Der Preis der Liebe - Denise Hunter - E-Book

Der Preis der Liebe E-Book

Denise Hunter

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Beschreibung

Schon seit zwei Jahren empfindet Pastor Jack McReady tiefe Gefühle für Daisy Pendleton, die Besitzerin des örtlichen Blumenladens. Sie aber sieht in ihm wohl nicht mehr als einen fürsorglichen Seelsorger. Jack würde niemals riskieren, ihr Vertrauen zu verlieren, nur um ihr seine Liebe zu offenbaren. Als aber Jacks Freund mitkriegt, dass sich Daisy bei einem Dating-Portal angemeldet hat, ergreift dieser die Initiative und fädelt eine Online-Begegnung zwischen Jack und Daisy ein. Jack, der von dem Profil erfährt, ist außer sich, doch dann nutzt er die Online-Gelegenheit, um Daisy eine neue Seite von sich zu zeigen. Doch damit verstrickt sich Jack in einen Plan, aus dem es keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Denn ausgerechnet ihm vertraut Daisy neben einem erschütternden Familiengeheimnis auch die vielversprechende Onlinebekanntschaft mit „TJ“ an. Was aber nur Jack weiß: Er und „TJ“ sind ein und dieselbe Person. Gelingt es Jack, sich Daisy zu offenbaren, ohne sie zu verlieren?

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Denise Hunter ist mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin.

Sie hat über dreißig zeitgenössische Liebesromane veröffentlicht.

Mit ihrem Mann und drei fast erwachsenen Söhnen lebt sie in Indiana, USA.

Mehr unter: denisehunterbooks.com und

facebook.com/authordenisehunter.

DENISE HUNTER

Der Preis der Liebe

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Antje Balters

Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Danksagung

Impressum

KAPITEL 1

Jack McReady hatte sich in einstündigen Zeitabschnitten in Daisy verliebt. Als er jetzt mit schweißnassen Händen seinen Wagen vor ihrem Blumenladen parkte, fragte er sich, wie viele Männer das schon von sich behaupten konnten.

Normalerweise trafen sie sich auf anderem Terrain, nämlich in seinem Büro in der Gemeinde, um seelsorgerliche Gespräche zu führen – daher die einstündigen Abschnitte. Das war auch der Grund, weshalb er mehr als die meisten anderen Leute über Daisy wusste, mehr als selbst ihre gemeinsamen Freunde.

Doch heute wollte er seiner Assistentin Gloria eine Freude machen und ihr mit einem Strauß Blumen zeigen, wie sehr er sie schätzte. Sicher, er hätte die Bestellung auch telefonisch durchgeben können, aber dann hätte er eine hervorragende Gelegenheit verpasst, Daisy zu sehen.

Allein schon den Laden zu betreten, war ein Erlebnis für alle Sinne. Zur Begrüßung bimmelte ganz zart das Türglöckchen, und beim Hereinkommen stieg ihm kühler, vielversprechender Blumenduft in die Nase. Das bunte Angebot an Blumen und Dekoartikeln war so kunstvoll arrangiert, dass es den Kunden geradezu anflehte, doch stehen zu bleiben und alles zu berühren und zu bestaunen.

„Bin gleich bei Ihnen!“, rief Daisy aus dem Raum hinter dem Laden.

Jacks Herz schlug schneller, als er ihre Stimme hörte. Er wusste, dass sie heute allein im Laden war, denn es war Dienstagmorgen. Dann war ihre Mutter unterwegs, um Blumen auszuliefern, und ihre Großmutter half meist nur dienstag- und donnerstagnachmittags im Laden aus, gelegentlich aber auch an anderen Tagen. Er wusste viel zu viel über Daisy, dachte er mit einem betrübten Kopfschütteln – auch wenn er das selbstverständlich alles für sich behielt.

Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute sich im Laden um. Jedes Mal, wenn er im „Oopsy Daisy“ war, hatte er das Gefühl, durch den Garten Eden zu schlendern, weil alles perfekt dekoriert und so kreativ präsentiert war. Wer außer Daisy wäre wohl auf die Idee gekommen, einen antiken Fahrradkorb oder einen alten Briefkasten zu verwenden, um ein wunderschön arrangiertes Gesteck zu präsentieren? Oder einen Springbrunnen für draußen, um eine Hängepflanze besonders schön zur Geltung zu bringen? Wohin er auch schaute, entdeckte er originelle Ideen.

„Pastor Jack!“

Er hatte es mittlerweile aufgegeben, sie zu bitten, doch seine Amtsbezeichnung wegzulassen. Vor etwa zwei Jahren hatten sie das erste Mal ein Gespräch gehabt und von da an immer wieder, fast nie mit Termin – aber immer angenehm und erfreulich. Ihm gefiel ihre Sensibilität, und er kannte niemanden, der so gewissenhaft war wie sie – eine ihrer feinsten Eigenschaften.

Sein Herz flatterte kurz, als er ihr seidiges blondes Haar und die hellen Sommersprossen auf ihrer Nase in den Blick nahm.

„Hallo, Daisy. Wie geht’s?“, fragte er und seine Zunge fühlte sich dabei dick und schwerfällig an.

„Gut. Ob du es glaubst oder nicht, ich arbeite gerade an einer Bestellung für eine mexikanische Party.“

„Das klingt ja interessant.“ Lag es an ihm oder war es wirklich so warm im Laden? Er zupfte an seinem Kragen.

„Nicht zu fassen, dass schon fast wieder Mai ist“, sagte sie.

„Geh einfach mal raus vor den Laden, dann glaubst du es auf jeden Fall.“

Ihr Lachen klang wie eine Melodie, die auf den Saiten seines Herzens gezupft wurde.

Er ließ seinen Blick durch den Laden schweifen und sagte: „Es ist so schön hier, Daisy. Jedes Mal, wenn ich hier bin, staune ich über all deine Deko-Ideen.“

„Ach, das ist doch gar nichts Besonderes“, sagte sie hinter dem gläsernen Verkaufstresen stehend.

Komplimente annehmen konnte sie wirklich gar nicht. Deshalb sah er sie jetzt einfach nur sehr lange ziemlich streng an. Das tat er immer, wenn sie sich selbst abwertete.

„Was ist denn? Ach ja. Daran sollte ich ja arbeiten.“ Sie setzte ein Lächeln auf und korrigierte sich: „Vielen Dank, Pastor Jack. Danke für das nette Kompliment!“

„Und? War das jetzt wirklich so schwer?“

„Das wirst du nie erfahren“, antwortete sie und lächelte ihn verschmitzt an. „Und jetzt lass mich raten – du willst bestimmt deine Assistentin überraschen, oder?“

„Genau.“

„Ich binde dir einen schönen Strauß für Gloria. Vielleicht ein paar Rosen und Astern und lila Rittersporn? Ich habe ein großes blaues Einweckglas, das ihr bestimmt gefällt. Als Dekoration kann ich eine dicke Schleife darumbinden.“

Er liebte es, wie ihre grünen Augen funkelten, wenn sie über Blumen sprach, und er hatte mit ihrer geradezu magnetischen Anziehungskraft zu kämpfen. Dann aber fasste er sich und sagte: „Ich bin sicher, dass alles, was du zusammenstellst, perfekt aussieht.“

Daisy notierte die Bestellung, während Jack eine Karte für Gloria schrieb. Gloria war schon seine Assistentin, seit er vor sieben Jahren die Stelle als Pastor angetreten hatte. Ohne sie wäre er verloren gewesen, das wussten sie beide.

„Möchtest du warten, während ich den Strauß binde, oder sollen wir ihn morgen liefern?“, fragte Daisy, nachdem er den Strauß mit seiner Kreditkarte bezahlt hatte.

„Wie es für euch am einfachsten ist.“

In dem Moment bimmelte wieder das Glöckchen über der Tür und eine große, schlanke, gut gekleidete Frau um die dreißig mit braunem Haar betrat den Laden.

„Guten Tag!“, sagte Daisy und schaute mit einem freundlichen Lächeln an Jack vorbei zu der Frau hin. „Sagen Sie einfach Bescheid, wenn ich Ihnen helfen kann, ja?“

„Also, ich suche nach einem schönen Blumenstrauß. Vielleicht könnten Sie mich ein wenig beraten.“

Jack trat etwas vom Verkaufstresen zurück, nickte der Kundin kurz zu und sagte dann wieder an Daisy gewandt: „Hilf ruhig erst der Dame weiter. Der Strauß für Gloria kann auch genauso gut morgen geliefert werden.“

„So machen wir’s. Danke, Pastor Jack.“

„Tut mir leid, ich wollte mich wirklich nicht vordrängeln“, sagte die Frau.

Jack hatte den Laden verlassen und Daisy wandte sich jetzt der neuen Kundin zu. Mit ihrem hellen Teint und ihrer natürlichen Schönheit sah sie aus, als wäre sie gerade einer Hautpflege-Werbung entsprungen. Durch die Art, wie sie sich in dem kleinen Laden einen Überblick verschaffte, machte sie einen interessierten Eindruck.

„Sie haben sich gar nicht vorgedrängelt“, sagte Daisy lächelnd, „wir waren sowieso fertig. Möchten Sie sich vielleicht unsere fertig gebundenen frischen Sträuße einmal anschauen oder hatten Sie an etwas Bestimmtes gedacht, das ich Ihnen zusammenstellen kann? Ich bin übrigens Daisy, eine der Inhaberinnen des Ladens.“

Die Frau warf ihr ein schiefes Lächeln zu. „Ach so, Daisy … daher der Name des Ladens“, sagte sie lächelnd. „Ich bin Julia.“

„Freut mich. Der Name des Ladens war nicht meine Idee, das können Sie mir glauben. Meine Großmutter hat das Geschäft gegründet, als ich ziemlich jung war und noch dachte, dass es das Größte wäre, wenn ein Laden nach mir benannt würde. Kann ich Ihnen irgendwie bei Ihrer Auswahl weiterhelfen?“

„Ich weiß eigentlich gar nicht so richtig, was ich will, und würde mich gern erst ein bisschen umschauen.“

Mit anmutigen Bewegungen ging Julia hinüber zu den ausgestellten fertigen Sträußen. Sie trug eine hochwertige schwarze Hose und ein modisches Oberteil. Ihre Tasche und Schuhe sahen aus wie Designersachen. Mit anderen Worten, sie war nicht aus der Gegend.

Daisy wischte den Tresen ab und füllte den Ständer mit Glückwunschkarten zu allen Anlässen auf, aber als sie damit fertig war, hatte die Frau sich immer noch nicht entschieden. Deshalb kam Daisy hinter dem Tresen hervor und fragte: „Für welchen Anlass sollen die Blumen denn sein, Julia?“

„Also … der Strauß soll sozusagen für einen alten Freund sein.“

„Hm! Vielleicht etwas Fröhliches, Aufmunterndes? Im Frühling passen doch bunte Sträuße immer gut.“ Daisy nahm einen bereits in Zellophan verpackten Strauß aus gelben Rosen, weißen Lilien und blauem Rittersporn in die Hand. „Was halten Sie hiervon? Der ist nicht so feminin. Ich liebe die Kombination von Rosen und Zitronenblatt.“

„Das ist genau der, den ich auch schon im Blick hatte.“

„Sie haben wirklich einen guten Geschmack“, sagte Daisy.

„Also gut, dann nehme ich den.“

Daisy nahm den Strauß aus der Vase, ging damit zum Tresen und gab den Preis in die Kasse ein. Die Folie knisterte, als Julia die Blumen nahm und kurz daran schnupperte.

„Was führt Sie nach Copper Creek? Besuchen Sie nur Ihren Freund?“

„Ja, irgendwie schon, aber eigentlich bin ich nur auf der Durchreise. Ich bin noch nie in Georgia gewesen, und ich habe ehrlich gesagt nicht einmal gewusst, dass es hier Berge gibt.“

„Hier im Norden von Georgia ist es eigentlich überall bergig. Ganz in der Nähe beginnt der Appalachian Trail, deshalb kommen viele Menschen durch unseren Ort, besonders im Sommer.“

„Es ist wirklich eine reizende Stadt.“

„Na ja, ziemlich klein, aber eben Heimat. Ich mag die Menschen hier und das Vertraute. Sie wissen schon … jeder kennt jeden.“

„Und seine Angelegenheiten?“, ergänzte Julia, warf ihr ein mattes Lächeln zu und zog einen Schein aus ihrer Geldbörse.

„Manchmal schon“, lachte Daisy. „Also gut, meistens. Aber ich finde das Leben hier hat mehr Vor- als Nachteile. Woher kommen Sie denn?“

„Aus North Carolina, der Winston-Salem-Gegend.“

„Dann sind Sie ja gerade ziemlich weit entfernt von Ihrer Heimat. Ich hoffe, dass Sie hier einen schönen Aufenthalt haben“, sagte Daisy, nahm das Wechselgeld aus der Kasse und zählte es Julia hin. „Und ich hoffe, dass die Blumen Ihrem Freund gefallen.“

Julia zwinkerte kurz und lächelte dann, aber ihre Augen lächelten nicht mit. „Danke.“

Genau in dem Moment, als Daisys Kundin den Laden verließ, war auf der Treppe zum Hintereingang des Ladens lautes Gepolter zu hören. Daisy kam gerade rechtzeitig, um Ava Morgan die Tür aufzuhalten, die gerade in die Wohnung über dem Laden einzog und jetzt mit einer Kiste voller Gerümpel die Treppe herunterkam.

„Danke“, sagte Ava und quetschte sich auf dem Weg zur Mülltonne hinter dem Haus an Daisy vorbei.

Die Achtzehnjährige hatte ihr dunkles Haar anscheinend mit irgendeiner Art kastanienbrauner Tönung behandelt, und die Farbe bildete einen krassen Kontrast zu ihrer blassen Haut und den blauen Augen. Sie hatte es an diesem Tag zu einem Dutt zusammengezurrt, sodass ihr langer, schlanker Hals besonders schön zur Geltung kam. Sie war eine innerlich und äußerlich schöne Person, und es war deshalb nicht weiter verwunderlich, dass sie im vergangenen Jahr auf dem Pfirsichfest zur Miss Peach von Georgia gewählt worden war.

Sie wohnte schon seit Langem im Hope House, einem Heim für Mädchen. In einem Monat würde sie die Schule abschließen und dann selbstständig leben, und deshalb hatte sie gefragt, ob sie nicht die kleine Wohnung über dem Laden mieten könne. Doch die Wohnung, die die letzten Jahre leer gestanden hatte, war voller Gerümpel und Müll, den der letzte Mieter einfach zurückgelassen hatte. Die Vereinbarung, mit der sich das Mädchen sofort einverstanden erklärt hatte, lautete, dass Ava in die Wohnung einziehen konnte, wenn sie sie leer räumte und in Ordnung brachte.

„Nach Ladenschluss helfe ich dir“, sagte Daisy, als Ava vom Müllcontainer zurückkam.

Das Mädchen wischte sich die Hände an ihrer schwarzen Yogahose ab und entgegnete: „Ob du es glaubst oder nicht, aber bis dahin bin ich schon fertig.“

„Wow, da hast du dich aber rangehalten! Wie hast du denn das alles so ganz allein geschafft neben der Schule und deinem Job?“

„Ach, in der letzten Klasse geht es nicht mehr so streng zu, weil die Lehrer wissen, dass ziemlich die Luft raus ist.“ Ava blickte lächelnd die Treppe hinauf ins Obergeschoss und erklärte: „Jetzt muss nur noch richtig geputzt werden und dann kann ich einziehen. Ich kann es gar nicht erwarten.“

Daisy erinnerte sich an die fleckigen Fugen im Bad und die Dreckschicht auf den Fensterbänken und wusste deshalb, dass Ava immer noch jede Menge Arbeit bevorstand.

„Das wird sicher toll, eine eigene Wohnung zu haben, oder?“

Ava verdrehte die Augen. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Im Moment teile ich mir ein Zimmer mit zwei Mädchen, die zwölf und vierzehn sind.“

Daisy lachte. „Na, dann kann ich auf jeden Fall verstehen, dass du es so eilig hast. Als junge Frau braucht man schließlich seine Privatsphäre. Was hast du eigentlich nach dem Schulabschluss vor? Arbeitest du dann in Vollzeit in der ‚Peach-Barn‘?“

„Den Sommer über schon. Danach fange ich an der Dalton State University ein Studium an, aber nur berufsbegleitend, damit ich weiter arbeiten kann. Ich muss ja auch von irgendetwas leben.“

„Ich dachte, ich hätte gehört, dass du ein Vollstipendium für die University of Georgia bekommen hast.“

Zoe, Avas Chefin in der „Peach-Barn“ und eine gute Freundin von Daisy, hatte es vor ein paar Monaten erwähnt.

„Ja, das stimmt, aber ich will meine kleine Schwester nicht hier allein lassen.“ Millie war erst neun Jahre alt und lebte ebenfalls im Hope House. Die Mutter der beiden war vor ein paar Jahren gestorben und der Vater saß im Gefängnis. „Ich will so schnell wie möglich meinen Abschluss machen und dann genug Geld sparen, damit sie aufs College gehen kann. Ich glaube, im Moment sind ihre Schulleistungen nicht gut genug für ein Stipendium.“

„Das klingt einleuchtend.“

Ava brachte damit wirklich ein großes Opfer für die kleine Schwester. An der Dalton State University war im Grunde nichts auszusetzen, aber Ava hätte bestimmt auch an einer so großen Uni wie der University of Georgia ihren Weg gemacht.

„Weißt du schon, welche Fächer du belegen willst?“

„Nein, da bin ich mir noch nicht sicher. Ich glaube, ich entscheide mich erst mal für Pädagogik und schaue dann, wie es läuft. Mir hat mein Marketing-Kurs letztes Jahr in der Schule ziemlich viel Spaß gemacht, also vielleicht noch BWL oder so.“

„Ich bin sicher, du machst deine Sache großartig, egal, mit welchen Fächern.“

„Danke. Ich hätte da noch eine Frage, Daisy. Hast du vielleicht einen Staubsauger, den du mir ausleihen könntest? Der Teppich da oben sieht wirklich furchtbar aus.“

„Ja, das habe ich auch schon gesehen. Ich glaube, da brauchst du ein richtiges Teppichreinigungsgerät. Meine Großmutter hat eins. Was hältst du davon, wenn ich es nach Ladenschluss hole und wir die Sache gemeinsam in Angriff nehmen?“

Dankbar lächelte Ava sie an. „Wie lieb von dir. Ich ekele mich ehrlich gesagt so sehr davor, dass ich es bis jetzt vor mir hergeschoben habe.“

Da lachte Daisy und sagte: „Das ist ja auch wirklich fies. Ich bin gegen halb sechs wieder hier, und dann bringen wir die Sache hinter uns, ja?“

KAPITEL 2

Daisys Elternhaus lag am Fuß der Berge ganz im Norden von Georgia. Das von einer Holzveranda umgebene holzverschalte Farmhaus sah aus wie aus dem Bilderbuch. Die umliegenden Grünflächen erstreckten sich so weit das Auge reichte und bettelten förmlich nach Pferden – so wie Daisy als Kind auch tatsächlich ständig um ein Pferd gebettelt hatte. Doch ihre Bitte war nicht erhört worden – was sie ihrer Mutter bis heute vorhielt.

„Klopf, klopf!“, rief sie, bevor sie durch die Fliegengittertür das Haus betrat. Die Tür schlug hinter ihr wieder zu, und sie nahm sofort einen köstlichen Duft wahr, der sich mit dem vertrauten Geruch des Hauses vermischte. Der Donnerstagabend war seit jeher für das gemeinsame Essen mit ihrer Mutter reserviert, und nach einem langen Arbeitstag im Laden war Daisy meist froh, nicht mehr kochen zu müssen.

„Komm doch herein, mein Schatz.“

Daisy betrat genau in dem Moment die Küche, als ihre Mutter einen Topf von der Herdplatte zog. Sie nahm ein Sieb und stellte es gerade rechtzeitig in die alte Spüle, sodass ihre Mutter die Nudeln darin abgießen konnte.

„Danke.“

Jetzt gab Daisy ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Karen Pendleton war fünfundfünfzig Jahre alt und sehr attraktiv. Sie war sehr schlank, ihr schulterlanges Haar kräuselte sich im heißen Wasserdampf, und ihre grünen Augen, die genauso aussahen wie Daisys, funkelten, wenn sie verärgert war, und das kam ziemlich häufig vor.

Daisy begann, das Besteck zu decken, und fragte ihre Mutter: „Hat mit den Auslieferungen heute alles gut geklappt?“

„Das meiste. Nur Mrs. Forsythe wollte ihre Blumen nicht annehmen.“

Daisy seufzte und dachte an den wunderschönen Strauß aus blauen und weißen Hortensien. „Dann muss er es ja dieses Mal so richtig vermasselt haben.“

„Ja, das glaube ich auch. Ich habe den Strauß zu den anderen fertigen Sträußen in die Vitrine gestellt.“

„Ich überweise ihm das Geld morgen zurück“, sagte Daisy.

„Warum denn? Es ist doch nicht unsere Schuld, dass seine Frau die Blumen nicht annehmen wollte.“

„Ich weiß, aber er … er ist schließlich ein Stammkunde.“

„Ja, aber das ist ja nur eine weitere Bestätigung für sein schlechtes Benehmen.“

Daisy zuckte mit den Achseln. Ein Teil von ihr fragte sich, wieso sich Mrs. Forsythe die Eskapaden ihres Mannes eigentlich immer noch gefallen ließ. Doch ein anderer Teil – der Teil, der in den vergangenen Monaten auf einem Dutzend erster Dates gewesen war – konnte es absolut nachvollziehen.

Sie stellten die fertigen Speisen auf den Tisch vor dem Erkerfenster mit Blick in den Garten und nahmen daran Platz. Es war ein wunderschöner Ausblick. Man sah direkt auf den liebevoll gepflegten Gemüsegarten ihrer Mutter. Dahinter stand das kleine Fichtenwäldchen aus all den Weihnachtsbäumen aller Weihnachtsfeste, die hier schon gefeiert worden waren. Begrenzt wurde das Grundstück durch den weißen Gartenzaun, bei dessen Aufbau sie ihrem Vater geholfen hatte, als sie zwölf war.

„Daisy?“

Daisy schaut wieder ihre Mutter an, die offenbar das Tischgebet sprechen wollte und sie schon mehrmals angesprochen hatte.

„Entschuldige, ich war ganz in Gedanken. Fang doch an“, sagte sie deshalb.

Nach dem Tischgebet ließen sie es sich beide schmecken. Das Essen war gesund, schmeckte aber ein bisschen fade. Es gab Hähnchenbrust mit einer leichten Zitronensoße und Vollkornpasta mit der selbst gemachten Tomatensoße ihrer Mutter.

„Wie kommt Ava mit der Wohnung voran?“, fragte ihre Mutter. „Oma hat gesagt, sie war in den letzten Wochen schwer dort beschäftigt.“

„Ja, sie wirbelt jede freie Minute dort oben herum. Aber zwischen der Schule und ihrem Job hat sie ja kaum freie Zeit. Die Teppichböden in der Wohnung sind wirklich ekelhaft. Wir haben am Dienstag noch bis nach Mitternacht daran gearbeitet, sind aber trotzdem noch nicht fertig.“

„Ich hoffe, dass Ganze ist kein Fehler. Sie ist noch so jung. Ob sie wirklich schon alleine zurechtkommt?“

„Auf jeden Fall. Sie wirkt doch viel reifer als die meisten Achtzehnjährigen.“

„Das kann man wohl sagen. Das arme Ding, genau wie die anderen Mädchen aus dem Hope House. Ich bin so froh, dass ihr die Kleiderbörse für den Frühlingsball der Highschool für sie veranstaltet.“

„Es sind auch schon ziemlich viele Ballkleider gespendet worden. Ich habe sie gerade alle aus der Reinigung geholt“, sagte Daisy.

„War heute viel los im Laden?“

„Nein, es war ziemlich ruhig. Aber die Unterlagen von der Versicherung sind heute mit der Post gekommen, und ich habe zwischendurch schon mal angefangen, sie auszufüllen.“

„Ach, damit brauchst du dich doch nicht abzuquälen“, sagte ihre Mutter. „Das mache ich am Wochenende.“

„Das geht schon. Ich bin schon ziemlich weit.“

„Es macht mir wirklich nichts aus, das zu übernehmen, mein Schatz. Ich weiß doch, wie mühsam das für dich ist …“

Daisy warf ihrer Mutter einen eindringlichen Blick zu und sagte leicht genervt: „Ich schaff das schon, Mama!“

Es folgte eine lange Pause, und dann nickte Karen fast unmerklich, aber mit etwas verkniffenem Mund. „Natürlich schaffst du das. Ich wollte ja nur helfen.“

Daisys Gabel machte ein kratzendes Geräusch auf dem Teller, als sie damit in das Hähnchenfleisch stach.

„Wie ist denn deine Verabredung mit diesem Bekannten gelaufen?“, fragte ihre Mutter.

Daisys Gabel verharrte auf halbem Weg zum Mund. „Woher weißt du denn das jetzt schon wieder?“

„Das musst du erwähnt haben.“

„Nein, ganz sicher nicht.“ Über ihr Liebesleben – oder besser gesagt, dessen Nicht-Vorhanden-Sein – sprach Daisy so wenig wie möglich mit ihrer Mutter. Deshalb wusste diese auch nichts davon, dass Daisy seit Kurzem bei einem Online-Datingportal angemeldet war.

„Na, dann muss ich es wohl von jemand anderem erfahren haben. Wie ist es denn gelaufen? War es schön?“

„Er war ganz nett.“ Für einen dreißigjährigen Mann, der noch bei seinen Eltern wohnte und in einem Fast-Food-Restaurant arbeitete, stimmte das tatsächlich. Er hatte kleine Knopfaugen gehabt, mit denen er sie die ganze Zeit angeschaut hatte – wirklich ununterbrochen. Pausenlos. Er hatte über sein Motorrad gesprochen, als wäre es seine große Liebe, und hatte sich bei Tisch mehrmals heftig geschnäuzt. „Allergie“, hatte er gesagt.

„Du bist zu wählerisch, mein Schatz“, sagte ihre Mutter.

„Über das Thema möchte ich nicht mit dir sprechen, Mama. Es ist alles gut so, wie es ist. Ich brauche keinen Mann.“ Aber sie wünschte sich einen, und zwar sehr – zugegeben … ziemlich verzweifelt.

„Jetzt rede doch nicht solchen Unsinn! Natürlich brauchst du einen Mann. Du könntest auch ruhig ab und zu Lippenstift tragen, schließlich wirst du auch nicht jünger, vergiss das nicht.“

Nein, das würde sie ganz sicher nicht vergessen, denn ihre Mutter erinnerte sie ungefähr alle fünf Minuten daran.

Daisy griff nach dem Auffülllöffel und fragte: „Möchtest du noch etwas von der Pasta? Die ist wirklich gut.“

„Auf keinen Fall. Ich achte schließlich auf mein Gewicht“, antwortete ihre Mutter, und es entging Daisy nicht, wie sie sie einmal ganz kurz und vermeintlich unauffällig von oben bis unten musterte.

Mit der Bemerkung „Also, ich habe Hunger“ füllte sich Daisy unbeirrt noch einen gehäuften Löffel von der Pasta auf.

„Ich koche immer zu viele Nudeln“, sagte ihre Mutter daraufhin und fragte als Nächstes: „Joggst du eigentlich noch regelmäßig, Liebes? Das hat dir doch so gutgetan.“

„Du weißt genau, dass ich damit wieder aufgehört habe, Mama.“

„Du warst immer so schön entspannt und locker, als du das Joggen ausprobiert hast.“

„Das nennt man Muskelkater, Mama. Ich konnte mich tagelang kaum rühren.“ Sie hatte im vergangenen Herbst etwa eine Woche lang versucht, regelmäßig laufen zu gehen, und die Erfahrung gemacht, dass sie einfach keine Freude daran fand. Vielleicht würde sie walken gehen, wenn es jetzt wieder wärmer wurde.

„Du solltest morgens mit mir walken gehen. Ich fände es schön, wenn ich dabei Gesellschaft hätte“, sagte ihre Mutter jetzt.

„Ich überleg’s mir.“

Das würde sie ganz sicher nicht tun.

Während Daisy zu Ende aß, begann ihre Mutter, die positiven Auswirkungen von Ausdauersport aufzuzählen. Als ihr Teller leer war, nahm Daisy ihn und war gerade dabei, ihn in den Geschirrspüler zu stellen, als ihr neben der Handtasche ihrer Mutter auf dem Tresen ein Formular ins Auge fiel. Die fett gedruckten Buchstaben darauf waren unmöglich zu übersehen.

Ihr Magen krampfte sich zusammen und kurz blieb ihr die Luft weg. Dann drehte sie sich um und starrte ihre Mutter fassungslos an. „Mama! Du willst das Haus verkaufen?“

Es dauerte einen kurzen Moment, bis ihre Mutter das Formular auf dem Küchentresen registrierte, dann wurden ihre Augen ganz groß, und sie öffnete den Mund ein wenig, als wolle sie etwas sagen. Aber ihr Blick wanderte weiter zur Spitze, mit der die Tischdecke eingefasst war, und sie sagte: „Ich wollte es dir eigentlich heute Abend erzählen.“

Daisy fühlte sich verraten, obwohl sie natürlich wusste, dass das irrational war. Schließlich gehörte das Haus ihrer Mutter, und sie konnte damit machen, was sie wollte.

Aber …

„Es ist doch nur ein Haus, mein Schatz – und zwar ein sehr großes. Es macht so viel Arbeit, besonders das große Grundstück, und ich möchte lieber in der Stadt und in der Nähe des Ladens wohnen.“

„Brauchst du vielleicht mehr Hilfe hier? Ich kann gern jede Woche den Rasen mähen, das macht mir wirklich nichts aus. Und was das Putzen angeht …“

„Du hast auch so schon genug zu tun, mein Schatz, und du hast dein eigenes Haus mit Garten, um das du dich kümmern musst. Ich will einfach nicht mehr so viel Verantwortung haben.“

Daisys Herz raste jetzt und sie bekam kaum Luft. Ihr Blick wanderte zum Platz ihres Vaters am Küchentisch, zu dem Erkerfenster, das er eingebaut hatte, und dann hinaus in den Garten, in dem sie manchmal in lauen Sommernächten mit ihm gezeltet hatte.

Das Haus zu verlieren wäre, als würde ihr ein weiteres Stück von ihm für immer verloren gehen. All ihre schönsten Erinnerungen an ihn waren mit dem Haus verbunden, und sie musste blinzeln, weil ihr die Tränen kamen.

Ihre Mutter kam zu ihr und nahm ihre Hand. „Schätzchen …“

„Bitte verkaufe es nicht, Mama.“

„Aber es ist doch nur ein Haus, Daisy.“

Da zog sie ihre Hand weg, drehte sich wieder zur Spüle um und entgegnete: „Nein, das ist es nicht.“

Sie konnte sich immer noch ganz genau vorstellen, wie ihr Vater in dem Liegesessel im Wohnzimmer gelegen hatte, wenn er aus dem Büro kam. Sie hörte immer noch das Quietschen der Verandaschaukel, wenn sie beide dort gesessen hatten und sie ihm endlos von ihrem Schultag erzählt hatte.

„Ich weiß ja, dass es schwer für dich ist, mein Schatz, aber es ist jetzt sieben Jahre her.“

„Du brauchst mir wirklich nicht zu sagen, wie lange es her ist.“ Übermorgen war sein Todestag und das machte alles noch schlimmer.

„Es gibt in der Katydid Lane einen niedlichen kleinen Bungalow, der perfekt passen würde. Er hat einen kleinen Garten und die Gegend dort eignet sich ganz hervorragend zum Walken.“

Fassungslos blinzelte sie ihre Mutter an. „Was? Du hast schon ein neues Haus gefunden?“

„Bis jetzt habe ich noch kein Gebot abgegeben und außerdem habe ich ja mein Haus noch gar nicht zum Verkauf angeboten“, antwortete sie, strich Daisy das Haar aus dem Gesicht über die Schulter, sah ihr aber dann entschlossen in die Augen und fuhr fort: „Aber das werde ich jetzt tun, mein Schatz. Es wird langsam Zeit, dass mein Leben weitergeht.“

Daisy schüttelte ihre Mutter mit einer unwirschen Bewegung ab. Sie konnte es einfach nicht fassen. Sie hatte gedacht, dass dieses Haus ein Ort war und bleiben würde, an den sie immer zurückkehren konnte. Sicher, ihre Mutter hatte sich schon hin und wieder über die viele Arbeit beklagt, die es machte, aber sie hatte noch nie auch nur mit einem Wort erwähnt, dass sie vorhatte, es zu verkaufen. Und dass sie es ihr ausgerechnet kurz vor dem Todestag ihres Vaters sagte, war ihr einfach zu viel.

„Ich muss jetzt los“, sagte sie deshalb.

„Jetzt sei doch bitte nicht so, mein Schatz“, bat Karen, als Daisy ihre Handtasche nahm und gegen einen Gefühlsausbruch ankämpfte.

Auf dem Weg zur Tür blieb sie noch einmal stehen und warf ihrer Mutter ein mattes Lächeln zu. „Danke für das Essen, Mama. Wir sehen uns dann morgen bei der Arbeit.“

KAPITEL 3

Jack gab sich große Mühe, Daisy nicht anzustarren, die sich am anderen Ende des Tisches mit ihren Freundinnen Hope und Josephine unterhielt. Die einheimische Countryband „Last Chance“ machte sich gerade wieder zum Spielen bereit, und im „Rusty Nail“, dem örtlichen Treffpunkt, gab es nur noch Stehplätze. Aus den Lautsprechern dröhnte Musik und beim Duft gegrillter Burger und Pommes knurrte ihm der Magen.

In dem Moment wurde die Musik von einem Donnerschlag übertönt und Regen prasselte auf das Blechdach über ihnen.

„Also, da kommt ja richtig was herunter“, sagte Jack zu seinem Freund Brady, dem einzigen anderen Mann, der noch an der Reihe zusammengeschobener Tische saß.

Brady fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes, dunkles Haar, und sein Blick ging kurz zum nächstgelegenen Fenster. „Es hat eine Unwetterwarnung gegeben und auf dem Wetterradar sah es ziemlich heftig aus.“

„Aber wir brauchen auch dringend Regen.“

„Ja, das kann man wohl sagen.“

Da tauchte plötzlich auf der anderen Seite des Tisches Daisy auf und sofort bekam er wieder Herzrasen. „Haben die Blumen Gloria gefallen?“, fragte sie ihn.

Ihr Blick war wie ein Laser auf ihn gerichtet und ihr süßer Duft war geradezu betörend. Sie hatte sich an diesem Abend ein ganz klein wenig geschminkt und ihre Lippen sahen besonders voll aus.

Er riss sich von dem Anblick los, ignorierte sein heftiges Herzklopfen und antwortete: „Äh, also die Blumen … ja, die haben ihr gefallen. Ja, die fand sie richtig schön.“

„Ach so. Ja. Schön!“ Sie nickte und wartete darauf, dass er noch etwas sagte und Jack kramte auch in seinem Kopf nach etwas, das er sagen konnte, aber er war völlig abgelenkt durch die Art, wie das Licht von ihrem Haar reflektiert wurde, sodass es wie gesponnenes Gold aussah.

Nun sag schon was. Ihm stieg die Röte vom Kragen seines langärmeligen Hemdes aufwärts, während seine Gedanken durchdrehten wie Autoreifen in einer Schneewehe. Bodenhaftung … er brauchte nur ein bisschen Bodenhaftung.

„Äh … also, sie liebt Blumen.“ Na super! Wenn das keine meisterliche Konversation war.

Daisy blinzelte. „Schön. Na, dann bin ich froh, dass sie ihr gefallen haben.“

Es folgte eine weitere verlegene Pause, die Jack mit einem künstlichen Lächeln zu überbrücken versuchte.

„Ich hole mir dann mal etwas zu trinken“, sagte Daisy schließlich und deutete in Richtung der Bar.

„Ja, klar.“

„Möchtest du auch etwas?“

Er griff nach seiner Cola. „Nee“, sagte er, stieß dabei gegen das Glas, sodass etwas von der Cola über den Rand schwappte. Hastig sagte er: „Ich hab noch was“, und nahm dabei eine Serviette, um die Pfütze auf dem Tisch wegzuwischen.

Nicht dein Ernst, Jack, oder?

„Na gut“, sagte sie, „ich bin gleich wieder da.“

Er schloss kurz die Augen, sodass es aussah wie ein langes Blinzeln, und hoffte fast, dass entweder er sich einfach in Luft auflösen oder sie verschwinden würde. Was war er nur für ein Idiot. Seine Handflächen waren feucht und in seinem Nacken hatten sich Schweißperlen gebildet.

Brady, der immer ein ganz klein wenig nach Motoröl und Bremsflüssigkeit roch, lehnte sich jetzt in seine Richtung und sagte: „Wie kann es bloß sein, dass jemand, der auf der Kanzel so redegewandt ist, so wird, wenn ihm eine Frau über den Weg läuft?“

Jack sah ihn daraufhin nur wütend an. Brady hatte im vergangenen Herbst eher zufällig von Jacks unerwiderten Gefühlen für Daisy erfahren. Jetzt wussten also schon zwei Menschen davon, denn ihr gemeinsamer Freund Noah hatte es von Anfang an bemerkt.

„Du kleidest dich cool, kannst gut reden und du siehst gut aus – bist zwar nicht mein Typ, Süßer, aber du weißt, was ich meine“, fuhr Brady fort.

Jack hasste es, wie es ihm die Sprache verschlug, wenn Daisy in der Nähe war. In seinem Büro, wenn in erster Linie sie redete, war es viel einfacher. Da brauchte er nur zu nicken, ab und zu etwas nachzufragen und ihr anzubieten, mit ihr zu beten. Er konnte also im Grunde ganz in der Rolle des Pastors bleiben. Aber außerhalb der Gemeinde, wenn ein lockeres Gespräch angesagt war und wenn erwartet wurde, dass beide sich daran beteiligten …

Im Umgang mit Frauen war er einfach unsicher und dadurch unbeholfen. Schon immer. Auf der Highschool war er ein ziemlicher Loser gewesen. Damals hatte er auch noch diese fürchterliche Brille mit dem dicken Gestell getragen und war schrecklich dürr gewesen. Und dann die Akne … Kein einziges Mädchen seiner Schule hatte ihn auch nur eines Blickes gewürdigt.

„Also im Ernst, Mann“, sagte Brady, „jetzt reiß dich mal zusammen. Sie ist auch nur eine Frau.“

Brady hatte gut reden. Er und ihre gemeinsame Freundin Hope genossen gerade das Glück, frisch verheiratet zu sein. Alle ihre Freunde waren mittlerweile verheiratet: Noah und Josephine, Cruz und Zoe, und als letzte jetzt auch Brady und Hope. Und bei ihnen sah das alles so unkompliziert aus.

Das ist einfach nicht fair, dachte er. Sie hatten zwar auch alle anfänglich ihre Probleme gehabt, aber das vergaß man leicht, wenn man sie so sah.

„Ich habe keine Ahnung, worauf du eigentlich noch wartest“, sagte Brady. „Hast du vor, da mal aktiv zu werden, oder wie sieht es aus?“

Jetzt tauchte auch noch Cruz an dem Platz neben Jack auf. Er sah so gut aus, dass sich die Frauen nach ihm umdrehten, aber er hatte immer nur Augen für Zoe gehabt. Die beiden hatten eine süße kleine Tochter namens Gracie und arbeiteten beide auf der Pfirsichplantage, die Zoe von ihrer Großmutter geerbt hatte.

Cruz schaute abwechselnd Brady und Jack an und fragte: „Wo hat er vor, aktiv zu werden?“

„Jack ist in Daisy verknallt“, antwortete Brady, woraufhin Jack ihn mit einem vernichtenden Blick bedachte. „Sag mal, geht’s noch?“

Cruz hob die Hände und sagte: „Hey, wie cool! Daisy ist ein tolles Mädchen. Da solltest du dich auf jeden Fall ranhalten.“

„Ich halte mich nirgendwo ran“, entgegnete er und sah Cruz dabei mit leicht zusammengekniffenen Augen an. „Und ihr habt das alles hier nicht gehört. Daisy ist eine Freundin. Wirklich nicht mehr als eine gute Freundin. Ende der Durchsage. Und jetzt lasst uns über was anderes reden.“

„Er glaubt, dass sie keine Pastorenfrau sein will“, sagte Brady, woraufhin Jack ihn erneut finster anschaute.

„Und außerdem findet er, dass er zu alt für sie ist“, fuhr Brady ungerührt fort.

„Wirklich?“, fragte Cruz und sah Jack abschätzend an. „Wie alt bist du denn, vierunddreißig oder fünfunddreißig? Auf jeden Fall noch nicht im Rentenalter.“

„Und dass sie Mitglied seiner Gemeinde ist“, setzte Brady seine Erklärungen fort. „Ich habe keine Ahnung, wieso das eine Rolle spielen soll, aber er findet, dass das gegen eine Beziehung spricht.“

„Welchen Teil von ‚Ende der Durchsage‘ hast du eigentlich nicht verstanden?“, fragte Jack aufgebracht.

„Ich weiß auch nicht, wieso das eine Rolle spielen sollte“, fuhr Cruz völlig unbeirrt fort. „Du bist doch da nicht ihr Vorgesetzter oder so.“

Brady stellte sein Getränk ab und bemerkte: „Und zurzeit hat sie ja jede Menge erste Dates und lernt Männer kennen. Irgendwann schnappt jemand sie sich und dann ist es zu spät. Glaub mir, du willst nicht, dass du es irgendwann bitter bereust. Reue ist das Schlimmste.“

Jack empfand plötzlich eine schwere Last auf der Brust. „Was meinst du damit, dass sie gerade jede Menge Männer kennenlernt?“

„Sie ist bei diesem neuen Datingportal angemeldet“, antwortete Brady. „‚Butterfly‘ oder so ähnlich heißt das. Hope hat mir davon erzählt. Die Nutzer sind geografisch gelistet, sodass man nur mit Singles aus der eigenen Gegend in Kontakt kommt.“

„Ach so, du meinst ‚Flutter‘“, sagte Cruz. „Ein Kumpel von mir ist da auch registriert und findet es richtig gut. Und da ist Daisy auch? Dann sollte ich ihm das wohl mal sagen.“

Jack erstarrte. „Hey!“

Cruz zuckte mit den Achseln. „Entschuldige, ich habe nur laut gedacht.“

Bei dem Gedanken, Daisy zu verlieren, schlug Jacks Herz noch schneller. Als könnte er etwas – oder besser jemanden – verlieren, den er gar nicht gehabt hatte.

„Also, was ist das jetzt mit diesem ‚Flutter‘?“, fragte er. „Hat sie Dates mit völlig fremden Männern? Das ist doch bestimmt nicht ungefährlich, oder?“

„Am Anfang chattet man über das Portal, um herauszufinden, ob man sich treffen will“, erklärte Brady ihm. „Sie trifft sich mit Jungs aus der ganzen Gegend, aber ich bin sicher, dass die Treffen an öffentlichen Orten stattfinden. Daisy ist ja schließlich nicht dumm.“

Brady beugte sich auf die Ellbogen gestützt vor und sah Jack mit seinen blauen Augen eindringlich an. „Sie hat in den vergangenen Monaten jede Menge Dates gehabt, Mann. Hope glaubt, dass es Daisy ziemlich ernst damit ist, endlich einen Partner zu finden, und deshalb wartet sie nicht mehr einfach nur ab, sondern wird selbst aktiv.“

Jacks Stimmung war jetzt endgültig auf dem Nullpunkt. „Na super!“

Es war schon schlimm genug, Daisy ständig zu begegnen oder sie mit anderen Männern tanzen zu sehen und sie selbst nicht haben zu können. Wie viel schlimmer musste es da erst sein, wenn sie jemanden kennenlernte und ihn jeden Samstagabend mit in ihre Clique brächte oder am Sonntag in den Gottesdienst? Wie sollte er sich auf seine Predigt konzentrieren, wenn er mit ansehen musste, wie sie sich direkt vor seiner Nase in einen anderen verliebte?

Und dann kam ihm ein Gedanke, der ihn wie ein Messerstich mitten ins Herz traf: Was, wenn sie ihn bitten würde, sie zu trauen?

Er schloss die Augen, atmete tief durch und trank dann einen großen Schluck von seiner Cola. Unerwiderte Liebe war etwas Furchtbares. Kein Wunder, dass so viele Countrysongs davon handelten.

Bitte Gott, lass das Gefühl doch weggehen. Ich möchte keine Frau lieben, die meine Liebe nicht erwidert. Weißt du, wie furchtbar sich das anfühlt?

Jack zuckte innerlich richtig zusammen, als ihm klar wurde, um was er den Schöpfer der Menschheit, der von den Menschen immer wieder abgelehnt worden war, gerade gebeten hatte.

„Aber warum lädst du sie nicht auf ein Date ein oder so?“, fragte Cruz. „Was hast du denn zu verlieren?“

Es war ja nicht so, dass er sich diese Fragen nicht auch schon gestellt hätte. Ja, er hatte sogar richtige Fantasien darüber entwickelt. Aber es war eben auch nicht mehr als das – Fantasien. „Weil sie mich nicht so sieht.“ Schon allein die Vorstellung, wie sie ihn ansehen würde, wenn er sie fragte, wie sie vor Schreck ganz große Augen bekommen und ihn dann mitleidig anschauen würde. Sie würde sich bestimmt fragen, was sie wohl getan haben könnte, um ihn auf solche Ideen zu bringen, und dann würde sie furchtbare Schuldgefühle bekommen.

„Hope hat mich doch am Anfang auch nur als Freund und nicht als möglichen Partner gesehen“, sagte Brady jetzt. „Manchmal entwickeln sich Gefühle für jemanden auch erst mit der Zeit.“

„Meinst du nicht, dass das dann bis jetzt langsam hätte passieren müssen? Wir verbringen doch wirklich viel Zeit miteinander.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte Jack eine Bewegung hinter Brady. Die Frauen kamen wieder zurück an den Tisch und er zischte: „Jetzt hört auf. Sie sind wieder da.“

Cruz holte sein Handy aus der Hosentasche und schaute aufs Display. „Hey, es sieht ganz so aus, als ob das Gewitter tatsächlich direkt über uns hinwegzieht, und zusätzlich gibt es noch eine Tornado-Warnung.“

„Das wäre dann schon die dritte in drei Wochen“, bemerkte Jack und trank völlig unbeeindruckt seine Cola aus.

Die Band „Last Chance“ spielte nun ihren ersten Song, und noch bevor Daisy wieder am Tisch war, wurde sie von Bryce Carter abgefangen. Jack versuchte, nicht hinzuschauen, als sie mit ihm zur Tanzfläche ging, sondern sich auf das Gespräch am Tisch zu konzentrieren, aber er beobachtete die ganze Zeit aus dem Augenwinkel, wie Bryce und Daisy Discofox tanzten. Der Song schien ewig zu gehen, mit einem langen instrumentalen Zwischenspiel, gefolgt von noch einem weiteren Refrain.

Jetzt hört schon endlich auf.

Mit einem Schlagzeugsolo und tosendem Applaus ging der Song schließlich zu Ende, und als das Getöse abebbte, war in der Ferne ein anderes Geräusch zu hören.

„Sind das die Sirenen?“, fragte Josephine, als das Gespräch urplötzlich verstummte.

Cruz holte noch einmal sein Handy hervor. „Ach du liebe Zeit, direkt vor der Stadt ist ein Tornado gesichtet worden.“

KAPITEL 4

Die Unwetterwolken der vergangenen Nacht waren einem verwaschenen rosa Sonnenaufgang gewichen. Die Sonne lugte hinter den Wolken hervor und strahlte speichenförmig nach oben.

Tief atmete Daisy die nach Piniennadeln duftende Luft ein und dann wieder aus. Nach der vergangenen Nacht war dieser wunderschöne Sonnenaufgang eine dringend benötigte Erinnerung daran, dass es Neuanfänge gab, doch an so etwas konnte Daisy im Moment nicht denken.

Sie stieg aus ihrem Auto, einen Irisstrauß fest an sich gedrückt, und ließ ihren Blick über den Friedhof schweifen. Am Marmorgrabstein ihres Vaters, der auf einem Hügel unter einer robusten, knorrigen alten Eiche stand, blieb ihr Blick hängen. Der prachtvolle braune Stein entsprach seiner Stellung als ehemaliger Bürgermeister von Copper Creek.

Sie war erst sieben Jahre alt gewesen, als er verkündet hatte, für das Amt kandidieren zu wollen.

Damals hatte sie es cool gefunden, aber sie war noch zu jung gewesen, um zu wissen, was es bedeutete, in der Öffentlichkeit zu stehen und ein Leben auf dem Präsentierteller zu führen. Als er dann tatsächlich Bürgermeister geworden war, hatte sie ihn nur noch für sich allein gehabt, wenn sie zu Hause waren. Sobald er das Haus verließ, gehörte er der Allgemeinheit, und von ihr wurde stets untadeliges Benehmen erwartet. Sie musste ständig lächeln und immer gerade sitzen.

Als Teenager hatte sie diese Schauspielerei gehasst und das ihren Vater auch spüren lassen, und deshalb mochte sie bis heute nicht im Mittelpunkt stehen. Sie bewunderte das Engagement ihres Vaters, seine Bereitschaft, sich für die Menschen einzusetzen, aber sie wollte nie wieder so in der Öffentlichkeit stehen.

Auf einem der vielen alten Bäume, die das Grundstück beschatteten, zwitscherte ein Vogel. Der Rasen war frisch und grün nach dem heftigen Regen der letzten Nacht und der lehmige Geruch der Erde stieg ihr in die Nase.

Schon die ganze vergangene Woche hatte sie sich vor diesem Tag gefürchtet. Warum bloß war es immer noch so schwer? Warum vermisste sie ihn heute noch genauso wie vor sieben Jahren, als das Aneurysma ihn so plötzlich aus ihrer Mitte gerissen hatte?

Sie hörte einen Automotor irgendwo in der Nähe, und als sie sich umdrehte, sah sie, wie das Auto ihrer Großmutter neben ihrem hielt. Daisy winkte ihr zu. Obwohl es ihre Großmutter mütterlicherseits war, hatte sie Paul Pendleton geliebt, als wäre er ihr eigener Sohn, und manchmal begleitete sie Daisy zum Grab.

Daisys Mutter kam nicht so oft hierher. „Für mich ist er nicht dort“, sagte sie immer.

Aber Daisy fand Trost darin, auf den Friedhof zu kommen und sich um das Grab zu kümmern. Jedes Frühjahr pflanzte sie bunte einjährige Pflanzen, schmückte das Grab jeweils den Jahreszeiten entsprechend, und auch an die Feiertage dachte sie immer. Flaggen am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag, und zu Ostern und Weihnachten Kränze. Heute wollte sie den kleinen Lilienkranz wegnehmen, den sie in der vergangenen Woche aufs Grab gelegt hatte, und stattdessen den Irisstrauß dalassen.

Sie hörte, wie ihre Großmutter die Autotür zuschlug und sah dann, wie sie um den Wagen herum auf sie zukam. Ihr weißblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sie trug eine pinkfarbene Caprihose mit einem fließenden weißen Oberteil.

„Hast du es schon gehört?“, frage ihre Oma, während sie Daisy umarmte.

„Ja, und ich kann es immer noch nicht fassen. Gott sei Dank ist niemand verletzt worden.“

Gemeinsam gingen sie den sanft ansteigenden Hügel hinauf.

Das Hope House war in der vergangenen Nacht von dem Tornado stark beschädigt worden. Ein Teil des Daches war abgedeckt und ein Baum war auf das Haus gestürzt. Wenn die Mädchen nicht gerade auf einem Ausflug gewesen wären, hätte es wahrscheinlich Tote gegeben.

„Es ist wirklich ein Wunder“, sagte Daisy, die mit ihren Absätzen in den weichen Boden einsank.

„Sie waren auf dem Heimweg von der Bowlingbahn, wusstest du das?“

„Was für eine Bewahrung! Aber was soll denn jetzt mit den Mädchen passieren?“

„Sie sind letzte Nacht erst einmal provisorisch im Keller der Gemeinde untergebracht worden. Sie waren alle völlig erschüttert und durcheinander.“

Daisys Freunde und auch sie selbst hatten Pastor Jack und den Mitarbeitern des Hope House geholfen, Decken und Kissen zu besorgen. Manche der Mädchen hatten alles verloren, was sie besessen hatten, und das war ohnehin nicht viel.

„Aber das kann ja keine Dauerlösung sein. Wie soll es denn jetzt weitergehen mit ihnen?“

„Ich glaube, die meisten Mädchen können weiter im Hope House bleiben. Es ist nur der eine Flügel unbewohnbar und darf eine Weile nicht betreten werden, weil er einsturzgefährdet ist. Die Mädchen, die dort gewohnt haben, brauchen vorübergehend eine Unterkunft, bis die Schäden am Gebäude behoben sind. Ich wünschte, ich könnte eine von ihnen aufnehmen.“

„Ja, ich auch“, sagte ihre Großmutter.

„Aber du hast doch auch keinen Platz.“ Ihre Großmutter lebte in einer kleinen Zweizimmerwohnung am Stadtrand, die perfekt für sie war, denn sie brauchte sich dort um nichts zu kümmern.

Daisy dachte an das Haus ihrer Mutter und deren Entschluss, es zu verkaufen. Nein. Daran wollte sie heute nicht denken, sondern sich an ihren wundervollen Vater erinnern.

„Schau mal“, sagte ihre Großmutter, als sie über den Hügelkamm kamen, „da hat jemand Blumen aufs Grab gelegt. Wie nett.“

Daisy folgte dem Blick ihrer Großmutter und entdeckte neben ihrem verwelkten Lilienkranz am Fuße des Grabsteins ihres Vaters einen frischen Blumenstrauß. Das Zellophan-Papier war fleckig vom Regen, kam ihr aber irgendwie bekannt vor. Konnte es sein, dass es aus ihrem Laden stammte?

Doch es war dann die Zusammenstellung der Blumen, die Daisy ins Auge fiel. Gelbe Rosen und Zitronenblatt, und sie kam ihr so bekannt vor, weil sie den Strauß vor ein paar Tagen selbst gebunden und ihn kurz darauf an eine Frau aus North Carolina verkauft hatte. An eine Frau, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.

KAPITEL 5

Daisy war gerade an einer besonders schönen Stelle ihres Romans, als es an ihrer Tür klopfte. Sie hielt das Hörbuch auf ihrem Handy mitten im Satz an, um zu öffnen, und war sehr überrascht, als Ava vor der Tür auf ihrer Veranda stand. Ihr langes Haar war völlig zerzaust und ihre blauen Augen schauten besorgt drein.

„Hallo, Ava, komm doch rein.“ Daisy stieß die Fliegengittertür auf und begrüßte das Mädchen mit einer Umarmung. „Wie geht es dir denn? Hast du letzte Nacht überhaupt schlafen können?“

„Nicht viel. Das ist wirklich ein Albtraum.“

„Das kann man wohl sagen.“ Die Zimmer von Ava und ihrer Schwester befanden sich nämlich in dem Flügel des Waisenhauses, den der Tornado unbewohnbar gemacht hatte. Daisy drückte Ava noch einmal fest und löste sich dann wieder von ihr, um sie ins Haus zu lassen.

„Tut mir leid, dass ich einfach so hereinschneie, aber es ist eine Art Notfall, und ich hatte deine Handynummer nicht.“

„Das müssen wir aber schnellstens ändern. Setz dich doch. Möchtest du was trinken? Eistee oder Cola?“

„Nein, danke.“ Ava setzte sich auf Daisys Sofa und presste ihre Handtasche fest an den Körper.

Daisy nahm ihr gegenüber auf einem Sessel Platz und fragte: „Was kann ich für dich tun?“

„Ich wollte fragen, ob ich vielleicht schon etwas früher in die Wohnung über dem Laden einziehen kann. Am liebsten schon morgen, wenn es geht.“

„Ach, Ava … aber wir sind doch noch gar nicht fertig mit dem Putzen. Und außerdem müsste alles unbedingt noch gestrichen werden.“

„Na, dann muss das eben noch warten. Wir benötigen dringender ein Dach über dem Kopf als die Wände Farbe. Außerdem war ich schon den ganzen Vormittag in der Wohnung und habe weiter geputzt, sodass es dort jetzt schon viel besser aussieht.“

Daisy hatte sich bereits gefragt, wieso sie Ava nicht in der Kirche gesehen hatte. „Du hättest mir Bescheid sagen sollen, dass du heute in der Wohnung arbeitest. Aber jetzt kann ich dir gern helfen. Ich habe heute nichts mehr vor und ich könnte auch noch meine Mutter und meine Oma anrufen. Dann bekommen wir die Wohnung in null Komma nichts sauber.“

Da sackten Avas Schultern vor Erleichterung nach unten. „Ach, das wäre so toll! Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht?“

„Ja, ganz sicher. Auf die Idee hätte ich auch längst selbst kommen können.“ Wenn sie doch bloß nicht mit ihren Gedanken so sehr bei ihren eigenen Sorgen gewesen wäre. „Brauchst du noch Putzmittel und -geräte?“

„Ich habe Putzsachen fürs Bad, einen Fensterreiniger und Schwämme …“

„Was wir sonst noch brauchen, besorge ich.“ Sie machte sich eine geistige Notiz, Gummihandschuhe mit auf die Liste zu setzen.

Ava rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her und Daisy merkte, dass da noch etwas war. „Was hast du denn sonst noch auf dem Herzen, Ava?“

Der klare Blick von Avas blauen Augen traf Daisys. „Ach, es geht um Millie. Sie ist bis jetzt noch nirgends untergekommen, und ich habe mich gefragt, ob sie nicht bei mir bleiben könnte, bis der beschädigte Flügel des Waisenhauses wieder bewohnbar ist.“

„Ja … also klar, das liegt ja auf der Hand. Aber geht das denn – ich meine rein rechtlich?“ Ava war schließlich erst achtzehn und hatte bisher noch nie allein gelebt, geschweige denn die Verantwortung für ein Kind gehabt.

„Mrs. Murdock hat heute mit der Frau vom Jugendamt telefoniert und die Lage erklärt. Es herrscht ein ziemliches Durcheinander, weil so viele Mädchen auf die Schnelle irgendwo untergebracht werden müssen. Das Jugendamt stellt die Bedingung, dass ich in der Lage sein muss, Millie auch finanziell zu versorgen, und ich muss ihre Betreuung nach der Schule sicherstellen. Aber Zoe hat schon gesagt, dass ich Millie nach der Schule in die ‚Peach Barn‘ mitbringen kann, wenn ich dort arbeite. Aber …“

„Was denn, Schätzchen?“

„Es ist … Sie wollen, dass es eine erwachsene Person gibt – eine ältere erwachsene Person als eine Art offizielle Aufsicht, und ich hatte gehofft …“

„Da helfe ich doch gern aus, Ava. Ich gehe zu der Sozialarbeiterin, die für Millie verantwortlich ist, und unterschreibe die nötigen Papiere. Lass uns das so schnell wie möglich erledigen, damit sie bei dir einziehen kann.“

„Ach Daisy, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich jetzt bin.“

Das Mädchen hatte mehr Lasten zu tragen, als gut für sie war. Daisy hätte Avas Vater am liebsten dafür geschüttelt, dass er sie mit all der Verantwortung einfach hatte sitzen lassen.

„Das ist doch gar kein Problem. Wie sieht es denn mit Möbeln, Bettzeug und so weiter aus?“

„Ich habe von meinem Ersparten eine gebrauchte Schlafzimmereinrichtung gekauft. Ich lasse erst mal Millie in dem Schlafzimmer schlafen und nehme selbst die Couch – sobald ich eine habe.“ Sie warf Daisy ein schiefes Lächeln zu.

„Ich bin sicher, wir bekommen einige Möbelstücke, ein paar Handtücher und Bettzeug zusammen.“

Schließlich hatte ihre Mutter gerade vor, sich zu verkleinern. Sie wäre sicher froh, ein paar ihrer Sachen loszuwerden.

„So, und jetzt …“, Daisy stand auf und ging energischen Schrittes Richtung Küche, „… suche ich erst einmal ein paar Putzsachen zusammen. Dann schreibe ich meiner Großmutter eine Nachricht und dann bringen wir die Wohnung auf Vordermann.“

KAPITEL 6

Daisy verlagerte die Ladung langer Abendkleider auf ihrem Arm und klopfte ganz leise an Hopes Tür nur für den Fall, dass Sammy gerade schlief. Hope und Brady Collins wohnten in einem Farmhaus etwas außerhalb der Stadt. Brady hatte in der großen Metallhalle am hinteren Ende des Grundstücks eine Autowerkstatt für Sportwagen und Hope arbeitete gerade an ihrem Master-Abschluss in Psychologie.

„Herein“, rief Hope.

Als Daisy die Küche betrat, streifte kühle Luft ihre Haut, und der saubere Duft von Zitrone stieg ihr in die Nase.

Hope war gerade dabei, einen grünlichen Brei in Sammys Mund zu löffeln. Mit ihrem cremefarbenen Teint und dem dunklen, welligen Haar war sie eine Naturschönheit, und in diesem Moment sah sie gerade mit ihrem typischen strahlenden Lächeln den Kleinen an, der mittlerweile schon ein Jahr alt war. Hope war zwar nicht seine leibliche Mutter, aber es war nicht zu übersehen, wie lieb sie den kleinen Jungen hatte.

Sam schmatzte und patschte mit seinen dicken kleinen Händchen auf das Tablett vor dem Kinderstuhl und Daisy musste über das süße pausbäckige Baby lachen. „Hey, kleiner Mann.“

„De-De!“ Er winkte nach hinten und strahlte den Besuch mit seinen blauen Augen an.

„Ja, De-De ist gekommen“, sagte Daisy. „Wie geht es denn meinem kleinen Lieblingskumpel?“

„Komm, ich helfe dir“, sagte Hope, sprang auf und nahm ihr ein paar der Abendkleider ab. Gemeinsam brachten sie die Kleiderladung ins Wohnzimmer und legten sie dort auf die Couch.

„Wow, da liegen ja schon jede Menge mehr! Das ist ja großartig.“

„Das sind mindestens zwanzig und manche davon sind richtig schön. Außerdem sind viele verschiedene Größen dabei.“

Die Abendkleiderbörse war das, was sie dazu beitrugen, dass auch für die Mädchen aus dem Hope House der Schulball im Frühling zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde. Das „Oopsy Daisy“ stellte darüber hinaus die kleinen Anstecksträuße zur Verfügung und Josephine verwandelte ihren Friseursalon am Nachmittag vor dem Ball in eine Art Wellness-Oase, in der sie die Mädels wenigstens einmal im Leben nach Strich und Faden verwöhnte.

„Mit dem Dutzend weiterer Kleider, die ich noch oben habe, müsste eigentlich für jede von ihnen etwas Passendes dabei sein. Und Donna Lewis hat angeboten, die Kleider kostenlos zu ändern, falls nötig.“

„Wie nett von ihr! Haben wir schon die endgültige Zahl der Mädchen, die zu dem Ball gehen?“

„Im Moment gibt es zwölf Anmeldungen.“ Hope legte die Hände auf die Hüften und schaute traurig auf die Kleider. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass ausgerechnet das Hope House von dem Tornado getroffen wurde.“

„Das kann man wohl sagen. Ich wünschte, wir könnten noch mehr tun, um zu helfen.“

„Ach, wir konzentrieren uns einfach erst einmal auf den Ball, der ist nun wichtiger denn je. Eines der Mädchen hat Josephine gestern erzählt, dass der Ball jetzt das Einzige ist, worauf sich die Mädels freuen. Wir werden einfach tun, was wir können, dass es ein ganz besonderer Abend für sie wird.“

„Ja, das ist wahrscheinlich schon ganz viel. Ida Mae Simmons hat mir heute Morgen erzählt, dass sie für die meisten der Mädchen, die obdachlos geworden sind, schon eine neue vorübergehende Bleibe gefunden haben.“

„Das ging aber schnell! Brady und ich haben auch überlegt, für eines der Mädchen unser Gästezimmer anzubieten.“