf seines Gegners schlägt, landet der Knüppel in der linken frontoparietalen Region. Der medizinhistorischen Theorie folgend zeugen die Löcher in den Inkaschädeln wohl von Eingriffen, die Teil der Behandlung von Kopfverletzungen waren, die man sich im Kampf zugezogen hatte. Womöglich sollten die Löcher dazu dienen, den intrakraniellen Druck, also den Druck im Schädelinneren, zu entlasten. Oder sie wurden um andere Löcher, Risse oder Spalten herumgeschnitten, die dem Schädel mit Brachialgewalt im Kampf zugefügt worden waren, sodass man besser an Knochensplitter im Inneren des Schädels gelangen konnte.

In anderen Teilen der Welt – genauer gesagt in einer Schatzgrube voller Schädel, die in einem siebentausend Jahre alten Gräberfeld in Ensisheim im Elsass gefunden wurde – stellte man fest, dass die Löcher auf den linken und den rechten Seiten der Schädel gleichmäßig verteilt zu sein schienen. Diesen Fund nahm man als Beweis dafür, dass nicht alle Schädelöffnungen vorgenommen wurden, um Kriegsverletzungen zu behandeln. Aber wenn das der Fall war, weshalb waren dann sonst die Löcher in den Schädeln? Um böse Geister entweichen zu lassen? Um Kopfschmerzen zu kurieren? Um schneller Erleuchtung zu erlangen? Niemand weiß das mit absoluter Sicherheit.

Eines wissen wir aber doch: Wenn man einem Menschen ein Loch in den Kopf schnitt, selbst vor siebentausend Jahren, hat es ihn nicht unbedingt umgebracht. Eine genauere Untersuchung der chirurgisch erzeugten Löcher dieser historischen Schädel ergab, dass auf der Innenseite der geriffelten, gezackten oder glatten Lochränder neuer Knochen gewachsen war: An dieser Stelle hatte der Schädel den Versuch unternommen, sich selbst wieder zu verschließen. Die Knochen in unserem Schädel wachsen langsam, und sie hören auf zu wachsen, sobald wir tot sind. Also haben die Besitzer der Schädel, die Anzeichen eines postoperativen Knochenwuchses zeigten, die Eingriffe, die an ihnen vorgenommen wurden, überlebt.

In einigen Schädeln, in einigen Kulturen, wurden die Löcher nicht in den Knochen geschnitten, sondern eher hineingescheuert. Chirurgen machten sich Instrumente zunutze, die eher einem Scotch-Brite-Scheuerschwamm oder einem Schleifgerät ähnelten als einem Skalpell oder einer Bohrmaschine. Der Franzose Paul Broca, ein Pionier der Neuroanatomie im neunzehnten Jahrhundert, war von diesen ausgeschabten Schädeln fasziniert. Er wies darauf hin, dass sie der Anästhesie um mindestens dreitausendfünfhundert Jahre vorausgegangen waren. In ihrer krudesten Form tauchte die Anästhesie um das vierte Jahrhundert v. Chr. zum ersten Mal medizingeschichtlich auf, als assyrische Chirurgen Bewusstlosigkeit durch das Zusammendrücken der Halsschlagader ihrer Patienten hervorgerufen hatten. Broca mutmaßte, dass die Eingriffe an den Schädeln von Kleinkindern erfolgt sein mussten, da der Schädelknochen eines Kindes dünner sei und es nicht so quälend lange dauern würde, um ihn durchzuscheuern. Um seine These zu beweisen, bearbeitete Broca zahlreiche Leichname von Menschen jeden Alters. Während er fast eine Stunde benötigte, um ein Loch in den Schädel eines Erwachsenen zu scheuern, gelang es ihm am Schädel eines zweijährigen Kindes in weniger als fünf Minuten. Andere Wissenschaftler distanzierten sich von Brocas Theorie. Auch wenn es nachweislich selten vorkam, dass Menschen infolge solcher Operationen starben – ich erinnere noch einmal an den postoperativen Knochenwuchs –, so geschah es gelegentlich doch. Und wenn Gehirnchirurgen vor langer, langer Zeit Löcher in die Schädel kleiner Kinder gescheuert hätten, so müsste man doch auch mindestens einige wenige Kinderschädel mit Löchern gefunden haben, Opfer misslungener Operationen. Aber solche Kinderschädel wurden nie gefunden.

Debatten darüber wird es immer geben. Man wird weiterhin diese stummen Schädel untersuchen und sich bemühen, aus ihnen die Geschichten herauszulesen, die ihre vorschriftlichen ehemaligen Besitzer in einer vorschriftlichen Zeit noch nicht zu dokumentieren in der Lage waren.

Natürlich hat der Mensch irgendwann die Fähigkeit erworben, sein Leben zu dokumentieren. Irgendwann begannen wir zu schreiben. Und was war eines der ersten Themen, über die geschrieben wurde?

Hirnverletzungen und wie man sie behandelt.

***

1862 erwarb ein amerikanischer Antiquitätensammler namens Edwin Smith von einem Händler im ägyptischen Luxor eine knapp fünf Meter lange Schriftrolle. Im alten Ägypten hatte ein Unbekannter mithilfe eines Schilfpinsels und verschiedenfarbiger Tinte, die aus Lehm und gebrannten Ölen hergestellt wurde, den Papyrus mit hieratischer Schrift bedeckt. Das Hieratische ist eine mit den Hieroglyphen eng zusammenhängende Schrift. Es ist nicht so förmlich und ähnelt eher einer kursiven Schreibschrift, welche die Hieroglyphen wie eine Art Stenografie auf ihre charakteristische Form reduziert. Bevor Edwin Smith die Papyrusrolle erwarb, waren beide Schriften – das Hieratische und die Hieroglyphen – fast eintausend Jahre lang Relikte einer toten Sprache gewesen, ungebräuchlich und nicht zu übersetzen. Die Ägypter selbst waren sich uneins darüber, ob die beiden Schriften überhaupt eine Sprache darstellten oder ob ihre Vorfahren ganz einfach Spaß daran gehabt hatten, Papyrusrollen und Grabwände mit bedeutungslosen dekorativen Zeichen vollzumalen. Einer viel zitierten Anekdote zufolge wurde einem italienischen Händler, der im achtzehnten Jahrhundert die Pyramiden von Gizeh besuchte, eine Holztruhe angeboten, die vierzig antike Papyrusrollen enthielt. Er kaufte nur eine dieser Rollen, und angeblich verbrannten die Dorfbewohner die restlichen Rollen, »weil sie den Duft des verbrannten Papyrus genossen.«

Aber als Edwin Smith 1862 in Ägypten unterwegs war, hatten sich die Zeiten geändert. 1822 war der Stein von Rosette entschlüsselt worden. Diese Steintafel war mit einer Version des jeweils selben Textes in drei verschiedenen Schriften (Hieroglyphen, Hieratisch und Altgriechisch) versehen. Ihre Entschlüsselung ermöglichte endlich den Zugang zu einer Epoche der Antike, der zuvor versperrt gewesen war. Für Menschen, die an Geschichte interessiert waren oder von ihr profitierten, begann eine Zeit, die man mit dem Goldrausch vergleichen könnte, und dementsprechend herrschte Goldgräberstimmung: Grabräuber und Schatzjäger schwärmten nach Ägypten aus in der Hoffnung, so viele dieser einst unleserlichen Dokumente wie nur möglich in die Hände zu bekommen.

So auch Edwin Smith. Er nahm seine Papyrusrolle mit nach Hause, zurück nach Connecticut, und verbrachte den Rest seines Lebens zu einem Großteil damit, das Schriftstück zu entziffern. Selbst der beste Sprachwissenschaftler hätte Jahre gebraucht, um einen einzigen Abschnitt aus dem Hieratischen zu übersetzen. Und Edwin Smith war nicht der beste Sprachwissenschaftler. Objektiv gesehen hatte er ein wunderschönes antikes Schriftstück erworben. Der Papyrus war unfassbar gut erhalten. Auf faszinierende Weise wechselte die Tinte von einem tiefen Schwarz zu einem aus gemahlenem Ocker gewonnenen Karmesinrot. Allerdings weigerte sich die Schriftrolle, ihre Geheimisse preiszugeben. Als Smith 1906 starb, spendete seine Tochter den Papyrus der New Yorker Historical Society, wo James Henry Breasted, Professor der Ägyptologie an der University of Chicago, auf ihn aufmerksam wurde.

Breasted verbrachte fast zehn Jahre mit seiner eigenen Übersetzung des Papyrus, und als er sie 1930 veröffentlichte, ernannte er den sogenannten »Papyrus Edwin Smith« zur »ältesten Keimzelle wahrhaftig wissenschaftlichen Wissens der Welt.«

Breasted legte offen, dass es sich bei dem Papyrus um ein medizinisches Textbuch handelte. Und es war ein erstaunlich modernes Textbuch: Die rote Farbe diente der Hervorhebung und Betonung bestimmter Worte oder Zeilen. Es waren Abschnitte des Textes, die der Leser nach Meinung des Autors keinesfalls vergessen sollte. Doch nicht nur die Formatierung, sondern überraschenderweise auch der Inhalt waren von frappierend moderner Natur. Immerhin war der Papyrus mindestens dreitausendsechshundert Jahre alt. Er enthielt archaische Redewendungen, die sogar darauf schließen ließen, dass der Text eine Abschrift eines noch älteren Schriftstückes war, das weitere achthundert Jahre zurückreichte.

Bevor es Professor Breasted gelungen war, den Papyrus zu übersetzen, herrschte die Meinung vor, Medizin habe im alten Ägypten auf Magie basiert, nicht auf Wissenschaft. Gemäß älteren Papyri mit medizinischem Inhalt beschränkten sich ärztliche Verordnungen auf Zauberformeln und fragwürdige Elixiere. Auch im Papyrus Edwin Smith findet sich davon einiges: Das Schriftstück war wie ein klassischer Lehrtext in Fallbeispiele unterteilt. Achtundvierzig Fallbeispiele von Kriegsverletzungen und die dazugehörigen Therapievorschläge. In Fall Nummer 9, einem Mann mit eingeschlagenem Schädel, wird dem behandelnden Arzt beispielsweise geraten, sich vor den Patienten zu stellen und die folgende magische Beschwörung zu skandieren: »Ferngehalten sei der Feind von dieser Wunde / Ausgetrieben sei das Böse aus diesem Blut / Der Gegner des Horus auf jeder Seite des Mundes der Isis / Dieser Tempel wird nicht fallen / Ihm wohnt kein Feind inne / Ich stehe unter dem Schutz der Isis / Meine Rettung ist Horus, Sohn des Osiris!«

Die meisten Verordnungen waren jedoch säkularer Natur, und die meisten Fallbeispiele – siebenundzwanzig aus achtundvierzig – beschäftigten sich mit Kopfverletzungen.

Beispielsweise Fall Nummer 6: Medizinische Verordnung für eine klaffende, nässende Schnittwunde am Kopf, die bis zum Knochen vordringt, den Schädel zerschmettert und das Gehirn freilegt.

Untersuche die Wunde.Finden sich in der Fraktur des Schädels Riffel, wie man sie bei Kupfer während des Schmelzprozesses feststellen kann, undPocht und zuckt etwas unter deinen Fingern, wie die empfindliche Stelle am Kopf eines Kindes, wenn es noch nicht »ganz« ist, dann solltest du die Wunde mit Öl salben.Du sollst die Wunde nicht verbinden,Auch keine Wundauflage nutzen, bis du sicher bist, dass der Patient die kritische Phase überstanden hat!

Ein Schlag hatte offenbar eine schwere Fraktur verursacht und den Schädel nach innen eintreten lassen, sodass die umgebende schützende Schädelmembran zerplatzte und Gehirnflüssigkeit aus dem Kopf des Patienten floss.

Gemessen an modernen Standards kann man die Behandlung in Fall Nummer 6 als konservativ bezeichnen – die Wunde säubern und auf das Beste hoffen. Aber es ist der vielversprechendste Ansatz, auf den man in einem viertausend Jahre alten Krankenhaus auch nur hoffen durfte. Die Wunde zu verbinden hätte wohl mehr Schaden angerichtet, als Gutes bewirkt. Der Patient hätte daraufhin an einer Schwellung oder Infektion sterben können. Offensichtlich waren die Ägypter nicht nur zurückhaltende Ärzte, sondern auch durchaus fähige Neuroanatome: Bevor die Übersetzung des Papyrus Edwin Smith vorlag, hatte kein Mensch je das Wort »Gehirn« in einem hieratisch oder in Hieroglyphen verfassten Schriftstück erkannt. In diesem Dokument jedoch war das Gehirn nicht nur benannt, sondern, wie auch die Membranen und das Gehirnwasser, in lebhaftem Detail auf geradezu poetische Weise – »mit Riffeln, wie man sie bei schmelzendem Kupfer beobachten kann« – beschrieben worden. Die alten Ägypter hatten verstanden, dass das Gehirn ein empfindliches und wichtiges Organ ist, eines, das im Allgemeinen beschützt werden und mit dem kein Unfug getrieben werden sollte. Im Falle eines Patienten mit eingeschlagenem Schädel sollte man die Wunde mit einem Tupfer aus Leinen säubern, bis man die Knochenfragmente freilegen konnte, doch das Gehirn selbst sollte unangetastet bleiben.

Nach der Entschlüsselung des Papyrus Edwin Smith vertraten einige Ägyptologen die Meinung, das altägyptische Ankh-Kreuz – welches die menschliche Wirbelsäule darstellt – gäbe ein historisch akkurateres Symbol für die Heilkünste ab als der traditionelle, auf Äskulap zurückgehende schlangenumwundene Stab. Äskulap muss übrigens so gut darin gewesen sein, Menschen am Leben zu erhalten, dass Zeus ihn tötete, um der Überbevölkerung entgegenzuwirken. Wie dem auch sei, der Papyrus Edwin Smith schien zu beweisen, dass die moderne Medizin tatsächlich viel früher begonnen hatte, als man bislang annahm. Und die darin angegebenen vorsichtigen Behandlungsmethoden belegten, dass zumindest einige Ärzte im alten Ägypten sich eher an die zentralen Grundsätze des Hippokratischen Eides hielten, als man es tausend Jahre vor der Geburt des Hippokrates getan hatte.

»Füge kein Leid zu …«

Ein simpler Grundsatz, und einer, der die Zeit überdauert.

Für die meiste Zeit in der langen Geschichte der Heilkünste wurden Behandlung und Pflege unserer rätselhaftesten und empfindlichsten Organe von eben diesem Grundsatz geleitet.

Wenn möglich ist das Gehirn zu schützen, sauber zu halten, und man sollte nicht in ihm herumpfuschen.

Jahrtausendelang war das der Status quo.

Bis er es plötzlich nicht mehr war.

Kapitel Drei

TRAUMBERUFE

Im Labor am MIT erzählte Henry wieder einmal von den vielen Umzügen, die er mit seiner Familie gemacht hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Selbst die Wissenschaftler fanden seine Odyssee verwirrend. Dr. William Marslen-Wilson, ein britischer Psychologe, der ihn befragte, gab sich die größte Mühe, Henrys Geschichte zu folgen.

»Ich verstehe«, sagte Marslen-Wilson an einem Punkt. »Genau. Jetzt wird es mir langsam klarer. Viele Schulen, viele Häuser, schwer, da Ordnung reinzubringen.«

»Und dann«, fuhr Henry fort, »sind wir von der Franklin Avenue nach South Coventry, Connecticut, gezogen, und ich musste einen Schulbus nehmen – ich war der Letzte, der morgens einstieg –, und der hat mich auch nach Hause gefahren, also von South Coventry nach Willimantic, und, ich glaube, das waren genau acht Kilometer von unserem Haus nach Willimantic.«

»Und Sie waren in einer … welche Schule besuchten Sie?«

»Eine High School. Windham High.«

»Windham?«

»Windham High School.«

»Wissen Sie noch, wie man Windham buchstabiert?«

»Na ja, also W-I-N-D-H-A-M.«

»Und welche Klasse besuchten Sie?«

»Die zweite Klasse der High School … und das halbe dritte Jahr.«

»Warum nur das halbe dritte Jahr?«

»Weil wir von South Coventry nach Hartford zurückgezogen sind und ich die Schule verließ.«

»Ja.«

»Und dann … na ja, danach sind wir dann aus der Leuchtturmwohnung, in der wir gewohnt haben …«

»Leuchtturmwohnung?«

»Ja.«

»Ähm, ich verstehe das nicht so richtig mit dieser Leuchtturmwohnung. Sie meinen, Ihre Eltern haben in einem Leuchtturm gearbeitet?«

Henrys Eltern hatten nicht in einem Leuchtturm gearbeitet. Sein Vater war Elektriker, seine Mutter Haushälterin gewesen. Sie hatten nicht viel Geld verdient. Ihre Ersparnisse, die alles andere als üppig gewesen waren, hatten sich nach dem Börsencrash 1929 auf fast nichts reduziert. Eine sogenannte »Leuchtturmwohnung« war im Amerika der 1920er-Jahre die Bezeichnung für eine teilmöblierte Mietwohnung. Als Henry ein Teenager war, lagerten seine Eltern ihr gesamtes Mobiliar ein, und man wohnte fortan in diversen Leuchtturmwohnungen in und um Hartford herum.

Um das Familieneinkommen aufzubessern, nahm Henry Teilzeitjobs an. Er arbeitete als Platzanweiser in einem Kino, als Lagerist in einem Schuhgeschäft im G. Fox & Co. Kaufhaus und als Altmetallsammler auf einem Schrottplatz. Nachdem er die High School verlassen hatte, machte er eine Ausbildung zum Motorenwickler bei Ace Electric Motors. Er musste kleine Elektromotoren auseinandernehmen, die Einzelteile auf Probleme oder Mängel hin untersuchen und dann die Kupferdrähte, die straff um den magnetischen Kern des Motors gewunden waren, wieder neu aufwickeln. Es war eine gute Arbeit, eine mit Zukunftsaussichten, aber letztendlich musste er sie aufgeben. Seine Epilepsie hatte sich drastisch verschlimmert. Seinen ersten großen Grand-Mal-Anfall hatte er an seinem fünfzehnten Geburtstag. Grand-Mal-Anfälle gehören zu den bekanntesten generalisierten Epilepsieanfällen, den klassischen Krampfanfällen, und ihren Namen, »Großes Übel« oder »Großer Schmerz«, haben sie ihrer extremen Ausdrucksform zu verdanken. Henry erinnerte sich daran, wie er mit seinem Vater im Auto gefahren war. Er wusste nicht mehr, ob er auf dem Beifahrer- oder auf dem Rücksitz gesessen hatte, aber er nahm an, dass es der Rücksitz gewesen war, denn als er anfing zu verkrampfen und zu zucken und nach vorne umkippte, bemerkte es sein Vater nicht und fuhr einfach weiter. Im Verlauf seines zweiten großen Anfalls stürzte Henry beim Verlassen eines Hauses die Treppe hinunter, und als er erwachte, fand er sich auf einem Bürgersteig wieder. Die Anfälle häuften sich. Nach einer solchen Episode erinnerte er sich für gewöhnlich daran, was er unmittelbar vor dem Anfall getan hatte, die Erinnerung an den Anfall selbst aber war unzugänglich. An dieser Stelle klaffte eine große Lücke in seinem Gedächtnis. Grand-Mal-Anfälle werden auch tonisch-klonische Krampfanfälle genannt, da sie sich in zwei Phasen unterteilen. In der sogenannten tonischen (verkrampften) Phase überkommt den Patienten eine tiefe Bewusstlosigkeit, und so erging es auch Henry. Wenn die Epilepsie ihn außer Gefecht setzte, verlor er das Bewusstsein, genau wie damals, nachdem das Fahrrad ihn vor dem Colt Park umgefahren hatte. Geht die tonische Phase in die klonische über, beginnen Arme und Beine heftig zu zucken. Kurz darauf fällt der Betroffene in einen tiefen Schlaf und kann sich danach nicht mehr an den Anfall erinnern.

Die Motorenwicklung erforderte Fingerspitzengefühl und Präzision. Selbst wenn Henry keinen ausgewachsenen Grand-Mal-Anfall hatte, so waren die Petit-Mals (»Kleine Übel« bzw. »Kleine Schmerzen«) schlimm genug, um seine Arbeit zu beeinträchtigen. Er riss dabei vielleicht zu viel Isoliermaterial von den Drähten oder er vergaß einen wichtigen Teil des Motors, wenn er ihn wieder zusammensetzte. Letztendlich kehrte er wieder zur Schule zurück. Er besuchte die East Hartford High und kämpfte sich bis zu seinem Abschluss durch. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Anfälle so häufig geworden, dass man in der Schule den Entschluss fasste, Henry davon abzuhalten, sein Abschlusszeugnis persönlich auf der Bühne der Aula entgegenzunehmen. Im Labor des MIT erklärte Henry Dr. Marslen-Wilson, was auf der Bühne hätte geschehen können.

»Na ja, in gewisser Weise wollten die sich mehr schützen als mich«, sagte er. »Wenn ich einen Anfall oder so gehabt hätte, dann wäre ich gestürzt oder so, und das hätte ja dann die anderen gestört, also die Schüler, die ihren Abschluss feiern wollten, und die Zuschauer.« Er erklärte, dass ein Petit-Mal bereits ausgereicht hätte, um die Feierlichkeiten zu stören. »Sie werden ohnmächtig. Sie können da über die Bühne laufen, um ihr Zeugnis abzuholen, und dann kann es passieren, dass Sie geradewegs an der Person, die Ihnen Ihr Zeugnis übergeben möchte, dran vorbeilaufen, anstatt stehen zu bleiben, das Zeugnis entgegenzunehmen und dann erst weiterzulaufen.«

»Das wäre wohl ein bisschen kompliziert gewesen«, sagte Marslen-Wilson.

»Ja, das wäre es«, sagte Henry.

Nach seinem High-School-Abschluss bekam Henry die letzte Arbeitsstelle, an die er sich erinnern konnte. Er arbeitete am Fließband in der Underwood-Schreibmaschinenfabrik. Wieder wurde seine Krankheit zum Problem. Er war in der Mitte der Produktionskette tätig, half dabei, den Rahmen der Schreibmaschine zusammenzusetzen, bevor ein anderer Arbeiter die Tasten anbringen würde. Diese Tätigkeit erforderte weniger Geschick als die Motorenwicklung, und doch: Manchmal, wenn die einzelnen Teile der Schreibmaschine vor ihm lagen und darauf warteten, von ihm zusammengesetzt zu werden, driftete er plötzlich ab. Er erstarrte, die Augen geöffnet, der Blick ins Leere. Die Arbeit am Fließband staute sich dann hinter ihm, bis er wieder zu sich kam.

Vor Kurzem habe ich einen halb vermoderten Pappkarton im Keller meiner Mutter gefunden. Darin befand sich ein Bündel Briefe, die durch einen Bindfaden zusammengehalten wurden. In den späten 1920ern waren die Briefe alle entweder von meinem Großvater oder seinem älteren Bruder Gurdon an ihre Mutter geschrieben worden. Die meisten steckten noch in den Originalumschlägen, und auf einige dieser Briefumschläge hatte meine Großmutter kleine Notizen gekritzelt. Manche fassten mit einem Wort den Inhalt des Briefes zusammen – »Abschlussfeier«, »Geburtstag«. Andere lasen sich wie kurze Rezensionen: »Brief von Gurdon, muss ich bis an mein Lebensende aufbewahren«, »Über unser geliebtes Zuhause, Treetop« oder »Wundervoller Brief, darf ich Gurdon nicht zeigen.«

Die ausführlicheren, tief empfundenen, herzlichen Anmerkungen standen eigentlich nur auf Gurdons Briefen. Als ich seine Briefe las, verstand ich sofort, weshalb. Gurdon hatte der Liebe zu seiner Mutter auf eine solch überschwängliche Art und Weise Ausdruck verliehen, dass es schon fast unheimlich war. Der folgende Auszug aus einem typischen Brief stammt aus der Zeit, als Gurdon das Priesterseminar besuchte, und er klang wahrhaftig, als habe er seine Ausbildung bereits abgeschlossen:

Niemals zuvor habe ich das empfunden, was ich in diesem Moment empfinde– die Verbundenheit unserer Herzen und Seelen in einer Weise, welche die Grenzen der Entfernung niedergerissen und mir neues Verständnis verliehen hat für die Bedeutung der Liebe zwischen zwei Menschen. Sie hebt uns in die Sphäre der Ewigkeit, jenseits der Meilensteine, jenseits der Sekundenzeiger unserer kleinen Erde. Sicher denkst du an mich, liebste Mutter, und betest für mich am heutigen Morgen. Während ich diesen Brief schrieb, hast du mir mehr gegeben, als ich jemals hatte– das Gefühl, dass nichts uns jemals wird trennen können, ein Gefühl, das ich für immer als eine heilige Erfahrung ansehen werde.

Die Briefe meines Großvaters waren ganz anders. Es waren auch liebevolle Schreiben – ohne Zweifel himmelten beide Söhne ihre Mutter an –, allerdings war der Ton meines Großvaters eher rührselig, sentimental. Seine Briefe waren voller Entschuldigungen.

»Meine liebste Mutter«, schrieb er in seinem Abschlussjahr an der Yale University. »Ich habe Vater gerade einen zweiundvierzig Seiten langen Brief geschrieben und bin noch immer entmutigt. Also fahre ich nun in einem Brief an dich fort. Nachdem ich mir all eure letzten Schreiben nochmals durchgelesen habe, hat sich die Welt verdunkelt. Mit jedem Brief wurde sie dunkler. Was ich getan habe, tut mir so leid. Ich möchte nicht selbstsüchtig und gemein sein. Das liebe Geld geht mir nicht aus dem Kopf, und ich bemühe mich, alles gut hinzubekommen.« Dann beschrieb er die verschiedenen Wege, wie er sein »Taschengeld« aufbessern wollte, von Nachhilfeunterricht bis zum Verkauf von Schmuck, den er aus China importiert hatte. »Ich arbeite mich mit dieser Schmucksache kaputt, damit ich eigenständig sein und auf euer Geld verzichten kann«, schrieb er und ließ einen Nebensatz folgen, der einiges über seine privilegierte Herkunft verriet, »und ich gebe Pen den Rolls Royce zurück, ohne ihn benutzt zu haben, so wie du es wolltest.« Gegen Ende seines Briefes folgte noch einmal eine Runde Selbstmitleid und Selbstbeschuldigungen. »Es tut mir so leid, mehr als ich sagen kann, dass ich euch beide mit meiner Sorglosigkeit und meinem gedankenlosen Egoismus enttäusche. Aber tatsächlich mache ich mir zu viele Gedanken, um sorglos zu sein. Ich liebe dich so sehr und denke so viel an dich und deine Gutherzigkeit – je älter ich werde, umso mehr denke ich daran –, und ich fühle mich schrecklich, wenn ich dich so verletze. Bitte vergib mir.«

Die schmerzhafte Unsicherheit, die sich in diesem Brief darstellt, fand sich auch in etlichen anderen Briefen aus demselben Jahr. In einem Schreiben, das mein Großvater zum neununddreißigsten Geburtstag seiner Mutter schickte, las ich Folgendes: »All meine Freunde sollen sehen, was für eine Mutter ich habe – dann werden sie verstehen, dass es nicht die Schuld meiner Mutter ist, wenn ich einmal keinen Erfolg im Leben habe.«

Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Die Menschen, mit denen ich in den letzten Jahren über meinen Großvater gesprochen hatte, hatten ihn mit den unterschiedlichsten Adjektiven beschrieben – brillant, arrogant, kühn, fahrlässig –, aber »unsicher« war definitiv keines davon. Der Mann, der sich in diesen Briefen selbst heruntermachte, entsprach so gar nicht meinem Bild von Dr. William Beecher Scoville.

Aber vielleicht war ja gerade das der Punkt. Der Verfasser dieser Briefe war auch einfach nur Bill Scoville, ein reicher Junge aus Philadelphia, der sich durchs College schlug und versuchte herauszufinden, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Er war schlau und ehrgeizig, vielfach begabt – er war, zum Beispiel, gut mit seinen Händen, liebte es, an Autos herumzuschrauben, sie auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, um ihr Innenleben zu verstehen –, aber er wusste bei Weitem noch nicht, was er mit seinen Talenten anstellen sollte. Im selben Pappkarton, in dem ich die Briefe gefunden hatte, lag auch ein Fotoalbum mit braunem Einband. Auf den vergilbten Seiten fiel mir ein Foto meines Großvaters auf. Er muss ungefähr zwei oder drei Jahre alt gewesen sein und trug eines dieser Kleidchen, die Jungen in diesem Alter in den frühen 1900er-Jahren eben trugen. Sein winziges Händchen reckte sich nach oben und wollte nach der Schnauze einer lebendigen Klapperschlange greifen, die sich um einen Stab geschlungen hatte, den sein Vater in der Hand hielt. Sein Vater war ein exzentrischer Universalgelehrter gewesen, Anwalt, Autor von Abenteuerbüchern für Kinder und Amateurnaturkundler. Er hielt sich einige giftige Schlangen als Haustiere, bis seine Frau ihn zwang, damit aufzuhören. Als ich das Foto sah, lief mir ein Schauer über den Rücken: Die offensichtliche Symbolik – die Schlange und der Stab – schien geradezu auf die spätere Berufswahl meines Großvaters hinzudeuten.

Noch kein Jahr, nachdem er den letzten Brief an seine Mutter verfasst hatte, war er zurück nach Philadelphia gezogen, hatte sich an der medizinischen Fakultät der University of Pennsylvania eingeschrieben und sich kopfüber in sein Studium gestürzt.

Irgendwann um das Jahr 1969 herum, als er gerade dabei war, einige Tests zu durchlaufen, hielt Henry plötzlich inne und sah seine Versuchsleiter an.

»Jetzt gerade«, sagte er, »frage ich mich, ob ich etwas Falsches gesagt oder getan habe. Verstehen Sie? Im Moment scheint alles klar zu sein, aber was ist eben, kurz vorher passiert? Das beunruhigt mich. Es ist, als würde man aus einem Traum erwachen.«

Henry beschrieb, was in ihm vorging, oft so: Er hatte das andauernde Gefühl, gerade aus einem Traum erwacht zu sein. Der englische Literat Frederic W. H. Myers bezeichnete traumartige Erlebnisse in der Aufwachphase als »hypnopomp«, was er aus dem Griechischen hypnos (Schlaf) und pompe (wegschicken) ableitete. Wir alle kennen dieses Gefühl, das entsteht, wenn unsere Sinne unsere Träume verscheuchen und uns zurück in die Realität holen. In Henrys Fall verschwand dieses Gefühl nicht mehr.

Wie so viele andere Aspekte seines Lebens unterlagen auch Henrys Träume intensiven wissenschaftlichen Untersuchungen. Einmal verbrachte er mehrere Nächte in einem Schlaflabor am MIT, vielfach verkabelt und angeschlossen an Sensoren. Wenn Henry in die REM-Schlaf-Phase eintrat, rüttelte ein Wissenschaftler ihn so lange, bis er seine Augen öffnete, und fragte ihn dann, was er geträumt habe. Diese Traumstudien wurden nie veröffentlicht, unter anderem, weil man sich nicht darauf einigen konnte, ob Henry tatsächlich im herkömmlichen Sinn träumte, oder ob er überhaupt dazu fähig war zu träumen, denn viele Wissenschaftler sehen Träume als Flickwerk an, das sich aus den jüngsten Erinnerungen zusammensetzt. Einige Mitschriften dieser Studien haben immerhin überlebt. Demnach sprach Henry im Schlaflabor üblicherweise über die gleichen Themen, über die er auch sprach, wenn er im Wachzustand war – Kindheitserinnerungen an eine Fahrt nach Florida mit seinen Eltern, an Schießübungen im Garten, ans Angeln gehen mit seinem Vater. Gelegentlich sprach er auch über Ambitionen, die er, so glaubte er, in der Kindheit gehegt hatte.

»Henry, Henry, Henry?«

»Oh!«

»Haben Sie geträumt?«

»Ja.«

»Was haben Sie geträumt?«

»Ich hab mich mit mir selbst unterhalten …«

»Worüber?«

»Was aus mir hätte werden können … Ich hab von Pennsylvania geträumt. Ich hab davon geträumt, Arzt zu werden. Ein Gehirnchirurg. Und alles ging so schnell. Wie ein Blitz. Erfolgreich sein. Und dann so weiterleben … hohe gerade Bäume.«

Es ist zu bezweifeln, dass Henry jemals die Sehnsüchte meines Großvaters teilte. Viel wahrscheinlicher ist, dass er sich wohl einfach in ihn hineinversetzt hat. Selbst in den Tiefen seines ewigen hypnopompen Sumpfes konnte ein Teil von Henry klar genug sehen, um zu wissen, dass der kurzsichtige Sohn eines Elektrikers und einer Haushälterin es schwer gehabt hätte, dieses besondere Berufsziel zu verwirklichen. Ein Jahrzehnt nach der Traumstudie erklärte Henry, hellwach, einem anderen Wissenschaftler, dass er sich letztendlich gegen eine Karriere als Gehirnchirurg entschieden hätte – wegen seiner Sehschwäche.

»Weil ich ja weiß, dass es in der Gehirnchirurgie« – vielleicht gestikulierte Henry, als hielte er ein Skalpell in der Hand – »wenn man eine Brille trägt und diese winzig kleinen …«

Vielleicht ritzte er ein kleines Loch in die Luft, um anzudeuten, dass er mit seinem eingebildeten Skalpell daneben- oder zu tief geschnitten hätte.

»Und dann ist die Person weg vom Fenster«, sagte Henry.

Kapitel Vier

DIE BRÜCKE

Am 21. September 1930, kurz vor Tagesanbruch, schlich sich ein vierundzwanzigjähriger Mann aus Pennsylvania namens Norman J. Terry an den Wachmännern der sich noch immer im Aufbau befindlichen George Washington Bridge vorbei. Er umging den Fahrstuhl, nahm stattdessen die Treppe und stieg die Stufen des riesigen Stahlturmes auf der Seite des New Yorker Stadtbezirks Manhattan empor. Als er die Spitze erreicht hatte und sich einhundertachtzig Meter über dem Hudson River befand, tastete er sich mit seinen Füßen auf einem der vier stählernen Tragseile entlang, die zwischen dem Turm auf der New Yorker Seite und seinem Zwilling auf der New-Jersey-Seite hingen. Die Entfernung zwischen den beiden Türmen betrug exakt 1067 Meter, aber die Tragseile waren viel länger. In parabelförmigen Bögen hingen sie sanft herab und bildeten die Unterseiten von gigantischen Schalen, die, wenn man sie zu Kreisen zusammengeschlossen hätte, das komplette Empire State Building hätten verschlingen können. Jedes dieser Tragseile enthielt 26 474 bleistiftdünne Stahlstränge, die in einer Fabrik nahe Trenton, New Jersey, geschmiedet und dann zu einem einzigen Mammutzopf von knapp einem Meter Durchmesser zusammengeflochten worden waren. Wenn man die einzelnen Drähte in den Tragseilen auseinanderspulen würde, könnte man mit diesem Metallstrang die Erde viermal umwickeln oder daran den halben Weg zum Mond hinaufklettern, je nachdem, welchen Superlativ man bevorzugt.