Wie Schneeflocken im Wind - Denise Hunter - E-Book

Wie Schneeflocken im Wind E-Book

Denise Hunter

5,0

Beschreibung

Während sie durch das ländliche Maine jagt, fragt sich Eden Martelli, wie sich ihr beschauliches Leben nur so entwickeln konnte … Obwohl ihre Familie in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurde, hat man ihren Mann enttarnt und ermordet. Eden ist mit ihrem fünfjährigen Sohn Jack auf einer verzweifelten Flucht, als sie in dem kleinen Küstenort Sea Harbour landet. Wird sie hier endlich wieder Frieden fi nden? Beau Callahan hat den Posten des Sheriffs aufgegeben, um nach dem Tod seiner Eltern die Weihnachtsbaumplantage seiner Familie zu übernehmen. Aber die Trauer ist noch frisch und die Arbeit mehr als gedacht. Gerade als er nicht mehr weiter weiß, taucht die geheimnisvolle – und nicht minder schöne – Eden in dem kleinen Ort auf ...

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DENISE HUNTER

Aus dem Amerikanischen von Antje Balters

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-916-0

© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

First published under the title „Falling like snowflakes“

© 2015 by Denise Hunter

Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian

Publishing, Inc.

Titelfoto: fotolia yanlev

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreissig

Einunddreissig

Zweiunddreissig

Dreiunddreissig

Vierunddreissig

Fünfunddreissig

Sechsunddreissig

Siebenunddreissig

Achtunddreissig

Neununddreissig

Vierzig

Einundvierzig

Epilog

EINS

Schon erstaunlich, wie viel Mut man als Mutter aufbringen kann, wenn es um das Leben des eigenen Kindes geht. Mit gerunzelter Stirn schaute Eden auf die Landkarte, die vor ihr auf der Konsole lag. Sie befand sich nordöstlich von Bar Harbor auf der Route 1, die direkt an der Küste entlang verlief. Irgendwo musste sie falsch abgebogen sein – das wurde anscheinend zu einer Art Gewohnheit in ihrem Leben.

Sie musste sich jetzt ganz auf die Straße konzentrieren, denn die Müdigkeit lastete schwer wie Blei auf ihr, und sie konnte kaum noch die Augen offen halten. Wie lange es jetzt wohl schon her sein mochte, dass sie ein bisschen geschlafen hatte? Es wäre einfach himmlisch gewesen, sich ein paar Stunden auf einem Hotelbett ausstrecken zu können.

Micah schlief an die Beifahrertür gelehnt, seinen geliebten Teddy fest an sich gedrückt. Sein normaler Tages- und Nachtrhythmus war inzwischen völlig durcheinander.

Sie wünschte, er könnte jetzt die schönen kleinen Häfen sehen, an denen sie vorbeikamen, und die bunten Hummerbojen, die verstreut auf dem Wasser tanzten.

Sie schaute in den Rückspiegel und sah immer noch den grünen Kleinbus hinter sich. Am Steuer saß eine Frau, hinter ihr auf der Rückbank zwei kleine Kinder.

In dem Moment tat es einen dumpfen Schlag, der Edens Gefühl nach vom Motor kam. Sie schaute mit sorgenvoll gerunzelter Stirn auf die Anzeigen am Armaturenbrett, aber der Tank war noch halb voll, und der Motor war auch nicht zu heiß. Der Buick, den sie fuhr, war alt – dreiundzwanzig Jahre – und damit nur zwei Jahre jünger als sie selbst. Sie hatte ihn für nur tausend Dollar in Jacksonville, Florida, gekauft, und entsprechend war auch sein Zustand, aber er brauchte ja auch nur noch bis nach Loon Lake in Maine durchzuhalten.

Sie hatte es riskiert, vor ihrer Abfahrt mit einem Wegwerf-Handy Karen anzurufen – das sie hinterher natürlich sofort entsorgt hatte. Karen war überrascht gewesen, denn sie hatten nichts mehr voneinander gehört, seit Karen und ihre Tochter während Edens letztem Jahr in der Highschool nach Sacramento gezogen waren. Karen war für Eden lange eine Art Ersatzmutter gewesen.

Ja, ihre Ferienhütte in Loon Lake stehe leer, hatte sie gesagt. Sie überlege gerade, sie zu verkaufen. Natürlich könne Eden dort eine Weile wohnen. Nein, sie würde mit niemandem darüber reden.

Damit hatten sie einen Ort gehabt, wo sie unterkriechen konnten, einen Ort, von dem niemand wusste, und jetzt waren sie nach langer Fahrt fast da. Nach ihrer Ankunft würde sie ihnen so bald wie möglich falsche Papiere besorgen, und dann würde für sie ein neues Leben beginnen.

Ihren Ehering hatte sie versetzt, als sie durch Atlanta gekommen waren. Sie hatte dafür bei Weitem nicht das bekommen, was er wert war, aber es reichte, um die Zeit zu überbrücken, die sie brauchen würde, um ihre Firma White Box Designs wieder in Gang zu bringen.

Sie hatte ihre Kunden schmählich im Stich lassen müssen, aber sie würde alles daransetzen, sie zurückzugewinnen.

Vom Motor kam jetzt wieder ein Geräusch, bei dem Eden angst und bange wurde, und dann quoll plötzlich bläulicher Qualm unter der Motorhaube hervor.

Nein. Nein, nein, nein! Das kann doch nicht wahr sein. Da hast du ja wieder absolut richtig entschieden, Eden. Du bist echt ein hoffnungsloser Fall.

Sie nahm den Fuß vom Gas, aber das furchtbare Geräusch ließ nicht nach, und außerdem roch es nach verbranntem Öl. Sie schaltete den Warnblinker ein, und im nächsten Moment überholte sie auch schon der grüne Kleinbus.

Um sie her waren nichts als Hügel und Bäume. Sie war zwar vor einer Weile durch eine Stadt gekommen, aber wenn es dort überhaupt eine Tankstelle oder eine Werkstatt gab, hatte sie die nicht bemerkt, denn über weite Strecken war sie mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen und hatte Pläne geschmiedet.

Das war es dann wohl, dachte sie und schaute zu, wie der bläuliche Qualm im Fahrtwind davonzog.

Da entdeckte sie ein Stück vor sich einen Wegweiser. Sie kniff die Augen etwas zusammen, um die Schrift darauf lesen zu können:

SUMMER HARBOR 8 KILOMETER,

stand da.

Der Wegweiser zeigte nach rechts, und da sie im Grunde keine Wahl hatte, folgte Eden ihm. Sie hoffte, dass der Ort wenigstens so groß war, dass es dort eine Werkstatt gab. Nach dem Kauf des Autos waren ihr nur noch fünfzehnhundert Dollar geblieben, die sie allerdings auch dringend für ihren Neuanfang brauchte.

Das kann doch nicht wahr sein, so kurz vorm Ziel, schrie es jetzt förmlich in ihr.

Das beängstigende Geräusch dauerte an, sodass sie ganz langsam fuhr und einfach hoffen musste, dass sie den Motor nicht völlig ruinierte, indem sie nicht anhielt. Zu allem Überfluss fing es jetzt auch noch an zu schneien. Dicke, nasse Flocken klatschten gegen die Windschutzscheibe und behinderten ihre Sicht.

Was sollte sie nur tun?

Das Wichtigste zuerst, Eden. Suche eine Werkstatt und lass dir einen Kostenvoranschlag für die Reparatur erstellen.

Vielleicht war es ja gar nichts Schlimmes, Teures, sondern nur ein gelockertes Kabel oder ein defekter Schlauch. Vielleicht würde ja ein freundlicher Automechaniker an ihren Augenringen sehen, wie erschöpft sie war, und Erbarmen mit ihr und dem Kleinen haben.

Die zweispurige Landstraße ging bergauf und bergab und war sehr kurvig. Eden hatte das Gefühl, für die acht Kilometer ewig zu brauchen. Doch irgendwann erreichte sie schließlich doch ein Ortsschild mit der Aufschrift

WILLKOMMEN IN SUMMER HARBOR, INC. 1895.

Rechts und links von der Straße, die sich direkt an der Küste entlangschlängelte, tauchten erste, vereinzelte Häuser auf, und als sie dann tatsächlich in die Stadt hineinkamen, wurde die Straße abschüssig und gerader. Mit seinen anheimelnden kleinen Läden und altmodischen Straßenlaternen, die unter einer dicken, glitzernden Schneedecke lagen, sah Summer Harbor aus wie ein Weihnachtskartenmotiv. Es lag direkt an der felsigen Küste, auf die sie auch während der Fahrt einen ganz kurzen Blick erhascht hatte, aber sie konzentrierte sich jetzt lieber darauf, nach einer Tankstelle oder einer Werkstatt Ausschau zu halten.

Unter anderen Bedingungen hätte sie den Ort gerne ein bisschen genauer erkundet – am liebsten im Sommer, wenn es hier von Hummerfischerbooten und Touristen wahrscheinlich nur so wimmelte. Doch auch jetzt, in festlichem Weihnachtsschmuck, hatte die Stadt ihren Charme.

Da! Etwas versteckt an einer Seitenstraße entdeckte sie eine Tankstelle. Sie fuhr auf den Parkplatz davor, schaltete den Motor aus und empfand sehr intensiv die plötzliche Stille.

Es tat ihr in der Seele weh, Micah wecken zu müssen, denn seit sie auf der Flucht waren, hatte er nicht mehr richtig tief und fest geschlafen. Als sie ihn jetzt an der Schulter berührte, zuckte er erschrocken zusammen und war mit einem Ruck wach. Er wurde ganz starr, als er sich erinnerte und merkte, wo er war, und riss die Augen wie in Panik weit auf. Sie fand diesen Ausdruck ganz furchtbar. Kein fünfjähriges Kind sollte durchmachen müssen, was er schon alles hinter sich hatte.

„Hey, mein Kleiner“, sagte sie leise. „Wir haben eine kleine Autopanne. Lass uns aussteigen und uns ein bisschen die Beine vertreten, ja?“ Sie holte ihre Jacken aus dem Rucksack, der auf dem Rücksitz stand, und half Micah beim Anziehen.

Auf dem Weg zum Kassenraum der Tankstelle zog sie sich ihre Baseballkappe noch tiefer ins Gesicht und schaute sich noch einmal um. Dann setzte sie Micah seine Kapuze auf und zog ihn ganz nah an sich heran.

In dem Kassenraum hielt sich nur ein Mann auf. Er saß hinter der Kasse, die Füße auf dem Tresen, und bearbeitete mit geübten Fingern sein iPhone. Er hatte ein so jungenhaftes Gesicht, dass sie ihn auf unter zwanzig schätzte, auch wenn er offenbar den verwegenen Versuch unternahm, sich einen Bart wachsen zu lassen.

Als er aufsah und sich ihre Blicke begegneten, wurde er rot, nahm die Füße vom Tresen und richtete sich auf dem Kassenstuhl auf.

„Hallo. Kann ich Ihnen helfen?“, begrüßte er sie.

Sie schenkte ihm ihr nettestes Lächeln und antwortete: „Ich habe Probleme mit meinem Wagen und bin ziemlich in Eile. Könnte vielleicht mal jemand einen Blick auf den Motor werfen?“

„Tut mir leid, unser Mechaniker hat heute frei, aber Montag ist er wieder da.“

Ihr sank der Mut. „Gibt es denn noch eine Werkstatt im Ort? Ich muss nämlich so schnell wie möglich weiter“, erklärte sie.

„Nein, wir sind die einzige“, antwortete er nur achselzuckend.

Nachdenklich nagte sie an ihrer Unterlippe. Sie hätte auf der Hauptstraße bleiben sollen. Das hast du ja mal wieder super hingekriegt, Eden. Wieder mal eine deiner wirklich dummen Entscheidungen.

„Also ich bin zwar kein Mechaniker, aber ich versteh ein bisschen was von Motoren. Ich könnte ja mal einen Blick drauf werfen.“

Dankbar sah sie ihn an und sagte: „Wirklich? Das würden Sie machen? Wie nett von Ihnen. Vielleicht ist es ja etwas ganz Harmloses, und ich kann gleich weiterfahren.“

Den Arm fest um Micahs Schultern gelegt, ging sie voraus zu ihrem Wagen, und der junge Mann folgte ihr. Dort angekommen, beschrieb sie ihm die Geräusche – erst den Schlag, dann das schabende Geräusch – und den Gestank. Der Geruch von verbranntem Öl hing immer noch in der Luft, und als der junge Mann die Motorhaube öffnete, stieg noch eine kleine Rauchschwade auf.

Eden schaute ihm nervös zu, wie er den Motor begutachtete. Er ließ den Wagen an, horchte auf das Geräusch des Motors und machte ihn wieder aus. „Ich glaube, es ist ein defekter Zylinder“, sagte er.

„Und was bedeutet das?“

Er sah sie mit Bedauern an und antwortete: „Das würde bedeuten, dass sie einen Austauschmotor brauchen.“

„Einen Austauschmotor! Wie viel würde denn das kosten?“

„Also eigentlich darf ich gar nicht …“

„Nur ungefähr. Bitte. Ich verrat’s auch niemandem“, bettelte sie.

Er seufzte, wurde wieder rot und antwortete dann: „Na ja, normalerweise zwischen tausend und fünfzehnhundert.“

Ihr blieb kurz die Luft weg.

„Aber das kommt ganz auf den Motor an, und ich habe eigentlich auch gar nicht genug Ahnung, um das einzuschätzen. Tut mir leid, dass ich Ihnen nichts Besseres sagen kann.“

„Kann ich denn noch damit fahren? Wenigstens ganz langsam?“, fragte sie.

„Wie weit haben Sie es denn noch?“, erkundigte er sich.

„So vier, fünf Stunden.“

Er schüttelte den Kopf. „Wenn Sie so lange weiterfahren, wird der Schaden noch schlimmer, und der Motor könnte sogar anfangen zu brennen.“

Eden seufzte. Das konnte sie natürlich auf keinen Fall riskieren. Sie würde also warten müssen, bis sich am Montag ein Fachmann den Schaden ansehen und die Kosten für eine Reparatur schätzen konnte, aber das bedeutete zwei Übernachtungen in Summer Harbor.

„Dann sieht es ja ganz so aus, als würden Sie während des Unwetters hier festsitzen“, sagte der junge Mann.

„Was für ein Unwetter denn?“, fragte sie.

„Es soll in den nächsten vierundzwanzig Stunden 15 bis 20 Zentimeter Neuschnee geben. Den ersten Schnee dieses Jahr“, sagte er und konnte dabei seinen Maine-Akzent nicht verbergen. „Dort die Straße hinunter – in der Main Street – gibt es auf der linken Seite ein Hotel. Wenn Sie Hunger haben, gibt es da auch ganz in der Nähe ein gutes Café, das Frumpy Joe’s, und ein Stück weiter noch das Roadhouse. Aber der Weg dorthin lohnt sich, denn es gibt da eine ganz tolle Muschelcremesuppe.“ Dann lächelte er Micah an und fragte: „Magst du Schnee? Es gibt hier in der Gegend ein paar richtig tolle Hügel zum Rodeln. Vielleicht kann man ja in dem Hotel einen Schlitten ausleihen.“

Micah sagte gar nichts, sondern vergrub sein Gesicht in Edens Mantel.

„Kann ich den Wagen hier stehen lassen, bis Sie am Montag die Kosten für die Reparatur schätzen?“, fragte sie.

„Ja sicher, kein Problem. Ich schreibe nur noch schnell Ihren Namen und Ihre Handynummer auf.“

„Äh … also ich komme lieber wieder vorbei. Und vielen Dank noch mal für Ihre Hilfe.“

ZWEI

Beau Callahan nahm den Stapel Post vom Sofa und legte ihn auf den Küchentisch, die Zeitungen packte er zum Altpapier, und dann nahm er Rileys Red-Sox-Sweatshirt und warf es über den Fernsehsessel. Fünf Minuten später war immer noch kaum zu sehen, dass er dabei war aufzuräumen. Wie hatte nur eine solche Unordnung entstehen können?

Die Tür ging auf, und Zac kam herein und mit ihm ein eiskalter Windstoß sowie der Geruch von Chicken Wings. Das dunkle lange Haar von Beaus Bruder war mit Schnee bestäubt. Zac war der mittlere der drei Callahan-Brüder und ein Jahr jünger als Beau, aber größer als der große Bruder, der mit seinen 1,85 Metern auch nicht gerade ein Zwerg war. Beau kannte keinen Mann mit einem so starken Bartwuchs wie Zacs. Offenbar ließ er sich gerade wieder einen Bart wachsen, stellte sein Bruder jetzt fest.

„Tut mir leid, dass ich so spät komme“, sagte Zac, stellte die Tasche ab und zog den Mantel aus.

„Danke, dass du Essen mitbringst“, entgegnete Beau.

„Wo ist denn Riley?“, erkundigte sich Zac.

„Bei Paige auf der Arbeit gab es irgendwelche Probleme, und weil ich noch so viel zu tun habe, fährt er sie wieder in die Stadt.“

Er hatte eigentlich gehofft, dass Paige bei ihrer Familienkonferenz dabei sein würde, denn sie gehörte zwar eigentlich nicht zur Familie, stand ihnen aber doch allen ziemlich nah. Sie war schon seit Jahren Rileys beste Freundin, und seit Kurzem waren Beau und sie ein Paar. Zuerst hatte es sich ein bisschen komisch angefühlt, mit der besten Freundin seines Bruders zusammen zu sein, doch inzwischen war es für Beau ganz normal geworden.

Er holte ein paar Büchsen Cola aus dem Kühlschrank und brachte sie ins Wohnzimmer, wo er sie auf den leeren Couchtisch stellte.

Zac ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und fragte: „Du liebe Güte, was ist denn hier passiert?“

„Du weißt schon, dass Tante Trudy im Krankenhaus ist, oder? Und dass Riley und ich alle Hände voll zu tun haben, um alles für den Weihnachtsbaumverkauf vorzubereiten?“

„Doch, ich weiß, ich weiß. Wir kriegen das schon hin. Deshalb habe ich doch das Treffen einberufen, oder? Weil ihr Hilfe braucht.“

„Wir kommen schon zurecht“, entgegnete Beau.

„Du kümmerst dich ständig um uns. Du bist wieder zurück auf die Farm gezogen, als Papa gestorben ist, und hast wegen der Farm deinen Job gekündigt, also lass uns doch jetzt zur Abwechslung auch mal dir helfen.“

Die Weihnachtsbaumplantage war seit vier Generationen im Familienbesitz.

„Ach, das war doch selbstverständlich“, wiegelte Beau ab und ging noch einmal zurück in die Küche, um einen Stapel Pappteller und eine Rolle Küchenpapier zu holen.

Tatsache war, dass er sich bei all den Alltagssorgen, die die Farm so mit sich brachte, manchmal schon nach seiner Zeit als Hilfssheriff zurücksehnte. Eine geregelte und interessante Arbeit hatte schon etwas für sich. Nicht dass es ihm keinen Spaß machen würde, die Farm zu leiten, aber es bedeutete auch jede Menge Stress und Druck.

Jetzt ließ er sich auf der Wohnzimmercouch nieder und schaltete im Fernsehen den Sportsender ESPN ein, auf dem eine Vorschau auf das morgige Footballspiel der Patriots lief, während Zac die Styroporbehälter mit Chicken Wings auspackte. Er ließ sich zwar nichts anmerken, aber Beau konnte er nichts vormachen. Vor einem Monat hatte Zacs Verlobte nur eine Woche vor der Hochzeit die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen. Zac hatte seitdem nichts mehr von ihr gehört und war völlig fertig deshalb. Tante Trudy sagte immer, die Callahan-Männer würden nur einmal wirklich lieben, aber dann richtig, und Beau hoffte um Zacs willen, dass sie damit unrecht hatte.

„Wie geht es dir eigentlich?“, fragte Beau. „Ich hab dich in letzter Zeit kaum gesehen.“

„Mir geht es eigentlich ganz gut“, antwortete Zac mit düsterer Miene. „Ich wünschte nur, die Leute würden aufhören, mir ständig Fragen zu stellen.“

Zac hatte sich ganz und gar in die Arbeit in seinem Restaurant gestürzt seit Lucy weg war, sodass Beau ihn manchmal tagelang nicht zu Gesicht bekam. Sie hatten alle viel zu tun, und eigentlich hatte keiner von ihnen Zeit für eine Krise, wie sie sich offenbar gerade anbahnte.

Die Haustür ging erneut auf, und Riley kam herein. Mit seinen nicht einmal 1,80m Größe war er der kleinste der drei Brüder. Dafür hatte er die breiten Schultern und muskulösen Arme ihres Vaters geerbt. Er wohnte zusammen mit Beau und Tante Trudy im Farmhaus und half im Winter bei der Arbeit. In den warmen Monaten arbeitete er als Hummerfischer.

„Hallo, Leute“, begrüßte Riley seine Brüder, schnupperte dann kurz und sagte: „Hier riecht es ja köstlich.“ Dann legte er Zac eine Hand auf die Schulter und fragte mit bedauernder Miene: „Und, wie geht’s, Mann? Kommst du einigermaßen klar?“

Mit einem Blick, der besagte: Siehst du, genau das habe ich gemeint, schaute Zac Beau an.

Der warf Riley die Rolle mit Küchenpapier zu und sagte: „Er kann die Frage nicht mehr hören.“

„Na ja, es passiert ja auch schließlich nicht jeden Tag, dass einem die Verlobte …“

Als Zac ihn daraufhin nur wütend anstarrte, hielt er mitten im Satz inne und sagte stattdessen: „Ist ja schon gut … Wie sieht es denn bei den Patriots so aus?“

Und dann befassten sie sich ausgiebig mit den Chicken Wings und der Vorschau auf das Spitzenspiel des kommenden Sonntags. Vor dem großen Panoramafenster fiel der Schnee so dicht, dass man die Weihnachtsbaumplantage draußen nicht sehen konnte, und mittlerweile blieb der Neuschnee auch liegen.

„Ist es schon glatt auf den Straßen?“, fragte Beau.

Riley nickte kauend.

„Ich hoffe, dass Paige nicht zu lange auf der Arbeit zu tun hat“, sagte er dann. Paige leitete eine Tierrettungsstation im Ort. Wenn irgendwo ein Tier in Not war, ließ sie alles stehen und liegen und war zur Stelle.

„Wie ging es denn Tante Trudy heute?“, erkundigte sich Riley.

Beau rieb sich die Hände und drehte den Ton des Fernsehers aus, als ein Werbeblock begann. „Es sieht ganz so aus, als ob sie eine ganze Weile ausfallen wird“, antwortete er.

Tante Trudy war eine Art Ersatzmutter der Callahan-Brüder. Sie war am Vortag auf dem Parkplatz vor dem Wollgeschäft „Die Strickecke“ gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Jetzt hatte sie einen Gipsverband und verbreitete Trübsinn und schlechte Laune.

„Das ist der Grund, weshalb ich dieses Treffen anberaumt habe“, sagte Zac. „Ich weiß, dass ihr alle viel zu tun habt, aber wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie es in nächster Zeit hier auf der Farm laufen soll.“

„Ich habe schon ein paar Teenager zur Aushilfe angeheuert“, erklärte Beau.

„Aber ihr braucht jemanden, der hier den Laden schmeißt, solange Tante Trudy nicht da ist“, entgegnete Zac.

„Wann kommt sie denn wieder nach Hause?“, erkundigte sich Riley.

Ihre Tante arbeitete Teilzeit im Touristenbüro des Ortes, aber sie führte darüber hinaus auch den Haushalt auf der Farm, und durch ihre eigenwillige Art sorgte sie dafür, dass es nie langweilig wurde. Was das anging, hatte sie die drei Brüder noch nie im Stich gelassen.

Beau rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her und sagte: „Der Arzt möchte sie in eine Rehaklinik verlegen, und er ist sicher, dass sie wieder ganz fit wird.“

Riley lachte prustend los und bemerkte: „Ich wette, das findet sie ganz toll.“

„Ja, das Gespräch mit ihr ist wirklich nicht so gut gelaufen, aber sie braucht Rund-um-die-Uhr-Betreuung, und da für uns vor den Feiertagen jetzt die Hauptsaison beginnt, schaffen wir es auf keinen Fall allein.“

„Wie lange muss sie denn in der Rehaklinik bleiben?“, fragte Zac.

„Wenn die Krankenversicherung ihren Aufenthalt dort bezahlt, mehrere Wochen.“

„Was ist denn mit dem Touristenbüro?“, fragte Zac.

Beau zuckte nur mit den Achseln und antwortete: „Wahrscheinlich wird es einfach geschlossen, bis sie wieder auf den Beinen ist. Im Moment ist dort ja sowieso nichts los.“

„Also ich könnte noch etwas Zeit frühmorgens und montags abknapsen“, sagte Zac. „Mir ist schon klar, dass abends und an den Wochenenden immer am meisten los ist, aber das sind auch die Spitzenzeiten im Restaurant.“

Beau hatte das Gefühl, dass es für Zac zurzeit gut war, ständig beschäftigt zu sein, damit er nicht ins Grübeln kam.

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Beau. „Dann habe ich Zeit, mich ums Geschäft zu kümmern und Tante Trudy zu besuchen.“

„Ich kann so oft und so viel aushelfen, wie du mich brauchst“, bot Riley an.

„Aber du wirst auf jeden Fall noch mehr Hilfe brauchen“, bemerkte Zac und hatte damit absolut recht.

Beau brauchte jemanden für den Geschenke-Shop und Leute zum Verpacken und Verladen der Weihnachtsbäume, und zwar so viele, dass sie in Schichten arbeiten konnten.

„Ich habe heute Nachmittag eine Reihe von Bewerbungsgesprächen und hoffe außerdem, dass Paige ein bisschen aushelfen kann“, sagte Beau. „Vielleicht ist es ja auch ganz gut für sie, auf der Farm auszuhelfen, damit sie eine Vorstellung bekommt, wie das Geschäft läuft.“

„Aber Paige hat eine eigene Arbeit, um die sie sich kümmern muss“, bemerkte Riley dazu ziemlich unwirsch, woraufhin Zac ihm nur einen fragenden Blick zuwarf, seine Coladose öffnete und dann Beau fragte: „Ist das denn was Ernstes mit euch beiden?“

„Ja, sieht ganz so aus, aber sie gehört doch sowieso praktisch schon zur Familie.“

Auf diese Frage seines Bruders hin horchte Beau allerdings noch einmal in sich hinein. Es hatte alles ziemlich gut angefangen mit ihnen, aber in letzter Zeit … lief es irgendwie nicht mehr so richtig rund.

Riley stand auf, rieb sich die Hände und sagte: „Ich muss jetzt los.“

„Was?“, fragte Beau. „Du bist doch gerade erst gekommen. Wir haben hier ein Krisentreffen.“

Doch Riley war schon dabei, sich wieder die Jacke anzuziehen, und erklärte: „Ich habe ganz vergessen, dass ich der alten Mrs.Grady versprochen habe, nach ihrem Boiler zu schauen. Es klingt doch ganz so, als ob ihr sowieso schon wisst, wie es laufen soll.“

Als Riley zur Haustür hinausging, kam wieder ein eisiger Windstoß herein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und kurz darauf hörten sie, wie sein Truck angelassen wurde und er davonfuhr.

„Was ist denn mit dem los?“, fragte Beau mit gerunzelter Stirn, als sie den Wagen auf der Auffahrt wegfahren hörten.

„Er ist wahrscheinlich einfach nur müde“, sagte Zac und griff nach einem weiteren Chicken Wing. „Mach dir keine Gedanken. Der kommt schon klar.“

DREI

Eden hievte den Trageriemen des Rucksacks weiter hoch auf ihre Schulter. Der auffrischende Wind blies ihr eiskalt ins Gesicht, und die Kälte drang durch ihre dünne Jacke, sodass sie fror bis auf die Knochen. Ihr war klar, dass es Micah nicht besser erging. Sie waren nicht vorbereitet auf den kalten Winter in Maine – nein, sie waren auf nichts von alldem hier vorbereitet.

Ihr leerer Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Was ihr Auto anging, da konnte sie im Moment absolut nichts tun, aber gegen den Hunger schon. Als sie ein Stück die Straße hinauf ein kleines Esslokal erspähte und ihr der Geruch von gegrillten Burgern in die Nase stieg, atmete sie tief ein und fragte Micah: „Riecht das nicht gut?“

Das Lokal war gut besucht von Mittagsgästen, und Servicepersonal in grünen Schürzen lief herum, füllte Kaffee nach und balancierte Tabletts mit vollen Tellern oder benutztem Geschirr. Alle Nischen waren besetzt, aber am Tresen gab es noch ein paar freie Plätze.

Durch den Pass rief ein Mann Mitte fünfzig fertige Bestellungen aus, während er gleichzeitig Burger-Frikadellen wendete und Pommes in der Fritteuse versenkte. Ein grauer Pferdeschwanz hing ihm unter seiner weißen Papiermütze im Nacken heraus, und auf seiner Nase saß völlig schief eine Nickelbrille. Eden fragte sich, ob das wohl Frumpy Joe war.

Micahs Blick schoss wild in dem Gastraum umher, und er klammerte sich gleichermaßen fest an seinen Teddybären und an ihr Bein. Als eine der Kellnerinnen ihnen zunickte, zog Eden Micah zu einem der leeren Hocker ganz in der Nähe der Tür und schaute sich dann noch einmal gründlich in dem Lokal um. Da waren eine dreiköpfige junge Familie, ein grauhaariger Geschäftsmann, der in der Harbor Tides las, und zwei Frauen mittleren Alters, die laut miteinander lachten. Ein etwas abgerissen und ungepflegt wirkender Mann starrte sie von seinem Platz ein paar Hocker weiter aus neugierig an.

Ein Schauer durchfuhr sie, und sie schaute weg. Es ist niemand, Eden. Nur irgendein gruseliger Typ, aber sie packte die Speisekarte etwas fester.

Sie gab ihre Bestellung auf, und dann gingen sie noch einmal zur Toilette und wuschen sich die Hände, während sie auf ihr Essen warteten. Eden hatte sich genau überlegt, was sie machen würden. Sie würden sich im billigsten Hotel in Summer Harbor ein Zimmer mieten und dann in den nächsten beiden Tagen Schlaf nachholen, so gut es ging. Das war sicher anders geplant gewesen, aber sie war bis hierher wirklich vorsichtig gewesen, sodass es höchstwahrscheinlich sicher war, vorübergehend in dieser Stadt unterzutauchen, die weit ab vom Schuss und von den ausgetretenen Pfaden lag.

Ihr Blick und der des abgerissenen Mannes begegneten sich, und sie schaute rasch weg. Sie war froh, wenn sie hier fertig waren und wieder gehen konnten, denn ihr Bedarf an gruseligen Typen war für ihr Leben lang gedeckt.

Kurze Zeit später aß Eden den letzten Bissen ihres Burgers und schob ihren Teller von sich weg. Micahs dünne Beine baumelten von dem hohen Hocker, und seine Superman-Tennisschuhe reichten nicht einmal bis zu der Sprosse für die Füße. Er brauchte unbedingt ein Paar feste Stiefel – und sie auch.

„Kann ich noch was für Sie tun?“, fragte die Kellnerin und lächelte sie freundlich an. Dabei bildeten sich in ihren Augenwinkeln Unmengen kleiner Fältchen. Ihr rotes Haar war genauso künstlich wie Edens neue blonde Kurzhaarfrisur.

„Nein danke“, antwortete Eden, zog ihre Mütze noch etwas tiefer ins Gesicht und schaute nach unten.

Lass dich nicht auf ein Gespräch ein. Mach dich unsichtbar.

Die Kellnerin riss die Rechnung von ihrem Block ab und legte sie auf den Tresen. Als die Frau durch das Lokal wieder wegging, ließ Eden ihren Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Sie hatte auch zuvor schon geglaubt, sie wären sicher, und war unvorsichtig geworden – und sie hatte ja erlebt, wozu das geführt hatte. Sie hatte immer mehr das Gefühl, dass Sicherheit – Freiheit – eine Illusion war.

Mach einfach weiter.

Sie hatten es doch beinah geschafft.

Micah zog eine lange Pommes durch den Ketchup und steckte sie in den Mund. Er hatte seinen Teller schon fast leer gegessen und dazu noch einen Becher Kakao getrunken. Sie fand es schön, ihn mit solchem Appetit essen zu sehen.

Plötzlich packte er sie am Pulli und krallte sich panisch daran fest. Er sah sie mit großen, schreckensweiten Augen an, und sein Atem ging schnell und stoßweise.

Sie legte ihre Hand auf seine und fragte: „Was ist denn? Was ist los, mein Schatz?“

Aber er wimmerte nur und versuchte, ihr mit Blicken etwas mitzuteilen.

Hatte er jemanden gesehen? Sie bekam Angst und ließ ihren Blick rasch noch einmal durch das ganze Lokal schweifen, aber niemand beachtete sie.

Micah griff sich mit den Händen an die Brust, als hielte er etwas, und seine braunen Augen füllten sich mit Tränen.

„Dein Teddy“, sagte Eden, als ihr langsam dämmerte, was los war, und Micah nickte.

„Er ist bestimmt irgendwo hier“, beruhigte sie ihn, hob den Rucksack vom Boden auf und durchwühlte ihn, aber dort war der Teddy nicht.

„Du hast ihn doch mit hier hereingebracht, erinnerst du dich? Du hattest ihn auf dem Arm. Wir finden ihn bestimmt wieder.“ Sie schaute unter ihren Hockern nach, und dann erinnerte sie sich. „Auf der Toilette. Du hast ihn bestimmt auf der Toilette liegengelassen.“

Sie stieg von ihrem Hocker, zog Micah mit sich und drückte sich um die Ecke zur Damentoilette, die nur ein paar Schritte entfernt war. Dort stieß sie die Schwingtür auf und öffnete die Kabine, in der Micah gewesen war. Und tatsächlich, da saß der blaue Bär mit dem kleinen Strohhut auf dem Toilettenpapierhalter. Mit einem erleichterten Seufzer drehte sie sich um und sagte: „Schau mal, wen ich gefunden habe.“

Micah nahm seinen Teddy, dessen blaues Fell schon ziemlich abgeliebt war, dessen gelber Strohhut am Rand ausfranste und an dessen Weste ein Knopf fehlte, und drückte ihn fest an sich. Dieser Teddy hatte schon so viel gemeinsam mit dem Jungen durchgestanden.

Eden beugte sich vor und wischte Micah die Tränen ab. Seine Wangen waren noch babyweich, und seine dunklen Wimpern waren nass von Tränen. Die hellbraunen Augen hatte er von ihr, aber den dichten schwarzen Haarschopf ganz klar von Antonio.

„Siehst du, er ist gesund und munter. Alles wird gut.“

Alles, Micah. Ich versprech’s dir. Sie drückte ihn fest an sich, stand auf und nahm ihn dann auf den Arm. Er wurde größer und auch schwerer.

Sie verlagerte sein Gewicht auf ihrem Arm, als sie die Toilette verließen und zu ihren Hockern zurückgingen, und freute sich schon auf einen schönen, langen Mittagsschlaf. Micah trank seinen Kakao aus, und sie griff nach dem Rucksack, um zu bezahlen, aber er war nicht mehr da.

Eden drehte sich um und schaute sich in der unmittelbaren Umgebung ihres Platzes um, aber ihre Tasche war nirgends zu sehen.

Mit Micah an der Hand hastete sie noch einmal zurück zur Toilette, obwohl sie eigentlich sicher war, dass sie den Rucksack nicht mit dort hingenommen hatte, aber wo sollte er sonst sein? Sie drückte die Tür zu der Kabine noch einmal auf und bekam langsam Panik. Vielleicht hatte die Kellnerin gedacht, sie wären schon gegangen, und hatte den Rucksack hinter den Tresen gestellt.

Ja, so musste es sein. Natürlich!

Mit weichen Knien hastete sie wieder zurück und glaubte eigentlich selbst nicht so recht an diese Möglichkeit.

„Entschuldigen Sie bitte“, rief sie, als die rothaarige Kellnerin hinter dem Tresen vorbeikam. „Haben Sie vielleicht meinen Rucksack gesehen? Ich hatte ihn hier auf dem Boden abgestellt.“

„Nein, tut mir leid. Sind Sie sicher, dass Sie ihn dabeihatten?“

„Ja, ganz sicher“, antwortete sie.

Das Geld! Edens Herz klopfte jetzt so heftig, dass sie glaubte, man könnte es von außen sehen. Ihr gesamtes Geld war in dem Rucksack. Sie holte einmal tief Luft und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Entschuldigen Sie“, hörte sie da eine Frau in einer Nische rufen. „Suchen Sie einen grauen Rucksack?“

Mit einem Ruck drehte sich Eden zu der Frau um. „Ja. Haben Sie ihn gesehen?“

„Ich habe gesehen, dass ein Mann ihn mitgenommen hat. Der Mann, der da drüben gesessen hat“, sagte sie und zeigte auf einen der Hocker. „Er hat den Rucksack genommen und ist gegangen. Es ist erst ein paar Minuten her. Ich dachte, Sie gehören zusammen.“

Eden rannte nach draußen, Micah dicht hinter ihr, schaute erst links und dann rechts die Straße hinunter, aber der Mann war nirgends mehr zu sehen. Eine junge Frau ging in ein Geschäft neben dem Lokal.

„Entschuldigen Sie bitte“, rief Eden ihr zu. „Haben Sie hier gerade einen Mann entlanggehen sehen? Dunkler Mantel, etwas längeres Haar, ungepflegt?“

„Nein, leider nicht. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Eden holte einmal tief Luft und dann noch einmal, und beim Ausatmen bildeten sich in der Kälte kleine Wölkchen vor ihrem Mund. „Nein, vielen Dank“, antwortete sie mit heftig klopfendem Herzen.

Es war noch gar nicht lange her, da hätte sie dieses Problem ganz einfach mit einem Gang zum Geldautomaten gelöst. Sie hätte lächelnd ihre Karte gezückt und alles kaufen können, was sie wollte.

Aber inzwischen war alles anders. Sie hatte kein Geld und auch keine Karte mehr, sondern nur noch die Kleider, die sie am Leib trugen, und einen kaputten Buick, den sie nicht reparieren lassen konnte, weil sie kein Geld hatte. Panik stieg in ihr auf.

Wie konntest du nur so blöd sein, Eden?

Da bimmelten die Glöckchen über der Eingangstür des Lokals, und die Kellnerin kam heraus, verschränkte gegen die Kälte die Arme vor der Brust und fragte: „Und, irgendeine Spur von ihm?“

Eden schaute sich noch einmal um, ließ ihren Blick den Bürgersteig entlangschweifen und antwortete dann: „Nein, nichts.“

Die Frau legte ihren Arm um Edens Schultern und sagte: „Kommen Sie erst einmal aus der Kälte, und dann rufen wir die Polizei, und die …“

„Nein!“, sagte Eden und machte sich los. „Ich meine … es ist schon gut. Nicht so schlimm.“

„Aber Sie wollen doch den Rucksack wiederhaben, oder? Je eher wir die Polizei rufen, desto besser. Sonst ist der Kerl über alle Berge.“

Die Polizei würde nach ihrem Namen, ihrer Adresse und ihrer Telefonnummer fragen, alles Informationen, die sie nicht preisgeben konnte. Sie durfte niemandem trauen. Ganz besonders nicht der Polizei.

„Ist schon gut. Ich komme schon zurecht“, sagte Eden und zog mit steifen, zittrigen Fingern den Reißverschluss von Zacs Jacke hoch.

„Also gut. Wenn es Ihnen so lieber ist. Aber es macht mir wirklich nichts aus, anzurufen.“

„Vielen Dank, aber wir müssen uns jetzt wieder auf den Weg machen“, sagte Eden, aber plötzlich stockte sie, denn ihr fiel siedendheiß ein, dass sie ja jetzt ihr Essen gar nicht bezahlen konnte.

„Hören Sie … in dem Rucksack war mein gesamtes Bargeld … ich werde die Rechnung bezahlen, sobald ich kann, und ich …“

„Glauben Sie mir, meine Liebe, die paar Dollar machen mich nicht arm. Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken.“ Und mit diesen Worten öffnete sie die Tür, schaute kurz auf Micah hinunter und dann noch einmal Eden an und sagte: „Ich hoffe, Sie bekommen Ihren Rucksack wieder.“ Dann ging sie zurück ins Lokal.

Eden schaute die Straße hinunter, ohne etwas zu sehen. Sie besaß keinen einzigen Cent mehr und nicht einmal einen Platz, um sich aufzuwärmen. Ein Motel kam jetzt natürlich gar nicht mehr infrage. Vielleicht konnten sie ja wieder zu der Autowerkstatt zurücklaufen und dort im Wagen übernachten, auch wenn es schrecklich kalt werden würde. Sie zitterte innerlich, und das Essen lag ihr jetzt schwer im Magen. Sie musste nachdenken.

Sie fasste Micah bei der Hand und ging mit weichen Knien und zittrigen Beinen Richtung Bibliothek. Dort konnten sie sich ein bisschen aufwärmen, während sie sich überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte.

Als sie dort ankamen, fand sie ein stilles Eckchen in der Kinderbuchabteilung. Sie suchte ein paar Bücher für Micah heraus, damit er beschäftigt war, und setzte sich auf den kleinen Kinderstuhl neben ihm.

„Du schaust dir die Bücher an, und Mama denkt ein bisschen nach, okay?“

Sie waren noch etwa fünf Autostunden von Loon Lake entfernt, aber in so entlegenen Gegenden von Maine verkehrten keine Busse, und Taxis gab es auch nicht. Doch das war auch eigentlich egal, denn sie hatte ja ohnehin kein Geld, um die Fahrt zu bezahlen. Blieb also nur per Anhalter, und das konnte sie mit Micah zusammen nicht riskieren, selbst wenn es Autos gab, die in die Richtung fuhren – was sie bezweifelte. Besonders, da auch noch ein Unwetter angesagt war.

Das einzig Wertvolle, was sie noch besessen hatte – der Ring –, war schon verkauft. Sie schaute an sich hinunter auf ihre Designerjeans und den Kaschmirpulli, aber dafür würde sie secondhand nicht viel bekommen, und auch das Auto war nicht viel wert, selbst wenn es repariert war.

Sie würden also eine Weile hierbleiben müssen, eine andere Möglichkeit sah sie nicht. Sie musste sich vorübergehend einen Job suchen, und zwar so schnell wie möglich. Die Weihnachtszeit stand ja vor der Tür, und da würden in den Geschäften sicher Aushilfen gesucht. Wenn sie erklärte, dass ihr Ausweis gestohlen worden sei, dann hatte ja vielleicht jemand Erbarmen mit ihr. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wohin mit Micah, wenn sie arbeitete. Vielleicht gab es ja einen Kindergarten, für den eine Assistentin gesucht wurde.

Aber ob das so kurz vor den Weihnachtsferien realistisch war?

Sie hatten kein Geld für Essen und auch keinen Platz zum Schlafen für diese Nacht, und dann war da ja auch noch der Umstand, dass es jemanden gab, der sie umbringen wollte.

Micah hatte die Bücher inzwischen wieder beiseitegelegt und ließ jetzt den Teddy auf seinem Schoß hopsen. Sie fragte sich, was wohl gerade in seinem Köpfchen vorging, und als sie ihm tief in seine braunen Augen schaute, entdeckte sie darin Sorge.

„Also … eine Planänderung“, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen munteren Ton zu geben. „Es sieht so aus, als müssten wir eine Weile hierbleiben. Ist doch vielleicht sogar ganz nett, ein bisschen am Meer zu bleiben, oder?“

Sie wartete auf eine Reaktion – hoffte darauf –, und er blinzelte auch, aber die Sorge in seinem Blick blieb.

„Ich suche mir einen Job, und dann bleiben wir ein bisschen in dieser netten kleinen Stadt. Was hältst du davon?“

Sie würde mit der Jobsuche in dem kleinen Esslokal beginnen, und wenn sie dort niemanden einstellten, würde sie es in den Geschäften an der Hauptstraße versuchen. Micah würde sie mitnehmen müssen auf Jobsuche, was zwar nicht so schön war für alle Beteiligten, sich aber nun mal nicht ändern ließ. Wenigstens sah sie in der schicken Jeans und dem edlen Pulli einigermaßen vorzeigbar aus.

Und dann gab es da noch ein weiteres entscheidendes Detail, das sie als Erstes angehen musste. Sie rutschte auf dem kleinen Stuhl hin und her und sagte schließlich: „Erinnerst du dich noch an das Spiel, das wir gespielt haben? Dieses Spiel, in dem du Adam heißt und ich Andrea?“

Micah nickte, und seine Augen leuchteten auf.

„Ja, ich weiß, dass du gewonnen hast. Aber nur mit einem Punkt und nur, weil ich einen Moment nicht aufgepasst habe.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Du warst richtig gut in dem Spiel, und ich möchte auch gerne weiterspielen, aber ich finde, wir fangen noch mal von vorne an, ja?“

Er runzelte so heftig die Stirn, dass sich seine Augenbrauen beinah in der Mitte trafen.

Sie wuschelte ihm durchs Haar und lachte leise. „Keine Sorge, du behältst deinen Punkt Vorsprung, aber wir machen es jetzt noch ein bisschen schwieriger, ja? Wir nehmen noch einmal neue Namen, und dieses Mal darfst du dir deinen sogar selbst aussuchen.“

Erwartungsvoll sah sie ihn an. Eines Tages würde sie ihm eine Frage stellen, und er würde antworten. Aber nicht heute, denn er starrte sie nur mit seinem unergründlichen Blick an.

„Wie wäre es denn mit SpongeBob?“, fragte sie mit ernster Miene.

Micah legte die Stirn in noch tiefere Falten und sah verwirrt aus. „Nein? Dann vielleicht Pinoccio?“

„Ach ja, richtig, der hatte ja dieses Problem mit dem Lügen. Und außerdem eine lange Nase, also ganz anders als du.“ Sie zwickte ihm ganz leicht in die Nase und fuhr fort: „Na ja, bleiben immer noch Banana, Ebenezer oder Pooter.“

Jetzt leuchteten seine Augen, und zum ersten Mal, seit sie auf der Flucht waren, sah sie ihn lächeln. Und dann schüttelte er heftig den Kopf.

„Ach, Mensch“, sagte sie und sah ihn jetzt streng an. „Ich hab ja gar nicht gewusst, dass du so wählerisch bist. Dann kann das mit einem neuen Namen ja dauern.“ Sie dachte an die Kinderserie, die er sich immer anschaute, die mit dem klugen, liebenswerten Helden, der immer irgendwie in der Patsche saß oder irgendwelchen Ärger hatte.

„Also all die guten Namen, die ich schon vorgeschlagen habe, willst du ja nicht, aber es gibt doch bestimmt einen. Zum Beispiel, ach, ich weiß auch nicht … Jack?“

Jetzt nickte er begeistert.

„Der gefällt dir also? Na gut, dann heißt du Jack. Jack Bennet“, sagte sie und borgte sich den Nachnamen von ihrer Lieblingsheldin aus einem Roman von Jane Austen aus. Dann wuschelte sie ihm noch einmal durchs Haar und erklärte: „Ich glaube, du gibst einen guten Jack ab. Und weißt du was? Ich wollte schon immer Kate heißen, also heiße ich in dem Spiel jetzt so.“

Dann legte sie ihm den Zeigefinger unters Kinn, hob seinen Kopf ein wenig und sagte: „Aber für dich bin ich immer noch Mama, Mister.“

Ihr Lächeln verflog, als ihr bewusst wurde, dass er sie schon seit Monaten gar nicht mehr angesprochen hatte.

Aber bald. Bald werde ich meinen Jungen wiederhaben.

„Okay, also gehen wir noch mal die drei Regeln durch, nur für den Fall, dass du sie vielleicht vergessen hast: Erstens: Du musst immer sofort reagieren, wenn jemand dich Jack nennt, sonst wird dir ein Punkt abgezogen. Zweitens: Du darfst niemandem deinen richtigen Namen sagen, sonst wird dir ein Punkt abgezogen. Und drittens: Dieses Spiel ist ein Geheimnis nur zwischen dir und Mama, und wenn du irgendjemandem etwas davon sagst, dann hast du das ganze Spiel verloren.“

Lächelnd nickte er.

„Du glaubst, dass du mich schlagen kannst, nicht wahr?“

Sein Lächeln wurde intensiver.

„Na, das werden wir ja sehen, Mr.Jack.“

VIER

Eden zog Micah etwas weiter vom Straßenrand weg, als ein Lastwagen vorbeidonnerte. Zwar boten die Bäume am Straßenrand etwas Schutz vor dem eisigen Wind, aber sie hatte noch nie eine so brutale Kälte erlebt. Sie vermisste zwar sonst absolut nichts von ihrem alten Zuhause, hätte aber alles gegeben für einen warmen, sonnigen Südstaatentag. Ihre Sportschuhe waren schon längst völlig durchweicht, sodass auch ihre Socken nass waren und ihre Füße sich anfühlten wie Eisklumpen.

Bei ihrer letzten Rast hatte sie Micahs Füße kontrolliert, die zum Glück noch trocken gewesen waren. Er war wirklich tapfer gewesen den ganzen Tag über, denn sie hatte so ziemlich in jedem Laden in der Stadt nach Arbeit gefragt – ohne Erfolg.

Wenigstens hatten sie kostenlos zu essen bekommen, denn die winzige Bibliothek feierte die Einweihung einer Erweiterung mit einem Tag der offenen Tür. Der Besuch war wegen des Wetters dürftig gewesen, aber Micah und sie hatten sich gütlich getan an den Snacks und für den Abend sogar noch ein paar Weihnachtsplätzchen eingesteckt. Darauf war sie bestimmt nicht stolz, aber es hatte sein müssen. Micah bekam bestimmt bald wieder Hunger, und sie hoffte, dass die Plätzchen eine Weile reichen würden.

Ein Auto fuhr vorbei und wich ihnen in einem großen Bogen aus. Die Sonne ging langsam unter, und es blieb ihnen jetzt nur noch eine Möglichkeit. In drei verschiedenen Geschäften hatte sie von den Besitzern erfahren, dass auf einer Weihnachtsbaumplantage eine Aushilfe gesucht wurde. Das wäre perfekt, aber die Farm mit der Plantage lag ein paar Kilometer außerhalb der Stadt, sodass sie diese Möglichkeit bis zum Schluss aufgehoben hatte. Sie hatte schon versucht, dort anzurufen, aber es war sofort der Anrufbeantworter angesprungen.

Micah entzog ihr seine Hand, und sie blieb stehen, während er sich den einen Schuh auszog.

„Was ist denn los, Jack?“, fragte sie ihn. Sie musste sich daran gewöhnen, ihn so zu nennen, und er musste sich daran gewöhnen, so zu heißen, deshalb hatte sie ihn heute sehr oft so angesprochen. „Hast du nasse Füße?“

Er schüttelte den Kopf und hielt sich an ihr fest, während er ein Steinchen aus seinem Schuh schüttelte.

„Na, wie ist denn der da hineingekommen?“, fragte sie und befühlte sicherheitshalber noch einmal seine Socke. Besorgt schaute sie dabei in den Wald, in dem es langsam dunkel wurde, während er sich den Schuh wieder anzog.

Sie fragte sich, ob sie ihre Spuren sorgfältig genug verwischt hatte oder ob Langley ihnen schon wieder auf den Fersen war. Sie musste noch einmal an ihre letzten Momente in der Schutzwohnung denken, und schon allein bei dem Gedanken bekam sie Herzrasen. Ihr Körper wurde von innen nach außen ganz kalt, und sie unterdrückte ein Zittern.

Ach, Walter, es tut mir so leid.

Jetzt nahm Micah wieder ihre Hand.

Sie zuckte zusammen und schob die Erinnerung möglichst weit weg von ihrem verletzlichen Sohn.

„Fertig?“

Als sie zehn Minuten später einen Hügel hinaufgegangen waren und um eine Kurve bogen, tauchte ein Schild auf.

„Callahan Weihnachtsbaumplantage“, stand darauf. „So, wir sind da, Mr.Jack. Und jetzt schauen wir mal, ob es hier einen Job für uns gibt.“ Das Schild war alt und rustikal mit leuchtend roten Buchstaben, aber die Beleuchtung war noch nicht eingeschaltet. Sie fragte sich, ob so spät an einem Samstagabend wohl überhaupt noch jemand im Büro war.

Sie bogen in die Auffahrt, und der frische Schnee knirschte unter ihren Füßen. Fichten in den unterschiedlichsten Größen säumten den Weg, und dahinter lag hügeliges, schneebedecktes Land, so weit das Auge reichte.

Kurz darauf gelangten sie zu einem Parkplatz, der noch nicht von Schnee geräumt war. In der Nähe des Parkplatzes stand eine große rote Scheune. Über einem Platz, wo, wie sie annahm, demnächst die bereits geschlagenen Bäume präsentiert werden würden, waren Lichterketten gespannt, die aber ebenfalls noch nicht eingeschaltet waren.

„Sieht so aus, als ob geschlossen ist. Wir versuchen es einfach mal im Haus. Die Frau in dem Laden hat gesagt, es wäre am Ende der Auffahrt.“

Bitte, Gott. Ich weiß, ich habe dich in letzter Zeit um ziemlich viel gebeten, aber ich brauche diesen Job unbedingt.

Doch selbst wenn sie ihn bekäme, würde das noch nichts an ihrer momentanen Notlage ändern. Es würde mit Sicherheit eine Woche dauern, bis sie ihren ersten Lohn bekäme, und wovon sollten sie bis dahin leben? Und wo sollten sie unterkommen?

Hör nicht auf zu glauben, Eden.

Ab und zu hörte Eden in ihrem Kopf Karens Stimme, so als wäre sie noch bei ihr. Diese ganz normalen, unkomplizierten Tage schienen schon so weit weg, so lange her, fast wie aus einer völlig anderen Welt. Karen wäre bestimmt sehr traurig über all die schlechten Entscheidungen, die Eden getroffen hatte.

Und du siehst ja auch selbst, wie weit sie dich gebracht haben!

Micah blieb plötzlich stehen und zeigte nach links. Ein schmaler Weg führte zu einem Schuppen aus Holz, aus dessen Dach ein Rohr ragte. Der Weg dorthin war ebenfalls nicht geräumt, und es waren auch keine Spuren darauf zu sehen.

„Ich glaube nicht, dass es das ist, Jack“, sagte sie.

Sie gingen also weiter die kurvige Auffahrt hinauf, und nachdem sie noch einmal eine kleine Steigung hinaufgegangen waren, sahen sie in der Senke dahinter ein Haus. Es war ein zweigeschossiges Farmhaus mit einer breiten, einladenden Veranda davor. Eden stieß einen leisen Seufzer aus, als sie die Fenster sah, hinter denen behagliches Licht zu sehen war.

Sie warf noch einmal einen Blick auf ihre Uhr, die billige, die sie erworben hatte, nachdem sie ihre Cartier-Uhr verkauft hatte. Es war fast Abendessenszeit – aber wenigstens war jemand zu Hause.

Kurz darauf stapften sie die Verandatreppe hinauf. Sie zog Micah ganz nah an sich heran und rieb seine Arme schnell und fest, um ihn warm zu halten, während sie gleichzeitig versuchte, ihre steifgefrorenen Zehen zu bewegen. „Alles in Ordnung, Jack?“

Er nickte. Seine Wangen waren gerötet, und seine Nase lief.

Sie streckte die behandschuhte Hand zur Klingel aus, aber im selben Moment ging auch schon die Tür auf. Sie trat einen Schritt zurück und zog Micah noch näher an sich heran.

Ein Mann blieb abrupt in der Tür stehen und zog seine dunklen Augenbrauen hoch, als sich ihre Blicke trafen. Er war groß, hatte schwarzes, etwas längeres Haar, und weil er auf der Schwelle stand, wirkte er riesig.

Sein Blick ging nach unten zu Micah, und dann schaute er wieder sie an. „Hallo“, sagte er.

„Hallo“, erwiderte sie. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie sagte: „Ich wollte gerade bei Ihnen klingeln.“

Die Verandabeleuchtung warf Schatten auf sein kantiges Kinn, und das warme Licht betonte sein gutaussehendes Gesicht. Seine Augen waren so dunkelbraun, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Das war vielleicht auch der Grund, weshalb sie gar nicht wieder wegschauen konnte. Das – und vielleicht auch seine Ähnlichkeit mit Keanu Reeves.

„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich wollte gerade nach draußen“, sagte er.

Er musterte ihr Gesicht, und zum ersten Mal seit Monaten fragte sie sich, wie sie wohl aussah. Sie widerstand dem Drang, sich eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, wieder unter die Baseballkappe zu stecken, und hoffte, dass ihr neuer Blondton nicht allzu künstlich wirkte.

„Ich habe von Charlotte aus dem Frumpy Joe’s erfahren, dass Sie Jobs für Aushilfen auf der Weihnachtsbaumplantage zu vergeben haben.“

Seine Mundwinkel gingen nach unten, und er schaute betrübt drein.

„Ach, das tut mir wirklich leid, aber …“

„Ich bin schwere Arbeit gewohnt“, sagte sie schnell. „Ich lerne rasch und könnte sofort anfangen.“ Wie schon am Vortag kamen ihre Worte überhastet heraus und klangen deshalb vermutlich ziemlich verzweifelt, aber sein Blick bewirkte, dass sich Furcht wie eine kalte Hand in ihr Fleisch grub. „Und ich brauche auch nur vorübergehend etwas, sodass es eigentlich perfekt passen würde. Ich bin ziemlich belastbar und stärker, als ich aussehe.“

Sie trat einen Schritt zurück, weil er aus dem Haus kam und die Tür hinter sich zuzog, und mit dem Luftstrom dabei kam aus dem Inneren des Hauses ein unglaublich köstlicher Duft nach draußen, sodass ihr Magen heftig zu knurren begann.

„Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, aber die Stellen, die wir zu vergeben hatten, sind schon alle besetzt“, erklärte er.

„Schade“, sagte sie, und dabei kondensierte ihr Atem, sodass sich vor ihrem Mund ein Wölkchen bildete. Als kein Job, kein Geld, kein Essen und keine Unterkunft.

„Aber lassen Sie mir doch einfach Ihre Kontaktdaten da. Wenn es mit jemandem von den Leuten, die ich eingestellt habe, nicht klappt, rufe ich Sie an. Ein paar von ihnen sind Jugendliche – und Sie wissen ja, wie das ist.“

Nein, das wusste sie eigentlich nicht.

„Außerdem sind es auch nur Teilzeitjobs, und ich bin sicher, dass Sie dafür überqualifiziert sind.“

„Sie würden sich wundern“, sagte sie und stieß ein ironisches Lachen aus in der Hoffnung, dass er nicht merkte, was für einen schweren Schlag er ihr gerade versetzt hatte.

Er schaute auf die Uhr und sagte: „Ich muss jetzt wirklich los. Ich bin schon spät dran.“ Dann schaute er hinüber auf die Seite des Hauses, wo ein alter roter Pickup und ein Ford Explorer nebeneinanderstanden. „Sind Sie zu Fuß den ganzen Weg aus der Stadt hier herausgekommen?“

„Ja“, antwortete sie und versuchte, begeistert zu klingen, so als wäre der flotte Marsch das Highlight ihres Tages gewesen. „Sehr malerisch … sehr waldig. Es ist wunderschön hier.“

Er zog eine Augenbraue hoch und sah noch einmal auf Micah hinunter.

Sie zog ihren Handschuh aus, um ihre Daten aufzuschreiben, und merkte erst da, dass sie ja gar nichts zum Schreiben dabeihatte. „Haben Sie vielleicht einen Stift?“

„Ich kann die Nummer auch gleich in mein Handy eingeben“, sagte er und zeigte ihr sein Handy. „Ich heiße übrigens Beau. Beau Callahan.“

„Kate“, stellte sie sich vor, und wenn sie die Hand, die er ihr gab, ein bisschen zu lange festhielt, dann nur, weil sie so schön warm war. „Und das hier ist Jack“, fügte sie noch hinzu.

„Hallo, Jack“, begrüßte er auch den Jungen.

Und dann nahm Beau sein Handy und sah sie erwartungsvoll an.

Ach du liebe Zeit. Was hatte sie sich denn nur gedacht? Sie hatte doch gar keine Handynummer. Ja, sie hatte nicht einmal eine Adresse. Sie merkte, wie sie rot wurde, und wand sich unter seinem direkten Blick. „Ach – wissen Sie was? Am besten rufen Sie in dem Café an, wenn wieder irgendetwas frei wird. Im Frumpy Joe’s.“ Sie würde dort einfach jeden Tag nachfragen. Vielleicht sogar stündlich. „Hinterlassen Sie die Nachricht dann doch bitte bei Charlotte, ja?“

„Klar, das kann ich machen. Sind Sie mit den Duprees verwandt?“

„Äh …. nein“, antwortete sie rasch.

Er steckte sein Handy wieder in die Tasche, holte seine Autoschlüssel heraus und fragte: „Soll ich Sie wieder mit zurück in die Stadt nehmen? Ich fahre jetzt nämlich dorthin.“

Er war ja anscheinend ganz nett, aber das war Antonio auch gewesen. Und Langley ebenfalls. Sie vertraute seitdem niemandem mehr, und schon gar nicht ihrem eigenen Urteil.

Sie griff nach Micahs Hand, ging zur Verandatreppe und antwortete: „Nein, vielen Dank. Wir kommen schon zurecht.“

Die Stelle zwischen seinen Augenbrauen kräuselte sich, und er sagte in besorgtem Ton: „Aber es wird bald dunkel, und es gefällt mir gar nicht, dass Sie ganz umsonst hergekommen sind.“

„Machen Sie sich darüber bloß keine Gedanken“, entgegnete sie, aber fünf Minuten später fragte sie sich, ob diese Entscheidung richtig gewesen war, denn sie zitterte so heftig, dass ihre Zähne klapperten. Micah hatte angefangen zu quengeln, und sie hatten noch nicht einmal die lange Auffahrt zurück zur Hauptstraße hinter sich. Wie sollten sie es da den ganzen Weg zurück in die Stadt zu ihrem Auto schaffen?

„Ach, mein Kleiner. Mir ist auch so kalt“, sagte sie.

Und hungrig war sie ebenfalls, aber das erwähnte sie lieber nicht, weil er seinen eigenen Hunger vielleicht noch gar nicht bemerkt hatte. Beau hatte recht. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden, und es wurde dunkel. Der Weg zurück in die Stadt war weit, das Café schloss um sechs, und sie bezweifelte, dass es in der Kleinstadt etwas gab, das länger geöffnet hatte. Sie hatte eine kleine Kirche gesehen, aber die war sicher verschlossen, und eine Obdachlosenunterkunft gab es wahrscheinlich auch nicht. Dafür war die Stadt einfach zu klein.

Herr … Gott. Jetzt wünschte sich Eden Martelli schon eine Obdachlosenunterkunft. Wie hatte es nur so weit kommen können?

Wieder wimmerte Micah, und sie beugte sich nach unten, um ihn auf den Arm zu nehmen.

„Na, brauchst du eine Pause, Jack?“

Er legte sein Gesicht an ihren Hals, und sie spürte den Gegensatz zwischen seinen kalten Wangen und dem warmen Atem. Als sie endlich wieder die Hügelkuppe erreicht hatten, taten ihr die Arme und der Rücken weh, ihre Lunge brannte, sie spürte ihre Zehen nicht mehr und blieb keuchend und völlig außer Atem stehen. Sie beugte sich noch einmal nach vorn, um Micah wieder abzusetzen, aber er klammerte sich wimmernd an ihrem Hals fest. Der arme Kleine.

Du kannst dich nicht einmal richtig um deinen Sohn kümmern. Was bist du bloß für eine Mutter?

Doch sie verscheuchte diese Stimme in ihrem Inneren, ging neben Micah in die Hocke und schloss ihn in die Arme. Solange sie nachdachte, konnte sie ihn ebenso gut auch wärmen.

Sie schaute sich in der immer dunkler werdenden Gegend um, so als könnte wie durch Zauberhand plötzlich eine Blockhütte auftauchen. Es war unmöglich, es zu Fuß bis ganz zurück in die Stadt zu schaffen, und Micah musste unbedingt aus der Kälte raus. Auf dem Hinweg waren sie zwar an ein paar Häusern vorbeigekommen, aber sie würde sich hüten, irgendwelchen Fremden zu vertrauen.

Ein Stückchen weiter die Straße entlang fiel ihr dann plötzlich wieder der Schuppen ein, an dem sie vorbeigekommen waren. Er war sehr klein und wahrscheinlich auch verschlossen, aber wenn es sein musste, würde sie eben ein Fenster einschlagen. Sie würde es Beau Callahan irgendwann wieder ersetzen.

FÜNF

Beau beendete das Telefongespräch, während er rückwärts von der Auffahrt vor Paiges Haus auf die Straße fuhr. Ihr gemeinsamer Abend war durch den Anruf vorzeitig beendet worden, was allerdings nicht hieß, dass es zuvor besonders gut gelaufen wäre.

Paige war an diesem Abend nicht gut drauf gewesen wegen des Hundenotfalls, mit dem sie zu tun gehabt hatte, und dann hatte Beau auch noch den Fehler gemacht zu erwähnen, dass auf der Farm ihre Hilfe gebraucht würde. Sie hatte ihm daraufhin ganz klar gesagt, dass sie mit ihrer eigenen Arbeit genug zu tun habe und nicht einspringen könne. Noch schlimmer war es dann mit dem Anruf von Tante Trudy geworden, den er gerade bekommen hatte.

Er gab Gas, während er per Schnellwahl Zacs Nummer wählte.

Beim vierten Läuten ging sein Bruder an sein Handy.

„Ich habe schlechte Nachrichten“, sagte Beau. Im Hintergrund hörte er die Stimmen der Gäste des Roadhouse und einen laufenden Fernseher. „Hast du kurz Zeit?“

„Klar. Was ist denn los?“

„Tante Trudy hat gerade angerufen. Ihre Krankenversicherung zahlt den Aufenthalt in der Rehaklinik nicht.“

„Und was bedeutet das?“, erkundigte sich Zac.

„Das bedeutet, dass wir die Tausende von Dollars hinblättern müssten, die es kosten würde. Sie kommt morgen nach Hause.“

„Und was ist mit ihren Therapien?“

„Die finden jetzt zweimal wöchentlich ambulant statt. Die Kosten werden von der Versicherung übernommen, aber sie braucht jemanden, der sie versorgt und zu den Therapien begleitet.“

„Also da kann ich wirklich nicht helfen“, sagte Zac betrübt.

„Es müsste ja auch jemand sein, der die ganze Zeit bei ihr bleiben kann, Zac“, sagte Beau seufzend.

Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ausgerechnet jetzt, wo jede Hand draußen für den Weihnachtsbaumverkauf gebraucht wurde. Der Zeitpunkt hätte nicht schlechter sein können.

„Riley könnte doch …“, wollte Zac vorschlagen, aber Beau unterbrach ihn und sagte:

„Den brauche ich draußen für den Transport der Bäume und den Verkauf. Er ist die einzige erfahrene Hilfe, die ich habe.“

„Und ich nehme an, dass Paige auch keine Zeit hat, oder?“, erkundigte sich Zac jetzt.

Darauf gab es nur ein dickes, fettes Nein. „Wir müssen jemanden einstellen, und Tante Trudy muss nach unten ziehen. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass sie das Bein nicht belastet und dass sie sich aus der Küche fernhält“, berichtete Beau weiter.

„Oh Gott, sie wird uns in den Wahnsinn treiben“, bemerkte sein Bruder nur.

„Ja, das glaube ich auch“, pflichtete er ihm bei.

„Hast du gesagt morgen?“, fragte Zac noch einmal nach.

„Ja, genau. Kennst du jemanden, der auf der Suche nach einem Betreuerjob ist?“, fragte er, und in dem Moment fiel Beau die Frau wieder ein, die am Spätnachmittag auf seiner Veranda aufgetaucht war und nach einem Job gefragt hatte. Wenn sie gute Referenzen hatte, konnte sie ja vielleicht …

Sie hatte kurzes blondes Haar, hellbraune Augen und ein Engelsgesicht. Das Gesicht eines sehr schüchternen und verzweifelten Engels.

„Ich überlege mir was“, sagte Zac. „Ich rufe dich vor dem Gottesdienst an.“

„Das klingt gut“, saget Beau, beendete das Gespräch und bog schon ein paar Minuten später wieder in seine Einfahrt, in Gedanken immer noch bei der Logistik der nötigen Umzüge innerhalb des Hauses. Es gab auf der Rückseite des Hauses ein Esszimmer für offizielle Anlässe, das eigentlich nie benutzt wurde, mit einem Gästebad. Dorthin würde er Tante Trudy umquartieren. Aber wohin dann mit der Esszimmereinrichtung?

Natürlich – es gab ja noch den Schuppen, in dem der Generator stand, aber sonst nur jede Menge alter Krempel aufbewahrt wurde. Kisten voller alter Bücher und kaputte alte Geräte, die sein Vater nicht entsorgt hatte. Er musste dort einfach Platz schaffen, denn Tante Trudy würde einen Anfall bekommen, wenn er beim Umräumen Möbel verschrammte. Am besten erledigte er die Sache sofort, noch heute Abend.

Er bog also auf den schmalen Weg zu dem Schuppen ab, der noch nicht geräumt war, aber bis jetzt waren auch erst ein paar Zentimeter Schnee gefallen.

Als das Scheinwerferlicht auf die Schneefläche vor ihm fiel, runzelte er erstaunt die Stirn, denn da waren Fußspuren. Die mussten von der Frau mit dem Kind stammen, die vorhin da gewesen waren, aber eigentlich konnte das auch nicht sein, denn es waren nur zwei Füße, deren Größe schwierig zu schätzen war, weil schon wieder neuer Schnee darauf gefallen war.

Und dann sah er im Scheinwerferlicht den Schuppen und eine eingeschlagene Fensterscheibe neben der Tür.

„Was um Himmels willen …“

Er nahm den Gang raus, stieg aus und dachte an den teuren Generator, der dort stand. Wenn der weg war, hatte er ein Problem, denn er hatte kein Geld, einen neuen zu kaufen. Eigentlich war Summer Harbor ein ziemlich sicherer Ort, aber als ehemaliger Hilfssheriff wusste er von jedem einzelnen Zwischenfall. Ganz zu schweigen von dem Mord, den es vor kurzem in Folly Shoals gegeben hatte. Da wurde man schon vorsichtig.