Der Pflege-Tsunami - Monja Schünemann - E-Book

Der Pflege-Tsunami E-Book

Monja Schünemann

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Beschreibung

In der Pflege ist Deutschland auf dem besten Weg in eine humanitäre Katastrophe. Konkrete Lösungsansätze müssen her, und zwar schnell! Monja Schünemann, Medizinhistorikerin und Fachkrankenschwester mit dreißig Jahren Berufserfahrung geht in ihrem Buch auf den eklatanten Mangel an Pflegefachkräften ein, der die deutsche Gesellschaft überrollen wird, sollte in den nächsten Jahren von politischer Seite nicht massiv gegengesteuert werden. Bis zum Jahr 2030 werden bereits 500 000 Pflegekräfte fehlen, während die Anzahl der Pflegebedürftigen immer weiter steigt. Schünemann prangert das morsche Gerüst des angeblich "besten Gesundheitssystems der Welt" an, an dem sie selbst lange als Arbeitskraft verzweifelt ist. Dringend notwendig ist ein stark reformiertes System, das nicht mehr auf dem Verschleiß der pflegenden Menschen fußt. Was müssen wir tun, damit Pflegekräfte Bedingungen vorfinden, unter denen sie gut und gerne ihre Arbeit verrichten? Denn nur so kann der Schwund der Pflegekräfte und die dadurch entstehende menschenverachtende Vernachlässigung unserer Alten und Kranken verhindert werden.

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Für Karl-Heinz Lorenz (1929–2013) und Inge Lorenz (1932–2016), meinen Sohn Yannick Wickenkamp und meinen Mann Volker

Inhalt

Einleitung  Mein modischer Opa oder warum der Pflegejob schon vor 50 Jahren kein Vergnügen war

Kapitel 1 Kein „Pflegenotstand“, sondern ein Tsunami

Kapitel 2 Pflege kann jeder. Pflege ist billig. Pflege ist weiblich.

Kapitel 3 Die Würde ist antastbar

Kapitel 4 Es kann jeden treffen? Ja, aber vor allem Männer!

Kapitel 5 Kinderarbeit in der Pflege. Die „Lückenfüller“

Kapitel 6 „Meine Polin“ oder Pflege nach Gutsherrenart

Kapitel 7 Pflegende aus dem Ausland. Versteckte Hürden, offener Rassismus

Kapitel 8 Nisha aus Indien und ihr Kampf mit der deutschen Bürokratie

Kapitel 9 Pflexit versus Gesundheit

Kapitel 10 Moralische Verletzung oder Schwester Stefanie muss sterben

Kapitel 11 Gewalt oder „Schwestern“ sind nicht zum Anfassen da

Kapitel 12 Das ewige Problem mit der Ausbildung

Kapitel 13 Neuer Mut zu alten Konzepten

Kapitel 14 Mit dem Pflegegeld in den Urlaub

Kapitel 15 Menschen, die durchs Raster fallen

Kapitel 16 Wer soll das bezahlen?

Kapitel 17 Zu guter Letzt. Raus aus dem Kaukasischen Kreidekreis

Quellen und Literatur

Danksagung – weil Klatschen nicht reicht

EINLEITUNGMein modischer Opa oder warum der Pflegejob schon vor 50 Jahren kein Vergnügen war

Als ich zum ersten Mal im Leben ein Altenheim betrat, war ich gerade sechs Jahre alt und unfassbar stolz, meinen Großvater abzuholen, der dort als Pfleger arbeitete. Für mich war es der tollste Ort der Welt. Wenn man das Gebäude betrat, empfing einen helles Licht, das im Atrium Hydropflanzen in weißen Plastik-Blumenbänken beschien, wie sie in den 70er-Jahren modern waren. Opa pfiff gerne ein Lied, und die alten Damen zwinkerten mir zu und zeigten mir, in welche Richtung ich laufen musste, um ihn zu finden. Zu „Max, du hast das Schieben raus“ tanzte er mitunter mit den Bewohnerinnen. Ich weiß noch, dass ein Rad des Wagens, mit dem er Essen und Getränke von Zimmer zu Zimmer fuhr, klapperte und nicht recht mit den anderen mitlaufen wollte. Wenn ich das Gefährt ein paar Meter für Großvater bugsieren durfte, war ich mir des Ernstes der Lage bewusst. Von mir hing nun die Versorgung der Senioren ab! Umso stolzer schob ich den mit großen, metallenen Teekannen beladenen Wagen vor mir her, so gut, wie es ein Mädchen von sechs Jahren eben kann. Aus den Zimmern, die ich nicht betreten durfte, winkten mir Menschen aus Betten zu und fragten: „Ach, wen ham wir denn da?“ Es roch nach Tosca, Tabac original und Old Spice, nach Leberwurst und Kamillentee.

Ich liebte die Geschichten, die Opa daheim erzählte. Wie sich einmal ein Herr und eine Dame noch im hohen Alter ineinander verliebten und das ganze Haus, Bewohner und Angestellte, ein Hochzeitsfest für das glückliche Paar initiierten. So richtig mit Blumen und allem Drum und Dran, im Park, der zu der Einrichtung gehörte. Ich hatte Opa geholfen, Kuchen für die Feier zu backen.

Ich holte ihn ab, wann immer ich konnte. Manchmal war ich zu früh dran – vielleicht hatte ich auch ein bisschen geschummelt und war zu früh losgelaufen, um Zeit im Tagesraum verbringen und das dortige Treiben beobachten zu können. Stricken und Sticken, Häkeln und Knüpfen waren angesagt. Nette Damen zeigten mir die tollsten Tricks mit Wolle und Garn. Es dauerte nicht lange, da war ich in der Schule im Fadenspiel „Abnehmen“ unschlagbar. Manchmal lauschte ich jemandem beim Klavierspiel oder schaute bei Laubsägearbeiten zu. Immer gab es ein freundliches Wort. Kein Pfleger, keine Schwester, keine Altenpflegerin, die nicht zu Scherzen aufgelegt war und sich Zeit nahm für ein Schwätzchen. Das ganze Haus kam mir damals vor wie ein Hort der Lebensfreude.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Mein Großvater hatte den Beruf des Pflegers nie gelernt. Er war eigentlich Schneider und hatte nach Entwürfen berühmter Designer Kleider geschaffen, die auf den Laufstegen der Welt gezeigt wurden. Er liebte den Beruf, den ihm sein Vater beigebracht hatte. Doch die Modebranche kriselte in den 70er-Jahren, zwischen den Frühjahrs- und Herbstkollektionen wurden immer wieder Mitarbeiter entlassen.

Schon damals gab es einen eklatanten Pflegenotstand in Altenheimen. Mit heißer Nadel gestrickte Kurse zum Pflegehelfer, für die massenhaft Frauen und Männer angeworben wurden, sollten dem entgegenwirken. „Hände statt Köpfe“ lautete die Devise. Das Geschäft mit der Altenpflege boomte, der Bedarf an Pflegekräften war hoch. Und da Arbeitslosigkeit in jener Zeit als Schande empfunden wurde, nahm mein Großvater das Angebot des Arbeitsamtes an. Das Etikett „sicherer Beruf“ zog damals. Doch wirklich glücklich war Opa nie in dem Job, auch wenn es nach außen den Anschein hatte. Er pfiff meist für sich.

Die Geschichten, die er daheim erzählte, veränderten sich denn auch. Sie waren bald nicht mehr nur fröhlich. Sie handelten nicht länger nur von spät berufenen Liebespaaren und sonstigen Freuden des Lebens im Alter. In die Storys schlichen sich kummervolle Töne. Es waren Geschichten, wie ich sie später in meinem eigenen Berufsleben tausendfach von anderen hören und auch vielfach selbst erleben sollte: Geschichten von Frust, Überarbeitung, Unzulänglichkeiten, Personalengpässen, schlechter Bezahlung, irrer Bürokratie, demotivierten Pflegern und genervten Krankenschwestern. Opa schimpfte, regte sich zunehmend auf über die Arbeitsumstände und verzweifelte daran, nicht mehr tun zu können als das, was er tat: Arbeiten. Arbeiten. Arbeiten.

Erst später begriff ich, dass es das schöne Hochzeitsfest ohne die Eigeninitiative der Angestellten und Heimbewohner nie gegeben hätte. Die Einrichtung hatte nichts dazu beigetragen. Die Kuchen, die serviert wurden, waren private Spenden, weil es sonst gar nichts gegeben hätte für das glückliche Paar und seine Gäste. Nicht einmal die Blumen hatte das Heim bezahlt. Sie kamen aus den Schrebergärten der Kolleginnen und Kollegen meines Großvaters.

Trotzdem blieb Opa in dem Job, des geregelten Einkommens wegen. Genäht hat er nur noch in seiner Freizeit – und zwar vor allem für mich. Ich trug also als Kind und Jugendliche Maßanfertigungen. Aber Großvater nähte nicht aus modischem Interesse oder weil er nach der Schicht zu viel Energie hatte. Im Gegenteil: Die Näherei war eine Notwendigkeit für ihn. Das Geld reichte schlicht nicht für Kleiderkäufe; Stoff zu kaufen, war billiger. Später, wenn ich als Erwachsene mit meinem hochbetagten Opa einkaufen ging, schaute er immer noch sehnsuchtsvoll auf die beiden Buchstaben einer großen schwedischen Modekette, deren Initialen mit denen seines alten Arbeitgebers identisch waren. „Ist das die Kurzform für Hensel und Mortensen?“ Nein, war sie nicht. Und das Glimmen in seinen Augen erlosch wieder.

Als ich selbst als Krankenschwester arbeitete, habe ich, sooft es ging, ebenfalls im Dienst Lieder gepfiffen. Mein ganzes Pflegeberufsleben lang war es mein innigster Wunsch und Wille, allen dieselbe Sicherheit, das Vertrauen in das Leben, Zuversicht und Freude zu vermitteln, wenn sie krank oder bedürftig waren, wie ich es als Kind an der Seite meines Großvaters erlebt hatte. Dafür musste ich oft stehlen – und zwar Zeit. Zeit, um mit dem Kleinkind, das von niemandem Besuch bekam, das schon mit dem Oberkörper hin- und herschaukelte, um sich selbst zu wiegen und kaum noch reagierte, Ball auf dem Boden zu spielen. Zeit, um dem Patienten nach seiner Herztransplantation, nachdem er wochenlang dieselbe Wand seines Zimmers angestarrt hatte und seinen Mut zu verlieren drohte, samt Monitor, Sauerstoffgerät, verpackt in Mund-Nasen-Schutz und Handschuhen, im Rollstuhl in den Park in die Sonne zu schieben, bis er den Lebenswillen wiederfand, lächelte und sagte: „Ich hab’ verstanden!“

Manchmal reichte es nicht, Zeit zu stehlen – dann habe ich sie erfleht. Wie die zehn Minuten für die Not-OP eines kleinen Mädchens, dem ein Eishockeyspieler mit dem Schlittschuh den Ringfinger der rechten Hand abgefahren hatte. Die Feuerwehr hatte den Finger korrekt auf Eis gebettet und mit in die Klinik gebracht – nur leider war er gefroren und konnte seiner Besitzerin so nicht wieder angenäht werden. Der Gang war voller Patienten, der Notarztwagen hatte sich angekündigt, wir standen im Chaos. Wir hatten keine Zeit. „Das wird nichts, das kannst Du vergessen.“, sagte mein Handchirurg zu mir, „Pack das ein. Schade.“ Ich schaute ihn entsetzt an und flehte: „Gib mir zehn Minuten! Ich schaffe das! Sie ist doch ein Kind, das können wir nicht machen!“ Sekunden wurden zu einer Ewigkeit und entschieden darüber, ob das Mädchen mit einem Stumpf oder einem Finger leben musste. „10 Minuten! Keine Sekunde länger!“ Er verließ den OP, nur, um die Tür sofort wieder aufzureißen: „Kein heißes Wasser, keine Mikrowelle!“ Als er die Tür wieder geschlossen hatte, taute ich den Finger an meinem Körper auf ohne dass das Gewebe Schaden nehmen konnte. Ich erinnere mich an den Schmutzrand unter dem kleinen Fingernagel und schloss die Augen, weil nicht nur die Kälte des Fingers mich ein wenig schaudern ließ. Es funktionierte, das Mädchen konnte einige Tage später mit fünf Fingern an der Hand entlassen werden.

Oder die halbe Stunde, die ich mir nahm, um einem alten Mann auf der Notaufnahme beim Sterben beizustehen, während meine Kollegin mich wütend anschrie, wann ich denn wieder zu arbeiten gedächte, statt rumzusitzen.

Als es keine Zeit mehr zu stehlen und nichts zu erflehen gab, stahl ich mich davon. Den Glauben hatte ich schon lange verloren. Lieder pfiffen vielleicht noch diejenigen, die neu anfingen, hochmotiviert und beseelt von dem Gefühl, Gutes am und Gutes für Menschen zu tun. Ich hörte ihr freundliches Trillern und dachte: Nicht mehr lange, und euer Pfeifen verwandelt sich in Stöhnen vor Kummer über das, was man hier jeden Tag aufs Neue erlebt. Ich hatte keine Lust mehr, meine Lippen zu spitzen, obwohl ich nie auf diesen Beruf pfiff und es bis heute nicht tue. Ich will nur, dass er anders ausgeübt wird, dass Pflegekräfte die Chance bekommen, menschengerecht zu pflegen. Endlich, im Jahr 2022, fast zehn Jahre nach dem Tod meines Großvaters.

KAPITEL 1Kein „Pflegenotstand“, sondern ein Tsunami

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Mit dem Stehlen habe ich es nicht so. Im Gegenteil bin ich der festen Überzeugung, dass den Menschen in diesem Land ein Gesundheitssystem zusteht, in dem niemand stehlen muss. Keine Minuten, Stunden, Tage, an denen man eigentlich frei hat, aber einspringen muss, weil wieder mal Personal fehlt. Es ist doch paradox, dass wir, eine kreative Spezies, für uns selbst nie Visionen für das Alter und das Leben mit Pflegebedürftigkeit entwickelt oder einen Aushandlungsprozess vollzogen haben. Tatsächlich verstehe ich jeden, der den Gedanken verdrängt, in ein Krankenhaus oder „für immer“ in ein Seniorenheim zu müssen. Pflege ist hierzulande kaum positiv besetzt. Wer will ein sogenannter Pflegefall sein? Wer will ins Altenheim „abgeschoben“ werden? Niemand. Aber wenn es schon sein muss, Pflege im Krankheitsfall oder im Altersheim unumgänglich sind, dann wünsche ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, Orte, an denen Sie Sicherheit, Vertrauen, Freude und Zuversicht finden.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich einer Operation unterziehen. Keine Angst, es ist nichts Lebensbedrohliches. Den Termin, die ganzen damit verbundenen Organisationen und Tests hat Ihre Pflegepraxis für Sie gemacht. Sie wohnen auf dem Land? Kein Problem. Die Praxis, von der ich rede, gibt es auch auf dem Dorf. Sie und die dortigen Mitarbeiter kennen sich seit Jahren. Dort bekommen Sie Rat und Rezepte, es schaut wer nach dem Blutdruck. Die Inhaberin der Praxis ist Doktorin med. rerum curae, also eine studierte Pflegefachkraft. Sie macht auch Hausbesuche und ist gut vernetzt mit der Ergotherapeutin und dem Krankengymnasten, klärt darüber auf, welche Hilfsmittel Ihnen den Alltag erleichtern – und das Beste ist: Sie verschreibt sie auch gleich.

Als Sie in der Klinik, die die OP durchführt, eintreffen, werden Sie bereits erwartet. Eine Pflegefachperson nimmt Sie persönlich in Empfang und bespricht mit Ihnen die OP. Da Sie nach dem Eingriff etwas eingeschränkt sein werden, erklärt sie Ihnen auch, wie Sie sich am Tag danach verhalten sollten, damit es nicht allzu sehr zwickt und zwackt. Sie wähnen sich – zu Recht – in so guten Händen, dass Sie gar keine Angst vor der Operation haben. Und es kommt noch besser: Nach dem Eingriff wachen Sie aus der Narkose auf und alles ist exakt so, wie Ihnen gesagt wurde – und das gibt Ihnen Sicherheit. Niemand ist in Hektik, dann alle wissen, gut Ding will Weile haben.

Für den Fall, dass Sie zu Hause Hilfe benötigen, weist Ihre Pflegefachperson Ihr soziales Umfeld ein, wie es Ihnen am besten beistehen kann. Es sind ja oft die kleinen Tricks und Kniffe, die erst die Genesung und dann das Leben einfacher machen. Mit der Nachsorge gibt es keinen Stress. Ihre Pflegepraxis weiß bestens Bescheid über Ihren Gesundheitszustand. Alle relevanten Informationen wurden auf digitalem Weg übermittelt. Toll, wie alle Beteiligten Hand in Hand arbeiten!

Falls Sie doch in ein Seniorenheim gehen müssen, können Sie der Einrichtung voll und ganz vertrauen. Nach einer eingehenden Erörterung Ihres körperlichen Zustands tüfteln Sie mit der zuständigen Pflegefachperson einen auf Ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen Plan aus. Von wegen altes Eisen! Sie wollen weiterhin soweit es geht am Leben teilhaben und dieses mitgestalten. In die Gespräche mit dem Seniorenheim, wie dieses Ziel am besten zu erreichen ist, sind Ihre Verwandten von Beginn an eingebunden. Alle wissen, worum es geht. Wie gut klappt es mit dem Laufen? Trinken Sie genug, und wenn ja, was am liebsten? Dass Sie Entwässerungstabletten nehmen und deshalb in der Nacht oft auf die Toilette müssen, ist kein Problem, denn auch zu später Stunde ist immer jemand da, der schnell genug kommt, damit nicht – na, Sie wissen schon.

Mit Ihrer Wohngruppe machen Sie sich abends gerne schick, um im Gemeinschaftsraum am Public Viewing teilzunehmen. Dort gibt es Liveübertragungen aus der Oper, dem Theater und auch von Konzerten für diejenigen, die solche Veranstaltungen vor Ort nicht mehr durchhalten. Sie müssen zufrieden zugeben: Hier sind Sie am rechten Ort zur rechten Alterszeit.

Werden Sie daheim von einem professionellen Dienst betreut, können Sie oder ein Familienmitglied am Computer oder Handy einen exakt auf Sie abgestimmten Wochenplan mitgestalten. Auch hier wird alles mit Ihnen besprochen und es gibt, wenn nötig, Anleitungen für Angehörige, die Sie mitpflegen und in alle notwendigen Schritte eingebunden werden. Die Pflegepraxis steht Ihnen bei, sie verordnet Hilfsmittel und fordert, wo es nötig ist, therapeutische Unterstützung an. Gerenne um Rezepte und Verordnungen kennen Sie und Ihre Verwandten nicht. Die am Abend fällige Spritze kriegen Sie unproblematisch auch dann, wenn Sie zu Besuch bei einer Freundin außerhalb des Heims sind, sogar in einer anderen Stadt. Denn alles läuft digital, Sie müssen einfach Ihren Aufenthaltsort angeben – und schon kommt jemand vorbei und verabreicht Ihnen die Spritze.

Jede Wette, Sie haben es so nie erlebt, dass ein Pflegeprozess mit Ihnen besprochen wurde, und kennen auch keinen einzigen Menschen – nicht einmal vom Hörensagen –, der jemals so umsorgt wurde. Dabei gibt es zig Millionen Fälle, in denen exakt so gehandelt worden ist. Allerdings nur auf dem Papier. Denn es handelt sich um das gesetzlich vorgeschriebene Vorgehen seit Anfang der 1990er-Jahre. Die Realität sieht bekanntlich anders aus. Die bittere Wahrheit ist: Planung, eigentlich das grundlegende Instrument sämtlichen pflegerischen Handelns, ist zum Abhakmarathon der Tätigkeiten verkommen, von denen Sie nur einen Bruchteil mitkriegen. Sie existieren lediglich in kilometerlangen Verwaltungsakten.

Noch mein Großvater drehte eine Runde nach der anderen mit immer unterschiedlichen Tätigkeiten auf den jeweiligen Stationen. Was die einzelnen Leute hatten, wusste er nicht immer, das wusste nur die Oberschwester. Die Fachwelt hat dafür den Begriff der „Funktionspflege“ erfunden. Seitdem hat sich viel geändert, denn es wurde eine Bezugspflege eingeführt, die besagt, dass eine Pflegefachperson nicht mehr einzelne Tätigkeiten Runde für Runde abarbeitet, sondern für ihre Patienten im Ganzen zuständig ist und über alle Belange Bescheid weiß. Das ist ein grundsätzlich richtiger, professioneller Ansatz. Das Krankenpflegegesetz von 1985 definierte eine „sowohl sach- als auch fachkundige, umfassende und geplante Pflege am Patienten“. Die Vorgaben waren ein Meilenstein in der deutschen Pflegelandschaft. Seit 1993 arbeitet die professionelle Pflege nach einem Modell, das sie selbst entwickelt und anhand wissenschaftlicher Studien belegt hat.

Dass die breite Öffentlichkeit davon früher nichts mitbekommen hat und bis heute nichts mitbekommt, liegt daran, dass schon zwei Jahre nach Inkrafttreten der Reform die Pflegeversicherung unter Bundessozialminister Norbert Blüm eingeführt wurde. Vor der Reform musste Krankenpflege verschrieben werden. Vom Arzt, der gar nicht so genau wusste, was das eigentlich ist und was sie kann, die Pflege. Nun sollte nicht nur ein jeder das Recht auf Pflege haben, nein, es sollte auch das Geld dafür zur Verfügung gestellt werden und man konnte sich aussuchen, ob man dieses Geld einsetzt, um seine pflegenden Angehörigen oder einen Pflegedienst zu bezahlen. Dass es sich dabei allerdings um eine Teilkaskoversicherung handelte, die lediglich einen kleinen Teil der Kosten übernimmt, das bekam nur mit, wer damit konfrontiert wurde.

In den Kliniken wurden gleichzeitig massenhaft Stellen abgebaut und Mechanismen wie die unsinnigen Fallpauschalen eingeführt, um die Krankenhäuser und andere Einrichtungen auf Effizienz zu trimmen. Man bleibt jetzt nicht mehr so lange im Krankenhaus, bis man gesund ist, sondern die jeweilige Krankheit gibt vor, wie viele Krankenhaustage einem zustehen. Verweildauer nennt sich das. Ich muss sagen: Das Ziel wurde erreicht.

So wurde aus dem Meilenstein ein Kieselsteinchen. Pflegeplanung verkam zu einer Art Planwirtschaft. Pflege wurde nun von Klinik- und Heimmanagern in Minuten eingeteilt und rationalisiert. Die Folgen waren verheerend und sind bis heute spürbar.

Es fängt schon bei der Ausbildung an, die ad absurdum geführt wird. Der Nachwuchs erlernt einen Beruf, den er nach dem Abschluss nicht einen einzigen Tag so ausüben kann, wie er ihm beigebracht wurde. Das Ziel bestmöglicher Pflege von Kranken und Alten wird konterkariert. Hunderttausende Profi-Pflegende möchten ihren Beruf gerne so ausüben, wie das Gesetz und ihr Können es ihnen erlauben. Dazu bräuchte es in erster Linie genug Pflegekräfte an den richtigen Stellen und eine gute Bezahlung. Das ist eigentlich alles. Aber die Realität sieht komplett anders aus. Viel zu viele Kolleginnen und Kollegen nehmen bald nach dem Ende der Ausbildung oder des Studiums Reißaus und wechseln für immer in andere Jobs. Der Personalmangel ist tatsächlich epochal und so gravierend, dass das System implodieren wird, wenn keine radikale Wende eintritt, die sich bislang in keiner Weise abzeichnet.

Während der Coronapandemie redete das ganze Land über die Defizite, endlich. Die Klagen der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen waren unüberhörbar. Inzwischen schwant den Leuten, dass irgendetwas nicht stimmt mit dem Gesundheitssystem und vor allem: der Pflege. Altenheime galten nie wirklich als Orte des Vertrauens und der Sicherheit. Corona hat daran nichts geändert. Im Gegenteil.

Die Angst vor dem Heim ist deutsche Realität. Manchmal ist sie sogar tödlich. „Ich habe ihr die Luft zum Leben genommen“, gestand im November 2020 ein 92 Jahre alter Mann vor dem Landgericht Würzburg die Tötung seiner Frau nach fast 70 Jahren glücklicher Ehe. „Ich vermisse sie seitdem sehr.“ Er wollte nicht, dass seine stark an Demenz leidende Gemahlin in ein Heim muss – und selbst nicht allein zurückbleiben. Sein Suizid scheiterte.

„Lieber tot als im Heim.“ Dieser Ausspruch hat eine erschütternde Tradition in Deutschland. Von 1995 bis 2003 wurden an der Berliner Charité die Suizide von 130 Menschen zwischen 65 und 95 Jahren untersucht, die in Abschiedsbriefen direkt oder indirekt ausgedrückt hatten, „Angst vorm Heim“ gehabt zu haben. Der bayerische Landwirt Max Wölfel erklärte im September 2019: „Vor neun Jahren erkrankte ich an der Nervenkrankheit ALS und habe mich fürs Leben an und mit der Beatmung bei meiner Familie entschieden auf meinem eigenen Hof. Ich werde lieber sterben, bevor ich mein Zuhause verlassen müsste.“ Er protestierte damit gegen ein Gesetz, das unter Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erlassen wurde und das eine Zwangsverlegung in eine Pflegeeinrichtung als letzte Option offenhält. Wölfel und andere Kritiker sprechen von einem „Heimzwang für beatmete Intensivpatienten“.

Die Coronapandemie hat die kritische Sicht der Betroffenen und ihrer Familien auf die Institution Heim noch verschärft. Durch das Virus starben überdurchschnittlich viele Alte in den Einrichtungen. Andere schoben einen Umzug ins Heim auf. Diese beiden Umstände sorgten 2021 für freie Plätze. Richtig gelesen: freie Plätze!

So mancher pflegt seit Corona die Seinen lieber daheim, fürchtet Besuchsbeschränkungen und Infektionsgefahr. „Die Menschen haben das Vertrauen in die Pflegeeinrichtungen verloren“, urteilte Erika Stempfle, Fachreferentin Pflege bei der Diakonie. Ich bezweifle allerdings, dass es je (ausreichend) vorhanden war (und ist). Die Pandemie hat den Ruf der Heime als „Verwahranstalten“ eher gefestigt. Die Sorge, ein Umzug in ein Heim führe zu einer erheblichen Umstellung bisheriger Lebensgewohnheiten, zum Verlust der Selbstständigkeit und zum Verzicht auf Privatsphäre, zieht sich durch die Nachkriegsgeschichte wie ein dicker, roter Faden, der nicht abreißen will. Wie konträr sich hier politische Positionen und Realität gegenüberstehen, zeigt sich, wenn man Spahns Aussage, Deutschland verfüge über eines „der besten Gesundheitssysteme der Welt“, mit der 2021 gestarteten Petition des Magazins Stern unter dem Motto „Pflege braucht Würde“ abgleicht. Der Begriff „Petition“ kommt vom lateinischen Wort petere: erbitten. Was ist das für ein Staat, dessen Bürger Würde im Gesundheitssystem „erbitten“ und die Regierung daran erinnern müssen, dass Leben heilig ist?

Ich habe keinen Anlass, davon auszugehen, dass sich an dieser fatalen Grundhaltung auf Seiten der Politik in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Seit Jahren wird am Gesundheitssystem herumgedoktert, was die politischen Quacksalber im Repertoire haben. Die minimalen Änderungen und „Reförmchen“ der jüngeren Vergangenheit sind lediglich Tropfen auf dem heißen Stein.

Die Wahlprogramme der letzten Jahrzehnte sind stets voller Versprechen gewesen, die nur begrenzt oder gar nicht eingehalten wurden. Zur Bundestagswahl 2021 hat sich dieses Muster wiederholt. „Stabile Renten und gute Pflege“ versprach die SPD auf ihren Plakaten – doch was „gute Pflege“ bedeutet, wurde gar nicht erst definiert. Da die allermeisten Bürger das, was Profis unter „guter Pflege“ verstehen, nicht am eigenen Leib oder in der Familie erlebt haben, wissen sie gar nicht, wie Pflege sein müsste, um das Prädikat „gut“ zu erhalten. Abgesehen davon, dass es bedauerlich ist, dass sich eine Volkspartei wie die SPD schon mit „gut“ zufriedengibt und nicht „sehr gut“ oder gar „exzellent“ anstrebt. Zugunsten der Sozialdemokratie soll hier aber gesagt sein: Die anderen Parteien sind genauso schlecht aufgestellt.

„Mehr Personal“ wollen faktisch alle. Wie es bezahlt wird und woher es kommen soll, bleibt im Dunkeln. Die Politik will aus einem Topf schöpfen, der schon lange bis auf die Emaillebeschichtung leergekratzt ist. Es gibt keine Leute, schon gar kein Pflegefachpersonal, das sich einstellen ließe. Keine Partei traut sich, konkrete Vorschläge zu machen. Sie bleiben im Bereich des Vagen oder gar des Unseriösen. Die etablierten Parteien wissen nur zu gut, dass sie am besten damit fahren, wenn sie so tun, als bleibe alles beim Alten. Bloß niemanden erschrecken.

Es ist noch nicht einmal klar: Worüber reden wir eigentlich bei „guter Pflege“? Altenpflege? Krankenpflege? Kinderpflege? Wenn „gute Pflege“ gemeint ist, wird hilflos am Sozialgesetzbuch herumgedoktert. Die 2019 begonnene „Konzertierte Aktion Pflege“ der Bundesregierung entpuppte sich – entgegen den Eigenlobeshymnen von CDU, CSU und SPD – nicht als großer Wurf, sondern als Schuss in den Ofen. Sie war nichts weiter als eine teure, misslungene Imagekampagne, die beruflich Pflegende zutiefst ablehnten. Ihre Bilanz ist ernüchternd. Zwar wurden im Bereich der Altenpflege 13 000 neue Stellen geschaffen, davon jedoch lediglich 3600 besetzt. Denn es ist nicht gelungen, diejenigen wieder in den Beruf zurückzuholen, die ihn verlassen haben.

Die Ausbildung wurde generalisiert. Auszubildende in Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege verbringen nun einen Teil ihrer Lehrjahre gemeinsam und entscheiden sich erst im Verlauf für die endgültige Richtung. Sachsen-Anhalt soll immerhin eine Steigerung von 11,6 Prozent bei der Rekrutierung von Nachwuchskräften verzeichnet haben. Doch Leute für den Job zu gewinnen, ist nicht das zentrale Problem, sie zu halten, schon. Es gibt allzu viele, die während der Ausbildung die Bedingungen des künftigen Berufes nicht mehr mit- und nicht mehr ertragen wollen und deshalb das Weite suchen. Jeder Vierte gibt auf.

Wie zu Zeiten meines Großvaters sollen es Hilfskräfte richten. Es ist alter Wein in neuen Schläuchen: Die Löcher in der zerschlissenen Personaldecke mit „Händen statt Köpfen“ stopfen zu wollen, verbirgt sich hinter dem Begriff der „Pflegeassistenz“. 50 Jahre Gesundheitspolitik und kein Stückchen weiter.

Gerade diese Kampagne hat gezeigt, dass die Politik sich weiterhin wegduckt, weil sie mit ihrem Latein am Ende ist. Es mangelt an Gestaltungswillen und vor allem an Kompetenz. Politik sieht das Berufsfeld Pflege vor allem als Liebesdienst an, dem jeder professionelle Anspruch aberkannt wird. Norbert Blüms Leitspruch „Pflege kann jeder“ hat sich eingebrannt in die Köpfe seiner Nachfolger. Nach dieser Losung handeln politische Entscheider bis heute. Für sie ist Pflege „Kümmern“.

Worthülsen wie „gute Pflege“, aber auch „Patientensicherheit“, „Qualität“ und „Stellen schaffen“ sollen die Bürgerinnen und Bürger in einer Sicherheit wiegen, die de facto nicht vorhanden ist. Und es lässt sich leicht alles wohlig aufschieben im „besten Gesundheitssystem der Welt“, in dem fast jeder seine Versichertenkarte zücken kann und dafür etwas erhält.

Denn noch funktioniert das alles ja. Doch nicht mehr lange. Das Versäumnis ernsthafter, tiefer gehender Reformen hat zu einer Situation geführt, die mit dem abgenutzten Wort „Pflegenotstand“ noch beschönigend beschrieben ist. Die Tropfen, die nicht auf dem heißen Stein gelandet und verdunstet sind, haben sich zu einer Welle aufgetürmt, die nicht aufzuhalten ist, wenn sich nicht Grundsätzliches ändert. Mir ist klar, das klingt nach Hysterie, von der es auf der Welt schon genug gibt, aber die traurige Wahrheit ist: Deutschland steht vor einer humanitären Katastrophe. Auf die Republik rast ein Pflege-Tsunami zu, der das Leben der jetzt jungen Generation umwerfen wird.

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sprechen diesbezüglich seit Jahren eine unmissverständliche Sprache: Hinter dem Begriff des „Pflegenotstandes“ verbirgt sich nicht allein akuter Fachkräftemangel, sondern nichts weniger als die Lücke zwischen den in Zukunft Pflegebedürftigen und denen, die sie versorgen sollen. Ab 2060 werden in Deutschland 4,6 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen sein. Dazu kommt noch die klinische Versorgung in Krankenhäusern, in Rehabilitationseinrichtungen und Psychiatrien.

Zu einer Verschärfung der Situation führt, dass Pflegepolitik in der Entscheidungsgewalt alter Männer liegt, die sich mit Ignoranz und Arroganz jedweder Anpassung des Pflegeberufes an europäische Gegebenheiten verweigern, die in jedem anderen Land besser sind als in Deutschland. Sie schieben eine Reform auf die lange Bank, auf der sie sehenden Auges gemütlich den Tsunami erwarten. Kein Politiker traut sich, den Menschen reinen Wein einzuschenken und zu verkünden: Wir müssen Grundlegendes ändern. Das kostet eine Menge – entweder Geld oder Einsparungen an anderer Stelle. Es wird auch euch treffen. Der Staat kann nicht alles leisten. Aber wir können uns nicht länger davor drücken, denn das System kollabiert.

Zur ehrlichen Bestandsaufnahme gehört: Die Bundesrepublik ist in Sachen Pflege zu einem Entwicklungsland verkommen, auch weil pflegerische Berufe in den Paradigmen des 19. Jahrhunderts gefangen gehalten werden, als fast nur Frauen sie ausübten. Ihnen wurde eingetrichtert, dazu bestimmt zu sein, sich als Person zurückzunehmen, sich selbst zu vergessen, sich aufzuopfern für andere, weil das angeblich die Natur der Frau sei. Aber welche moderne, emanzipierte Frau möchte sich in dieses Muster pressen lassen?

Es ist ähnlich trostlos wie beim Klimawandel: Der Kipppunkt für notwendige systemische Veränderungen ist mehr oder weniger erreicht. Trotzdem scheut sich die Politik, das Gesundheitswesen von Grund auf zu erneuern. Spätestens seit Corona muss jedem klar sein, dass das „beste Gesundheitssystem der Welt“ nichts weiter ist als ein marodes Gebäude auf rissigem Boden. Das Gebilde ist nur deshalb noch nicht eingestürzt, weil es sich auf die emotionale und physische Ausbeutung beruflich und privat Pflegender stützt. Das ist seit Jahren bekannt. Aber der Politik mangelt es an Visionen und Lösungen.

Auch pflegende Angehörige stützen das System, von dem schon jetzt klar ist, dass es im demografischen Wandel kollabieren wird. Die Lebenserwartung steigt, es wird noch mehr alte Leute geben, von denen sehr viele kinderlos sind. Es ist keine Panikmache, zu behaupten, dass keine Familie von diesem Tsunami verschont bleiben wird, wenn sie nicht sehr vermögend ist.

Wenn unser Land nicht schnellstens handelt, werden Lebensentwürfe darunter leiden, zumeist die von Frauen. Bedroht sind aber auch Leben selbst, und zwar nicht in einem metaphorischen, sondern einem ganz konkreten Sinn. Bei der Personalnot in Kliniken gleicht es einem Wunder, dass bisher nicht öfter Patienten wegen Pannen durch Überarbeitung des Pflegepersonals gestorben oder schwer erkrankt sind. Immer wieder werden gesetzliche Vorgaben unterlaufen, die eine bestimmte Anzahl von Pflegekräften in Klinikstationen verbindlich vorschreiben. Werden die Personalschlüssel nicht bald konsequent und nachhaltig angehoben, kann sich schon eine leichte Operation als russisches Roulette erweisen.

Es wird Zeit, dass sich unser Land dagegen massiv und lautstark wehrt, damit die nächste Generation nicht die Zeche zahlt. Schon ab 2030 werden sich die geburtenstarken Jahrgänge selbst pflegen müssen, wenn es nicht gelingt, das Ausbluten der Gesundheitsberufe aufzuhalten. Dann kümmern sich nicht mehr Kinder um ihre Eltern, sondern Schwestern um ihre Brüder und Brüder um ihre Schwestern.

Falls diese Zahlen überhaupt stimmen. Vielleicht kommt es noch schlimmer. 4,13 Millionen Menschen sind derzeit in Deutschland auf Pflege angewiesen, ohne diejenigen, die in Kliniken akut versorgt werden. Bedingt durch den demografischen Wandel steigt die Anzahl Pflegebedürftiger immer weiter an. Doch lediglich 20 Prozent werden vollstationär im Heim versorgt. 2,5 Millionen Angehörige, zumeist Frauen, pflegen Familienmitglieder. Der aktuelle „Pflegenotstand“ sorgt dafür, dass Plätze – die Folgen der Coronapandemie werden daran nichts dauerhaft ändern – in vollstationären Einrichtungen rar sind. In letzter Konsequenz führte der Fachkräftemangel schon dazu, dass Altenpflegeeinrichtungen schließen mussten.

Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge werden 2030 rund 500 000 berufliche Pflegerinnen und Pfleger fehlen, was das Problem weiter verschärfen dürfte. Die Zahlen beziehen sich allerdings auf den derzeit herrschenden Pflegeschlüssel, in der Fachwelt „Nurse-Patient-Ratio“ genannt, also die Anzahl der zu betreuenden Patienten und Bewohner eines Altenheims pro Fachkraft. Der ist in keinem anderen Land so schlecht wie in Deutschland und mithin der Katalysator für die Flucht aus dem Beruf. Für diese Entwicklung existiert inzwischen ein an den Brexit angelehntes Wort im deutschen Sprachgebrauch: Pflexit.

Durchschnittlich 13 Patienten hat eine Pflegefachperson in Deutschland zu betreuen. In den USA sind es 5,3 und in anderen europäischen Staaten zwischen fünf und sieben Patienten. Der ehemalige Pflegedirektor am Evangelischen Krankenhaus Oberhausen, Rainer Jakobi, erklärte dazu: „Es werden nur noch die Zahlen genannt, die fehlen, die schon vorhandenen Stellen zu besetzen.“ Verbindliche, progressive Personalschlüssel würden nicht thematisiert.

Ich bin sicher: Der Mann hat recht. Orientiert man sich an den Vorgaben in England, dann fehlen in der Bundesrepublik zusätzlich 188 000 Fachkräfte, die zu den jetzt schon bestehenden unbesetzten Stellen hinzugerechnet werden müssen. Um diese statistische Verschleierung öffentlich zu brandmarken, schlug Jakobi vor, Jens Spahn Rechenschieber als Hilfsmittel zu schicken. Viele folgten dem Aufruf. Bewirkt hat er nichts, jedenfalls nichts bei Spahn.

Doch selbst jene Prognosen, die sich an Zahlen der europäischen Nachbarländer orientieren, sind wohl zu optimistisch. Sie wurden nämlich vor der Pandemie erstellt. Corona kostete (Stand Ende August 2021) knapp 270 Pflegende das Leben, knapp 160 000 wurden infiziert. Unabsehbar ist, wie sich die Erfahrung einer Infektion im Job auf das weitere Berufsleben der Betroffenen auswirken wird, ob sie unter Long COVID leiden und wie viele von ihnen in Heime oder Krankenhäuser zurückkehren können – oder wollen.

Und das in einem Beruf, dessen Verweildauer im Durchschnitt eh bei nur 8,4 Jahren in der Alten- und bei 13,7 Jahren in der Krankenpflege liegt.

Das zeigt, dass der Fachkräftemangel wahrhaft verheerende Ausmaße hat. In der Pflege zu arbeiten heißt, sich in eine Knochenmühle zu begeben. Die darin herrschenden Zentrifugalkräfte katapultieren Menschen, die jahrelang ausgebildet wurden, nach kürzester Zeit wieder heraus. Ich empfinde es als Verharmlosung, wenn lediglich von „schlechten Arbeitsbedingungen“ die Rede ist. Nein, sie sind katastrophal.

Um den Tsunami aufzuhalten, genügt es nicht, eine Bittschrift zu unterschreiben und danach noch eine und noch eine und dann noch eine, sondern es bedarf eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses darüber, wie Pflege gesehen werden soll, was sie uns wert ist. Dieser Diskurs ist seit Jahrzehnten überfällig. Hinter der Frage, wie wir gepflegt werden wollen, verbergen sich weitere, vielleicht noch wichtigere Fragen: Wer sind wir? Was macht Deutschland aus? Wie wollen wir zusammenleben? Wie solidarisch gehen wir miteinander um? Wie finanzieren wir sehr gute Pflege?

Eine zentrale Forderung aus allen Pflegeberufen ist die nach Wertschätzung. Das Anliegen muss Anstoß einer Debatte über gemeinsame Werte sein. Den Wert eines menschenwürdigen Daseins, den Wert arbeitender Menschen, den Wert von Gesundheit, den Wert des Sozialstaates und – das muss gesagt werden – die Werte des Geldes, kurzum: den Wert des Lebens als solches.

Die gesamte Gesellschaft steht also auf dem Prüfstand. Im Grunde ist es ganz einfach: Entweder sie schafft es, die Politik zum Handeln zu zwingen, und ist selbst bereit, an ihrer Mentalität zu arbeiten, die (noch) dazu führt, dass viele Deutsche lieber Geld für ein besseres Auto statt für bessere Pflege ausgeben. Oder immer mehr Profis werden sagen: „Dann pflegt euch doch selbst!“

Die Coronapandemie hat den Flächenbrand nicht entfacht, sondern nur beschleunigt. Plötzlich begriff Deutschland, dass der Personalmangel in Kliniken und Altenheimen keine Erfindung von Apokalyptikern ist – er ist real. Und der Politikbetrieb in Bund und Ländern trägt wesentlich Verantwortung für die Misere. Der Deutsche Pflegerat verwies schon 2010 auf 50 000 Pflegekräfte unter Soll. Das Statistische Bundesamt erwartete damals, dass 2025 rund 152 000 Beschäftigte im Gesundheitssektor fehlen werden – die Prognose ist nah an der Wahrheit. Trotzdem schieben wir die Problemlösung Jahr für Jahr auf. Ohne Umsteuern werden bis 2030 nach Erhebungen der BARMER Krankenkasse mehr als 180 000 Pflegekräfte im Gesundheitssektor fehlen. Der Deutsche Pflegerat beziffert die Fehlzahl auf bis zu eine halbe Million. Da mögen auch Übertreibungen im Spiel sein, wie sie typisch für Lobbyorganisationen sind. Aber selbst, wenn „nur“ die BARMER-Schätzung Realität wird, werden Zehntausende Menschen ungenügend betreut werden. Vielleicht ist es ja möglich, dass bis dahin Roboter in der Pflege zum Einsatz kommen …

Auch die Ampelkoalition geht das Thema nicht entschlossen genug an. In ihrem Vertrag stehen vage Formulierungen und – teils auch gut gemeinte – Ideen, deren Durchschlagskraft jedoch unsicher ist. Mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist zwar endlich wieder ein Arzt und somit ein Vertreter einer pflegerischen Nachbardisziplin am Werk. Aber er hat sich in den ersten Monaten im Amt allein als Coronamanager verstanden.

Düstere Prognosen sind das eine. Das andere ist der Umstand, dass es bisher trotzdem immer gut ging. Nun treffen aber die alternde Gesellschaft, eine höhere Lebenserwartung und ein epochaler Pflegekräftemangel aufeinander. Dieser Mix erzeugt einen Tsunami, der durch bloßes Herumdoktern an den Symptomen nicht aufzuhalten ist. Sonst werden wir uns an die glücklichen Jahre zurückerinnern, in denen wir „nur“ einen „Pflegenotstand“ hatten.

KAPITEL 2Pflege kann jeder. Pflege ist billig. Pflege ist weiblich.

Zu Beginn eines jeden Semesters, wenn ich mit Studierenden eine Zeitreise durch die Geschichte der Medizin und der Pflege antrete, stelle ich die Frage: „Wann haben Sie zuletzt im Alltag einen Menschen gesehen, von dem Sie annehmen mussten, er sei krank, pflegebedürftig oder körperlich so eingeschränkt, dass Sie auf ihn aufmerksam wurden?“ Die Frage und im Grunde auch alle denkbaren Antworten sind simpel, lösen jedoch stets Unsicherheit und Irritation aus. Es dauert regelmäßig eine Weile, bis die Ersten das Schweigen im Raum beenden und persönliche Erlebnisse schildern. Erinnert wird an die alte Dame mit dem Rollator neulich im Supermarkt – aber gehört sie eigentlich dazu? Da wäre der Mann mit dem Blindenstock auf der Straße – aber gilt ein Mensch mit Behinderung überhaupt als krank? Die Nachbarin, die sich manchmal etwas vom Supermarkt mitbringen lässt, jedoch allein lebt – zählt sie schon zu den Pflegebedürftigen? Wir landen dann immer bei denselben Grundsatzfragen: Wie definiert sich Krankheit? Und wie Pflegebedürftigkeit?

Das Zögern der jungen Leute ist typisch und nicht etwa ein Zeichen von Ignoranz oder Desinteresse am Leben der anderen. Die Auseinandersetzung mit Krankheit, Behinderung und Sterblichkeit, gar der eigenen, findet schlicht und einfach nicht statt. Der Tod ist weit weg, wenn man jung ist. Der Gedanke, selbst zum Pflegefall zu werden, Mutter oder Vater über Monate, wenn nicht Jahre am Krankenbett beizustehen, wird oft verdrängt. Aber auch Ältere beschäftigen sich ungern mit dem Fall der Fälle. In einer Umfrage der Techniker Krankenkasse (TK) gab jeder Dritte an, in den vergangenen fünf Jahren keinen Bezug oder Kontakt zu Mitmenschen gehabt zu haben, die gepflegt werden mussten, oder Angehörigen zur Seite standen, die sich nicht allein versorgen konnten. Die Auseinandersetzung mit dem Thema beginnt oft erst im fortgeschrittenen Alter, wenn zum Beispiel in der Familie ein erster Pflegefall zu betreuen ist und man selbst merkt: Oh je, es kann auch mich und meine Lieben treffen!