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Friedrich Lenger

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Beschreibung

Der Kapitalismus hat in den letzten 500 Jahren eine Welt hervorgebracht, die ökonomisch hochgradig verflochten ist und zugleich hochgradig asymmetrisch. In seiner brillanten Globalgeschichte des Kapitalismus schildert der renommierte Historiker Friedrich Lenger diese Entwicklungen, die von den Indigenen Amerikas bis zu den bengalischen Seidenwebern niemanden unberührt ließen. Diese Geschichte handelt von wachsendem Wohlstand und krasser Armut, von Unfreiheit und Gewalt und der Gefährdung unseres Planeten, für die wir heute den Preis zahlen. Bestechend luzide und mit stupenden Kenntnissen erzählt Friedrich Lenger in diesem Buch vom globalen Siegeszug des Kapitalismus. Er erklärt seine Dynamik, die immer nur von außen begrenzt wurde, seine Krisen und die Ungleichheiten, die er in den vergangenen 500 Jahren produziert hat. Dazu gehören auch der ungleiche Verbrauch fossiler Ressourcen sowie Umweltzerstörungen, die in den Regionen dieser Welt sehr unterschiedlich zu spüren sind. Und so gleichgültig sich Handels- und Industriekapitalisten gegenüber der Natur erwiesen, so gleichgültig waren sie gegenüber menschlichem Leid. Millionen von Sklaven, die bis tief ins 19. Jahrhundert hinein auf den Plantagen Amerikas arbeiteten, sind nur ein Beispiel für die Vereinbarkeit von unfreier Arbeit und kapitalistischer Wirtschaft. Dieses Buch muss lesen, wer die Welt von heute und die Probleme verstehen will, von deren Lösung unsere Existenz abhängt.

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Friedrich Lenger

DER PREIS DER WELT

Eine Globalgeschichte des Kapitalismus

C.H.Beck

Zum Buch

Der Kapitalismus hat in den letzten 500 Jahren eine Welt hervorgebracht, die ökonomisch hochgradig verflochten ist und zugleich hochgradig asymmetrisch. In seiner brillanten Globalgeschichte des Kapitalismus schildert der renommierte Historiker Friedrich Lenger diese Entwicklungen, die von den Indigenen Amerikas bis zu den bengalischen Seidenwebern niemanden unberührt ließen. Diese Geschichte handelt von wachsendem Wohlstand und krasser Armut, von Unfreiheit und Gewalt und der Gefährdung unseres Planeten, für die wir heute den Preis zahlen.

Bestechend luzide und mit stupenden Kenntnissen erzählt Friedrich Lenger vom globalen Siegeszug des Kapitalismus. Er erklärt seine Dynamik, die immer nur von außen begrenzt wurde, seine Krisen und die Ungleichheiten, die er in den vergangenen 500 Jahren produziert hat. Dazu gehören auch der ungleiche Verbrauch fossiler Ressourcen sowie Umweltzerstörungen, die in den Regionen dieser Welt sehr unterschiedlich zu spüren sind. Und so gleichgültig sich Handels- und Industriekapitalisten gegenüber der Natur erwiesen, so gleichgültig waren sie gegenüber menschlichem Leid. Millionen von Sklaven, die bis tief ins 19. Jahrhundert hinein auf den Plantagen Amerikas arbeiteten, sind nur ein Beispiel für die Vereinbarkeit von unfreier Arbeit und kapitalistischer Wirtschaft. Dieses Buch muss lesen, wer die Welt von heute und die Probleme verstehen will, von deren Lösung unsere Existenz abhängt.

Über den Autor

Friedrich Lenger ist Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Gießen. 2015 wurde er mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Werner Sombart. 1863–1941. Eine Biographie (32012) und Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850 (22014).

Inhalt

Einleitung

I: Handelskapitalismus und europäische Expansion – Vom späten 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert

1. Der Welthandel vor der Entdeckung der Neuen Welt

2. Der portugiesische Kronkapitalismus (16. und frühes 17. Jahrhundert)

3. Kolonien statt Handelsstützpunkte: Spanien und Portugal auf dem amerikanischen Kontinent (16. und erste Hälfte des 17. Jahrhunderts)

4. Aggressive Handelsmacht und first modern economy: Die Niederlande vom späten 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert

5. Der fiscal-military state und die Anfänge des gentlemanly capitalism: England im 17. und frühen 18. Jahrhundert

6. Rück- und Ausblick

II: Handelskapitalismus, Plantagensklaverei und Kolonialismus – Von der Mitte des 17. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

1. Der transatlantische Sklavenhandel

2. Die Zuckerinseln der Karibik als Motor der atlantischen Ökonomie

3. Die nordamerikanischen Festlandskolonien und frühen Vereinigten Staaten

4. Die East India Company und Indien: Etappen der Kolonialisierung

III: Vom Handels- zum Industriekapitalismus – Die Industrielle Revolution in globaler Perspektive

1. Große und kleine Weggabelungen und die Rolle des Überseehandels

2. Die Industrielle Revolution in England

3. Frühe Nachzügler: Kontinentaleuropa und die USA

4. Neu-Europa und ein anderer Westen

5. Asien und Afrika in Zeiten des Freihandelsimperialismus

IV: Zweite Industrielle Revolution und Globalisierung im Zeichen des Imperialismus – Ca. 1870–1930

1. Der Siegeszug des modernen Großunternehmens und die zweite Industrielle Revolution

2. Imperialistische Metropolen und ihre Rohstofflieferanten an der Peripherie: Die Anglo-World und Lateinamerika

3. Imperialistische Metropolen und ihre Rohstofflieferanten an der Peripherie: Afrika und Asien

V: Planung und Entwicklung: Kapitalismus in Krise, Zweitem Weltkrieg und Kaltem Krieg – Von der Weltwirtschaftskrise bis in die frühen 1970er Jahre

1. Gescheiterte Restauration und umstrittene Neukonstruktion einer weltwirtschaftlichen Ordnung

2. Wege aus der Weltwirtschaftskrise und in den Zweiten Weltkrieg

3. Ein amerikanisches Vierteljahrhundert in den westlichen Industriestaaten?

4. Industrialisierungswege und Entwicklungskonzepte, abhängige Entwicklung und Neokolonialismus in Asien, Lateinamerika und Afrika

VI: Neue globale Wertschöpfungsketten, Expansion des Welthandels und Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus – Von den 1970er Jahren bis zur Gegenwart

1. Die neoliberale Ordnung und die spektakuläre Erweiterung der kapitalistischen Weltwirtschaft

2. Industriekapitalismus im Zeichen neuer Wertschöpfungsketten

3. Expansion des Welthandels und Neuorganisation der Absatzwege

4. Finanzmarktkapitalismus: Strukturmerkmale und Krisenhaftigkeit

Schluss

Anhang

Dank

Anmerkungen

Einleitung

I. Handelskapitalismus und europäische Expansion

II. Handelskapitalismus, Plantagensklaverei und Kolonialismus

III. Vom Handels- zum Industriekapitalismus

IV. Zweite Industrielle Revolution und Globalisierung im Zeichen des Imperialismus

V. Planung und Entwicklung: Kapitalismus in Krise, Zweitem Weltkrieg und Kaltem Krieg

VI. Neue globale Wertschöpfungsketten, Expansion des Welthandels und Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus

Schluss

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Personen- und Firmenregister

Ortsregister

Paulas allerneuestes Buch

Einleitung

Wie keine Generation vor uns leben wir heute in Einer Welt. Die Corona-Pandemie hat zwar die Beschleunigung der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung gestoppt, die seit fast einem halben Jahrhundert zu beobachten ist. Doch sind einstweilen die Strukturen internationaler Arbeitsteilung, die dieser Verflechtung zugrunde liegen, nicht transformiert worden, sondern lediglich hier und da gestört. Während die Rede von der Einen Welt im Zuge endloser Globalisierungsdiskussionen zur Binsenwahrheit geworden ist, bleibt das Bewusstsein davon, dass wir auch von dieser Einen Welt leben, weniger ausgeprägt. Stephan Lessenich hat diesbezüglich von «gesellschaftliche(n) Naturverhältnisse(n)» gesprochen, die «funktional absolut unverzichtbar, ökologisch jedoch vollkommen unhaltbar sind».[1] Mit Blick darauf steht uns am ehesten der Klimawandel vor Augen, der bedrohlichste Aspekt des Anthropozäns, jenes erdgeschichtlichen Zeitalters also, das ganz wesentlich von menschlichem Handeln und hier vor allem von der Nutzung fossiler Brennstoffe geprägt ist.[2] Die Anfänge dieses Zeitalters sind umstritten, werden aber von denen besonders früh datiert, welche die Gefährdungen unserer Biosphäre lediglich als Epiphänomen einer spezifisch kapitalistischen Form der Aneignung der Natur seit dem späten 15. Jahrhundert verstehen.[3] Jenseits aller Datierungsfragen geht es hier um den Preis, den nachfolgende Generationen dafür werden zahlen müssen, dass unsere kapitalistisch verfasste Gesellschaft seit Jahrhunderten so tut, als ob Naturressourcen keinen Preis hätten.

Konkret ist das Leben in Einer Welt in vielfältiger Weise mit dem Leben von dieser Einen Welt verschränkt. Wenn z.B. die Küsten Bangladeschs oder vieler indonesischer Inseln in besonders hohem Maße vom Anstieg der Meerespegel betroffen sind, dann ist das nicht allein eine gleichsam äußere Folge der Erderwärmung. Zusätzlich spielt eine wichtige Rolle, dass dort die Mangrovenwälder, die Fluten und Überschwemmungen bremsen könnten, immer mehr verloren gehen. Grund sind die Aquakulturen, in denen 2014 4,5 Millionen Tonnen Garnelen produziert wurden, mehr als das 200-fache der Produktion von 1975. Die Nachfrage vor allem europäischer Konsumenten treibt dieses milliardenschwere Geschäft an, dessen ökologische Kosten fernab vom Konsum getragen werden.[4] Die Verschränkung zwischen der fortgeschrittenen ökonomischen Verflechtung der Welt und einer zur planetaren Bedrohung werdenden Naturvernutzung geht also mit globalen Asymmetrien einher, die von Kapitalinteressen hervorgetrieben werden.

Letztlich zeigte auch die Corona-Pandemie diesen Zusammenhang auf. Denn das Virus war ja seinerseits das Produkt eines gesellschaftlichen Naturverhältnisses, dessentwegen Virologen seine Entstehung erwartet hatten, und zwar in «der Region eines Zusammenspiels zwischen Wildnis, Landwirtschaft und städtischer Bevölkerung, die sich über Ostasien erstreckt».[5] Die rasche globale Ausbreitung des Virus konnte angesichts der vielfältigen Verflechtungen zwischen den Weltregionen nicht überraschen, doch bedeutete Allgegenwart keineswegs gleiche Betroffenheit. Schließlich traf die Pandemie schon innerhalb einzelner Gesellschaften verschiedene Gruppen höchst unterschiedlich: Während die Aktionäre von Versandunternehmen profitierten, waren für Zusteller die Möglichkeiten der Kontaktreduzierung sehr begrenzt, und für ins Home Office geschickte Schreibtischarbeiter*innen war die Lebensqualität in hohem Maße vom zur Verfügung stehenden Wohnraum abhängig. Vielleicht noch deutlicher traten zwischen den Nationalstaaten Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der Gesundheitssysteme scharf hervor und prägten die ohnehin ganz verschiedenen Bewältigungsstrategien. Nicht zuletzt gab es eklatante Differenzen bei der Versorgung mit den überraschend schnell entwickelten Impfstoffen, deren Entwickler in Deutschland, England oder den USA nicht auf die einträglichen Lizenzgebühren für ihre Patente verzichten wollten, auch wenn sie dafür etwa von indischer oder südafrikanischer Seite scharf kritisiert wurden. Angesichts der in der Corona-Pandemie nur besonders deutlich gewordenen Verschränkung zwischen der Welt als eng verflochtenem Wirtschafts- und Lebensraum und der Welt als rücksichtslos ausgebeuteter Natur überrascht es nicht, dass Thomas Piketty unlängst eine Art Weltregierung zur Lösung der dringendsten Probleme gefordert hat. Konkret dachte er an «transnationale(.) Versammlungen, denen idealiter die globalen öffentlichen Güter wie eine gemeinsame Politik der Steuer- und Umweltgerechtigkeit anvertraut wären».[6]

Wer auf eine solche, zunächst einmal utopisch anmutende Lösung hofft, muss indessen in Rechnung stellen, dass die nicht selten gewaltsam geschaffenen globalen Asymmetrien bislang recht rigoros verteidigt worden sind, zuerst durch die offene Gewalt von Kolonialstaaten (und den ihnen vorarbeitenden Handelskompanien), dann auch mit dem etwas sanfteren Druck des Freihandelsimperialismus, der gleichwohl nicht immer ohne Militär- und Geheimdienstaktionen auskommt, und schließlich mit Hilfe internationaler Organisationen wie Weltbank und IWF, deren Leitungsgremien selbst die globalen Asymmetrien spiegeln und so deren Perpetuierung wahrscheinlich machen. Wie die Dynamik des Kapitalismus asymmetrische Verhältnisse in der Welt hervorgetrieben hat, ist die Leitfrage des vorliegenden Buches. Sie ist auch deshalb wichtig, weil die meisten aktuellen Deutungsangebote recht kurzatmig jüngere Entwicklungen wie Digitalisierung oder Finanzialisierung ins Zentrum der Betrachtung rücken, die trotz ihrer unzweifelhaften Bedeutung für ein vertieftes Verständnis unserer kapitalistischen Gegenwart kaum ausreichen.

Diesen Deutungen eine zeitlich weit zurückreichende Analyse entgegenzustellen, ist jedoch ein schwieriges, von zahlreichen Fallstricken begleitetes Unternehmen. Auf der einen Seite stößt es auf die Skepsis von Wirtschaftshistorikern, die wie der Doyen einer globalen Wirtschaftsgeschichtsschreibung Patrick O’Brien «rigoros spezifizierte Modelle und quantitative Evidenz» zum Bewertungsmaßstab erklären und deshalb Großerzählungen allenfalls rhetorische Überzeugungskraft zutrauen.[7] Auf der anderen Seite muss dieses Unterfangen die Mahnungen eines historischen Soziologen wie Wolfgang Knöbl ernstnehmen, wie reflektiert «Ereignisse erzählerisch zu verketten» sind, um als einigermaßen angemessene Prozessanalysen gelten zu können.[8] Und schließlich seien auch die Überlegungen von Historiker*innen aufgegriffen, die wie der viel zu früh verstorbene Thomas Welskopp eine «Rekonzeptualisierung des Kapitalismus aus der Akteursperspektive» vorschlagen, also den Kapitalismus «als Ensemble und immer wieder aufs Neue erzeugte(n) Effekt spezifischer, aufeinander bezogener sozialer Praktiken» zu beschreiben suchen.[9] Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist indessen nicht recht erkennbar, wie ein solcher Ansatz eine sich über mehr als fünf Jahrhunderte erstreckende Globalgeschichte fundieren und dabei der Beobachtung William Sewells Rechnung tragen kann, dass dem Kapitalismus «eine langfristige zeitliche Dynamik mit starker Direktionalität» zu eigen ist.[10]

Die Schwierigkeiten beginnen mit dem Kapitalismusbegriff selbst. Mehr als einmal ist gezeigt worden, dass seine Entstehung im 19. Jahrhundert nur aus dem Geist der Kapitalismuskritik zu verstehen ist. Gleichwohl ist ein Festhalten an dem Begriff unbedingt sinnvoll, weil er eher als andere – Wachstum, Entwicklung, Industrialisierung – geeignet ist, die angesprochenen asymmetrischen Verhältnisse zu fassen. Nun bezeichnen die genannten Alternativbegriffe zugleich distinkte, wenngleich in der Regel mit dem Kapitalismus in Verbindung gebrachte Phänomene. Gemeinsam ist ihnen aber auch, dass sie unterstellen, dass Nationalstaaten die gleichsam gottgegebenen Untersuchungseinheiten bilden, und diese Annahme in der oft sehr auf das Bruttoinlandsprodukt fixierten Methodologie zugleich fest verankern. Das hat zunächst eine entwicklungspolitische Implikation, die von Angus Deaton, Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften, vermutlich nicht einmal zynisch gemeint ist: «Zweifellos sollte geschehen, was in der mittlerweile reichen Welt geschah, wo sich die Länder auf ihre eigene Art, in ihrem eigenen Rhythmus und entsprechend ihren eigenen politischen und wirtschaftlichen Strukturen entwickelt haben.»[11] Die globale Wirtschaftsgeschichte dergestalt als Wettlauf von Nationen zu verstehen, die auf ihre je eigene Art und Weise ans Ziel gelangen werden, blendet aber nicht nur die Folgen kolonialer Abhängigkeit aus, sondern ignoriert auch die anderen, gleichfalls oft asymmetrischen Formen wirtschaftlicher Verflechtung. Überdies vernachlässigt eine solche Herangehensweise, dass der Nationalstaat seinen Siegeszug in weiten Teilen der Welt erst im 20. Jahrhundert angetreten hat. Sie projiziert also Entwicklungen auf politische Einheiten zurück, die in dieser Form gar nicht existiert haben.

Das heißt nun nicht, dass der Rückgriff auf den Kapitalismusbegriff allein schon die angesprochenen Probleme löst. Allzu eng ist die Geschichte des Kapitalismus mit Großtheorien und Meistererzählungen über die Moderne und so über die Besonderheit des Westens verknüpft, die als überholt gelten müssen. Schon Adam Smith war überzeugt: «Die Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien um das Kap der Guten Hoffnung sind die beiden größten und bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit.»[12] Und ähnlich umstandslos eurozentrische Perspektiven findet man bis ins frühe 21. Jahrhundert. Richard Lachmann etwa hat vor einigen Jahren in den Eingangssätzen zu einer einschlägigen Studie konzise formuliert: «Etwas geschah in Westeuropa in der Zeit vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Die Begründer der Soziologie glaubten, die Aufgabe ihrer Disziplin wäre es, dieses etwas zu definieren und zu erklären, warum, wann und wo es geschah.»[13] Der amerikanische Soziologe nahm die erhellende Beobachtung indessen nicht zum Anlass einer kritischen Reflexion über den Eurozentrismus (der kein Privileg der Soziologie ist). Ohne eine Auseinandersetzung mit eurozentrischen Verzerrungen, die möglicherweise schon in den Fragestellungen verankert sind, wird man die globale Dynamik des Kapitalismus aber ebenso wenig angemessen erfassen können wie ohne eine Beschäftigung mit den wichtigsten Definitionen des Kapitalismus und ihren Implikationen für den zeitlichen und räumlichen Rahmen der Untersuchung.

Marx benutzt den Begriff «Kapitalismus» so gut wie nie, spricht dafür aber umso häufiger vom «Kapital» im Sinne von Kapitalverhältnis oder – enger gefasst – der kapitalistischen Produktionsweise. Für diese ist das Spannungsverhältnis zwischen freien Lohnarbeitern auf der einen und den kapitalistischen Besitzern der Produktionsmittel auf der anderen Seite konstitutiv. Ohne dieses Verhältnis scheint Marx weder die stete Steigerung der Produktivkräfte noch die fortgesetzte Akkumulation von Kapital denkbar. Letztere resultierte für ihn bekanntlich aus der Produktion von Mehrwert, ein Konzept, das Gareth Stedman Jones in seiner Marx-Biographie von 2016 uncharmant, aber zutreffend als «ein Stück unhaltbarer Spekulation» bezeichnet hat.[14] Lässt man deshalb die daran anknüpfende Analyse der Bewegungsgesetze des Kapitalismus beiseite, bleibt dennoch eine Spannung zwischen der Beschreibung seiner zentralen Strukturelemente und der Behandlung von deren Genese. Empirischer Bezugspunkt der Ersteren ist vor allem der englische Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts, dessen Entstehung Marx ja aus nächster Nähe zu beobachten vermochte. Die Genese weist dagegen zeitlich weiter zurück. Denn die Voraussetzungen für die «Exploitation fremder, aber formell freier Arbeit», wie es im berühmten 24. Kapitel des ersten Bandes des Kapitals heißt, werden nach Marx schon im späten 15. und im 16. Jahrhundert durch die inclosures (Einhegungen) und die Aufteilung des Gemeindelandes geschaffen.[15]

Nun wird man zugestehen müssen, dass im Prozess einer Genese die Elemente des Entstehenden noch nicht voll ausgebildet sein können. Der Rückgriff auf den Agrarkapitalismus im England des 16. Jahrhunderts muss von daher der theoretischen Erschließung des Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts nicht notwendig im Wege stehen.[16] Und doch ist auch der theoretische Rahmen selbst nicht frei von Widersprüchen. So heißt es schon im vierten Kapitel mit Blick auf die berühmte Formel G – W – G (bzw. G’), also die Transformation von Geld in Ware und dann wieder in (mehr) Geld: «Geld, das in seiner Bewegung diese letztre Zirkulation beschreibt, verwandelt sich in Kapital, wird Kapital und ist schon seiner Bestimmung nach Kapital.»[17] Dazu passt die vorhergegangene historische Beobachtung: «Welthandel und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals», nicht aber die vielzitierte Formel aus dem dritten Band: «Aber im Zirkulationsprozeß wird kein Wert produziert, also auch kein Mehrwert.»[18]

Nun geht es nicht um die theoretische Konsistenz der Marx’schen Konzeption. Aber es scheint doch offensichtlich, dass mit der überfälligen Aufgabe der Mehrwerttheorie auch die Lohnarbeit ihre unabdingbare Zentralstellung verliert. Gleichzeitig wird die schroffe Kontrastierung von Zirkulation und Produktion, von Handels- bzw. Finanzkapitalismus auf der einen und Industriekapitalismus auf der anderen Seite ein Stück weit eingeebnet. Und beides ist zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts unbedingt zu begrüßen. Denn zum einen haben mehr als zwei Jahrzehnte intensiver globalhistorischer Forschung überdeutlich gemacht, dass kapitalistische Unternehmungen auch mit unfreier Arbeit sehr wohl Profite erwirtschaften können. Und zum andern lassen sich die hinsichtlich ihres Börsenwerts größten Unternehmen unserer Tage zumeist schlecht als industriekapitalistisch begreifen. «Der Kapitalismus existierte schon vor der Industrialisierung», hat R. Bin Wong nüchtern festgehalten, und, so kann man hinzufügen, er wird auch nach der Hochzeit des klassischen Industriekapitalismus fortbestehen.[19] Was Not tut, ist also gleichsam eine Historisierung des Industriekapitalismus, die anderen Kapitalismen – allen voran dem Handels- und Finanzkapitalismus – ihr Recht gibt, ohne eine Abfolge zwischen ihnen zu postulieren. Denn zum einen war der Handelskapitalismus kein Frühphänomen, das an der Wende zum 20. Jahrhundert praktisch verschwunden gewesen wäre.[20] Und zum andern stellt der Finanzmarktkapitalismus des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts weder eine bloße Wiederkehr frühneuzeitlicher Muster noch eine völlige Neuschöpfung dar.

In veränderter Form kehrt die bei Marx latente Spannung zwischen frühneuzeitlicher Genese und am 19. Jahrhundert orientierter Strukturanalyse in der Sombart’schen Unterscheidung zwischen Früh- und Hochkapitalismus wieder und ganz allgemein in der Rede vom Modernen Kapitalismus, die ja nur in Abgrenzung zu anderen, vormodernen Formen sinnvoll ist. Das ist auch die Vorgehensweise Max Webers. Zunächst einmal unterscheidet er den Kapitalismus gegen Lujo Brentano und andere von schrankenloser Erwerbsgier und setzt ihn stattdessen gleich «mit dem Streben nach Gewinn im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn, nach ‹Rentabilität›.» Die Rationalität dieses Betriebs macht er vor allem an der Kapitalrechnung, an der Bilanzierung fest und definiert einen kapitalistischen Wirtschaftsakt als einen solchen, «der auf Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tausch-Chancen ruht: auf (formell) friedlichen Erwerbschancen also».[21]

Kapitalismus in diesem Sinne hat es für ihn seit weit zurückreichenden Zeiten und überall gegeben. «Aber der Okzident», so führt er die für ihn entscheidende Differenz ein, «kennt in der Neuzeit daneben eine ganz andere und nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit.»[22] Und Letztere ist für Weber anders als für Marx nicht deshalb zentral, weil nur die freie Lohnarbeit Mehrwert zu produzieren vermag, sondern weil eine «exakte Kalkulation – die Grundlage alles andern, – (…) eben nur auf dem Boden freier Arbeit möglich» ist.[23] Die mit der exakten Kalkulation ins Zentrum gerückte Berechenbarkeit bindet den modernen Kapitalismus zum einen an andere Dimensionen des okzidentalen Rationalismus wie «die technische Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse» und «die rationale Struktur des Rechts und der Verwaltung». Zum andern erlaubt diese Berechenbarkeit die kategoriale Abgrenzung des modernen vom politischen Kapitalismus, den Weber auch als Abenteurer-Kapitalismus fasst.[24] Letzterer ragt für ihn in die Geschichte des modernen Kapitalismus nur da hinein, wo die politisch motivierte Kriegsfinanzierung die Entstehung rational operierender Bankenbetriebe befördert.

Webers Thesen zur Bedeutung der protestantischen Ethik für die Psychogenese des Kapitalismus bedürfen so wenig einer abermaligen Widerlegung wie Marxens Mehrwerttheorie. Entsprechende Zweifel ziehen Webers allgemeinere Überlegungen zu einem spezifisch okzidentalen Rationalismus auf sich. Eigentumsrechte waren keineswegs ein Privileg des Westens. Dagegen scheint sein Ansatz bei den Gewinnerwartungen, die mit der Ausnutzung von Tauschchancen verbunden sind, für eine Definition des Kapitalismus geeigneter als die Marx’sche Konzentration auf die Produktion. Webers Abwertung des politischen Kapitalismus allerdings ist durch die neuere globalhistorische Forschung stark in Frage gestellt worden. Denn heute sieht man, dass «das Bündnis des Staates mit kapitalistischen Interessen», von dem Weber mit Blick auf das merkantilistische England spricht, durch die kolonialistische Expansion und die auf Sklavenarbeit aufruhende Plantagenökonomie eng mit der Entstehung des westeuropäischen Industriekapitalismus verflochten ist.[25] Eine allzu strikte Entgegensetzung erscheint also ebenso fragwürdig wie die Überhöhung der freien Lohnarbeit zum konstitutiven Element eines Modernen Kapitalismus.

Nochmals etwas andere Akzente setzt schließlich Joseph Schumpeter, der hier als dritter und letzter «Klassiker» angesprochen werden soll. Seine Kapitalismusdefinition umfasst «erstens, Privateigentum an nichtpersönlichen Produktionsmitteln (…), zweitens, Produktion für private Rechnung» sowie – leicht abgesetzt – «drittens, die Institution des Bankkredits».[26] «Diesen Kredit bereitzustellen», so hatte er schon in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung argumentiert, «ist offenbar die Funktion jener Kategorie von Wirtschaftssubjekten, die man ‹Kapitalisten› nennt. Ebenso offenbar ist das die der ‹kapitalistischen› Wirtschaftsform eigene Methode – und wichtig genug, um als ihre differentia specifica zu dienen – die Volkswirtschaft in neue Bahnen zu zwingen, ihre Mittel neuen Zielen dienstbar zu machen.»[27] Mit anderen Worten: Kredit finanziert unternehmerische Innovation und befördert so den evolutionären Prozess der kreativen Zerstörung.[28] Diesen Prozess verortet Schumpeter zwar wie Marx und Weber primär in der Produktionssphäre, ist dabei aber insofern offener, als er Prozesse der Markterschließung etc. mit einbezieht. Und er grenzt auch die frühneuzeitlichen Praktiken, «‹mit dem Schwert in der Hand Geschäfte (zu) betreiben›», nicht aus.[29] Schumpeters Betonung des Kredits hat eine doppelte Funktion: Zum einen vermag sie, die ihm sehr wichtige Trennung der Unternehmerfunktion vom Kapitalbesitz zu verankern. Zum andern findet mit ihr eine spezifisch kapitalistische Temporalität Eingang in die Theorie, die Jens Beckert unlängst im Rückgriff auf Frank H. Knights Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit als imaginierte Zukunft auf den Begriff gebracht hat.[30] Dieser Vorgriff auf eine notwendigerweise ungewisse Zukunft ist zwar auch in Webers Rede von den Gewinnerwartungen oder in Sombarts Bild der «Projektenmacher» und «Projektanten» bereits präsent, scheint aber für das Verständnis der Entwicklungen der jüngsten Zeit wichtiger denn je.[31]

Was lässt sich nun aus diesem Blick auf die wichtigsten Klassiker für eine Arbeitsdefinition des Kapitalismus gewinnen? Sinnvoll scheint es zunächst, als Grundvoraussetzungen kapitalistischen Wirtschaftens lediglich die Existenz von Eigentumsrechten, von Warenmärkten und von Kapital zu postulieren, und dann mit Weber die «Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tausch-Chancen» in den Mittelpunkt zu rücken, ohne seine Einschränkung auf formell friedliche Erwerbschancen zu übernehmen. In diesem Punkt sind Marx und Schumpeter historisch realitätsnäher. Dabei kann zunächst offen bleiben, ob der Einsatz von Gewalt – wie von Marx angenommen – allein den blutigen Geburtswehen des Kapitalismus zuzurechnen ist oder ob es sich um ein Strukturmerkmal handelt, das zumindest an der Peripherie präsent bleibt bzw. periodisch wiederkehrt.[32]

Sodann ist es ratsam, auf die von Weber vorgenommene scharfe Abgrenzung eines spezifisch modernen Kapitalismus zu verzichten. Denn zum einen lässt sich dessen Rationalität nicht als westliches Spezifikum erweisen, und zum andern ist sie auch nicht an der freien Lohnarbeit als Basis von Rentabilitätskalkulationen festzumachen. Die mit Sklaven betriebenen Zuckerplantagen der Karibik waren im 18. Jahrhundert oft extrem profitabel, und sie waren es unter anderem, weil ihre Besitzer ihre Rentabilität durch eine immer effizientere Ausgestaltung der Arbeitsteilung und durch beständige Erhöhung der Arbeitsproduktivität systematisch zu steigern suchten. Da führt die Rede von einem vorrationalen Beutekapitalismus in die Irre. Stattdessen handelt es sich bei der Entwicklung des Kapitalismus um einen graduellen Prozess, innerhalb dessen Praktiken der Kapitalmobilisierung und Risikoabsicherung sowie der Herausbildung der Unternehmung als selbständigem Akteur besondere Bedeutung zukommt.

So lassen sich auch einige eingeführte, aber stets problematische binäre Unterscheidungen umgehen, etwa die Marx’sche zwischen gebrauchswertzentrierter einfacher Warenproduktion und tauschwertfixiertem Kapitalismus, die Sombart’sche zwischen auf bloßes Auskommen ausgerichteter Handwerkswirtschaft und dem unablässigen Profitstreben des modernen Kapitalismus und nicht zuletzt die von Fernand Braudel in den Mittelpunkt gerückte Entgegensetzung von einem Markt, der durch gerechten Tausch und Transparenz gekennzeichnet ist, und einem Kapitalismus, der durch ungleichen Tausch und Ausnutzung gewaltbasierter Monopolstellungen charakterisiert ist.[33]

In diesem als gradueller Prozess begriffenen Formwandel des Kapitalismus bedeutet die von Adam Smith gefeierte «Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien um das Kap der Guten Hoffnung» nicht die eine konstitutive Zäsur. Zwar revolutionierten die bald aktienbasierten Unternehmungen wie die niederländischen und englischen Ostindienkompanien die Praktiken des Gewalteinsatzes wie auch der Kapitalmobilisierung. Doch kommt ihnen deshalb nicht per se schon größeres Gewicht zu als den institutionellen Innovationen der hoch- und spätmittelalterlichen Handelsrepubliken Oberitaliens. Wenn die Rede von einer «via italiana zum Kapitalismus» gleichwohl in die Irre führt, dann, weil die dort erprobten Geschäftspraktiken in den Hafenstädten des Indischen Ozeans schon lange verbreitet waren.[34]

Letztlich lässt sich für einen Einschnitt um 1500 weniger institutionen- als vielmehr globalisierungsgeschichtlich argumentieren. Die Globalisierungsgeschichte hat zwar längst ihren frühen Fokus auf weltwirtschaftliche Verflechtungen hinter sich gelassen und interessiert sich heute für eine Vielzahl von Globalisierungen. Auch bezieht sie Deglobalisierungen nicht erst seit der Corona-Pandemie mit ein, die einen ganz unmittelbaren Anstoß geliefert hat, verstärkt über Gegenbewegungen nachzudenken.[35] Dennoch bleibt die Frage nach der keineswegs linear verlaufenden Entwicklung globaler Wirtschaftsbeziehungen wichtig. Allerdings liegt diesbezüglich eine Zäsur am Ende des 15. Jahrhunderts für die einen viel zu früh, für andere zu spät.

Von Globalisierung wollen viele erst sprechen, wenn sich für die wichtigsten Warenmärkte eine weltumspannende Preiskonvergenz nachweisen lässt, und eine solche findet sich für Europa und Asien erst seit den 1820er Jahren.[36] Warum aber sollen Handelsverflechtungen nicht als global begriffen werden, wenn oft gewaltsam durchgesetzte Monopole unterschiedlicher Effektivität und Beständigkeit die Preisbildung beeinflussen? Sicherlich blieb das Ausmaß weltwirtschaftlicher Verflechtung während der Frühen Neuzeit weit hinter dem im 19. Jahrhundert erreichten Maß zurück. Dennoch ist offensichtlich, dass bereits in dieser frühen Phase Strukturen einer Arbeitsteilung ausgeprägt wurden, die Teile der Welt miteinander verband. Diese Strukturen müssen unbeschadet der Frage der Marktintegration zentraler Bestandteil einer Geschichte sein, die nach der globalen Dynamik des Kapitalismus fragt. Macht und Gewalt sind hier allgegenwärtig, gleich ob man an die Erzwingung von Monokulturen auf südostasiatischen Gewürzinseln denkt, an die zollpolitische Diskriminierung der indischen Baumwollproduktion oder allgemeiner an die für die europäischen Kolonien typische und bis ins 20. Jahrhundert reichende Erzwingung von Bodenmärkten. Diese Erzwingung wurde begleitet von der offenen oder versteckten Enteignung und der Vertreibung der indigenen Bevölkerung und fand vielleicht im südafrikanischen Native Land Act von 1913 ihren traurigen Höhepunkt.

Dagegen hat Janet Abu-Lughod argumentiert, die Betonung der europäischen Expansion als Zäsur unterschlage das hohe Maß an Integration, das die eurasische Wirtschaft bereits um 1300 aufgewiesen habe. Die Pointe ihrer Kritik ist dabei zu zeigen, dass der italienische Levantehandel und die europäische Handelswelt insgesamt kaum mehr als ein Anhängsel einer um den Indischen Ozean zentrierten Wirtschaft gewesen seien, mit der vor allem arabische Händler die Verbindung hergestellt hätten.[37] Das ist als Korrektur einer eurozentrischen Sicht nur zu berechtigt. Konkret zielt es auf Immanuel Wallersteins seit den 1970er Jahren ausgearbeitete Vorstellung von einem modernen Weltsystem, das seit dem späten 15. Jahrhundert von seinem nordwesteuropäischen Zentrum aus immer weitere Teile der Welt inkorporiert habe. Dieser theoretische Rahmen ist viel kritisiert worden, teils weil die schematische Unterscheidung von Zentrum, Semiperipherien und Peripherien den Akteuren an der Peripherie jedwede Handlungsmacht abspreche, teils weil die funktionalistische Ableitung der ökonomischen Strukturen der Peripherie aus den Bedürfnissen des Zentrums keine wirklichen Erklärungen biete. Und das sind vielleicht nur die beiden gewichtigsten Einträge in einer langen Liste von Kritikpunkten, deretwegen das Modell des amerikanischen Soziologen von vielen für seit Langem obsolet gehalten wird. Ihm kommt jedoch das bleibende Verdienst zu, einen Rahmen definiert zu haben, in dem die wechselseitige Verflechtung als zentrales Element kapitalistischer Dynamik ernstgenommen wird.[38] Eine solche Rahmung ist nicht nur den anfangs angesprochenen Ansätzen überlegen, die wirtschaftliche Entwicklung als Wettlauf voneinander unabhängiger Nationalstaaten konzipieren, sondern auch jenen, welche die wirtschaftlichen Konsequenzen des Kolonialismus auf den Institutionentransfer aus den Kolonialstaaten in die Kolonien eingrenzen.

Wallersteins Weltsystemtheorie entstand in engem Austausch mit der Frühneuzeitforschung Fernand Braudels und reicht über den von diesem gesetzten zeitlichen Rahmen kaum hinaus.[39] Darin lag mehr als nur eine Lücke in der Empirie, und es ging einher mit Braudels Unterstellung, die Natur des Kapitalismus habe sich seit der Frühen Neuzeit nicht grundlegend gewandelt – eine nicht nur wegen der Folgen der Industriellen Revolution wenig plausible Annahme.[40] Bis zu einem gewissen Grad wurde sie von Giovanni Arrighi korrigiert, der an Braudel und Wallerstein anknüpfte, aber stärker an der Abfolge verschiedener hegemonialer Staaten und Ökonomien interessiert war als an den konkreten wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Zentrum, Semiperipherie und Peripherie. Dieses bis ins späte 20. Jahrhundert verfolgte Interesse lenkte seinen Blick auf die Übergänge zwischen niederländischer und britischer oder zwischen britischer und nordamerikanischer Hegemonie. Solche Übergänge waren für ihn stets am Ende eines Zyklus verortet, und dieses Ende war jeweils von einem Mangel profitabler Anlagemöglichkeiten für überreich vorhandenes Kapital charakterisiert, weshalb diese konfliktträchtigen Krisen für Arrighi regelmäßig den Anschein einer belle époque trugen.[41]

Offensichtlich hat das seit gut zwei Jahrzehnten zu beobachtende Erstarken der Globalgeschichte dem Ziel, die langfristige Entwicklung globaler Asymmetrien zu verfolgen, in zweifacher Hinsicht genutzt. Zum einen hat es eine wohl etablierte vergleichende Perspektive durch verflechtungsgeschichtliche Betrachtungen ergänzt und herausgefordert. Selbst da, wo der Vergleich zentral geblieben ist, wie in der Debatte um die great divergence, hat die Forderung nach Reziprozität den Charakter des Vergleichs grundlegend verändert. Es reicht eben nicht zu fragen, warum die am stärksten entwickelten Regionen Chinas nicht der englischen Entwicklung gefolgt seien, wenn man nicht umgekehrt auch fragt, warum England nicht den chinesischen Weg gegangen sei. Zum andern nimmt die Wirtschaftsgeschichte im Rahmen globalhistorischer Ansätze einen sehr viel breiteren Raum ein als in der Geschichtswissenschaft allgemein.[42] Dafür ist die Diskussion um die great divergence ebenso ein Beleg wie die gut entwickelte Erforschung von Warenketten, die anhand einzelner Güter weltwirtschaftlichen Verflechtungen nachspürt und über die Rekonstruktion von Warenketten zwangsläufig auch Abhängigkeiten in den Blick nimmt.[43]

Insgesamt aber wird die Beschäftigung mit der Geschichte des Kapitalismus dennoch weiter von einem Fokus auf Entwicklung, Wachstum oder Industrialisierung dominiert.[44] Das wird auch durch die jüngsten Diskussionen um eine neue Kapitalismusgeschichte nicht wirklich widerlegt, in welcher der Nexus zwischen Kapitalismus und Sklaverei im Mittelpunkt steht. Denn sie ist nicht zufällig ein vor allem in den Vereinigten Staaten boomendes und insbesondere für die Geschichte des 19. Jahrhunderts ertragreiches Feld. Sie konterkariert den angesprochenen globalhistorischen Boom insofern nationalgeschichtlich, als die Zentralstellung des Zusammenhangs von Kapitalismus und Sklaverei indirekt vor allem den anhaltenden Rassismus in den USA thematisiert.

In der Soziologie spielt die Geschichte des Kapitalismus zunächst in der historischen Soziologie und in der allgemeinen Theorie als konstitutives Strukturelement der westlichen Moderne eine zentrale Rolle. Der Anschluss an Weber fällt unterschiedlich eng aus; dem Eurozentrismus seiner vergleichenden Religionssoziologie entkommen die meisten Beiträge zu dieser Forschungsrichtung indessen kaum. Dagegen nimmt die jüngere Wirtschaftssoziologie die soziale Einbettung aller Märkte zum Ausgangspunkt ihrer akteurszentrierten Analysen, die sie bewusst dem als objektivistisch oder essentialistisch begriffenen Vorgehen der Wirtschaftswissenschaften entgegengestellt. Diese Differenz zwischen den Fächern ist vor allem eine der Fragestellungen und des Erkenntnisinteresses. Vertreter der Politischen Ökonomie, die sich ganz weitgehend auf die westlichen Industriestaaten und die jüngste Vergangenheit beschränken, übersetzen ihre Zentralfrage nach dem Verhältnis von Wirtschaft und Politik immer wieder in die nach der Vereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie. Iversens und Soskices 2019 erschienener Band Democracy and Prosperity ist hier genretypisch, auch wenn er vermutlich nicht so einflussreich werden wird wie Soskices mit Peter Hall herausgegebenes Buch Varieties of Capitalism.[45] Diese Beiträge sind wichtig für ein Verständnis des Kapitalismus in westlichen Industriestaaten im 20. und frühen 21. Jahrhundert, aber sie lassen die nichtwestliche Welt zumeist außen vor. Von Globalisierung ist durchaus die Rede, aber nahezu ausschließlich als Herausforderung für die Arbeitsmärkte und die politischen Systeme des Westens. Autoren, die wie Daron Acemoglu und James Robinson den Blick räumlich und zeitlich etwas weiter schweifen lassen, offenbaren dabei ein eigentümliches Geschichtsverständnis: Geschichte wird hier zum Baukasten, aus dessen Elementen man fast beliebig Argumente konstruieren kann. Zeitlich weit zurückliegenden Weichenstellungen wie etwa von den Kolonialherren in ihren Kolonien eingeführten Institutionen wird so eine Wirksamkeit über Jahrhunderte hinweg unterstellt, linear und unbeeinflusst vom vielfältigen Geschehen dort und andernorts. Der Begriff «Pfadabhängigkeit» bekommt so einen schlechten Klang.[46]

Auf dem Feld der Politischen Ökonomie tummeln sich Politologen und Ökonomen gleichermaßen. Man könnte die hier bereits genannten Ökonomen meist der neuen Institutionenökonomie zurechnen, die schon zu Zeiten von Douglass North stark historisch orientiert war. Den Begriff des Kapitalismus benutzt North dagegen nicht, und dasselbe gilt für die meisten jüngeren Vertreter dieser Richtung, die gleichwohl methodisch wichtige Beiträge zum Verständnis des wirtschaftlichen Wandels geliefert haben.[47] Andere Teilbereiche der Wirtschaftswissenschaften stehen einer Globalgeschichte des Kapitalismus näher. Dazu gehören etwa die Entwicklungsökonomie und die Außenhandelstheorie. Sieht man von den Teilen der Entwicklungsökonomie einmal ab, die im Rahmen der area studies angesiedelt sind, geht es den hier Forschenden durchaus um die Interdependenzen der Entwicklung verschiedener Weltregionen und die aus ihnen resultierenden Asymmetrien. Doch greift es historisch zu kurz, wenn das Geschehen wie etwa in Jeffrey Williamsons durchaus eindrucksvoller Studie Trade and Poverty im Kern als Zusammenspiel der relativen Preise der Produktionsfaktoren unter wechselnden Weltmarktbedingungen konzipiert wird.[48] Auf diese Weise soll beispielsweise für Lateinamerika im späten 19. Jahrhundert ein dramatisches Sinken der Löhne im Verhältnis zu den Grundrenten begreifbar gemacht werden. Zu den Voraussetzungen dieser Entwicklung zählen aber ganz zentral die kolonial geformten Besitz- und Machtstrukturen. Auch deshalb muss eine Globalgeschichte des Kapitalismus weit hinter das 19. Jahrhundert zurückgreifen und darf Wirtschaft und Politik nicht künstlich trennen.

Das soll als knapper Blick auf einige an der historischen Entwicklung des Kapitalismus interessierte Disziplinen genügen, zu denen noch weitere wie die Rechtswissenschaft oder die Anthropologie hinzukommen. Das vorliegende Buch fragt vor diesem Hintergrund nach dem Zusammenhang zwischen kapitalistischer Dynamik und globaler Asymmetrie seit dem 15. Jahrhundert. Wer investiert wo, wofür und mit welchen Erwartungen wieviel Kapital, und welche Rolle spielen Markt und Macht bei der Umsetzung solcher Investitionsentscheidungen? Dergestalt im Anschluss an Jonathan Levy nach konkreten Kapitalisierungen im Rahmen verschiedener Investitionsregimes zu fragen, verbietet, die Folgen dieser Kapitalisierungen für die Arbeiterschaft gleichermaßen ins Zentrum zu stellen, wenn man eine globale Perspektive über einen Zeitraum von mehr als 500 Jahren verfolgen möchte.[49] Diese Konsequenzen werden nicht aus-, aber doch ein wenig abgeblendet und sicherlich weniger intensiv behandelt, als manche Leser*innen sich das wünschen würden. Eine weitere Konsequenz der Vorentscheidung über Zeit und Raum besteht in der Präferenz, die in den einzelnen Kapiteln der Analyse von strukturellen gegenüber konjunkturellen Entwicklungen eingeräumt wird. Auch hier handelt es sich um ein Ab- und kein Ausblenden, zumal einzelne Konjunktureinbrüche wie die Weltwirtschaftskrise zweifellos den Charakter einer tiefen Zäsur besitzen.

In der Beantwortung der angeführten Fragen und in der Umsetzung der angesprochenen Schwerpunktsetzungen ist die folgende Darstellung in sechs Kapitel gegliedert, deren chronologische Grenzen schon deshalb unscharf sein müssen, weil von einem weltweit synchronen Verlauf lange keine Rede sein kann. Das gilt insbesondere für die ersten beiden Kapitel, zwischen denen es breite zeitliche Überlappungen gibt. Das erste behandelt das frühneuzeitliche Eindringen europäischer Länder in den süd- und ostasiatischen sowie den mittel- und südamerikanischen Raum und verfolgt insbesondere das Zusammenspiel von Handelskapital und Staat. Dabei ist es der Gesamtfragestellung geschuldet, dass der europäische Binnenhandel vor allem im Mittelmeer- und Ostseeraum stark in den Hintergrund gerückt wird. Dasselbe gilt für die gewerbliche und insbesondere heimgewerbliche Produktion, die hier nur insoweit interessiert, als ihre handelskapitalistische Durchdringung Impulse durch den Fernhandel mit der Neuen Welt erhält. Auf der anderen Seite wird aber durchgängig nach der Tiefe des Eindringens europäischer Handelsinitiativen und deren Abhängigkeit von vorgefundenen Strukturen und Akteuren in Asien oder Lateinamerika gefragt.

Eine neue Qualität erhalten die transkontinentalen Verflechtungen dann mit dem im zweiten Kapitel analysierten atlantischen Dreieckshandel. Dieser verband die Verschleppung afrikanischer Sklaven nach Brasilien, in die Karibik und in die Südstaaten der USA mit der dortigen Produktion von Rohstoffen für den Export nach Europa und mit der europäischen Industrieproduktion für die afrikanischen Küstenregionen zu einer gleichermaßen dynamischen wie lebensverachtenden Struktur, in die auch der englische Asienhandel integriert war. Dabei trug die Zuckerproduktion bereits den Charakter einer kapitalintensiven Industrie, doch war die dort verbreitete Sklaverei nicht die einzige Form unfreier Arbeit, mit der ansehnliche Profite erzielt wurden, wenngleich diejenige Form, in der die Kapitalrechnung besonders stark vorangetrieben wurde.

Diese beiden ersten Kapitel perspektivieren ganz wesentlich die im dritten Kapitel ins Zentrum gerückte Industrielle Revolution, denn sie fragen zum einen nach den Gründen für eine Auseinanderentwicklung von Europa und Asien und insbesondere von England und China und zum andern nach der Bedeutung des atlantischen Dreieckshandels für die englische Industrialisierung. Neben der Ausbreitung des neuen industriellen Investitionsregimes werden im dritten Kapitel aber auch der Rohstoffimport aus den britischen Kolonien wie aus den Einflusszonen des Freihandelsimperialismus sowie die Bedeutung dieser Weltregionen für den britisch-europäischen Industrieexport thematisiert. Dabei wird gezeigt, dass die ökonomische Integration der Welt am Ende des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts durchaus noch begrenzt war. Das änderte sich gegen Ende des Jahrhunderts grundlegend, weil nun die Ausbreitung von Dampfschifffahrt, Telegraphie und Eisenbahn die Transportkosten senkte und die Erschließung neuer Räume möglich machte. Insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent ging dies mit einem Schub der Kolonisation einher. Diese war indessen keine unverzichtbare Voraussetzung der Versorgung mit Rohstoffen für die Zweite Industrielle Revolution, die damals in den USA und anderen Industriestaaten stattfand. Mit dieser im vierten Kapitel behandelten Entwicklung ging der Siegeszug moderner Großunternehmen einher, die aufgrund ihrer Größe häufig eine beherrschende Stellung auf dem nun weitgehend integrierten Weltmarkt einnahmen. Der Erste Weltkrieg bedeutete in dieser Phase zwar einen tiefen Einschnitt. Gleichwohl erholte sich der Welthandel in den 1920er Jahren, bevor er in der Weltwirtschaftskrise weitgehend zum Erliegen kam. Diese stellt insofern die bedeutendere Zäsur dar.

Die schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Bemühungen um die Rekonstruktion einer Weltwirtschaftsordnung stehen am Anfang des fünften Kapitels, das zeitlich bis in die 1970er Jahre reicht. Viele der in diesem Zusammenhang geschaffenen Institutionen existieren bis in unsere Gegenwart, ebenso wie der zentrale Interessenkonflikt zwischen den Industrieländern des globalen Nordens und den weniger entwickelten Ländern des globalen Südens, die oft in die Rolle der Rohstoffproduzenten gedrängt werden. Mehr als vor dem Ersten Weltkrieg und mehr als seither agierten Industrie-, Handels- und Finanzkapital in dieser Zeit innerhalb eines Rahmens, den sich gegeneinander abschottende Volkswirtschaften oder auch Wirtschaftsblöcke bildeten. Sie waren wie das die gesamte Periode beherrschende Planungsdenken zu einem erheblichen Teil ein Erbe der beiden Weltkriege, die außerhalb der Sowjetunion weniger das Ende kapitalistischer Strukturen als deren Ausrichtung an politisch vorgegebenen Zielen erlebt hatten. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog sich der Staat nicht einfach zurück, sondern blieb in den westlichen Industriestaaten ein zentraler industrie- und sozialpolitischer Akteur. Und in vielen der sogenannten Entwicklungsländer fungierte er als Träger einer Industrialisierungsstrategie, die geschützt von hohen Einfuhrzöllen den Import gewerblicher Güter durch eigene Produktion zu ersetzen suchte.

Der Verlauf solcher Industrialisierungsprogramme war nur selten uneingeschränkt überzeugend. Doch es war vor allem die Aushöhlung der nach dem Zweiten Weltkrieg in Bretton Woods verabredeten Wirtschafts- und Finanzordnung, welche die 1970er Jahre zu einem Übergangsjahrzehnt in eine oft als neoliberal beschriebene Phase machten, die das sechste und letzte Kapitel untersucht. Hier geht es um die Liberalisierung der Finanzmärkte ebenso wie um den kräftigen Globalisierungsschub, der vor allem von zwei Entwicklungen befördert wurde: der durch die Containerisierung symbolisierten erneuten Transportrevolution und noch mehr von der Integration der (ehemals) sozialistischen Staaten Osteuropas und der Volksrepublik China in eine Weltwirtschaft, deren Arbeitskräftepotential sich schlagartig verdoppelte. Im Zusammenspiel mit der alle Wirtschaftsbereiche durchdringenden Digitalisierung führte das zur Ausbildung völlig neuer vielgliedriger Wertschöpfungsketten, zur Revolutionierung des Handels, der die Produktion nun wieder stärker dominierte, sowie zur Ausbildung eines krisenanfälligen Finanzmarktkapitalismus, dessen Einbrüche staatliche Rettungsaktionen bislang ungekannten Ausmaßes hervorriefen. Die damit einhergehende extreme öffentliche Verschuldung ist von der ansonsten anders gelagerten Corona-Krise erneut vorangetrieben worden, welche die in den letzten vier Jahrzehnten entstandene globale Wirtschaft grundsätzlich herausfordert. Ein kurzer Schluss bietet indessen weniger kurzfristige Prognosen zu den Chancen einer partiellen Rekonstruktion einer Vor-Corona-Welt als vielmehr einige Schlussfolgerungen zum langfristigen Verlauf sowie Reflexionen über Optionen einer zukünftigen Entwicklung, die durch diese Krise deutlicher hervorgetreten sind.

I

Handelskapitalismus und europäische Expansion

Vom späten 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert

In der Einleitung wurden die Probleme diskutiert, in die ein entlang der Marx’schen Mehrwertlehre konzipierter Profitbegriff führt. Angesichts dessen kann es kaum überraschen, dass die beiden wichtigsten Analysten des frühneuzeitlichen Handelskapitalismus ein davon unterschiedenes Verständnis von Profit haben. Während Marx im dritten Band des Kapitals apodiktisch festgehalten hat, «im Zirkulationsprozeß wird kein Wert produziert, also auch kein Mehrwert», konstatiert Fernand Braudel: «Bis zur Revolution des 19. Jahrhunderts (…) ist der Kapitalismus in erster Linie in der Zirkulation zu Hause.»[1] Sowohl für ihn als auch für Immanuel Wallerstein ist Profit letztlich immer Monopolprofit. So schaut Braudel auf die gerade im Fernhandel ausgeprägten Chancen der Konkurrenzvermeidung: «Dieser allein schon aufgrund der weiten Entfernungen zwischen den verschiedenen Verkaufsorten und den am Austausch beteiligten Akteuren unkontrollierbare Handel bietet die Möglichkeit, den Markt ungestraft zu umgehen, die Konkurrenz durch ein rechtens oder faktisch bestehendes Monopol auszuschalten und dank des räumlichen Abstands zwischen Anbietern und Nachfragern die terms of trade zu bestimmen, die ausschließlich von dem über die Marktlage an beiden Ende der langen Kette informierten Vermittler abhängen.»[2] Und er versteht allein diesen von Monopolstrukturen geprägten Groß- und Fernhandel als kapitalistisch. Dagegen beschreibt er den von Konkurrenz und Transparenz gekennzeichneten lokalen Handel in einer Weise als vorkapitalistisch, die an dessen Charakterisierung durch Werner Sombart erinnert, der ihn als auf bloßes traditionelles Auskommen hin orientiert betrachtete. Wallerstein betont die staatliche Garantie von Monopolen noch stärker als Braudel, ist aber im Kern mit diesem einig und kritisiert Marx für dessen Missverständnis des Monopols als Verzerrung des Normalfalls.[3]

Lässt man zunächst beiseite, dass insbesondere Wallerstein den Staat recht einseitig als Agenten der Bourgeoisie porträtiert, fällt auf, in wie hohem Maße sein und Braudels Kapitalismus- und Profitverständnis mit moralischen Wertungen durchsetzt ist. Vor allem Braudel spricht immer wieder von einer «abgeschirmten Dunkelzone, in der Eingeweihte ihre undurchsichtigen Aktivitäten entfalten», und meint damit den Wirkungsbereich des Kapitalismus und der für ihn typischen Spekulation. Er kontrastiert diesen Bereich mit der Welt des Marktes, die für ihn vom gerechten Austausch gekennzeichnet ist. Der Kapitalismus ist also für Braudel «die Zone des Gegen-Marktes, in der Cleverness und das Recht des Stärkeren herrschen».[4] Versucht man, diese Konzeption ihrer moralisierenden Aufladung zu entkleiden, lässt sich an das Profitverständnis Frank H. Knights anknüpfen. Folgt man nämlich wie dieser in seinem berühmten Buch Risk, Uncertainty, and Profit den Gleichgewichtsannahmen der neoklassischen Theorie in den Wirtschaftswissenschaften, ist für Profit auf dem Markt kein rechter Platz. Dieser Theorie liegt die Vorstellung eines perfekten Wettbewerbs und völliger Markttransparenz für alle Marktteilnehmer zugrunde. Unter dieser Voraussetzung kann es keinen Profit geben, da sich alle Preise, seien es Löhne, Zinsen oder Renten, im rückstandsfreien Equilibrium befinden. Erst die aktuellen Abweichungen von diesem theoretischen Konstrukt schaffen Raum für Profite. Und diesen Raum versucht Knight über die Differenz zwischen Risiko und Unsicherheit zu erschließen. Dabei bezeichnet das Risiko ein uneigentliches Element von Ungewissheit – uneigentlich, weil es der Berechnung zugänglich und insofern in die Gleichgewichtsmodelle integrierbar ist. Nur wirkliche Unsicherheit über ein in der Zukunft liegendes Geschehen eröffnet für Knight Profitchancen.[5]

Dabei kann offenbleiben, ob Knight wirklich eine Bestimmung der Differenz zwischen Risiko und Unsicherheit zu entwickeln vermag, die sich operationalisieren lässt.[6] Denn unabhängig von der konkreten Trennlinie zwischen beidem könnte man Profit verkürzt als Prämie verstehen, die ohne die grundsätzliche Ungewissheit zukünftiger Entwicklung nicht denkbar wäre – ein etwas offeneres Verständnis als in Schumpeters Rede von der «Prämie, die der Kapitalismus an die Durchsetzung des Neuen knüpft».[7] Fragt man nun danach, wie tatsächliche Konkurrenzbedingungen von den Idealannahmen der neoklassischen Theorie abweichen können, drängen sich drei systematische Varianten auf. Zunächst – und durchaus vereinbar mit Schumpeters Innovationsvorstellungen – ist da die Entwicklung eines neuen Produkts, für das es noch keine Konkurrenz gibt, oder das Angebot eines eingeführten Produkts zu konkurrenzlos günstigen Preisen, die bestimmte Verbesserungen im Produktions- oder auch Distributionsprozess möglich gemacht haben. Die so geschaffenen Profitchancen sind einer Monopolstellung geschuldet, wenngleich einer Monopolstellung auf Zeit, da von Anpassungsprozessen auf Seiten der Konkurrenz auszugehen ist. Zweitens kann ein solcher Monopolprofit sich Marktintransparenzen verdanken, also aus Informationsvorsprüngen einzelner Marktteilnehmer resultieren, etwa hinsichtlich von Preisdifferenzen zwischen unterschiedlichen Handelsorten (Arbitrage). Und drittens lassen sich Monopolstellungen auch auf dem Wege der Privilegierung schaffen oder erscheinen als gleichsam «natürlich», weil der Betrieb konkurrierender Infrastruktursysteme in bestimmten Bereichen wirtschaftlich unsinnig ist.

Den bei Knight wie bei Schumpeter und Jens Beckert für unternehmerisches Handeln schlechthin zentralen Vorgriff auf die Zukunft kann man sicherlich wie Braudel als Spekulation bezeichnen. Analytisch scheint es indessen sinnvoller, auf exklusive Informationen über zukünftiges Geschehen und auf Chancen zu dessen Beeinflussung abzuheben, Vorteile, die dann für konkrete Handelsunternehmungen empirisch nachzuweisen und wie auch die Konsequenzen staatlicher Privilegierung zu untersuchen sind. Das soll in diesem und dem nächsten Kapitel zunächst für die Zeit vom späten 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert geschehen. Doch wie in der Einleitung ausgeführt, waren weder handelskapitalistische Strukturen noch die nahezu weltumspannende Ausdehnung von Handelsnetzen Neuerungen des späten 15. Jahrhunderts. Daher gilt es zunächst, einen Eindruck vom Welthandel in der Zeit zu gewinnen, die den von Adam Smith als welthistorische Weichenstellungen begriffenen Ereignissen vorausging (Kapitel I.1). Die darauffolgenden Teilkapitel (Kapitel I.2–I.5) mögen insofern etwas schematisch strukturiert erscheinen, als sie jeweils bestimmte Akteure und Handlungsräume für eine Zeitspanne von meist über 100 Jahren behandeln. Dennoch sollen sowohl der Wandel innerhalb dieser Zeitspanne als auch die Verbindungen zwischen den Geschehnissen in den verschiedenen Handlungsräumen deutlich werden sowie schließlich auch die Konflikthaftigkeit der Beziehungen zwischen den wichtigsten Akteursgruppen. Eine noch stärker chronologisch angelegte Darstellung wäre dem Verständnis der wichtigsten Entwicklungen indessen kaum dienlich gewesen. Dabei behandelt dieses Kapitel vor allem die eurasische Welt vom späten 15. bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie das spanische und portugiesische Ausgreifen in die Neue Welt bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts. Hingegen wird der atlantischen Wirtschaft, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eine ganz neue Dynamik gewinnt, ein eigenes Kapitel gewidmet (Kapitel II).

Handelskapitalismus wird hier mit Frederic C. Lane folgendermaßen verstanden: «Damit eine kommerzielle (Markt-)Wirtschaft kapitalistisch ist, muss es auf ihren Märkten einige Käufer geben, die nicht für ihren eigenen Verbrauch einkaufen, sondern mit der Absicht, das Gekaufte weiterzuverkaufen oder es in einem Produktionsprozess zu verwenden, dessen Produkt sie verkaufen werden. Ihre Käufe stellen eine Investition von Kapital dar.»[8] Lanes Ansatz, der den frühen Finanzkapitalismus dem Handelskapitalismus subsumiert, hat zwei wichtige Vorzüge: Zum einen kommt er ohne die etwa bei Fernand Braudel so starke normative Aufladung aus, die den transparenten und gerechten Markt gegen den von List, Betrug und Gewalt gekennzeichneten Frühkapitalismus ausspielt.[9] Und zum andern hat Lane gleichwohl ein klares Bewusstsein von der immensen Bedeutung der Gewalt. Im Begriff der protection rent (Schutzrente) fasst er den Gewinn, den Handelskapitalisten etwa in Venedig während des frühen 16. Jahrhunderts dem Umstand verdankten, dass sie im Vergleich zu Angehörigen anderer Gemeinwesen niedrigere Kosten für den Schutz ihrer Handelsschiffe aufzuwenden hatten. Auf diese Weise baut er einer unangemessenen Trennung der politisch-militärischen von der wirtschaftlichen Sphäre systematisch vor.

1. Der Welthandel vor der Entdeckung der Neuen Welt

Gegen die in der Einleitung referierten Thesen Immanuel Wallersteins hat Janet Abu-Lughod schon Ende der 1980er Jahre energisch Einspruch eingelegt. Von einem Weltsystem, so ihr bereits angedeutetes Argument, könne man durchaus schon für die Zeit von 1250 bis 1350 sprechen.[10] Dabei habe Europa eine eher periphere Position eingenommen, zum einen weil es die begehrten Produkte Indiens und Chinas nur über den Mittleren Osten habe beziehen können, zum andern weil es vergleichsweise wenig zu bieten hatte, was im Fernen oder dem Mittleren Osten nachgefragt worden wäre.[11] Ein etwas genauerer Blick auf das von ihr gezeichnete Bild, das von der seitherigen Forschung in seinen Grundlinien durchaus bestätigt worden ist, lohnt sich. Denn es gibt eine geeignete Folie ab, vor der die Neuerungen der in diesem Kapitel in den Mittelpunkt gerückten Epoche deutlich werden. Auf den Vergleich mit Handelsverflechtungen noch sehr viel früherer Zeiten, die Europa, Afrika und Asien einbezogen, kann an dieser Stelle verzichtet werden.

Im Zentrum des von Abu-Lughod untersuchten Weltsystems steht der Indische Ozean, der ganz im Osten durch die Meerengen von Melaka auch eine Verbindung ins süd-chinesische Meer besitzt.[12] Zwar verzichtet Abu-Lughod im Unterschied zu Wallerstein auf eine strikte Hierarchisierung von Zentrum und (Semi-)Peripherien, aber es wird doch deutlich, dass China als Exporteur von Rohseide, Papier und Porzellan und Indien als Anbieter von Gewürzen, Perlen, Edelsteinen und Baumwollstoffen um 1300 technologisch führend waren. Das drückte sich in Exportüberschüssen aus, die Abu-Lughod zufolge das Interesse an einer Intensivierung des Handels eher bremsten. Die Haltung des chinesischen Kaiserreichs blieb ohnehin ambivalent: Ausländische Schiffe waren auf einige wenige chinesische Häfen verwiesen und wurden dort streng kontrolliert und isoliert. Und der Aufbau einer Flotte, die um 1400 sicherlich die größte der Welt war, wurde wenige Jahrzehnte später jäh abgebrochen, nachdem die Ming-Marine zwischen 1405 und 1433 noch mit mehreren Hundert Schiffen Fahrten über Java, Sumatra und Sri Lanka an die Ostküste Indiens, aber auch ins Rote Meer und den Persischen Golf sowie nach Ostafrika durchgeführt hatte.[13] Worin auch immer die Gründe für den Abbruch solcher imperialer Machtdemonstrationen gelegen haben mögen, Defizite im Schiffbau oder der Nautik, insbesondere im Umgang mit den im Indischen Ozean den Jahresrhythmus vorgebenden Monsunwinden waren es nicht.[14]

Karte 1: Der Indische Ozean und seine Verbindungen nach Afrika, Europa und Ostasien

Indien war wirtschaftlich so wenig eine homogene Einheit wie das riesige Reich der Mitte, wobei die Inlandsregionen nur partiell mit den Küstenlandschaften verbunden waren; allerdings dürfen diese Differenzen nicht überschätzt oder gar für unveränderlich gehalten werden.[15] Während die Ostküste mit der Bucht von Bengalen stärker nach Indonesien und China ausgerichtet war, orientierte sich die Westküste stärker auf die über das Arabische Meer zugänglichen Gebiete. Unverbunden waren sie indessen nicht, und dazu trugen arabische, jüdische und persische Kaufleute bei, die seit Langem Handelsniederlassungen an beiden Küsten des Subkontinents unterhielten. Calicut etwa war der Haupthafen, den muslimische Händler in Südindien nutzten, aber auch von Cambay oder Surat in Gujarat ließ sich sowohl in den Mittleren Osten und nach Ostafrika segeln als auch in die Bucht von Bengalen und weiter nach Südostasien.[16] Die Kaufleute Gujarats, von denen viele schon früh zum Islam übergetreten waren, kontrollierten zusammen mit arabischen Großhändlern die Verbindungen zwischen Indien und dem Mittleren Osten. Wie lukrativ dieser Fernhandel war, hat schon Fernand Braudel anschaulich beschrieben: «Ein Kilogramm Pfeffer, das im Erzeugerland Indien dem Wert von 1–2 Gramm Silber entspricht, steigt in Alexandria auf den Preis von 10–14, in Venedig von 14–18 und in den europäischen Verbraucherländern von 20–30 Gramm Silber.»[17]

Um nach Kairo zu gelangen, musste die Fracht von Calicut aus aber nicht nur das Arabische Meer durchqueren, sondern anschließend noch durch das Rote Meer segeln. Alternativ ließ sich der Persische Golf nutzen, doch war der sich dann anschließende Landtransport nach der Zerstörung Bagdads durch die Mongolen und der Zerstörung syrischer Häfen durch die Mameluken unattraktiv geworden. Dagegen erlaubte die als Seidenstraße viel beschworene Landverbindung zwischen dem nördlichen China und dem Schwarzen Meer vom Ende des 13. Jahrhunderts an für rund 50 Jahre ein meist sicheres Reisen und Handeln, wovon Karawanenzentren wie Samarkand erheblich profitierten.[18] Aber auch wenn der Florentiner Francesco Pegolotti die Seidenstraße in den frühen 1340er Jahren als vollkommen sicher bei Tage wie bei Nacht beschrieb, nahm die Reise von Peking bis auf die Krim doch beinahe ein ganzes Jahr in Anspruch. Gleichwohl ging die Blüte dieser Landverbindung während der Pax Mongolica auf Kosten der von Ägypten kontrollierten Seeverbindung durch das Rote Meer.[19] Diese Hochzeit endete, als ab der Mitte der 1340er Jahre die auch als Schwarzer Tod bezeichnete Pest den Handelswegen von Ost nach West folgte.[20] Zuvor aber hatten die Großkaufleute des Mittleren Ostens regen Anteil am ost-westlichen Fernhandel gehabt. Im frühen 14. Jahrhundert dominierten vor allem die als Karimi bezeichneten ägyptischen Fernhändler, die nicht nur in den wichtigeren indischen Häfen präsent waren, sondern auch Filialen in der Levante, insbesondere in Damaskus unterhielten.[21] Zugleich als Bankiers und Schiffseigner tätig, beschränkten sie sich nicht auf die Abwicklung des Austausches von Indien und China mit Europa, sondern bezogen die Produkte des eigenen Landes wie Zucker, Leinen- und Baumwollstoffe mit ein. Als Steuerzahler geschätzt, genossen sie zeitweilig militärischen Schutz gegen Piraten im Roten Meer und monopolisierten den Gewürzhandel zwischen Jemen und Ägypten. Ihr Stern sank, als der von den wirtschaftlichen Folgen des Schwarzen Todes auch finanziell gebeutelte Mamelukenstaat das Gewürzmonopol selbst in die Hände zu bekommen suchte und exklusive Verträge mit den nun in Alexandria vor Anker gehenden venezianischen Importeuren abschloss.

Mit Venedig und den übrigen italienischen Stadtrepubliken, die im Mittelmeerraum Handel trieben, ist der dritte Pol des von Abu-Lughod beschriebenen Weltsystems benannt, aus chinesischer Sicht kaum mehr als ein Anhängsel an die «maritime Seidenstraße».[22] Die immer wieder auch kriegerische Konkurrenz zwischen Genua und Venedig muss hier ebenso wenig konkret beschrieben werden wie die wohlbekannte und für den Fernhandel wichtige Landverbindung zwischen Oberitalien und Nordwesteuropa.[23] Über Brügge bestand von dort eine nicht zuletzt durch die Hanse stabilisierte Handelsverbindung in den Ostseeraum, auf die später zurückzukommen sein wird. Zur Bewertung der europäischen Position im Netz der weitgespannten Handelsbeziehungen in der zweiten Hälfte des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts reichen zunächst zwei Beobachtungen aus: In der Mitte des 14. Jahrhunderts wurde dieses Netz brüchig aufgrund der Folgen des Schwarzen Todes, aber auch der kriegerischen Auseinandersetzungen, die der Zusammenbruch des Mongolenreiches auslöste. Zu diesem Zeitpunkt hatte Europa gegenüber der lange führenden islamischen Welt zwar ein wenig an Boden gut gemacht. Glas etwa wurde nicht länger aus Syrien importiert, sondern im venezianischen Murano produziert, und Textilien avancierten zu europäischen Exportartikeln. Aber das änderte nichts daran, dass im interkontinentalen Handel auch im frühen 15. Jahrhundert Asien und nicht Europa den Takt angab, auch wenn sich etwa der venezianische Levantehandel von der Mitte des 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts deutlich intensivierte.[24] Angesichts der bis in die jüngste Zeit fortgeschleppten Rede von Italien als «der Wiege des Handels- und Finanzkapitalismus» ist aber die zweite Feststellung ebenso wichtig: Schon lange vor dem Aufstieg der italienischen Stadtrepubliken gab es «in einigen Teilen Arabiens ansatzweise eine kaufmannskapitalistische Bourgeoisie», und die meisten der vermeintlich genuin italienischen Geschäftspraktiken und Finanzinstitutionen hatten Entsprechungen und Vorläufer in der islamischen Welt und im Fernen Osten.[25]

Eine elaborierte Variante des italienischen Ursprungsnarrativs hat vor einigen Jahren Avner Greif vorgelegt. Er beschreibt eine allmähliche, aber im 15. Jahrhundert schon deutliche institutionelle Auseinanderentwicklung zwischen der europäischen Handelswelt auf der einen Seite, der islamischen und byzantinischen auf der anderen. Gegen Ende seiner umfangreichen Untersuchung macht er das institutionelle Defizit der Letzteren vor allem am Fehlen städtischer Selbstbestimmung und politischer Repräsentanz der Kaufmannschaft fest. Das zeigt, wie wenig es ihm um einen reziproken Vergleich im Sinne von Kenneth Pomeranz geht.[26] Doch wenn er die erfolgreiche Staatsbildung in Europa auf die Zurückdrängung verwandtschaftsbasierter Strukturen zurückführt, verweist er gleichwohl auf einen langfristig wichtigen Faktor, die Indienstnahme politisch-militärischer Macht durch die Kaufmannschaft, insbesondere in Stadtrepubliken.[27] Greif setzt damit die Akzente etwas anders als etwa Charles Tilly oder zuletzt Maarten Prak. Ersterer hat in der Dialektik von Städten als Orten der Kapitalakkumulation und Staaten, die immer wieder miteinander Krieg führen und auf Expansion drängen, ein zentrales Spezifikum europäischer Entwicklung ausgemacht. Prak hebt auf das Zusammenspiel zwischen starker stadtbürgerlicher Partizipation und staatlicher Responsivität für städtische Belange ab, das den italienischen Stadtstaaten, den Niederlanden und England vorbehalten war.[28] Auf den damit aufgerufenen Zusammenhang zwischen Staatsbildung und kapitalistischer Entwicklung wird zurückzukommen sein. Zunächst sei nur festgehalten, dass die institutionelle Überlegenheit spätmittelalterlicher Stadtrepubliken in Oberitalien durchaus in Frage steht. Und eine solche würde auch nichts daran ändern, dass die von diesen Republiken dominierte Handelswelt Europas ein vergleichsweise wenig bedeutendes Anhängsel einer um den Indischen Ozean konzentrierten Ökonomie war.[29]

Der Begriff der Handelsrevolution ist als Einspruch gegen das Zerrbild einer statischen (spät-)mittelalterlichen Wirtschaft in Europa also durchaus berechtigt, doch führt er in die Irre, wenn er mit der Behauptung institutioneller Innovationen innerhalb des städtischen Wirtschaftslebens in Oberitalien verbunden wird.[30] Diese Innovationen waren, so die Einschätzung eines führenden Kenners, in indischen und chinesischen Hafenstädten längst übliche Geschäftspraxis.[31] Besondere Aufmerksamkeit haben dabei der Wechsel und die Commenda gefunden. Wechselgeschäfte boten ein einfaches Mittel, den aufwändigen und risikobehafteten Transport von Zahlungsmitteln durch ein streng terminiertes Zahlungsversprechen zu ersetzen. Ein Wechsel konnte überdies weitergegeben und mit anderen Wechseln verrechnet werden, wenngleich zumeist nur innerhalb kulturell-religiös homogener Handelswelten wie der muslimischen und der christlichen, der indischen oder armenischen.[32] Als Wechsel in Oberitalien entstanden, blickten ihre Vorläufer mit persischen Wurzeln bereits auf eine lange Geschichte zurück, zu der seit dem späten 11. Jahrhundert auch die Verrechnung über Bankkonten zählte.[33]

Wichtiger noch war die Commenda, eine Form der Handelsgesellschaft, die einen Weg bot, geschäftliche Partnerschaften über den engsten Familienkreis hinaus zu öffnen. Max Weber, der sich schon in seiner rechtshistorischen Dissertation mit diesem Rechtsinstitut beschäftigt hatte, charakterisierte dessen systematische Bedeutung in Wirtschaft und Gesellschaft treffend: «Güter verschiedener Art wurden einem reisenden Kaufmann zur Veräußerung auf fremdem Markt und – eventuell – Einkauf anderer für den einheimischen Markt gegeben, der Gewinn und Verlust zwischen dem reisenden und dem kapitalgebenden Interessenten des Unternehmens dann in bestimmtem Verhältnis geteilt. Damit dies aber geschehen konnte, mußten sie in Geld geschätzt – also: eine Anfangs- und eine Abschlußbilanz des Unternehmens aufgestellt – werden».[34] Völlig zu Recht sah Weber hier ein wichtiges Element einer unpersönlichen, ganz auf das Unternehmen bezogenen Rechenhaftigkeit. Diese war aber eben kein Spezifikum einer okzidentalen Rationalität, sondern in der arabischen Welt schon vor der Wende zum zweiten Jahrtausend verbreitet.[35] Auch deshalb kann die doppelte Buchführung, die Webers Kollege Sombart zum Symbol der «Loslösung des Sachvermögens von der Person» verklärte und im Italien der Renaissance verortete, nicht die ihr zugeschriebene Bedeutung gehabt haben.[36] Praktiziert wurde sie bis an die Wende zum 19. Jahrhundert ohnehin eher selten. Doch scheint das schon die Kaufleute, die um 1300 im Fernhandel zwischen China und dem Mittelmeerraum tätig waren, nicht gehindert zu haben, die Profitabilität ihrer Unternehmungen einzuschätzen.[37] Und diese Unternehmungen sind durchaus als kapitalistische zu begreifen.

2. Der portugiesische Kronkapitalismus (16. und frühes 17. Jahrhundert)

Die Erschütterungen, die vom Zusammenbruch des Mongolenreiches ausgingen, und die Folgen der großen Pestpandemie ließen die für die Zeit um 1300 geschilderten Handelsbeziehungen nicht unberührt. Dennoch war deren Grundstruktur bis ins späte 15. Jahrhundert hinein wenig verändert, zumal die Islamisierung der ostafrikanischen Küste und die Stärkung der muslimischen Herrschaft über die indonesische Inselwelt diese Handelsbeziehungen intensiviert hatten.[38] Erst die Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung durch Bartholomeu Dias 1487/88 und die Verbindung nach Indien über diese Route, die Vasco da Gama 1498 mithilfe eines indischen Lotsen erstmals nutzte, bedeuteten einen potentiellen Einschnitt. Dieser war durch die allmähliche portugiesische Erkundung der afrikanischen Westküste vorbereitet worden.[39] Das spricht dagegen, die Entdeckung der Kap-Route allzu funktionalistisch aus der Notwendigkeit abzuleiten, angesichts der osmanischen Kontrolle des Schwarzen und des Roten Meeres alternative Wege zu erschließen, auch wenn die Rolle genuesischer Finanziers bei der Unterstützung spanischer und portugiesischer Erkundungsfahrten gut belegt ist.[40] Schon im Juli 1501 hielt Girolamo Priuli in seinem Journal die zeitgenössische Klage fest, der Gewürzhandel werde Venedig fehlen wie «einem Säugling die Muttermilch». Auch das zeigt, dass zumindest aus venezianischer Sicht die neue Verbindung bzw. ihre portugiesische Kontrolle nicht als Lösung, sondern als Problem für die italienischen Fernhändler gesehen wurde.[41] Und da die Portugiesen in der Tat ein Monopol im Pfefferhandel anstrebten, war die venezianische Untergangsstimmung durchaus verständlich. Allerdings vermochten die Portugiesen die Verbindung zwischen Rotem Meer und Mittelmeer keineswegs dauerhaft zu blockieren. Später konnten sie auch den Widerstand einer durchaus schlagkräftigen osmanischen Flotte gegen die portugiesische Monopolisierung des Gewürzhandels nicht endgültig brechen.[42] Da sie über ihren Stützpunkt Hormuz den boomenden osmanischen Markt bald selbst bedienten, war das auch gar nicht in ihrem dauerhaften Interesse.[43]

Karte 2: Die neue Verbindung nach Indien

Adam Smiths 1776 formulierte Einschätzung, die Portugiesen hätten «nahezu ein Jahrhundert lang im Handel mit Ostindien ein Monopol» besessen, «so daß die anderen europäischen Staaten nur indirekt und über sie allein mit diesem Reich gegenseitig Waren austauschen konnten», ist also letztlich irrig.[44] Gleichwohl wurden hier stattliche Einnahmen erzielt, so dass der Gewürzhandel schon 1506 für mehr als ein Viertel der königlichen Einkünfte verantwortlich war, 1518 dann für fast 40 Prozent.[45] Vor allem aber darf der europäische Blickwinkel nicht übersehen lassen, dass Europa bis ins 18. Jahrhundert hinein eine nachgeordnete Rolle in der Handelswelt des Indischen Ozeans spielte, deren schon vor 1500 zu beobachtende Blüte ihre eigenen Wurzeln hatte.[46] Zwar beteiligten sich die Portugiesen auch am inländischen indischen Handel, der in der Literatur oft etwas missverständlich als country trade bezeichnet wird, obwohl er meist über das Meer erfolgte. Dennoch behauptete sich die indische Handelsschifffahrt, die keineswegs auf diesen country trade beschränkt war, schon aufgrund ihrer deutlich niedrigeren Frachtraten. Die anwachsenden europäischen Exporte machten stets nur einen kleinen Teil des Gesamthandelsvolumens der verschiedenen indischen Zentren aus.[47] Die dort dominierenden einheimischen Händler mögen weniger straff organisiert gewesen sein als ihre europäischen Kooperationspartner und Konkurrenten, aber in der Regel konnten sie frei operieren.[48] Denn die politischen Machthaber standen ihnen meist nicht feindselig, sondern eher indifferent gegenüber.[49]

Gleichwohl ist die Frage nach den Absichten der portugiesischen Krone von Belang. «Wir suchen Christen und Gewürze», sollen die ersten in Calicut an Land gehenden Portugiesen zwei Tunesiern geantwortet haben, die sie auf Spanisch gefragt hatten: «Hol euch der Teufel, was führt euch hierher?»[50] Die religiöse Dimension soll im Folgenden nur insoweit Beachtung finden, wie sie wirtschaftliches Handeln unmittelbar berührte. Unabhängig von ihr hatten die Portugiesen das Zentrum des indischen Gewürzhandels treffsicher angesteuert. Dessen Attraktivität lag angesichts der angesprochenen Gewinnspannen auf der Hand. Und die portugiesischen Seefahrer setzten hemmungslos Gewalt ein, um sicherzustellen, dass sie deren einzige Nutznießer waren. Schon die zweite Indienflotte, bestehend aus zehn Schiffen der portugiesischen Krone und dreien, die von portugiesischen Adligen und italienischen Finanziers ausgerüstet worden waren, kaperte im Hafen von Calicut ein arabisches Konkurrenzschiff, brachte in den sich anschließenden Auseinandersetzungen 500 bis 600 Seeleute um und beschoss anschließend die Stadt. Ganz ähnlich setzte zwei Jahre später Vasco da Gama Gewalt und Terror ein, um den örtlichen Fürsten zur Vertreibung aller Moslems und damit der gesamten Konkurrenz zu zwingen.[51] Dem Monopol beim Gewürzverkauf in Europa sollte also ein Monopson, eine Alleinstellung beim Ankauf, in Indien entsprechen, auch wenn die Preisbildung vor Ort im Kern unverändert aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage innerhalb Asiens bestimmt wurde.[52] Dabei folgte die prominente Rolle des portugiesischen Staates bei der Errichtung von Stützpunkten dem Vorbild der westafrikanischen Küste während des 15. Jahrhunderts. Dort hatten indessen der Erwerb von Gold und Sklaven sowie der Betrieb von Zuckerplantagen mithilfe von Sklavenarbeit im Vordergrund gestanden.[53]