Bis ich dich endlich lieben darf - Denise Hunter - E-Book

Bis ich dich endlich lieben darf E-Book

Denise Hunter

3,0

Beschreibung

Als Riley mitansehen musste, wie Paige, die Liebe seines Lebens, mit seinem Bruder anbandelte, meldete er sich freiwillig für Afghanistan. Doch nur ein Jahr später ist Paige wieder solo. Riley will ihr endlich reinen Wein einschenken und beschließt, sie nach seiner Rückkehr ein für alle Mal für sich zu gewinnen. Da verliert er bei einem Anschlag auf seine Truppe ein Bein. Seine Träume von einer gemeinsamen Zukunft mit Paige sind für ihn gestorben, verdient sie doch so viel mehr als einen verkrüppelten Ex-Marine. Alles, was ihm bleibt, ist ausreichend Distanz zwischen sich und ihr zu schaffen. Doch als er nach Hause kommt, stellt er fest, dass seine Familie ihn ausgerechnet bei ihr einquartiert hat. Paige ist froh, sich um ihren besten Kumpel kümmern zu können. Doch bald stellt sie fest, dass hinter Rileys fröhlicher Fassade ein großer Schmerz steckt. Ausgerechnet jetzt steht auch noch ihr geliebtes Tierheim kurz vor dem Bankrott … Rileys Pläne, seiner besten Freundin endlich seine Gefühle zu gestehen, werden durchkreuzt, als sein Leben in Afghanistan eine dramatische Wendung erfährt ... Ein bewegender Liebesroman von Bestsellerautorin Denise Hunter.

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Seitenzahl: 460

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96140-006-5

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

First published under the title “Just a kiss”.

© 2016 by Denise Hunter

Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian Publishing Inc.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Antje Balters

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia tatyana_k

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

www.brendow-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

DANKSAGUNGEN

KAPITEL 1

Paige Warren schaute auf die Uhr und versuchte zum x-ten Mal, an Miss Trudys Kopf mit dem silbergrauen Haar vorbeizuschauen, um etwas sehen zu können. Rileys Flieger war gelandet, und der stetige Strom von Passagieren, der sich in Richtung Gepäckabholung des Flughafens von Bangor bewegte, ließ langsam nach.

Rileys Brüder Beau und Zac Callahan, die sich mit ihrem pechschwarzen Haar sehr ähnlich sahen, standen nur wenige Schritte entfernt. Beide hatten die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, standen in ausladender Haltung und mit starrer Miene da und suchten die Menge fremder Gesichter nach demjenigen ab, den sie erwarteten.

„Müsste er nicht eigentlich schon längst da sein?“, fragte Paige und spielte mit dem Ring, den sie als Anhänger an ihrer Halskette trug.

„Mach dir mal keine Sorgen“, sagte Miss Trudy. „Der kommt schon noch.“

Sie sollte sich keine Sorgen machen? Im Grunde hatte sie seit dem mitternächtlichen Anruf vor drei Wochen nichts anderes mehr getan. Beaus Nachricht hatte sie dermaßen in Aufruhr versetzt, dass ihr heftiges Herzklopfen seitdem nicht wieder nachgelassen hatte.

Miss Trudy griff nach Paiges Hand, um sie zu beruhigen, und erst da merkte sie, dass sie die ganze Zeit den Ring an ihrer Kette hektisch hin und her schob.

„Du machst mich ganz verrückt mit dem Gefummel“, sagte Miss Trudy.

„Ich kann wirklich nichts dafür. Ich bin erst beruhigt, wenn ich sehe, dass es ihm gut geht.“

„Er kommt nach Hause“, sagte Tante Trudy darauf nur. „Alles wird gut.“

„Ja, klar … aber …“

„Jetzt mal mal nicht den Teufel an die Wand. Beau hat gesagt, dass er gut drauf war, als er mit ihm gesprochen hat, und wir können Gott ja dankbar sein, dass er überhaupt wieder nach Hause kommt.“

„Ich weiß. Du hast ja recht.“

Wer hätte denn vor fünfzehn Monaten – als Riley nach Afghanistan zum Einsatz ausgeflogen worden war – gedacht, dass er schon im Juni wieder nach Hause kommen würde? Und dann noch so? Seit dem Anruf hatte es so viel zu entscheiden und zu organisieren gegeben, und den Löwenanteil der Aufgaben hatte Paige übernommen. Es hatte sie beruhigt, wenigstens etwas zu tun zu haben.

Riley war ein starker Mann – schon immer gewesen –, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass es überhaupt jemanden gab, der mit so etwas leicht fertigwurde. Es kamen große Veränderungen auf sie zu, aber sie war fest entschlossen, für ihren besten Freund da zu sein, so wie auch er in jeder Schwierigkeit und Krise für sie da gewesen war, seit sie vierzehn war – besonders nach dem Tod ihres Vaters. Riley hatte ihr nächtelang einfach nur zugehört, wenn sie versucht hatte, ihren unverarbeiteten Zorn zu entwirren.

„Wo bleibt er denn nur?“, fragte Beau jetzt und schlenderte noch einmal ein Stück von ihnen weg, Zac dahinter, der alle anderen weit überragte.

„Ihr macht mich alle ganz nervös mit eurem Gezappel und Herumtigern“, sagte Miss Trudy.

Da legte Beau seiner Tante den Arm um die Schultern und verkündete: „Es sind alle draußen. Jetzt müsste er eigentlich kommen.“

„Vielleicht hat er den Flug ja gar nicht geschafft“, sagte Paige. Bei diesem Gedanken sackte ihr der Magen bis in die Kniekehlen. Die Warterei der vergangenen Wochen war für sie alle eine echte Tortur gewesen. Eigentlich hatte Beau nach Deutschland fliegen wollen, um bei seinem Bruder zu sein und ihm beizustehen, doch davon hatte Riley nichts wissen wollen.

„Er wird schon kommen“, sagte Zac jetzt und fuhr sich mit der Hand über seinen kurz gestutzten Bart. Mit Lucy neben sich sah er fast ein bisschen deplatziert aus. Die beiden waren seit ihrer Hochzeit im vergangenen Herbst praktisch an der Hüfte zusammengewachsen.

Zwischen dem frischgebackenen Ehepaar Zac und Lucy und den Verlobten Beau und Eden fühlte sich Paige in letzter Zeit oft ein bisschen wie das fünfte Rad am Wagen, und auch deshalb freute sie sich darauf, Riley wieder zu Hause zu haben. Seit er weg war, hatte sich eigentlich nichts mehr richtig angefühlt. Sie hatte zwar Freundinnen, aber niemanden, der sie so gut kannte und verstand wie Riley.

Vielleicht ist es ja auch zuerst noch eine Weile ziemlich ungewohnt, ermahnte sie sich. Sie durfte auf keinen Fall erwarten, dass der alte Riley um die Ecke kam. Sie hatte ein bisschen recherchiert, und trotz all des Positiven, das Beau über die Stimmung seines Bruders zu berichten gehabt hatte, rechnete sie auch mit Schwierigkeiten, und deshalb musste jetzt einmal sie die Starke sein.

Riley Callahan schenkte der attraktiven Brünetten, die den leeren Rollstuhl die Fluggastbrücke zu ihm hinunterschob, sein charmantestes Lächeln. Sie war groß und schlank, etwa in seinem Alter, und nach der langen Zeit unter Männern war der Anblick eines weiblichen Wesens immer noch eine echte Wohltat. Als die Mitarbeiterin des Bodenpersonals am Ende der Fluggastbrücke ankam, wo er im Bordrollstuhl wartete, sagte sie:

„Mr.Callahan? Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“ Ihr professioneller Tonfall passte zu ihrer emotionslosen Miene.

Ihr geschäftsmäßiges Lächeln sorgte dafür, dass seine Mundwinkel nach unten gingen.

Jetzt komm mal runter, du Spinner. Mädchen flirten nicht mit Jungs im Rollstuhl.

Noch einen Monat zuvor hätte die Frau mit Sicherheit ganz anders auf ihn reagiert, hätte vielleicht sogar mit ihm geflirtet und versucht, ihm ihre Telefonnummer zuzustecken. Doch damit war es jetzt vorbei. Alles war anders. Die Menschen sahen immer zuerst seinen Rollstuhl und dann erst ihn. Und dieser er, den sie sahen, war derselbe, den er sah, wenn er in den Spiegel schaute.

Die Frau schob den leeren Rollstuhl neben seinen und stellte die Bremse fest. „Brauchen Sie Hilfe beim Umsteigen?“

„Nein, das schaffe ich allein“, erklärte er, holte dann einmal tief Luft und stieg unbeholfen und umständlich in den anderen Rollstuhl um. Dabei spannten sich seine Armmuskeln unter seinem Gewicht an, und die Aktion bereitete ihm solche Schmerzen, dass er die Zähne zusammenbeißen musste, bis er richtig saß.

Bei dem Umsteigemanöver fiel dann auch noch seine Reisetasche auf den Boden – ein passendes Bild für seine Würde. Aber während Riley die Tasche wieder aufheben konnte, gestaltete sich das mit seiner Würde schwieriger.

„Sitzen Sie bequem, Sir?“

„Ja, danke.“

Er hatte in der vergangenen Nacht nur zwei Stunden geschlafen, sein Bein tat höllisch weh, er wurde wie ein Krüppel einfach in einen Rollstuhl verfrachtet, und das dann auch noch ausgerechnet von einer Frau wie dieser.

Das alles kam ihm völlig verrückt und falsch vor.

Die Betreuerin löste jetzt die Bremsen seines Rollstuhls und schob ihn die Fluggastbrücke hinauf.

Wenigstens war er endlich aus dem Flieger heraus. Der Weg in dem Bordrollstuhl zur Toilette war so demütigend gewesen. Zwischendurch hatten sich immer wieder Mitpassagiere für seinen Dienst fürs Vaterland bei ihm bedankt und für das Opfer, das er dafür gebracht hatte, aber er wäre jedes Mal am liebsten unter seinen Sitz gekrochen.

Als sie beim Gate ankamen, strich ihm die kühle Zugluft der Klimaanlage über die Haut. Er war wieder daheim – zurück in Maine –, und nur wenige Meter entfernt wartete seine Familie auf ihn. Seine Brüder, seine Tante und Paige. Schon seit Monaten hatte er Sehnsucht nach ihnen, ganz besonders nach Paige.

Aber nicht so.

Ihm war eng um die Brust, und er atmete so schwer, als hätte er gerade einen Marathon absolviert, auch wenn das in nächster Zeit eher unwahrscheinlich war. Er konnte froh sein, wenn er irgendwann wieder humpeln konnte, und selbst das war höchstwahrscheinlich erst nach monatelanger schmerzhafter Physiotherapie möglich. Sein Blick ging hinunter auf seine Beine.

Auf sein Bein.

Das rechte Hosenbein lag schlaff an der Stelle, wo eigentlich sein Knie hätte sein müssen, und das Bein endete in einem grotesken Stumpf, der abwechselnd wehtat und juckte. Die vergangenen drei Wochen waren ein einziger Albtraum gewesen. Erst die Operation und dann die schmerzhafte Genesung. Nicht zu vergessen die Albträume. Psychisch war er ständig am Ende, und düstere Gedanken zogen ihn immer weiter in den Schatten.

Schon das Heimkommen war für ihn eine echte Herausforderung. Er wollte nicht, dass sie ihn so sahen. Wer hätte denn bei seiner Abreise gedacht, dass er nur als halber Mann wieder zurückkehren würde?

Er hielt sich jetzt an den metallenen Armlehnen des Rollstuhls fest, schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an, und im Nacken und auf der Stirn brach ihm der Schweiß aus. Seine düsteren Gedanken drohten ihn zu überwältigen, und er kämpfte mit allem, was er hatte, dagegen an.

Improvisieren. Anpassen. Überwinden.

Fünfzehn Monate lang waren ihm diese Worte eingebläut worden und hatten ihm auch tatsächlich geholfen, wirklich schlimme Situationen zu überstehen, doch in diesem Moment halfen sie ihm kaum.

Komm schon, Mann, Kopf hoch. So kannst du ihnen nicht gegenübertreten.

Seine Brüder hatten sich so lange Sorgen um ihn gemacht, und das nur, weil er so blöd gewesen war, sich gleich nach dem Tod ihres Vaters freiwillig zur Army zu melden. Gleich nachdem …

Nein. Daran durfte er jetzt nicht denken. Es genügte zu sagen, dass er aus den falschen Motiven gegangen war, aber das ging niemanden außer ihn etwas an. Seine Familie hatte seinetwegen schon genug durchgemacht.

Der Rollstuhl holperte über eine kleine Erhöhung, sodass sein Bein angestoßen wurde und er vor Schmerz zusammenzuckte. Seine eine Hand lag auf der Hosentasche, in der das Foto von ihr steckte, und sein Herz pochte heftig, als er sich bewusst machte, dass er sie jetzt gleich sehen würde – und nicht nur ein Foto oder ihr Bild über Skype. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, dass er ihr in die meerblauen Augen geschaut, dem femininen Singsang ihrer Stimme gelauscht und ihren süßen, blumigen Duft gerochen hatte.

Unter anderen Umständen hätte er das Wiedersehen mit ihr kaum erwarten können. Er wäre auf seinen zwei Beinen auf sie zumarschiert und hätte ihr wie geplant die Wahrheit gesagt. Aber dann hatte eine Bombe alles verändert. Alles, was er jetzt noch plante, drehte sich darum, zu überlegen, wie er Abstand zu seiner Familie halten konnte, ohne ihre Gefühle zu verletzen.

KAPITEL 2

„Ist das Ihre Familie?“, fragte die Frau, die Rileys Rollstuhl schob.

Sein Blick ging zum Eingang der Gepäckabholung, wo sie alle in einer Traube beieinanderstanden. Er straffte die Schultern, hob eine Hand, verzog den Mund zu einem breiten Lächeln und achtete darauf, dass seine Augen wenigstens so aussahen, als würden sie mitlachen.

Beau winkte zurück, während sein anderer Arm um Tante Trudys Schultern gelegt war. Zac, der wie ein langer Schatten hinter ihnen aufragte, grinste ebenfalls. Als Rileys Blick dann weiterging zu Paige, blieb ihm die Luft weg.

Sie war ja noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Ihr seidiges Haar war blonder und länger als damals, und er hatte ganz vergessen, wie die leichten Rundungen ihre sportliche Figur weicher machten. Der Anblick ihrer sonnengebräunten Beine löste Gedanken bei ihm aus, die er eigentlich nicht hätte haben sollen.

Sie hielt sich die Hände vor den Mund, und ihr kamen die Tränen, während er näher gerollt kam, und als er nur noch eine Armeslänge entfernt war, machte sie einen Satz auf ihn zu und ging auf die Knie. Dann schlang sie ihm die Arme um den Hals und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter.

Er hielt sie ganz fest, schloss die Augen, und einen Moment lang gab es nur sie beide – wie in alten Zeiten. Seelenverwandte. Callahan und Warren. Wie hatte er sie vermisst! Ganz tief atmete er einmal ihren Duft ein, den Duft von Blumen, Sonnenschein und Zuhause. Er vergrub seine Nase in ihrem Haar und erinnerte sich an jede Nacht, die er auf seiner Pritsche gelegen, ihr Bild betrachtet und diesen Augenblick herbeigesehnt hatte.

Ein erstickter Laut kam aus seiner Kehle, den er aber überspielte, indem er herzhaft lachte. Dann legte er noch etwas mehr Kraft in seine Stimme und sagte: „Hey, ist ja alles gut. Was soll denn das, Warren? Du weinst doch nicht etwa, oder?“

Daraufhin richtete sich Paige wieder auf, gab ihm einen festen Klaps auf die Schulter, wischte sich verstohlen die Augen und sagte: „Mann, ich habe dich vermisst. Hast du Schmerzen? Soll ich dir deine Medikamente herausholen?“

Na super … noch mehr Wirbel um ihn. „Nicht nötig. Ich habe schon im Flieger was bekommen. Alles in Ordnung. Absolut fantastisch.“

Jetzt mischte sich Beau ins Geschehen ein und drängte Paige ein bisschen beiseite. Er packte Rileys Hand mit dem Bruder-Griff und sagte: „Gut, dass du wieder da bist, Bruderherz. Wir haben uns schreckliche Sorgen um dich gemacht.“

„Ja, ich bin auch froh, wieder hier zu sein.“

Zac strich mit der einen Hand über Rileys Bürstenhaarschnitt und bemerkte: „Hey, man kann dir ja gar nicht mehr richtig durchs Haar zausen. Das macht gar keinen Spaß.“

„Hallo, Zac“, sagte Riley und lächelte zu seinem Bruder hinauf. „Schön, deine hässliche Visage wiederzusehen. Also, ich muss schon sagen, von hier unten siehst du praktisch aus wie ein Riese.“

„Ein Grund mehr für dich, möglichst schnell wieder auf die Beine zu kommen“, entgegnete Zac darauf.

„Hallo …?“, begrüßte ihn jetzt Tante Trudy aus dem Hintergrund. „Ich weiß ja, dass ich nur die alte Tante bin, aber bin ich vielleicht auch mal an der Reihe?“

Riley lächelte in ihre Richtung und streckte ihr seinen Arm entgegen. „Na, dann komm doch mal her, Tantchen.“

Sie zwängte sich zwischen Beau und Paige und umarmte ihn. Sie roch nach Zitronen und Stärke, und ihre schmalen Schultern und dünnen Arme fühlten sich zerbrechlich an. Doch das täuschte. Wenn es darauf ankam, konnte sie mit nur einem Blick eine ganze Armee aufhalten.

„Du liebe Güte, du bist ja breiter als der Stuhl. Haben jetzt auch deine Muskeln noch Muskeln bekommen?“

„Ja, so in etwa“, sagte er, als sie sich wieder von ihm gelöst hatte.

„Wie war denn dein Flug?“, erkundigte sich jetzt Beau. „Konntest du ein bisschen schlafen?“

Riley schaute verstohlen zu Paige hinüber, die sich noch einmal die Augenwinkel wischte, und antwortete dann: „Ja, ein bisschen.“ Dann schaute er wieder zu Tante Trudy und sagte: „Also, was ich jetzt wirklich gebrauchen könnte, wäre ein großes Stück von deinem berühmten Braten. Und zwar je eher, desto besser.“

„Na, da hast du aber Glück“, erklärte sie. „Es steht nämlich tatsächlich schon ein Topf mit einem großen Braten in Paiges Wohnung bereit.“

„Dazu Maisbrot, Kartoffelbrei und Paiges Pekannusskuchen“, fügte Zac noch hinzu.

Riley hielt sich den Bauch. „Oh Mann, ihr bringt mich ja um. Ich kann gar nicht sagen, was am schlimmsten war – die Fertiggerichte beim Einsatz, das Krankenhausessen oder der Fraß im Flieger.“

„Muss noch Gepäck abgeholt werden, das du eingecheckt hattest?“, fragte Tante Trudy jetzt, trat hinter seinen Rollstuhl und löste die Bremsen.

„Nur mein Rollstuhl. Diesen hier muss ich zurückgeben.“ Dann klatschte er ein Mal in die Hände und erklärte: „Okay. Dann lasst uns mal aufbrechen. Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, etwas Gutes zu essen und dann in meinem eigenen Bett zu schlafen.“ Sein Zuhause war ein Zimmer im hinteren Teil von Zacs Restaurant, das er gemietet hatte – nicht groß, aber seins.

Zac und Beau erstarrten beide ganz kurz und tauschten vielsagende Blicke, Paige trat von einem Bein aufs andere, und Tante Trudy kramte in ihrer Handtasche herum, als suchte sie etwas – sodass er plötzlich ein mulmiges Gefühl im Bauch hatte. „Was ist denn? Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?“

„Äh, also …“, Zac konnte ihm nicht in die Augen sehen, als er erklärte: „Also dein altes Zimmer gibt es leider nicht mehr. Ich habe im Winter die Küche vergrößert, und eigentlich hatten Lucy und ich vor, dir dafür das Gästezimmer oben zu überlassen, wenn du wieder nach Hause kommst, aber …“ Er sprach nicht weiter, sondern schaute auf Rileys Bein.

Klar, mit nur einem Bein ging das nicht. Er hätte es mithilfe der Krücken vielleicht geschafft, die Treppe hinaufzukommen, aber jede Bewegung war mühsam und tat weh. Und das Allerletzte, was er gebrauchen konnte, war ein Sturz, der ihn wieder zurückwarf.

Sein Magen fühlte sich in diesem Moment an wie ein Ballon, aus dem alle Luft entwich. So viel dann also zu seinem Bedürfnis nach ein bisschen Privatsphäre im eigenen Zimmer. „Na, dann werde ich ja wahrscheinlich auf der Farm untergebracht, oder? Das ist doch völlig in Ordnung“, sagte er, so locker er konnte.

Tante Trudy hatte sich vor einiger Zeit das Bein gebrochen, und daraufhin war das ehemalige Esszimmer für besondere Anlässe zu einem Schlafzimmer umgestaltet worden. Er versuchte, sich seine Sorge darüber nicht anmerken zu lassen, dass Tante Trudy sieben Tage die Woche rund um die Uhr um ihn herumwuseln würde, aber da setzte Zac bereits an: „Äh, also …“ Er rieb sich den Nacken in sichtlichem Unbehagen und fuhr fort: „Auf der Farm wird zurzeit renoviert.“ Dabei schaute er Riley auf eine Art an, dass bei ihm alle Alarmglocken losgingen.

„Wir haben gerade angefangen“, sagte Beau. „Das war Tante Trudys Hochzeitsgeschenk für Eden und mich, und deshalb herrscht momentan im gesamten Erdgeschoss das pure Chaos.“

„Und es dauert noch mindestens einen Monat, bis alles fertig ist“, erklärte Tante Trudy.

„Aber mach dir keine Sorgen“, mischte sich jetzt Paige ein und tätschelte ihm die Schulter. „Ich habe ihnen von Anfang an gesagt, dass ich dich gern bei mir aufnehmen würde. Ich habe doch das hübsche große Schlafzimmer im Erdgeschoss. Das ist perfekt für dich. Die alten Türen sind schön breit, und deine Brüder haben schon eine Rampe mit Handläufen aufgebaut.“

Um ihn her verschwamm alles, und seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Er sollte bei Paige wohnen? Sein Blick ging zu Zac, der ihm eine Art telepathischer Entschuldigung schickte, und dann wieder zurück zu Paige, der die Worte auf den Lippen erstarben … wahrscheinlich wegen seiner Miene.

Sie sah ihn irritiert an und fragte: „Ist … ist das nicht in Ordnung? Möchtest du lieber woanders wohnen?“ In der Tiefe ihrer blauen Augen blitzte ganz kurz etwas Verletztes auf – aber nur ganz kurz –, bevor sie ihn mit einem Lächeln bedachte, das er ihr aber nicht abnahm. Dazu kannte er sie einfach schon zu lange.

Verdammt, jetzt saß er in der Klemme. Er zwang sich, ebenfalls zu lächeln, und sagte: „Ja. Ich meine, nein. Das ist toll. Echt fantastisch. Aber ich kann dich doch unmöglich aus deinem eigenen Schlafzimmer vertreiben. Wenn ich bei dir unterkomme, dann schlafe ich natürlich auf dem Sofa.“

Da richtete Paige sich etwas auf und entgegnete: „Das kommt gar nicht infrage. Außerdem habe ich meine Sachen schon nach oben geräumt.“

Sein Blick ging daraufhin noch einmal kurz zu Zac, bevor er wieder Paige anschaute, immer noch lächelnd, was gar nicht so einfach war mit dem völlig verkrampften Kiefer. „Du bist ein echter Kumpel, Warren. Hey, wieso geht ihr nicht schon mal los und holt den Wagen, und Zac hilft mir, meinen Rollstuhl zu holen und umzusteigen? Wir treffen uns dann gleich draußen am Ausgang.“

Zac trat hinter ihn, schob Tante Trudy beiseite und bemerkte: „Je früher wir zu Hause sind, desto früher bekommen wir was von dem leckeren Braten.“

„Ja, genau das habe ich auch gerade gedacht“, erklärte Riley.

Die anderen gingen also Richtung Ausgang, und Zac setzte den Rollstuhl Richtung Gepäckabholung in Bewegung. Mit zitternden Fingern rieb sich Riley über den Mund und versuchte den Sturm zu beschwichtigen, der sich in seinem Inneren zusammenbraute. Wie sollte er es schaffen, die nächsten Wochen – wie viele es auch immer werden mochten – so eng mit Paige zusammen zu überstehen?

Aber hatte er denn eine Wahl? Es war ja nicht so, dass er jede Menge Erspartes auf der Bank gehabt hätte, um sich selbst eine Wohnung oder ein Haus mieten zu können. Und selbst wenn, wäre er ja gar nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen – so gern er das auch geleugnet hätte.

Schon allein der Gedanke, dass sie den ganzen Tag um ihn herumwuselte, ihm beim Anziehen half und bei anderen Dingen, bei denen er Hilfe brauchte …

Willst du mich jetzt etwa hier umbringen, Gott? Kannst du mir nicht wenigstens ein ganz klein wenig Würde lassen? Ist das wirklich zu viel verlangt?

So viel also zu seinen Plänen, für genügend Abstand zu seinen Lieben zu sorgen. Er würde auf 55 Quadratmetern im Erdgeschoss eines Bungalows festsitzen, und zwar ausgerechnet zusammen mit Paige.

Und das war alles Zacs Schuld. Riley klammerte sich jetzt so intensiv an den metallenen Armlehnen des Rollstuhls fest, dass es wehtat und er Mühe hatte, die Fassung zu wahren, während er seiner Familie beim Verlassen der Ankunftshalle nachschaute. Dann wandte er sich an Zac und fragte: „Was um Himmels willen habt ihr euch dabei gedacht, mich bei Paige unterzubringen? Ist dir eigentlich klar, was du da angerichtet hast?“

„Jetzt aber mal langsam“, sagte Zac und blieb vor dem Kofferkarussell stehen. „Erstens war das eine Gemeinschaftsentscheidung, also ist es nicht …“

„Aber du bist der Einzige, der es weiß. Ich habe gedacht, dass du mir Rückendeckung gibst, Mann.“

„So viele Möglichkeiten gab es ja nicht, Riley“, verteidigte sich Zac.

„Aber jede andere wäre besser gewesen als diese!“

„Jetzt beruhige dich doch erstmal. Ich hab’s ja kapiert.“ Zac stellte die Bremse des Rollstuhls fest und fuhr fort: „Aber vielleicht könntest du das Ganze ja auch als Chance betrachten, oder?“

„Als Chance wozu? Dass Paige mir beim Wechseln der blutigen Verbände und beim Duschen hilft und mich wie einen verdammten Krüppel versorgt? Hast du an diese Art Chance gedacht? Ich war eigentlich ziemlich sicher, dass mein Stolz schon den Bach runter ist, aber wer weiß, vielleicht schaffen wir es ja, ihn noch ein bisschen weiter abwärtszutreiben.“

Zac, der jetzt ziemlich zerknirscht dreinschaute, nahm den zusammengefalteten Rollstuhl vom Gepäckkarussell und klappte ihn auseinander. „Du hast eine Menge durchgemacht, Riley, das habe ich ja kapiert, aber sie ist deine beste Freundin und möchte dir helfen. Es fühlt sich wirklich sehr viel besser an, dir ganz praktisch helfen zu können, als zu wissen, dass du Tausende von Kilometern entfernt bist, und völlig ohnmächtig zu sein. Vielleicht bringt euch das Ganze ja auch näher zusammen. Vielleicht ist das deine Chance.“

Riley stieß ein trockenes, freudloses Lachen aus. „Ja, klar. Ich bin genau das, was sie sich immer erträumt hat – ein Krüppel.“

Ganz kurz flackerte daraufhin etwas in Zacs Blick auf, und er sagte: „Aber du bist doch immer noch derselbe Mensch, Riley.“

Nicht annähernd. Nicht äußerlich und schon gar nicht innerlich. Er presste die Lippen kurz ganz fest aufeinander, bevor er es aussprach.

Nichts würde jemals wieder so sein, wie es gewesen war. Paige hatte nur das Beste verdient, und das war ganz sicher nicht er.

Zac musterte Riley jetzt mit leicht zusammengekniffenen Augen und fragte: „Was ist mit deinem breiten Grinsen passiert, Bruderherz?“

Daraufhin presste Riley die Kiefer nur noch fester aufeinander und drehte sich zu dem Gepäckband um, das quietschend seine Endloskreise zog. „Schieb den Stuhl bitte hier rüber“, sagte er nur.

„Wieso habe ich nur das Gefühl, dass es dir nicht halb so toll geht, wie du behauptest?“, fragte Zac jetzt.

Riley brauchte eine ganze Weile, bis er daraufhin seine Fassung zurückgewonnen hatte, und sagte: „Mir geht es gut. Ich wollte nur … ach, eigentlich hatte ich vor, ein bisschen mehr Abstand zu Paige zu bekommen. Und jetzt sitze ich ausgerechnet bei ihr fest.“ Er sah Zac mit versteinertem Blick an und fuhr fort: „Wenn ich versuche, aus der Nummer herauszukommen, dann werde ich ihr wehtun, oder sie merkt, dass etwas im Busch ist, und das wäre noch schlimmer.“

Der Argwohn wich langsam aus Zacs Blick, während er den Rollstuhl heranschob und die Bremse feststellte. „Aber das wäre doch auch kein Weltuntergang, oder?“, fragte er.

„Vergiss es“, antwortete Riley.

Er würde es einfach über sich ergehen lassen müssen, indem er sich bis zur Erschöpfung in seine Übungen und Therapien reinhängte, um möglichst schnell eine Prothese zu bekommen und wieder selbstständig leben zu können. Je früher er wieder allein zurechtkam, desto schneller könnte er wieder aus Paiges Leben – und aus Summer Harbor – verschwinden, und zwar endgültig.

KAPITEL 3

Paige schaltete den Fernseher aus und rutschte auf Knien zu Rileys Rollstuhl hinüber. Nach einem turbulenten Wiedersehensfestmahl hatte sich die Familie schon recht bald wieder verzogen. Vielleicht hatten sie gespürt, wie erschöpft Riley war, trotz seiner tapferen Bemühungen, sich an dem lebhaften Gespräch zu beteiligen, das sich vorwiegend um den Alltag in Summer Harbor gedreht hatte. Es war um Zacs Restaurant gegangen, um Beaus Verlobung, Zacs Hochzeit und um die Weihnachtsbaumplantage. Die jüngsten finanziellen Engpässe im Tierheim hatte Paige einfach beschönigt, denn sie wollte nicht, dass Riley sich auch noch Sorgen um ihren Lebensunterhalt machte. Er sollte sich ganz auf seine Wiederherstellung konzentrieren können.

Neben dem Rollstuhl blieb sie auf Knien sitzen und betrachtete sein gutaussehendes Gesicht, das nicht einmal jetzt im Schlaf völlig entspannt war. Zwischen seinen Augenbrauen verliefen zwei steile senkrechte Falten, und sein Mund war fest geschlossen. Er hatte sich verändert in den fünfzehn Monaten, die er weg gewesen war. Sie hatte die Veränderung zwar auch schon bemerkt, wenn sie über Skype miteinander gesprochen hatten, aber jetzt war sie noch viel deutlicher zu erkennen.

Sein Gesicht war kantiger geworden, besonders das Kinn, sodass er härter wirkte. Sie nahm, an, dass Menschen sich durch den Krieg einfach veränderten, und zwar äußerlich wie innerlich. Seine langen dunklen Wimpern, die bei geschlossenen Augen besonders auffielen, waren das einzig Weiche und Jungenhafte, das ihm geblieben war.

Sie kannte ihn jetzt schon so lange und so gut. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb sie ihm den glücklichen Heimkehrer nicht so recht abnahm. Er hatte es vermieden, irgendetwas darüber zu erzählen, was er in den vergangenen Wochen durchgemacht hatte, und seine Verwundung war den ganzen Abend der rosa Elefant im Raum gewesen.

Jetzt kam ihre Katze Dasher angeschlichen, strich ihr um die Beine und schnupperte in Rileys Richtung.

„Schön, dass er wieder da ist, nicht wahr, meine Kleine?“, sagte sie.

Sie betrachtete Rileys Unterarme, die hart wie Stahl aussahen und in starke, schwielige Hände mit kräftigen Fingern übergingen. Seine Hände – männliche Hände – hatten ihr schon immer gefallen. Seine Arbeit als Hummerfischer hielt ihn fit, und am glücklichsten war er immer gewesen, wenn er draußen auf dem Wasser auf dem schaukelnden Boot sein konnte und den Wind in den Haaren spürte. Deshalb war sie auch so überrascht gewesen, als er sich freiwillig zur Army gemeldet hatte.

Überrascht und bestürzt. Und ja, das gestand sie sich selbst ein, auch wütend. Er hatte es ihr einfach ganz sachlich mitgeteilt, kurz und trocken, ohne dass er irgendwann vorher auch nur ein Wort darüber verloren hätte. Er war einfach gegangen, und sie hatte sich im Stich gelassen gefühlt – ein Gefühl, das sie nur zu gut kannte.

Doch jetzt war nicht der richtige Moment, sich damit zu befassen. Er war wieder zurück und brauchte sie.

„Riley.“

Die Furchen zwischen seinen Augenbrauen wurden noch tiefer, und er drehte den Kopf zur Seite.

Sie hasste es, ihn wecken zu müssen, aber es war notwendig, damit er ins Bett kam. Außerdem musste sein Verband gewechselt werden. Sein Bett war schon bereit, die Decken aufgeschlagen, und sie hatte alle Hindernisse auf dem Weg dorthin weggeräumt. Auf seinem Nachttisch stand neben seiner Tablettenpackung ein Glas Wasser, und die Krücken befanden sich in Reichweite neben dem Bett.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, strich mit den Fingern ganz leicht über das dunkle Haar und sagte leise: „Riley, es ist Zeit für …“

Er erschrak, und im nächsten Moment flog sie rückwärts nach hinten, prallte auf den harten Boden auf, rutschte ein Stück darauf entlang und prallte mit dem Kopf gegen die Wand. Dabei bohrte sich der schwere Ring, den sie an einer Halskette trug, in ihr Kinn.

Sie blinzelte und war so benommen, dass sie sich erst orientieren musste, wo sie sich befand und was passiert war. Ihre Ellbogen brannten, ihr Kopf dröhnte, und der ganze Oberkörper schmerzte. Autsch.

„Paige!“, rief Riley, und der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er löste die Bremse seines Rollstuhls und kam zu ihr hingefahren.

„Ist schon gut. Alles in Ordnung. Mir geht es gut. Nichts passiert.“ Sie setzte sich vorsichtig wieder auf die Knie und merkte, dass ihr von dem Aufprall mit dem Kopf etwas schwindelig war, aber sie setzte ein Lächeln auf, als er neben ihr anhielt, und sagte in bemüht munterem Ton: „Mensch, Callahan, du bist da drüben ja noch stärker geworden.“

„Tut mir wirklich leid. Ich wollte dir nicht wehtun.“

Sie stieß ein kurzes, schnaubendes Lachen aus. „Ist schon gut. Alles in Ordnung. Ich bin ja ziemlich zäh“, sagte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

Mit leicht zusammengekniffenen Augen schaute er auf ihren Unterarm. „Du blutest ja.“

Sie warf einen kurzen Blick auf die Stelle und wiegelte ab: „Ach, das ist nur ein kleiner Kratzer. Ein Pflaster, und alles ist wieder wie neu. So, und jetzt wollen wir mal …“

„Du hast dir auch den Kopf gestoßen.“

„Ach, wirklich?“, entgegnete sie mit einem Grinsen. „Das ging alles so schnell. Ich habe schon gedacht, du hättest eine neue Superpower. So wie dieser Typ aus Twilight.“

Da schlug er mit der Faust auf die Lehne des Rollstuhls und entgegnete: „Verdammt noch mal, jetzt hör endlich auf, Witze zu machen. Das ist nicht lustig. So geht das hier nicht.“

Ihre Mundwinkel gingen nach unten, während sie gleichzeitig etwas wie eine schwere Last in ihrer Körpermitte verspürte. „Jetzt sei doch nicht albern. Es war meine Schuld. Du bist gerade aus einem Krieg zurück – ich hätte es mir denken müssen. Ich habe viel darüber gelesen, und das, was gerade passierte ist, ist eigentlich typisch. Nächstes Mal passe ich einfach besser auf“, sagte sie.

„Aber es ist doch nicht richtig, wenn du dich in deiner eigenen Wohnung in Acht nehmen musst. Und genauso wenig ist es richtig, dass du dich um mich kümmerst“, sagte er und umklammerte dabei die Armlehnen seines Rollstuhls.

Sie atmete einmal heftig aus, setzte sich auf die Knie und legte ihre Hand auf seine. So viele Emotionen spiegelten sich da in seinem Blick wider – Bedauern, Frust und Zorn –, und wahrscheinlich waren da jede Menge ähnlicher Gefühle, die noch nicht hochgekommen waren. Das mochten alles negative Empfindungen sein, aber wenigstens waren sie echt, und das war ihr lieber als diese gespielte Munterkeit, die er an den Tag legte, seit er aus dem Flieger gestiegen war.

„Hör mal, Callahan, ich werde für dich da sein, ob es dir passt oder nicht, denn dazu hat man schließlich Freunde. Du würdest das Gleiche auch für mich tun, das weißt du genau. So, und jetzt bringen wir dich erst mal ins Bett, und du schläfst dich aus, damit du für deine erste Physiotherapie morgen gut ausgeruht bist. Nach allem, was ich gehört habe, wird der Physiotherapeut der neue Bösewicht in deinem Leben sein.“

Er kniff die Lippen fest zusammen, und seine Nasenflügel bebten. Ganz kurz blitzte in seinen Augen eine Emotion auf, bevor er sich abwandte. Dabei war sein Kinn hart wie Fels.

„Alles wird gut. Zusammen schaffen wir das“, sagte sie und drückte seine Hand ein letztes Mal. Bitte, Gott, lass alles gut werden.

KAPITEL 4

In dem Moment, in dem Paige den Zwingerbereich betrat, brach der Lärm los. Lautes Gebell, das Klopfen von Hundeschwänzen auf den Boden und das Scharren von Pfoten. Der Geruch von Desinfektionsmittel und Hundefutter hing in der Luft. Sie zog ein wenig an der Leine und lockte den Boxerrüden, der es absolut nicht eilig hatte, wieder zurück in den Zwinger zu kommen.

„Hey, seid ihr gut drauf heute? Alle satt und bereit für einen Spaziergang? Sind wir aber heute wieder munter!“

Sie schenkte jedem Hund, an dem sie vorbeikam, einen Moment lang ihre Aufmerksamkeit und sprach ein paar freundliche Worte, bevor sie dann den Boxer wieder in seinen Zwinger sperrte. Bevor sie die Tür schloss, kniete sie sich noch kurz hin und kraulte ihn hinter den Ohren. Ihr wurde richtig schwer ums Herz, als sie seinen verlorenen Blick bemerkte.

„Ist ja schon gut, mein Kleiner. Wir finden bestimmt ein neues Zuhause für dich.“

Der Boxer war braun mit weißer Schnauze und weißen Lefzen, hatte Schlappohren und die für die Rasse typisch faltige Stirn. Sie hatten ihn vor vier Wochen auf der Bristol Road gefunden, völlig verhungert und ausgetrocknet. Inzwischen hatte er sich schon etwas erholt und zugenommen, seine Nase war hell und glänzte wieder, aber der leere Blick war geblieben. Sie hatte ihn sofort Bishop getauft. Nicht alle ihre Tiere bekamen einen Namen, aber schon als sie den Boxer das erste Mal gesehen hatte, war ihr dieser Name in den Sinn gekommen. Das passierte manchmal.

Etwas an seinem traurigen Blick erinnerte sie an Riley. Sie wünschte, sie hätte den Hund mit nach Hause nehmen können, denn sie hatte das Gefühl, ein Tier würde Riley guttun, doch sie wohnte zur Miete, und der Eigentümer erlaubte nicht mehr als ein Haustier. Das war auch wahrscheinlich ganz gut so, denn sonst hätte Paige bestimmt schon einen ganzen Zoo zu Hause.

In den letzten paar Tagen war Riley einigermaßen munter gewesen – aber er war auch unglaublich starrsinnig. Alles wollte er alleine schaffen. Natürlich war ihr klar, wie wichtig das für seinen Stolz und für seine Genesung war, doch wenn sie mit ansehen musste, wie er sich mit einer Aufgabe, die normalerweise eine halbe Minute dauerte, eine halbe Stunde abquälte, dann war das schwer auszuhalten.

Sie machte sich Sorgen um ihn, wenn er den ganzen Tag allein zu Haus war, doch die Familie schaute in regelmäßigen Abständen bei ihm vorbei, und auch mit Essen war er bestens versorgt; denn jede Frau im Umkreis von dreißig Kilometern hatte inzwischen entweder einen Auflauf oder einen Kuchen vorbeigebracht. Trotzdem hatte sie in den vergangenen paar Tagen ziemlich häufig bei ihm angerufen, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Ihm schien es nichts auszumachen, und für sie war es ungemein beruhigend.

Als sie jetzt auf die Uhr schaute, stellte sie fest, dass ihr letzter Anruf schon wieder ein paar Stunden her war. Sie verließ also den lärmenden Zwingerbereich und rief ihn von ihrem ruhigeren Büro aus an.

Beim dritten Klingeln nahm er ab.

„Hallo!“, sagte sie. „Was machst du denn gerade?“

„Dasselbe, was ich auch in den letzten paar Stunden gemacht habe“, antwortete er, und sie konnte hören, dass er schmunzelte.

„Also ich hatte gerade ein paar Minuten Zeit, und da hab ich gedacht …“

„Es geht mir gut, Paige. Du brauchst mich nicht stündlich anzurufen.“

„Das tu ich doch gar nicht! Ich rufe nur an, um dich zu fragen, ob ich dir heute Abend etwas aus dem Roadhouse zu essen mitbringen soll.“

„Nein. Du wolltest dich nur vergewissern, ob ich mich vielleicht mit den Gardinenschnüren erdrosselt habe oder so.“

„Jetzt werd mal nicht albern. Ich habe ja nicht mal Gardinen.“

„Paige!“

Okay, also gut, sie wich ihm – zumindest in Gedanken – nicht von der Seite. Aber was war, wenn in ihrer Abwesenheit tatsächlich etwas passierte? Was, wenn er stürzte und nicht wieder aufstehen konnte?

„Tut mir leid. Ich will dich wirklich nicht mit meiner Fürsorge erdrücken, aber ich mache mir eben Sorgen um dich. Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, mir eine Weile frei zu nehmen.“

„Um was zu tun? Hier bei mir zu sitzen und mir zuzuschauen, wie ich meine Übungen mache? Ich kann mich gut selbst versorgen und komme prima allein zurecht. Außerdem habe ich immer mein Handy bei mir, und wenn ich etwas brauche, dann rufe ich dich an.“

Bei dem Gedanken, mehr loslassen zu müssen, spürte sie ein heftiges Ziehen im Bauch. Aber wahrscheinlich würde sie ihn in den Wahnsinn treiben, wenn sie ihn nicht losließ. „Versprochen?“

„Großes Ehrenwort.“

In dem Moment klingelte das Glöckchen über der Tür, und weil Lauren gerade Mittagspause hatte, musste Paige sich kurzfassen. Außerdem machte sie sich eine innere Notiz, nach der Arbeit auf dem Heimweg im Roadhouse vorbeizufahren.

Als Paige nach vorne zum Empfang ging, stand Margaret LeFebvre dort am Tresen.

Sie sah frisch aus wie immer. Ihr modischer Kleidungsstil und ihre elegante Figur erinnerten Paige immer an Diane Keaton. Margaret war die Besitzerin des Primrose Inn und außerdem im Vorstand des Tierheims.

Obwohl die Frau sie freundlich anlächelte, hatte Paige ein mulmiges Gefühl, als sie sie sah.

„Margaret. Das ist ja eine Überraschung. Wie geht es Ihnen denn?“

Margaret nahm ihre Brille ab, sodass sie an einer Kette um ihren Hals baumelte, und antwortete: „Gut, meine Liebe. Das Hotel läuft gut, und meine Tochter hat gerade ihr Baby bekommen.“

„Ach, da gratuliere ich herzlich! Das ist Ihr viertes Enkelkind, oder?“

„Ja. Aber es ist das erste Mädchen.“ Sie holte ihr Handy aus der Tasche, zeigte Paige ein Foto von dem schlafenden Baby und dann noch zwölf weitere unterschiedliche Aufnahmen.

„Ach, ist die niedlich“, sagte Paige immer wieder.

„Sie heißt Sophia Grace, nach meiner Mutter. Das hätte ihr bestimmt gefallen.“

„Was für ein schöner Name. Sie freuen sich doch bestimmt auch darüber, oder?“

„Ja, wirklich. Ich wünschte nur, sie würde in der Nähe wohnen, aber ich fahre demnächst hin, um sie zu besuchen. Allerdings nur für ein paar Tage. Durch das Hotel bin ich ziemlich angebunden, aber ich liebe meine Arbeit nun mal.“

Jetzt legte sie den Kopf ein wenig auf die Seite und sagte: „Als ich gerade in der Stadt war, habe ich erfahren, dass der Callahan-Junge wieder zurück ist.“

„Ja, das stimmt. Es ist schön, ihn wieder da zu haben.“

„Er hat es ja anscheinend ziemlich schwer gehabt.“

„Ja, aber er hat einen hervorragenden Physiotherapeuten und wird sicher bald wieder auf den Beinen sein. Im Moment wohnt er bei mir.“

„Ja, das habe ich auch gehört. Seien Sie bloß vorsichtig. Solche Traumata können viel anrichten bei einem Menschen. Der Sohn einer Freundin von mir war ein völlig anderer Mensch, als er aus dem Irak zurückkam. In sich gekehrt, depressiv, wütend und gewalttätig. Er ist mit dem Gesetz in Konflikt geraten und sitzt jetzt im Gefängnis. Es ist wirklich ein Jammer.“

Paige richtete sich bewusst etwas auf, während sie sich gleichzeitig daran erinnerte, wie sie quer durch den Raum geschleudert worden war. Aber das war etwas anderes. Riley hatte geschlafen und nicht gewusst, was er tat.

„So etwas würde Riley niemals tun. Er ist stark und sehr selbstständig. Er wird es schaffen.“

„Ja, sicher, meine Liebe“, sagte Margaret und ließ ihr Handy wieder in ihre Handtasche gleiten. „Haben Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit zum Reden?“

Paiges Brustkorb fühlte sich an, als würde gerade eine Zentnerlast darauf gepackt. „Ja, klar. Lauren ist gleich aus der Pause zurück. Kommen Sie doch mit nach hinten“, sagte sie und ging voraus in ihr Büro.

Der holzvertäfelte Raum war klein, und in der Mitte stand ein alter Eichenschreibtisch. Paige sorgte immer dafür, dass ihr Arbeitsplatz sauber und aufgeräumt war, und ob es nach Hund roch, konnte sie schon lange nicht mehr sagen, weil sie sich so sehr an den Geruch gewöhnt hatte. Die einzige Dekoration in dem Büro war ihr Riesenfarn in der einen Ecke und ein Foto mit allen Callahans auf dem Schreibtisch, das vor ein paar Jahren am Nationalfeiertag aufgenommen worden war. Unmittelbar bevor der Auslöser betätigt worden war, war sie auf Rileys Rücken gesprungen, und der Schnappschuss zeigte deutlich, wie überrascht er gewesen war.

„Setzen Sie sich doch“, sagte Paige und deutete auf den einzigen weiteren Stuhl im Raum. „Kann ic’h Ihnen etwas anbieten? Wasser oder Kaffee?“

„Nein, danke. Ich habe gerade im Frumpy Joe’s zu Mittag gegessen, und mein Magen hat sich noch nicht wieder ganz davon erholt.“ Margaret rutschte auf dem Stuhl hin und her, sodass ihre Basthandtasche knisterte.

Paige legte ihre verschränkten Hände vor sich auf die Schreibtischplatte, versuchte, die aufsteigende Angst zu beschwichtigen, und sagte: „Ich merke ja, dass etwas nicht stimmt, Margaret, also wieso sprechen wir nicht einfach offen darüber?“

Daraufhin schaute Margaret sie mitfühlend an und sagte: „Also es fällt mir wirklich schwer, denn ich weiß ja, wie viel Ihnen das Tierheim bedeutet, Paige, und wie hart Sie hier arbeiten, aber ich habe leider schlechte Nachrichten.“

Paige wappnete sich, und ihr Herz pochte jetzt heftig. Das Tierheim wurde schon seit einer ganzen Weile mit einem Minimalbudget betrieben, daher kamen jetzt alle möglichen Befürchtungen in ihr hoch. Vielleicht war noch ein weiterer Sponsor abgesprungen, oder sie mussten für die bisher kostenlosen Serviceleistungen etwas berechnen? Davor scheute sie jedoch immer noch zurück, denn es gab so viele Leute, die sich eine Impfung oder Sterilisation einfach nicht leisten konnten, und beides war ungemein wichtig.

„Sagen Sie mir doch bitte einfach, was los ist. Ich verkrafte es schon.“

Daraufhin lächelte Margaret sie sichtlich angestrengt an und sagte: „Wir müssen das Tierheim leider schließen.“

Das verschlug Paige erst einmal die Sprache. „Was? Nein!“

„Ich verstehe ja, dass Sie das erschüttert …“

„Wir können nicht schließen, Margaret. Die Stadt braucht uns, und die Tiere brauchen uns. Zurzeit sind …“

Margaret beugte sich über den Schreibtisch, legte ihre eine Hand auf ihre geballte Faust und sagte beschwichtigend: „Ich weiß, meine Liebe. Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal, und atmen Sie tief durch.“

Das versuchte Paige, aber ihre Lunge schien in den vergangenen zehn Sekunden irgendwie geschrumpft zu sein. Im Moment lebten im Tierheim zwölf Hunde und neun Katzen, die versorgt werden mussten. Was sollte denn mit denen passieren? Was würde von jetzt an mit all den Hunden und Katzen geschehen, die sie jedes Jahr retteten und für die sie ein neues Zuhause suchten? Ganz zu schweigen von all den verletzten Wildtieren, die sie nebenbei und inoffiziell auch noch gerettet hatte.

„Sie wissen ja selbst, dass die Spenden in den letzten Jahren stark zurückgegangen sind. Einige Unterstützer sind weggezogen, und andere können sich die Unterstützung nicht mehr leisten. Es sind einfach wirtschaftlich schwierige Zeiten.“

„Aber wir haben doch neue Sponsoren gefunden.“

„Leider nicht genügend. Das Spendenaufkommen ist nicht so hoch, dass es für kostenlose Impfungen und Sterilisationen reicht, wie wir sie im letzten Jahr noch angeboten haben.“

„Aber das ist so wichtig. Und langfristig zahlt es sich auch aus, weil …“

Margaret hob eine Hand und sagte: „Das weiß ich doch … aber das Problem sind die Kosten. Die Tierarztkosten, die Medikamente, die Impfungen … all diese Leistungen strapazieren unser Budget, und mittlerweile ist dieser Zustand nicht mehr tragbar.“

Paige atmete einmal heftig aus. Sie musste jetzt die Prioritäten im Blick behalten und gut überlegen, was sie sagte. „Also gut. Ich weiß, dass ich in dieser Hinsicht in der Vergangenheit vielleicht etwas halsstarrig war, aber dann müssen wir jetzt eben anfangen, für diese Leistungen etwas zu berechnen, auch wenn ich eigentlich dagegen bin. Aber es ist besser als nichts.“

Daraufhin schüttelte Margaret nur ganz langsam den Kopf und erklärte: „Tut mir leid, meine Liebe, aber dazu ist es leider zu spät …“

„Wir finden bestimmt eine Organisation oder eine Stiftung, die uns einen Zuschuss bewilligt. Ich finde jemanden. Irgendwie schaffe ich es.“

„Sie wissen doch selbst, wie lange es dauert, bis solche Zuschüsse bewilligt werden, wenn überhaupt. Dafür haben wir keine Zeit mehr. Der Vorstand sieht keine andere Möglichkeit mehr als die Schließung.“

„Dann starten wir eine Spendenaktion! Erinnern Sie sich noch an das Wohltätigkeits-Hummeressen, das wir vor ein paar Jahren veranstaltet haben? So etwas bekomme ich rasch wieder organisiert, und die ganze Stadt wird mitmachen, Sie werden sehen.“

„Paige …“

„Der Ort braucht dieses Tierheim, Margaret! Das wissen Sie doch auch.“ Sie musste wieder an Bishops traurigen Blick denken, und plötzlich hatte sie einen dicken Kloß im Hals. „Ohne unser Tierheim werden Dutzende von Tieren unnötig sterben“, sagte sie verzweifelt.

Bei diesen Worten wurde der Blick der Frau mit den hellblauen Augen ein ganz klein wenig weicher.

„Geben Sie mir nur drei Monate. Ich treibe Sponsoren auf und bekomme Zuschüsse, egal, was ich dafür tun muss. Aber bitte lassen Sie die Schließung nicht zu“, flehte Paige.

„Wie wollen Sie denn das alles schaffen, Paige? Sie haben doch schon zu Hause genug zu tun.“

„Für das, was wirklich wichtig ist, nehme ich mir die Zeit, und wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, dann ziehe ich es auch durch, Margaret. Bitte.“

Die Frau sah sie mindestens eine halbe Minute lang schweigend an, während Paige sich alle Mühe gab, Entschlossenheit zu demonstrieren. Sie atmete kaum, und ihr Herz schlug zum Zerspringen.

Schließlich stieß Margaret einen tiefen Seufzer aus und sagte: „Ich glaube, dass Sie sich damit etwas aufhalsen, was nicht zu schaffen ist, Paige. Aber wenn Sie etwas mehr Unterstützung von Rileys Familie bekommen, geht es ja vielleicht.“

Die Frau würde doch wohl nicht von ihr verlangen, sich entweder für das Tierheim oder die Betreuung von Riley zu entscheiden?

„Aber ich bin Rileys Familie. Machen Sie sich darüber bitte keine Gedanken. Ich schaffe das. Ich werde nicht nur für zusätzliche Spenden sorgen, sondern auch die Kosten noch einmal durchgehen und Einsparungen vorschlagen. Ich führe eine Gebühr für das Auffinden entlaufener Tiere ein und wenn nötig auch für jede Dienstleistung, die wir erbringen. Geben Sie mir nur eine Chance, Margaret. Drei Monate. Um mehr bitte ich doch gar nicht.“

Wieder schaute Margaret sie sehr lange schweigend an und sagte schließlich. „Also gut. Ich glaube, zu drei weiteren Monaten kann ich den Vorstand noch überreden.“

Da konnte Paige endlich wieder aufatmen.

Als sie Margaret zur Tür brachte, fühlte sie sich wie benebelt, und nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, drehte sie ihr den Rücken zu und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen.

Drei Monate, um Tausende von Dollars zusammenzubekommen. Was hatte sie sich da nur eingebrockt?

KAPITEL 5

Riley manövrierte sich auf Krücken durch die Türen des Roadhouses. Für einen Donnerstag war es ziemlich laut in dem beliebten Treffpunkt für Einheimische und Gäste. Auf sehr laut aufgedrehten Fernsehern wurde das Spiel der Red Sox übertragen, allerdings noch übertönt von den lautstarken Gesprächen der Gäste. Es war ausschließlich der würzige Duft der Chickenwings, der dafür sorgte, dass er nicht wieder Reißaus nahm, sondern weiterging.

„Bist du wirklich sicher, dass du nicht lieber im Rollstuhl sitzen willst?“, fragte Paige und ließ die Tür hinter ihnen zufallen.

„Ja, ganz sicher“, antwortete er, denn er war es so leid, immer zu den Leuten aufblicken zu müssen. Als er jetzt das Lokal nach seinen Brüdern absuchte, entdeckte er sie auf ihren Stammplätzen hinten in einer Ecknische und ging vorsichtig an seinen Krücken dorthin, wie es ihm der Physiotherapeut gezeigt hatte. Das fehlende Bein störte sein Gleichgewichtsgefühl, und er wäre diese Woche schon zwei Mal beinahe gestürzt, während Paige bei der Arbeit war, doch das hatte er lieber für sich behalten.

Er begrüßte seine Brüder mit viel Elan, und sie rutschten ein Stück, sodass er sich dazusetzen konnte.

„Warum setzen wir uns nicht an einen richtigen Tisch statt hier in die Nische?“, fragte Paige.

„Wieso denn das? Wir sitzen doch immer hier“, entgegneten die Brüder.

„Ich dachte nur“, ihr Blick ging kurz zu Riley, „dass es vielleicht ein bisschen einfacher wäre.“

Riley spürte, wie er rot wurde, und er sagte: „Es ist alles gut.“ Dann ging er zu dem frei gewordenen Platz, verlagerte die Krücken auf die gute Seite und ließ sich nieder. Das Ganze dauerte etwa eine halbe Minute, und ihm stand vor Anstrengung Schweiß auf der Stirn.

Erinnerst du dich noch an die Zeit, als es kein Ereignis war, wenn du dich hingesetzt hast?

Als er endlich saß, verstaute Riley seine Krücken neben sich und griff nach der Speisekarte.

„Ich habe einen Bärenhunger“, sagte er. „Wo sind denn die Mädels?“

„Die spielen Billard“, antwortete Beau. „Jedenfalls versuchen sie es.“

Und tatsächlich erblickte Riley sie in einer fernen Ecke. Eden stand ein wenig abseits vom Tisch, während Lucy sich gerade zu einem Stoß fertig machte.

„Hey, guck mal“, sagte Zac. „Lucy wird immer besser. Vergiss nicht, dass wir dich letzte Woche geschlagen haben.“

„Ach, das war doch Anfängerglück“, entgegnete Beau, woraufhin Zac nur die Augen verdrehte.

„Ich muss noch mal wohin. Könnt ihr mir bitte einen Buffalo-Chicken-Salat bestellen?“, fragte Paige jetzt.

Riley sah ihr kurz nach, bevor er sich wieder der Speisekarte zuwandte.

„Seit wann geht sie denn auf öffentliche Toiletten?“, fragte Beau und sah ihr mit gerunzelter Stirn hinterher.

Es wurmte Riley, dass sein Bruder Paige so gut kannte, aber Beau und Paige waren schließlich eine ganze Weile zusammen gewesen. Nichts war für Riley so schlimm gewesen, wie dabei zuschauen zu müssen, dass sich die Liebe seines Lebens in seinen älteren Bruder verliebte. Er hatte sich nur freiwillig zur Army gemeldet, weil er nicht hatte haben können, was er sich am allermeisten gewünscht hatte. Aber dadurch hatte er nur erreicht, dass er es nie bekommen würde. Die Ironie dieses Zusammenhangs war ihm durchaus bewusst.

„Sie geht gar nicht zur Toilette“, sagte Riley. „Das ist nur ein Vorwand, um eventuelle Hindernisse auf dem Weg zur Herrentoilette zu entfernen für den Fall, dass ich hinmuss.“ Genauso wie sie im Erdgeschoss ihres Hauses alle Teppiche entfernt, jedes Kabel weggeräumt und alles auf Augenhöhe geräumt hatte, was er vielleicht benötigen könnte.

„Sie versucht doch nur, dir zu helfen“, sagte Zac.

Riley merkte, wie sich sein Unterkiefer verspannte. Er wollte weder Paiges Hilfe noch ihr Mitleid. Er wollte nicht, dass sich die Frau, die er liebte, um ihn kümmerte, als wäre er ein Behinderter. Er wollte voll intakt und selbstständig sein. Er wollte sein blödes Bein wiederhaben.

„Hey“, sagte Beau jetzt. „Du machst das alles so großartig und läufst schon wie ein Profi an diesen Dingern.“

Ja, klar. Er war ein echter Profi. Noch vor einem Monat hatte er zehn Kilometer in voller Kampfmontur rennen können, und jetzt musste er wieder laufen lernen wie ein Kleinkind.

Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, echt schnell, nicht?“

„Wart’s ab, eh du dich versiehst, gehst du wieder auf Hummerfang“, sagte Beau.

Daraufhin sah Riley ihn nur an, stieß ein trockenes, freudloses Lachen aus und sagte: „Ja, klar.“

„Wieso denn nicht?“, fragte Zac. „Beinamputierte können doch heutzutage alles Mögliche machen. Sieh dir doch nur mal all die Läufer bei den Paralympics an.“

Riley schaute ihn daraufhin finster an. Im Moment war es ja schon illusorisch, aus eigener Kraft und ohne Hilfsmittel auch nur einmal durch den Raum zu gehen, und seine Zukunft kam ihm ungefähr so strahlend vor wie ein schwarzes Loch.

Na, so viel dann also zu „all dem Guten“, das du mit mir vorhast, was, Gott? „Gedanken des Friedens und nicht des Leids“? „Hoffnung und Zukunft“?

Ja klar.

„Wieso denn nicht?“, fragte Beau. „Es gibt doch keinen Grund, wieso du nicht wieder Fischen gehen solltest.“

Auf welchem Planeten lebte sein Bruder eigentlich? „Ja, und bei meinem Glück verliere ich dann auch noch eine Hand in der Takelage. Vielen Dank auch. Den Rest meiner Gliedmaßen würde ich eigentlich ganz gerne behalten. Ich habe nämlich keine mehr übrig.“

In dem Moment kamen die Mädels aus dem Billardraum zurück an den Tisch und quetschten sich auf die gegenüberliegende Bank, sodass die Anspannung am Tisch etwas nachließ.

„Wo ist denn Micah?“, fragte Zac jetzt, denn Eden hatte sonst eigentlich fast immer ihren siebenjährigen Sohn dabei.

„Mein Vater hat ihn mit zum Angeln genommen. Das heißt, dass sie eine Viertelstunde die Angel ins Wasser halten und dann aufgeben und Eis essen gehen.“

„Ganz schön schlau, die Jungs“, bemerkte Lucy. „Es gibt doch nichts Besseres als eine Kugel Eis. Außer zwei Kugeln.“

Zac stupste seine Frau an und sagte dann mit zärtlichem Blick: „Ich erinnere mich an eine gewisse Person, die mir eine Kugel Eis in hohem Bogen auf den Schoß befördert hat. Wenn ich mich recht erinnere, führte dieser Zwischenfall zu einem ziemlich süßen und langen ersten Kuss.“

Sie lächelte ihn an, und ihr Blick wurde ganz weich. „Eine Frau muss eben tun, was eine Frau tun muss.“

Riley massierte sich währenddessen abwesend den Beinstumpf. Zacs und Lucys gemeinsame Geschichte war lang und kompliziert. Sie waren verlobt gewesen, bis Lucy ihn eine Woche vor der Hochzeit einfach hatte sitzen lassen und spurlos verschwunden war. Dann war sie Monate später wieder aufgetaucht, hatte aber ihr Gedächtnis verloren, sodass sie sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, dass sie Zac verlassen hatte. Sie war immer noch in ihn verliebt gewesen und davon überzeugt, dass sie demnächst heiraten würden. All den Aufruhr hatte Riley gar nicht miterlebt, weil er zu der Zeit bereits im Einsatz in Afghanistan gewesen war. Doch irgendwie schienen die beiden die ganze Geschichte gut bewältigt zu haben, und die frischgebackenen Eheleute sahen sich immer noch in die Augen, als wären sie allein auf der Welt.

Beau rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her und sagte schließlich: „So, jetzt ist aber gut – sonst nehmt euch doch ein Zimmer.“

Daraufhin lächelte Zac ihn provozierend an, tat, als ob er wirklich aufstehen wollte, und sagte: „Wenn du darauf bestehst …“

Aber Lucy gab ihrem Mann einen Stoß in die Rippen und sagte lachend: „Jetzt hör schon auf damit.“

Beau schaute Eden finster an und fragte: „Wie viele Tage sind es eigentlich noch bis zu unserer Hochzeit?“

„Halte durch, mein Schatz“, antwortete Eden. „Nur noch zwei Monate.“

Beau schloss die Augen. „Monate. Was war noch mal der Grund, weshalb wir so lange warten?“

„Dass sie noch genügend Zeit hat, um zu merken, was für einen Riesenfehler sie macht“, antwortete Zac.

Beau warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu, während Paige zurückkam, gegenüber von Riley in die Sitzbank rutschte und die anderen beiden Frauen begrüßte.

„Stimmt es, was ich über das Tierheim gehört habe?“, fragte Lucy bestürzt.

Riley sah Paige daraufhin durchdringend an. Sie waren die ganze Woche zusammen gewesen, die meiste Zeit zu zweit, und sie hatte nicht einmal andeutungsweise etwas davon gesagt, dass es Probleme gab. „Was ist denn mit dem Tierheim?“, fragte er.

Paige lächelte angestrengt, und ihr Blick ging flackernd in der Gruppe umher.

„Ach, wir haben nur ein paar finanzielle Probleme, sonst nichts.“

„Charlotte hat gesagt, dass sie das Tierheim schließen muss“, berichtete Lucy, was sie von der Besitzerin des Frumpy Joe’s gehört hatte. „Das hätte der Vorstand gestern beschlossen.“

„Ist das wahr?“, fragte Riley jetzt nach, doch er sah Paige auch so schon an, dass es stimmte. „Wieso hast du mir denn nichts davon gesagt?“

„Ach, so dramatisch ist es doch gar nicht. Ich habe noch drei Monate Zeit bekommen, die Sache wieder ins Lot zu bringen. Das wird schon klappen.“

„Und wie willst du das machen?“, fragte Eden.

„Indem ich neue Sponsoren auftue, eine Spendenaktion veranstalte und Zuschüsse beantrage.“

Mit gerunzelter Stirn sah Riley sie an und fragte: „Und wann willst du das alles machen? Dazu hast du doch gar nicht die Zeit.“

„Abends und an den Wochenenden. Manches davon kann ich auch bei der Arbeit erledigen, wenn nicht so viel los ist. Bei den Anträgen