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Antoinette Rychner

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Beschreibung

Er ist ICH. Er ist Bildhauer und seine Frau, die sinnliche, seine Sinne betörende S, ist ein Meer. Ein Meer, das ihn als Liebenden manchmal zu verschlingen droht. Ein Kind haben die beiden auch, einen Chnopf, und im Verlauf des Buches kommt ein zweites zur Welt, Chnopfzwo. Bei dessen Geburt verliert der Vater angesichts der entfesselten Naturgewalten vollends den Boden unter den Füßen, denen ganz grundsätzlich etwas fehlt, damit sie so richtig fest auftreten könnten: Diese Etwas ist Der Preis, den ICH sich als Bildhauer von Jahr zu Jahr erhofft, und der ihm nicht zugesprochen wird. Die aufopfernde Güte von S, die der Familie die materielle Lebensgrundlage sichert, kann ICH nicht davor bewahren, sich in den Abgründen, aber auch in den Höhenflügen der schöpferischen Arbeit zu verlieren, hin- und hergerissen zwischen kreativem Impetus und Verzweiflung. Antoinette Rychner hat für diese wohl allen Künstlerinnen und Künstlern bekannte Situation eine Form und eine Sprache gefunden, die ihresgleichen sucht: Ihr Buch ist ein wahres Feuerwerk an Bildern und luzidem Witz, lebensnah und höchst kunstvoll gestaltet zugleich. Nicht umsonst hat es unter dem Originaltitel "Le Prix" 2015 den in der Westschweiz angesehenen Prix Dentan und 2016 einen der Schweizer Literaturpreise gewonnen. Yla M. von Dach hat das Buch ins Deutsche übersetzt. Es erscheint im Rahmen der ch-reihe.

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Seitenzahl: 306

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Antoinette Rychner

DER PREIS

verlag die brotsuppe

Antoinette Rychner

DER PREIS

Roman

aus dem Französischen von Yla M. von Dach

verlag die brotsuppe

Originaltitel: LE PRIX

© 2015, Libella, Buchet/Chastel, Paris

www.buchetchastel.fr

www.diebrotsuppe.ch

ebook ISBN 978-3-03867-045-2

Der verlag die brotsuppe wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2016–2018 unterstützt.

Alle Rechte vorbehalten.

© 2021, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne

Gestaltung, Satz, Umschlagbild: Ursi Anna Aeschbacher, Biel/Bienne

« Le Mouvementeur dit qu’est un artiste celui qui accepte l’idée qu’il pourrait n’être tenu pour un artiste que par lui-même. »

Enzo Cormann, Le Testament de Vénus

»Der Mouvementeur sagt,

ein Künstler sei, wer die Idee akzeptiere, nur von sich selbst für einen Künstler gehalten zu werden.«

Inhalt

Teil I

Teil II

Teil III

Teil IV

Teil V

Herzlichen Dank

Die Autorin

Die Übersetzerin

Literatur aus der Romandie

I

Mein T-Shirt hochziehen, um mich am Bauchnabel zu untersuchen: verwüstete Blüte, blasslila Saum, verkrümmt, gerade aufgerichtet, wieder verkrümmt, aufgeplatzte Öffnung mit notdürftig zusammengestichelten losen Blütenblättern. Zwischen den Stichen haben sich helle Wülste gebildet. Wirklich, ich habe dieses ganze Durcheinander das letzte Mal auf die Schnelle zugenäht – ich bin nicht der, der ich sein sollte, der Sorgsame, dem zu hoffen gestattet ist, darum erreiche ich auch kein rühmliches Ziel und darum haben meine Anstrengungen auf meinem Bauch auch nichts als diese Holperspur hinterlassen, zwischen schmutzigrosa Wülsten, schrumpligen Säumen und unentwirrbaren Mucken.

Wie lange ist das her, wann sind die letzten Krusten abgeblättert? Halb ins Violette, halb ins Grünliche spielend verblasst ein Bluterguss. Wenn der Glorienschein weg ist, wird mir diese unebene Stelle bleiben, wo die Schwangerschaftsstreifen silberglitzern, und darauf die jedes Mal üppigere Narbenlinie.

Als ich aus dem geweihten Zimmer trete, liegt der Flur völlig dunkel vor mir. Im Vorbeigehen erkenne ich in Chnopfs Zimmer einen undeutlich ins Federbett verknäuelten Körper, doch ich trete nicht ein. Ich will S. Noch drei Schritte, ich stoße die Tür auf; mit seinen Faltenhügeln und -tälern breitet das Bett sich aus wie ein Land. S liegt in S-Form da. Sie hat die Füße zum Po hochgezogen, verstreutes Haar. Sie ist sehr schön, die Frau, die ich meine Frau nenne. Schön, mit ihren Haar-Schwimmern auf den Schultern und auf dem Rücken, wo sie sich wellen wie eine Menge kleinerer S.

Ich lasse mich ganz angekleidet neben ihren Körper gleiten, füge mir ihre Wirbelsäule an. Und ich atme ein; ein tiefer Zug. Ablaufendes Leben, Einsetzen von Geruch da und dort, wo der Schlick zutage tritt. Ich nähere mich den bloßliegenden Zonen, man könnte meinen, ein grenzenloser, in verborgenen Pflanzen und Tieren gefangener Luftvorrat entlasse ein langsames Ausatmen an die Oberfläche. Das diskrete, aber tausendfach verstärkte Hochsprudeln winziger Bläschen, die an der Oberfläche in aller Bescheidenheit platzen. Die Vorstellung, dass in den geheimen Durchgängen eines Körpers, der in sich die richtige Temperatur aufrechterhält, all diese ursprünglichen Kreisläufe stattfinden, durch die S nicht mehr meine Frau ist, sondern ein Wildreservat, das sich mir und auch ihrer eigenen Kontrolle entzieht.

Sie bewegt sich ein wenig, kräuselt sich, haucht, vermute ich, meinen Namen, unhörbar,

»Weißt du was?«, flüstere ich ihr ins Ohr,

sie richtet sich auf, leicht verzögert.

»Ich habe gewonnen, stell dir vor!«

Haben meine Worte, hat meine Stimme in der Luft jene fröhliche Konsistenz, die ihnen im Innenraum des Kopfes gegeben wurde?

Im Schein der Straßenlampe sehe ich ihre verwirrte Miene, doch ich lasse mich nicht unterkriegen, kommt nicht in Frage;

»Man hat mich angerufen«, ich gerate ein wenig in Wallung, »ich habe den Preis gewonnen, S!«

Ihrem Gesichtsausdruck nach muss sich meine Aussprache ziemlich bizarr, ja unheimlich angehört haben. Ihre Lippen bilden etwas, Worte stürmen durch, unmöglich, sie von ihren schlecht beleuchteten Lippen abzulesen, ich muss ihr gestehen, dass ich nicht mehr höre, ich sage, es sei die Freude, meiner Meinung nach, die Überraschung, gewonnen zu haben, die habe mir einen derartigen Schock versetzt,

S macht unsere Lampe an, mustert mich beunruhigt und lässt wieder irgendein Gebrodel fahren, zum Übersetzen macht sie jämmerliche Gesten, denen ich wenig Sinn abgewinne – Schrecken auf ihrem Gesicht und Ungläubigkeit. Sie nimmt mich einen Augenblick in die Arme, wiegt mich mit ihrer ganzen bestürzten Sanftheit, dann steht sie auf und kommt mit einem Notizheft zurück.

»Was ist passiert?«, kritzelt sie, »ein Brief von ihnen? Ist es das?«

»Du glaubst mir also nicht?«, frage ich,

wie ich sie zögern sehe, kommen mir die Worte, um sie anzuschuldigen: Was für ein bösartiges Misstrauen, welch unwürdiger Affront, ich gerate in Schweiß, ich denke: S hat vielleicht etwas gesehen, X’ Foto zum Beispiel, in einer Zeitschrift, in einem Online-Forum oder weiß der Teufel welcher Verbreitungsquelle, doch wenn sie das geglaubt hat! Geglaubt, dass X der Preisträger sei und nicht ICH, anstatt ihrem Mann zu glauben,

ich packe sie am Arm, durchforste sie eingehender mit dem Blick – he, was ist? Meinst du, ich will dich hauen? Nicht imstande, mir zu glauben, wenn ich dir sage, dir schwöre, dass ich den Preis gewonnen habe! Wie sie Anstalten macht, sich das Gesicht mit dem Arm zu schützen, gerate ich richtig in Schweiß, ich packe zu, soll sie mir doch sagen, wer, ob X oder ICH, der echte Preisträger ist, ich kriege meine Frau-die-Liebe-selbst in die Finger und beginne zu drücken,

wenn ich einmal den PREIS gewonnen habe, wird sich alles ändern, habe ich mir vor dem BRIEF gesagt, wenn ich einmal Preisträger bin, das Leben! Bis dahin habe ich mir alles verboten, was vom Ziel ablenkt – S’ Gefühlen Beachtung zu schenken, zum Beispiel, oder den Gefühlen von Chnopf –

aber Ruhe und Genuss verdient nur, wer triumphiert, und wie soll man sich also Ruhe zugestehen, wie soll man sich das zugestehen, solange nicht der PREIS gewonnen ist,

ich drücke immer noch zu, doch ihr gegenüber bin ICH es plötzlich, der zerbricht. Ich lasse sie los, frage, was wir mit diesen Anstrengungen anfangen sollen, die ich seit Jahren unternehme, diesen übermenschlichen Anstrengungen, die endlich belohnt zu werden verdienten. Hätte die Jury auch nur ein Jota Grips im Kopf, hätte sie es begreifen müssen: Diesmal wäre der Augenblick gekommen, mein Werk als Ganzes, mein Werk in seiner Gesamtheit zu würdigen, die Summe von Röpfen, die bis jetzt allein durch die Kraft des Eigensinns hervorgebracht worden waren, und stattdessen lässt mir diese Jury von unfähigen Idioten einmal mehr anhand eines ihrer himmeltraurigen BRIEFE ihre Verachtung übermitteln,

»Stell dir vor! Ein elendes Rundschreiben, das mich in die Ränge aller Ausgeschiedenen abschiebt, der großen Masse, anders gesagt!«

S bleibt ungerührt, sie überlegt kurz, dann schreibt sie, sie bringe mich ins Krankenhaus, und macht Anstalten, sich anzuziehen, aber ich halte sie zurück,

was die Taubheit betrifft, in der Tat, vielleicht die Explosion beim Öffnen des BRIEFES – was, wenn meine Trommelfelle davon schlagartig geplatzt wären? Doch es kommt nicht in Frage, dass ich einen Fuß nach draußen setze, während Autos, Häuser und Fußgänger nur eine einzige Botschaft an mich richten: Du bist auch dieses Jahr nicht Preisträger,

einen Fuß hinaussetzen, nein!, und sich einem Gopfertorischeißarzt unterziehen, seinen Fragen, ihm vom WETTBEWERB und vom BRIEF erzählen müssen! Die macht ja Witze, nie im Leben,

»Du willst nicht hin?«

»Kommt nicht in Frage«, ich schüttle wieder den Kopf, heftig,

»Was willst du also machen, in dem Zustand bleiben, vielleicht«,

doch ich gebe ihr zu verstehen, dass sie jetzt besser aufhöre: Ob es etwa nicht reiche mit dem BRIEF, der Demütigung, der Grabesstille in den Ohren, ob ich in der Verfassung sei, mich obendrein noch anöden, quälen zu lassen,

S hört mir mit weit aufgerissenen Augen zu, sie spürt, dass sie an Boden verliert und sucht, sucht, ich sehe in ihr die widersprüchlichen Ideen, die Absichten, die sie verwirft, sie umklammert ihren Kugelschreiber, es sieht ganz danach aus, als werde sie eine ellenlange Tirade zu Papier bringen, doch am Ende legt sie bloß ihr Schreibmaterial auf den Nachttisch. Sie macht das Licht aus, dreht mir den Rücken zu und ich spüre, dass sie unterm Deckbett ihre Knie zum Bauch hochzieht, zu einem sehr engen S.

Fünf, sechs Namen, die Namen der Jurymitglieder, die jedes Jahr wechseln. Ich stoße am Bildschirm auf sie, auf einer dem Berufsstand gewidmeten Seite. Fünf, sechs Namen und mitten darin Béranger!

So war Béranger also auch dabei. Hat mitgemacht, hat mich abgestochen wie die anderen. Fünf, sechs Experten; wenn ich ihre Namen sehe, bin ich nicht überrascht, aber Béranger. Dieser Schweinehund.

Der Letzte, den ich als Freund bezeichnete – obwohl wir uns selten sehen, sozusagen nie –, er hat sich den anderen angeschlossen.

Ist er verfügbar? Er hat einen grünen Punkt, sein Profil ist aktiv.

»Hallo«, tippe ich.

»Hi, wie geht’s dir denn?«, kommt fast sofort als Antwort und ich denke: Gleich sticht mich Béranger ein zweites Mal ab. Und dennoch schicke ich eine kleine Folge sympathischer Worte zurück, »alles bestens«, tippe ich, »es geht, es geht, bei dir auch, hoffe ich, bei mir jedenfalls läuft’s nicht allzu schlecht, obwohl, seit gestern«,

und sachte schleuse ich das Wort PREIS in diese Zeilen ein und frage ihn gleich darauf: apropos, ob er nicht in der Jury gewesen sei dieses Jahr,

»Wenn du nichts sagen kannst, dann versteh ich das, klar«, schreibe ich und halte dabei den Atem an, und während ich auf die Antwort warte, flüstere ich absurde Bitten vor mich hin, wie: Lass mich nicht sitzen, im Namen unserer Freundschaft, sag MIR offen und ehrlich, und wenn du musst, wenn die Wahrheit es dir abverlangt, dann hau zu, los, verschon mich nicht,

im Fenster wird angezeigt, dass Béranger schreibt und dann, paff!, erscheint ein ganzer Klacks Sätze, in denen mein Freund sich über die wunderbare Pigmentierung meines Ropfs auslässt, wirklich, er war verblüfft über das bewundernswürdige Know-how, das ich bei der Ausführung der Epidermis an den Tag gelegt habe, diese Textur, diese Nuancen,

hat er nicht gesehen, wie grob die Nähte sind, unter dem Kinn, um die Nasenlöcher? Und was ist mit den Haaren? Ist ihm nicht aufgefallen, wie ungeschickt die eingepflanzt waren, so dass sich überhaupt nicht das erwartete Resultat ergab?

Da ist dieses Bedürfnis, dass Béranger mit ein, zwei Worten meine Arbeit vom Tisch fegt, dass er mich ein für alle Mal herabsetzt und mich vor allem in meinem Eindruck bestärkt, meine Nähte verpatzt zu haben, doch weit davon entfernt, in diese Richtung zu zielen, reiht Béranger noch ein paar lobende Sätze über die am Wettbewerb gezeigte Haut aneinander, von allen Röpfen, die er von mir gesehen habe, sei dieser hier in Sachen Pigmentierung bei Weitem der gelungenste, doch das alles schürt nur noch mein Misstrauen; wenn er so sehr auf diesem Punkt beharrt, dann weil er zum Ganzen, zur Wirkung des Ropfs nichts zu sagen hat oder nicht offen darüber sprechen kann,

wird er sich zu den Nähten äußern, nichts dergleichen,

»Und die Nähte? Unter dem Kinn? Um die Nasenflügel?«, tippe ich, nichts Besonderes vorzuwerfen, den Nähten, doch ich müsse wissen, er habe eine solche Menge von Röpfen in Augenschein nehmen müssen, dass er sich offen gestanden nicht mehr genau erinnere, was er von den Nähten gehalten habe, um die Nasenlöcher und unter dem Kinn.

Béranger möchte diese Unterhaltung vielleicht abbrechen, jetzt, nachdem er seine Komplimente aufgefädelt hat und das, ohne sich zu kompromittieren, in aller Freundschaft und Einfühlsamkeit. Wird er verstehen, dass er mich anständigerweise nicht ohne zusätzliche Informationen hier sitzenlassen kann? Ich möchte, dass er sich aufs Glatteis wagt, dass er sich getraut, vor MIR eine schärfere Meinung zu vertreten,

»Wenn dir mein Ropf wirklich gefallen hat«, tippe ich, »ändert das dennoch nichts daran, dass andere, insbesondere der von X, in euren Augen gelungener waren als meiner.«

Doch Béranger antwortet, es gebe welche, die wie er von der Schönheit der Oberflächenbearbeitung beeindruckt gewesen seien, und andere, die mein Arbeitsansatz kaltgelassen habe.

»Wir haben uns reingekniet, ich selbst und ein paar andere, um die Qualität deiner Arbeit zur Geltung zu bringen. Ich kann dir sagen, wir haben uns reingekniet, jedenfalls in der ersten Runde. Aber so ist es halt, dein Ropf ist ausgeschieden. Letztendlich haben wir den Ropf von X gewählt, der, das stimmt, die allgemeine Zustimmung gefunden hat. Ich verstehe deine Enttäuschung, aber du darfst nicht da stehenbleiben –«

Ich schließe die Augen. Wenn er mit einer Ermunterung aufhört, ertrag ich das?

»Béranger«, tippe ich, gleich reißt mir der Nerv, »ist das –«, ich unterbreche mich, suche nach der richtigen Formulierung,

ich muss es riskieren, ihn zu fragen, warum sich immer was vormachen, und wer, wenn nicht Béranger, könnte mir wirklich Antwort geben? Ich muss wissen, woran ich bin, mit dem entscheidenden Wort werde ich allerdings nicht herausrücken, nein, nie und nimmer würde ich das ausdrücklich zu formulieren wagen, obwohl mir doch genau daran am meisten liegt,

»Hast du ihn gehört?«, tippe ich schließlich,

doch ich hätte es besser unterlassen, denn sogar ohne singen zu schreiben, bin ich zu weit gegangen,

»Für die einen singt der Ropf, für andere nicht. Du weißt, wie subjektiv das alles ist«,

und die Worte meines Freundes dringen mir wie eine Messerklinge zwischen die Schulterblätter, denn ich begreife, dass unter diesem netten Gemeinplatz die Antwort heißt: Du weißt, wie sehr ich dich schätze, ich muss ehrlich sein. Vielleicht, dass für jemand anderen, für ein anderes als mein Empfinden –, aber für meine, nein, für meine Ohren hat dein Ropf nicht gesungen.

»Ich sollte es bleibenlassen, meinst du nicht?«, tippe ich,

ohne Provokation, ohne rhetorische Absicht in diesem Augenblick, in dem ich überzeugter bin denn je, dass ich kein echter Bildhauer bin, bloß ein armseliger Bastler, ein Kerl, der sich alles selbst beigebracht hat, der unterwegs unauffällig da und dort ein paar Fetzen Methode hat mitlaufen lassen und der, wenn er sich ein wenig hochhieven möchte, indem er zum Beispiel das Ergebnis seiner Bemühungen am Wettbewerb präsentiert, zu Recht wie ein wagemutiger Kakerlak wahrgenommen wird, ein Frechdachs, der sich weiß Gott was erlaubt und durch seine Anmaßung die ganze Clique der Meister beleidigt, so dass es in Anbetracht dessen ganz normal, ja gerecht, ja unabdingbar ist, dass ihn die Jury mit einem Schuhsohlentritt zerquetscht,

doch Béranger denkt anders:

»Du hast etwas voranzubringen«, tippt er. »Du musst durchhalten. Ich habe es immer gespürt.«

Nun versteift er sich also darauf mir einzureden, meine Arbeit sei vielversprechend, so lange, wie er das schon dauernd wiederholt,

»Béranger. Weißt du, wie alt ich bin?«

Offensichtlich hat er andere Sorgen, weiß der Himmel unter welchem Scheinvorwand bricht er das Gespräch unerwartet ab,

Vor dem Bildschirm wische ich mich ab, erschöpft, zerstört und zugleich so entsetzlich angespannt, überall verkrampft. Es müsste doch möglich sein durchzuatmen, doch dem PREIS strebt mein ganzes Wesen entgegen, bis zum Ropf zutiefst empört,

wenn X’ Name sich heute in meinen Namen verwandeln könnte in diesem Brief, wenn mein Name sich da in Tintenlettern einschreiben könnte an seiner Stelle, dann würde ich mich akzeptieren, Ehrenwort, so wie ich bin und bis zum letzten Atemzug,

ein klitzekleines Nichts, eine winzige Veränderung und in meine Lungen käme mit vollem Recht wieder Luft, doch ich kann mir das Blatt Papier wieder und wieder vornehmen, es durchsuchen, wie ich will, niemand verkündet mir im Namen dieser Mannschaft berufsmäßiger Folterknechte, dass ich Preisträger sei, der Verfasser äußert nur Bedauern, wir hoffen sehr, dass, wir laden Sie ein, sich, heißt es am Schluss des BRIEFES, das ist doch wirklich der Gipfel! Diese Dreckskerle hoffen, mich unter den Kandidaten einer nächsten Ausgabe wiederzufinden, jawohl, so endet ihr elender SCHEISSBRIEF!

Vergiss nicht, dass es andere gibt, sage ich mir im Versuch, mich wieder mit dem Annehmbaren anzufreunden. Ehrversehrte, solche, die an der verfehlten Salbung des Egos leiden, jawohl! Es leiden andere als ICH am PREIS in diesem Augenblick, ein ganzes Peloton von Amateuren, von armen Teufeln, die sich einbilden, sich fähig glauben, die nichts hinkriegen als Nichtsgestrüpp und die beanspruchen, den fürchterlichen Anspruch haben, es – überall im Land liegen sie darnieder, getroffen vom BRIEF! Allein in dieser Stadt sind wir ein ganzes Häufchen Bildhauer, die eine Schlappe einstecken – und ich sehe W vor mir, triefend vor Ehrgeiz und Schweiß. Auf der Poststelle, wo ich anstand, um meinen Ropf aufzugeben, auf wen treffe ich doch da: auf diesen Mitbürger und Gelegenheits-Ropf-Fabrizierer – Röpfe von durchschnittlicher, von miserabler Qualität, um es kurz zu machen, W, der mich grüßt und zu verbergen sucht, dass auch er soeben ein Werk zum Wettbewerb eingereicht hat, wobei der kleine, unzweideutige Fleck, der durch Verband und Hemd durchdrückt, auf der Höhe seines Nabels einen unlängst abgetrennten Ropf verrät.

Ich denke daran und lächle bitter; hat es wirklich die Macht, mich zu trösten, das Bild von W, der heute jammernd seinen Brief vor sich haben wird, gevierteiltes Vertrauen, verkrampfte Hände, mit dem Gedanken spielend sich aufzuhängen, stracks, hier, am Balken in seiner Mansarde,

Mansarde, denn W ist Junggeselle, sage ich mir, so gut wie möglich an diesen Beweis angeklammert, dass Ehelosigkeit letztendlich durchaus keine ausreichende Bedingung ist, um das Genie eines Bildhauers zur Entfaltung zu bringen,

An meinem Arm eine Hand, klein an Kraft, ich drehe mich um: Ein ungeheuer weit aufgerissener Mund, mein Herz zieht sich vor Widerwillen zusammen, dieser Mund bedeutet massenhaft Rotz zum Abwischen, Chnopf schöpft Atem, dann verzerrt sich sein Mund wieder zum Hohlraum, die Stimmritze als Glockenklöppel für ein vollkommen fehlendes Timbre, sein Mund bewegt sich stoßweise – Schluckauf wahrscheinlich und dazwischen mühen die Lippen sich ab,

»Ja, ja, später«, formuliere ich, während er mir seine Tasche zu übergeben versucht,

was für ein grauenvolles Gefühl, wirklich: Sprechen und nichts mitbekommen von den eigenen Worten, ein echter Fisch-Alptraum,

»Später«, sage ich nochmals zu Chnopf und komplimentiere ihn mechanisch hinaus,

was macht denn S, wo ist sie,

wenn S wieder auftaucht, mag er meinetwegen plappern, wie er will, in der Zwischenzeit hat er sich gefälligst zu beruhigen und mich in Frieden zu lassen mit seiner Tasche,

»Stell die Tasche ab.«

Ich putze ihm die Nase, gebe ihm Wasser, er hat ein Kartondings aus seiner Tasche gezogen, mit großen Ohren, nein, es müssen Flügel sein, sie flattern vor meinen Augen,

»Ist das ein Vogel?«

Wieder dieses grässliche Gefühl, nicht überprüfen zu können, welche Worte mir aus dem Mund gekommen sind, versteht mich Chnopf,

Nicken, ja, es ist ein Vogel – dass ich richtig gesehen habe, hat seine Unzufriedenheit zurückgedrängt, bei ihm ist alles eine Sache von Zentimetern und ich gewinne ein Stückchen Raum, in den ich mich zurückziehen kann. Schon ist er wieder da, sucht mich heim mit seinem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, jetzt soll ich zu seinem Vogel etwas sagen, soll ihn beurteilen, ihn entgegennehmen. Ich nehme die Bastelarbeit

– dieser Ropf, den ich vollbracht zu haben glaubte, war in WAHRHEIT nichts, ein mickriges, verheddertes, lebloses Gebilde – die Kleinkindererzieher checken es also nicht, werden es nie checken, es reicht, wir haben überall welche, ringsherum, an den Wänden, auf den Schränken, den Regalen, wir haben welche im Klo, an der Decke, haufenweise im Wohnzimmer, alles ist überstellt von ihren grässlichen Bastelarbeiten,

ich sage zu Chnopf, wenn er den Vogel behalten will, müssen wir eine ältere Bastelarbeit wegnehmen, offenbar sind meine Sätze verständlich, denn er bezeugt Weigerung und seine Lippen verzerren sich zum Greinen, es geht wieder los, ich denke: Die Kleinkindererzieher, die es erlauben, die Kleinkindererzieherinnen, die der Herstellung solcher Grässlichkeiten Vorschub leisten, sollten einmal herkommen und mit eigenen Augen sehen müssen, in welchem Maß die Behausungen von den sich ansammelnden Bastelarbeiten überladen sind, sie sollten selbst über das Opfern früherer Bastelarbeiten verhandeln, damit die neuen Kreationen im Logis Aufnahme finden können, diese entsetzlichen Momente des Verhandelns und der Dramen sollten sie selbst erleben müssen, anstatt uns, via Kinder als Mittelspersonen, die abscheulichen Produkte ihrer pädagogisch-schöpferischen Bestrebungen frei Haus zu liefern,

schon mit einem einzigen Chnopf ist das kaum mehr kontrollierbar, man stelle sich also Familien mit zwei, drei oder gar vier Schülern vor, man stelle sich den Erstickungstod der Eltern vor, Erstickungstod, ja, durch die Ansammlung von Basteleien, all diese Schneemänner, diese Kalender, diese mit dreifachen Muschelreihen eingerahmten Fotos, wenn die Kleinkindererzieher doch gefälligst ein für alle Mal begreifen würden, was die Eltern ihretwegen ertragen müssen,

aber ich werde mir nicht alles gefallen lassen,

wenn du nicht willst, dass wir eine alte Bastelarbeit wegschmeißen, damit dein Vogel Platz hat, na dann schmeißen wir eben deinen Vogel weg, und ich greife nach den Seidenpapierflügeln und knülle sie zusammen, ich zerquetsche den Körper aus elendiglich steiferem Material, der Körper gibt sofort mit einem kurzen Einknicken nach, ich knalle das Ganze in den Mülleimer und Deckel zu, das hast du nun von deinen Basteleien.

Den Bildschirm hochklappen, online gehen. Auf den einschlägigen Internetseiten eine Abbildung des Ropfs suchen, den X geschaffen hat. Da ist er! Der Bildausschnitt schließt den oberen Teil des Sockels ein, ein rotes Band darum herum, darauf, klein, der Name von X und, ziemlich groß geschrieben, der Name des Preises. Ich versuche es zuerst mit der Strategie des schlechten Verlierers: Mit diesem Ropf aus der Hand von X veranstaltet die Jury viel Lärm um fast nichts. Ein Mode-Effekt, ein vor lauter Lobhudelei überaufgeblähtes Fast-Nichts, kurz: ein Kiki von einem Ropf, der etwas zu schnell hochgejubelt wird; mit all meinen schwachen Kräften versuche ich, das Werk dieses Mannes zu verachten, der von der Bildhauerwelt in den Himmel gehoben wird und der sich X nennt, verlorene Liebesmüh, denn auf den ersten Blick, allein schon im Bild – ich kann’s genauso gut zugeben – zerfetzt mich X’ Ropf vor Respekt.

Darunter wird das Gedränge der Besucher im Museum gezeigt, dazu ein Artikel, der von einhelligen Beifallsbekundungen strotzt: Kaum hätten sie den Saal betreten, in dem der Ropf ausgestellt ist, erreiche sie sein Gesang. Ein für jeden Einzelnen unterschiedlicher, einzigartiger Gesang, der bei jeder Begegnung zum allerersten Mal komponiert und interpretiert werde. Die Leute erklären sich zutiefst berührt, die Direktorin hatte es kommen sehen; am Tag, als sie diesen Ropf zum ersten Mal erblickte, habe sie es gewusst, begriffen, augenblicklich habe sie gesehen, dass sie hier ein Werk vor sich habe, das dringendst auszustellen sei, und es sei nicht nur dieser überragende Ropf, an dem sich ihre Faszination entzünde, sondern X’ Arbeit in ihrer Gesamtheit, einschließlich der bescheidensten Werke, dieser Studien, die als solche wenig bemerkenswert erschienen, sich aber gegenseitig erhellten von dem Moment an, wo man sie in Serien einander gegenüberstelle, so dass die weitgespannte, die sagenhaft komplexe Architektur einer genialen Welt spürbar werde, meint die Direktorin hingerissen in einer Interview-Spalte.

Die Direktorin des Museums ist eine Forscherin, eine Enthusiastin,

sie erklärt, ihr Beruf bestehe in erster Linie darin, die Bildhauer zu begleiten, all jene, in denen sich eine Welt, ein ständiger Kampf verberge, all jene, die bruchstückhafte, elliptische Gesichter erfänden, in denen jede und jeder sich mit seinen Erinnerungen einnisten, seine Schamgefühle vergraben, sein Unglück beweinen, seine Ekstasen wiederfinden könne, ja! Für diese Art Objekte aus Fleisch und Magie, für deren innovativen, aber absolut elementaren, verborgenen, aber universellen Gesang übe sie ihren Beruf aus, schließt die Direktorin,

Bewegt sich doch plötzlich die Türklinke – da kannst du lange rütteln, habe den Riegel vorgeschoben, doch ich spüre Gereiztheit durch die Tür hindurch und schließlich stehe ich auf, klappe das Display zu und gehe aufmachen, auf S’ Lippen eine Art Befehl, vollkommen übersetzbar: Es ist Zeit. Ich sage, ich versteh nicht, das hatte sie erwartet, denn sogleich schwenkt sie eine bunte Einladungskarte vor meiner Nase und zeigt mit dem Finger darauf, es sei Zeit, diesen Chnopf, der auch deiner ist, am Geburtstagsfest abzuholen,

»Ich bin mitten in der Arbeit«, protestiere ich,

»Ich hab ihn hingebracht«, notiert sie, mit ihrem Notizheft bewaffnet, »an dir, ihn abzuholen«,

doch ich schüttle den Kopf, damit sie begreift, nein, ich geh nicht,

»Wie lange bist du schon nicht mehr aus der Wohnung gegangen«,

fängt sie jetzt wieder an mich verrückt zu machen, vom Geld zu reden, das sie nach Hause bringen müsse, von der ZEIT, die ihr das Unternehmen raube, bei dem sie angestellt ist, von den Problemen, die sie habe, seit ich mich weigere, nach draußen zu gehen, und davon, wie sie sich mit der Mutter dieses anderen Jungen habe arrangieren müssen, der mit Chnopf in derselben Klasse ist, damit die ihn aus dem Kindergarten abhole?

Keine Ahnung. S ist eine schöne Frau, die mir nichts nützt, und das schreibe ich ihr. Dass du in Sachen Ropf absolut unsensibel bist, mag ja noch angehen. Aber wenn du dem Bildhauer keine Achtung entgegenbringst, dann behinderst du mich und machst mich kaputt. Ja, du bist für MICH und meine Arbeit schädlicher als das bornierteste aller Jurymitglieder,

S schaut mich an, sie weint nicht, scheint aber ganz von Nieselregen verwässert, es herrscht Niedrigleben in ihr. Weites Watt, schwarz von Algen und von Substanzen in der Übergangsphase, sie sieht, dass ich sehe, dass ich spüre, welche Gestalt ihr Wesen vorübergehend angenommen hat, und sie blickt zu Boden, wie von Scham gepackt, in Würde verletzt,

mit einem Ruck greift sie nach ihrem Stift,

»Unter die Leute zu gehen, würde dir weniger Angst machen, wenn du deine Ohren behandeln ließest«,

man könnte meinen, sie hätte die Leute nicht gesehen, all diese Leute, die ich durchs Fenster beobachte, ihre Vehikel, ihre Anzüge und ihre geschäftigen Mienen, dieser ganze Nützlichkeitszirkus, der morgens und abends über die Bühne geht mit dem einzigen Ziel, mir ihre Drecksbotschaft zu übermitteln: Für einen Ropfzimmerer gibt es keinen Platz auf der Welt – und erst recht nicht für eine taube Nuss von einem Bildhauer, denn wenn die Welt in ihren guten Tagen den anerkannten Bildhauer dulden mag, der mit seinem Ropf den Beifall einer Jury gefunden hat,

so muss man, was die anderen betrifft, den Tatsachen ins Auge sehen:

Für jene, deren Ropf niemandem etwas sagt, ist nirgends Platz, und was kann ich Besseres, was kann ich anderes tun, als all diese Leute, die sich da draußen abmühen, die Welt für den Ropf-Bildhauer jeden Tag ein bisschen feindseliger zu gestalten, endgültig zu ignorieren?

»Geh deinen Sohn abholen«, artikuliert meine Frau langsam.

Ihre Lippen sind weiß, etwas verlangt ihre Geduld,

»Ich hab’s dir gesagt: Ich bin am Bildhauern«,

S wirft einen Blick auf meinen Bauch, der völlig flach ist unter dem T-Shirt, lacht hämisch – kleine Zahnriffe, es sieht aus, als käme auflaufendes Leben in sie, dann schubst sie mich und ich merke, dass sie sich anschickt, ins Geheimnis des geweihten Zimmers einzudringen. Nichts rechtfertigt, dass sie sich über die Regel hinwegsetzt,

»Zutritt verboten! Lass, es ist zwecklos«, mache ich S verständlich, während ich mit dem Körper Widerstand leiste,

nun stecken wir beide in der Türöffnung, sie bohrt den Kopf in meine Achselhöhle, flehend und ingrimmig, gibt nicht nach, möchte auf MICH genug Kraft ausüben, schafft es, mich zu überraschen mit einer Bewegung, die mir entwischt. Schon ist ihr Fuß über die Schwelle gerutscht, ich kriege sie zu fassen und wirble sie herum, klatsche ihr heftig eine runter. S macht einen Satz, weicht zurück in den Korridor, die Hand auf dem Gesicht. Ich stoße schnellstens die Tür zu. Hast du verstanden? Sie wirft mir einen schmerzlichen, aber hassfreien Blick zu, das Wasser fließt in ihr Becken zurück, ich begehre sie vielleicht – in ihrer Eigenschaft als Hindernis, ich spüre, wie eine Art rasender Erregung in mir hochkommt und packe sie, schleppe sie in unser Zimmer.

Sie hält sich immer noch die Wange, während ich ihr die Hose ausziehe, sie aufs Bett lege, mich auf sie zubewege, ich glaube, sie möchte mir helfen, denn trotz der Demütigung hebt sie mir so gut es geht die ganze Botschaft ihres Damms entgegen, jetzt brennen wir offenbar beide darauf, dennoch strande ich: S mag ihre kleine Bucht darbieten, wie sie will, sie hat keine Feuchtigkeit vorrätig, ich treffe nur auf einen teigigen Kontinent, der mir widersteht und mich anwidert wie Asche, schließlich gebe ich auf, sie rollt über die Matratze und schaut mich schräg an, während ich von Hand fertigmache und mich teilweise auf ihre Beine ergieße, abgeblitzt mit meinem Unterfangen.

Chnopf, den S schließlich abgeholt hat, kommt sehr aufgedreht von seinem Geburtstagsfest zurück. Chnopf ist meistens aufgedreht, heute Abend ist er es auf buchstäblich übernatürliche Art. Wenn ich ihn ansehe, habe ich den Eindruck, er werde gleich reißen wie ein Gummi. Erschöpft, wegen jeder Kleinigkeit Grimassen schneidend, überschüttet er S mit seinem Gefühlsüberschuss, bestürmt sie mit Berichten, die ich nicht hören kann, die sie jedoch so gut wie möglich mit Zeichen der Aufmerksamkeit begleitet. Mich streift ein mitleidiger Gedanke an die Organisatoren dieses Geburtstagsfests, ich führe mir mühelos den Schwarm vernetzter Chnöpfe vor Augen – rastlose, fortlaufend von unleserlichen Erschütterungen durchzuckte Masse, ich stelle mir die permanente Geräuschkulisse aus Schreien und Forderungen vor, die überbordenden Freude-, Wut- oder Eifersuchtsanfälle, diese ganze Foltereinrichtung für Eltern, die sich im Klamauk und im Raum mit unerschöpflicher Fantasie vervielfacht und das mehrere Stunden lang –, welch ein Glück, taub zu sein!

Chnopf will mir unbedingt etwas zeigen. Vielleicht hat man am Fest ein Glücksspiel organisiert, jedenfalls hat er irgendeinen Klimbim nach Hause gebracht, auf den er sehr stolz zu sein scheint. In Floristenzellophan eingewickelt, ein khakifarbener Organismus von der Größe eines kleinen Balls, der als Kautschuk durchgehen könnte, wäre er nicht mit winzigen Stacheln gespickt, die sich am Ansatz der beiden Ventrikel, durch die er in zwei Hälften geteilt ist, zu Saugnäpfen entwickelt haben, während sie oben verkümmert im Zustand großer Körner verblieben, wie Warzen auf der Haut einer Kröte.

»Meine Pflanze«, lese ich dem von leidenschaftlicher Begeisterung förmlich strahlenden Chnopf von den Lippen ab.

Zwischen den bauchartigen Ausstülpungen der Ventrikel schickt uns der Spalt drei mattschwarze Stängel entgegen. Ihre Spitzen sind noch eingerollt, doch auf dem am weitesten vorgerückten lässt sich die Anwesenheit eines Kügelchens erkennen, das durch eine Membran geschützt ist, die unter dem Wachstum in Kürze zu reißen verspricht. Ist Chnopf der einzige Empfänger eines derartigen Geschenks oder gibt es andere unter den eingeladenen Spielkameraden – will es der Zufall, dass dieses Ding in den Händen meines Sohnes gelandet ist, ausgerechnet des meinen? Ich versuche ihn zurückzuhalten, doch er ist in seiner Konzentrationsfähigkeit überfordert, schon flattert er im Pyjama herum, stößt da und dort an ein Möbelstück wie ein plumper Schmetterling, eilig bemüht, mir zu entwischen, seiner Mutter zu gehorchen, die mit der Zahnbürste daherkommt; es ist Zeit, sie möchte, dass er sich Mühe gibt, bei all dem Dreckszeug, das er heute gegessen hat.

Während sie im Badezimmer ihre Geheimniskrämereien betreiben, stehe ich mit dem Topf in den Händen da. Argwöhnisch schiebe ich das Zellophan weg und nehme das Ding unter die Lupe. Diese durchsichtigen Spiralen, die zwischen den beiden Klappen auftauchen, ist das nicht der Nachwuchs, der Ansatz künftiger Stängel? Wie viele beabsichtigt diese Gebärmutter hervorzubringen?

»Was willst du?«, murmle ich, denn diese Kreatur kann man unmöglich fragen, wer sie ist. Und da ereignet sich ein Reißen von Seidenpapier, wie das Ergebnis einer Bewegung, die, lange verborgen geblieben, ihre Kraft aus dem rückständigen Prinzip des Lebens bezieht. Am Stängelende ist das Häutchen geplatzt und die kleine Kugel streckt resolut eine tintenschwarze Pupille dem Licht entgegen, von zwei Reihen umwerfend langer Wimpern gesäumt. Gebogen halten sie graziös ein paar Feuchtigkeitsperlen gefangen. Ein paar Augenblicke halte ich dem befremdlichen Blick stand, bevor ich verstehe. Es liegt auf der Hand, dass diese mit einem – und bald mit mehreren, ja mit massenhaft Augen versehene Pflanze kein gewöhnliches Lebewesen ist, nicht eine dieser vulgären Fleischpflanzen, die aus warmen Breitengraden zu uns kommen, sondern eine Art hundsgemeines Bewusstsein, das sich hier verkrochen hat, um mich zu taxieren, mich abzuurteilen und mir meine Natur als Bildhauerniete in Erinnerung zu rufen – ja richtig, dieses Jahr hast du wieder nicht gewonnen, gibt mir das verfluchte Auge zu verstehen,

»Wenn das so ist!« Und ich versetze ihm einen Fußtritt,

augenzwinkerndes Miststück, dreckige Spionin,

»wenn das so ist!« Und ich schmeiße sie zum Teufel an die Wand,

Mistvieh von Voyeurin, das hast du davon, so unverschämt ins Privatleben eines rechtschaffenen Kerls reinzuschnüffeln,

und ich trample mit der Ferse auf ihr herum,

elende Bazille, das soll dich lehren, die Intimsphäre redlicher Diener der Bildhauerkunst zu verarschen,

jetzt explodiere ich ihr die grässlichen Augäpfel, sie geben unter meiner Schuhsohle klein bei, als Chnopf aus dem Badezimmer kommt, sieht er mich walten und verzieht das Gesicht. S kommt gelaufen, ich versuche ihr zu erklären, dass die Pflanze sich mit mir angelegt hat, doch sie hat Augen nur für Chnopf, ihn trösten, sich den Topf schnappen, schlecht und recht die zertrampelten Stängel wieder aufrichten. Im Pyjama, sein Plüscheinhorn an sich drückend, schaut Chnopf ihr zu, dicke Tränen auf den Wangen. Ich bin etwas zu weit gegangen und die Pflanze bietet offen gestanden keinen schönen Anblick, aber vielleicht darf man noch hoffen?

S zieht Chnopf mit. In seinem Zimmer stellen sie die Verwundete unters Fenster, neben die Legokiste. Chnopf gibt ihr ein bisschen Wasser, ich sehe S, die sich über sie beugt, ich weiß, dass sie ihre Gebete ans Leben richtet, damit es der Pflanze ein oder zwei Tröpfchen Wunder als Vorrat lässt. Dann kommt der Waffenstillstand. S weiß, wie sie es mit ihm anstellen muss in solchen Momenten, sie ist sanft, geleitet ihn aber mit eiserner Hand in den Schlaf, sie taucht ihn mit mütterlicher Sanftheit da ein, und weiß der Himmel wie – sticht sie ihn mit einem Stachel, einem Liedchengift? –, es gelingt ihr immer, ihn zum Schlafen zu bringen, immer bekommt sie ihn am Ende in angemessener Frist in den Griff und selbst heute Abend erfüllt sich alles.

Sie kommt in unser Zimmer, legt sich neben mich. Ich beobachte sie: zartes Spiegeln, türkisfarbene Risse auf der einfallenden Nacht. Ich möchte mich am Rand dieses Wogens niederlassen und hier seine Kraft, das leichte Spiel der Wellen betrachten, doch nach dem, was ich getan habe, ist jeder Versuch zwecklos. Unruhig warte ich auf die Vergeltungsmaßnahmen, ich spüre, dass sie bewegt ist, stark, aber gefasst,

ohne mich anzusehen fasst sie nach Stift und Notizheft,

was wird dabei herauskommen, einmal mehr eine erbitterte Vorwurfslitanei – seit zwei Tagen rührst du keinen Finger mehr, du machst nichts hier, ich muss meine Stunden drangeben, um einzukaufen, und unser Sohn, seit du ihn nicht mehr von der Vorschule abholst, muss ich mich mit den Müttern der anderen Schüler absprechen und sogar mit meiner eigenen Mutter, wenn du glaubst, dass mir das Spaß macht, sie zu Hilfe zu rufen, sie zu fragen, ob sie ihn mal hier, mal da zwei, drei Stunden hüten will, nicht zu reden davon, dass sie mich ausfragt, wissen will, was du hast, hat er wieder ne Krise, was soll ich ihr sagen,

und jetzt, was ich Chnopf angetan habe! Unwürdig, dieses Verhalten, dumm und mies,

ganz einfach abscheulich, und wenn das so ist, wenn ich wirklich dieses bescheuerte, gewalttätige Individuum bin –

S hat mir ihren Zettel hingestreckt, überrascht sehe ich, dass darauf nur ein paar Zeilen stehen, wo es um diesen Scheißdoktor geht, sie hat sich erkundigt, sie hat eine Adresse; ein Hörgerätespezialist. Mit einem solchen Gerät wird es kein Problem mehr sein, deinen Sohn von einem Geburtstagsfest abzuholen, doch ich mache nein, kommt nicht in Frage, dass ich da hingeh,

sie versteht also nicht: Ich werde doch diesem Unbekannten nicht beichten gehen, welche Art von Brief ich da erhalten habe, und ebenso wenig werde ich ihm erklären, dass ich seitdem nicht mehr höre, nicht mal die Stimme der Frau, die ich meine Frau nenne, am Abend, wenn wir uns ins Bett legen und ich mich mit den toten Blättern kleiner Briefchen begnügen muss,

S überlegt, dann kritzelt sie wieder, wie das Tier im Sand scharrt, um seine Eier zu schützen:

»Willst du so weitermachen?«

»Ich geh da nicht hin.«

»Du willst nicht hin?«

»Nein.«

Entfährt ihr ein Seufzer? Ich schaue auf das Gebiet ihrer Beine, die weit ins Bettland vordringen, und versuche nochmals auszusprechen, dass ich nicht zum Arzt gehen will,

wir bleiben eins neben dem anderen liegen, dazwischen müssen unsere acht Gliedmaßen sich wohl oder übel dulden. Schaltet sie jetzt endlich das Licht aus? Sie nimmt wieder ihren Zettel, fügt ein paar Worte hinzu, in denen es nicht mehr nur um einen Doktor geht, sondern um ein ganz und gar niederträchtiges Ultimatum. Hab ich richtig gelesen? Ich blicke auf, S verschränkt die Arme, blitzende Augen,

so etwas kann sie nicht wollen,

sie wartet, stellt sich vielleicht vor, ich werde nachgeben,

»Glaubst du, ich werde nachgeben?«

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