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Diesen Mann unterschätzen Kriminelle nur ein Mal – der neue Fall für Jack Reacher.
Am Busbahnhof von Gerrardsville, Colorado, beobachtet der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher, wie eine Frau vor einen fahrenden Bus gestoßen wird. Es gelingt ihm nicht, den Täter dingfest zu machen. Doch er gerät so ins Visier skrupelloser Verbrecher, die jeden Zeugen eliminieren wollen. Nichts darf ihre Operation gefährden. Allerdings haben sie nicht mit einem Mann wie Reacher gerechnet. Als der bedroht wird, geht er sofort zum Gegenangriff über. Er nimmt die Spur auf und wird nicht stoppen, bevor er das Schlangennest ausgeräuchert hat.
Reacher – niemand ist härter! Verpassen Sie seine anderen Fälle nicht, zum Beispiel »Der Kojote« oder »Der Sündenbock«.
Kennen Sie auch schon den Story-Band »Der Einzelgänger«? Unverzichtbar für alle, die noch mehr über Jack Reacher lesen wollen!
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Seitenzahl: 448
Veröffentlichungsjahr: 2025
Buch
Am Busbahnhof von Gerrardsville, Colorado, beobachtet der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher, wie eine Frau vor einen fahrenden Bus gestoßen wird. Es gelingt ihm nicht, den Täter dingfest zu machen. Doch er gerät so ins Visier skrupelloser Verbrecher, die jeden Zeugen eliminieren wollen. Nichts darf ihre Operation gefährden. Allerdings haben sie nicht mit einem Mann wie Reacher gerechnet. Als der bedroht wird, geht er sofort zum Gegenangriff über. Er nimmt die Spur auf und wird nicht stoppen, bevor er das Schlangennest ausgeräuchert hat.
Reacher – niemand ist härter! Verpassen Sie seine anderen Fälle nicht, zum Beispiel »Der Kojote« oder »Der Sündenbock«.
Autor
Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Roman einen internationalen Bestseller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Anthony Award, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.
Lee Childs Bruder Andrew wurde im Mai 1968 in Birmingham, England, geboren und studierte an der Universität von Sheffield englische Literatur und Theaterwissenschaften. Nach seinem Abschluss gründete und leitete er eine kleine unabhängige Theatertruppe, bevor er für fünfzehn Jahre in die Telekommunikationsbranche wechselte. Unter dem Namen Andrew Grant veröffentlichte er bereits mehrere erfolgreiche Romane. Heute lebt er mit seiner Frau, der Schriftstellerin Tasha Alexander, in Wyoming, USA.
Kennen Sie auch schon den Story-Band »Der Einzelgänger«? Unverzichtbar für alle, die noch mehr über Jack Reacher lesen wollen!
Lee Child & Andrew Child
Der Puma
Ein Jack-Reacher-Roman
Deutsch von Wulf Bergner
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »No Plan B« bei Bantam Press, London.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Copyright der Originalausgabe © 2022 Lee Child and Andrew Child
Published by Arrangement with Lee Child and Andrew Child LTD
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
[email protected] (Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Umschlaggestaltung und -motiv: © Miguel Sobreira / Trevillion Images (MLA182909),
© Mark Owen / Trevillion Images (MON40707) und www.buerosued.de
HK · CS
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-31732-4V003
www.blanvalet.de
Für alle, die wir zu früh verloren haben
1
Die Besprechung fand in einem fensterlosen Raum statt.
Dieser war rechteckig und hatte keine Fenster, weil er keine Außenwände besaß. Er befand sich in einem größeren quadratischen Raum. Und dieser quadratische Raum lag in einem noch größeren achteckigen Raum. Gemeinsam bildeten die ineinander verschachtelten Räume die Kommandozentrale von Einheit S2 des Gefängnisses Minerva in Winson, Mississippi. Wie der zweite Hochsicherheitstrakt S1 gehörte S2 zu den sichersten Orten des weitläufigen Komplexes. Seine Mauern glichen den konzentrischen Ringen einer mittelalterlichen Burg. Entworfen und gebaut, um uneinnehmbar zu sein. Von außen, selbst wenn eine Gefangenenbefreiung mit brachialen Mitteln versucht wurde. Von innen, selbst wenn es zu einer extremen Häftlingsrevolte kam.
Der Sicherheitsaspekt war willkommen, aber der eigentliche Grund, weshalb man die Zentrale gewählt hatte, war ihre Abgeschiedenheit. Sie erfüllte alle Voraussetzungen für höchste Geheimhaltung, denn die Einheit S2 stand leer. Hier gab es keine Wachen, kein Verwaltungspersonal. Und keine ihrer hundertzwanzig Einzelzellen war belegt. Sie wurden nicht gebraucht. Nicht mehr, seit das Gefängnis unter neuer Leitung stand. Ihr fortschrittlicher Ansatz war ein Quell großen Stolzes. Und er ließ sich wundervoll für PR-Zwecke ausschlachten.
In dem Raum befanden sich sechs Männer, und dies war binnen Wochenfrist ihr drittes Geheimtreffen. Die an einem langen schmalen Tisch sitzenden Männer hatten die beiden freien Stühle an die kahle weiße Wand geschoben. Eingerichtet war der Raum mit Möbeln aus leuchtend blauem Polykarbonat, das keine Fugen oder Nähte aufwies. Form und Material der Möbel machten es fast unmöglich, sie zu zertrümmern. Die Farbe erschwerte es, vielleicht doch abgebrochene Teile zu verbergen. Die Möbel waren praktisch, aber nicht sehr bequem. Und sie stammten noch aus der Zeit der vorigen Leitung.
Drei der Männer trugen Anzüge. Bruno Hix, Mitbegründer und Direktor von Minerva, saß am oberen Tischende. Damon Brockman, Mitbegründer und stellvertretender Direktor, saß rechts neben ihm. Und Curtis Riverdale, Chef der Aufseher, saß neben Brockman. Der Mann neben Riverdale trug eine Uniform. Er war Rod Moseley, der Polizeichef von Winson. Auf der anderen Seite des Tischs saßen links von Hix zwei Männer Ende zwanzig. Beide trugen Jeans und schwarze T-Shirts. Der eine hatte eine gebrochene Nase, zwei blaue Augen und einen Bluterguss auf der Stirn. Der andere hatte den linken Arm in einer Schlinge. Beide vermieden es angelegentlich, die Männer ihnen gegenüber anzusehen.
»Gibt es also ein Problem oder nicht?« Brockman zuckte mit den Schultern. »Kann jemand bestimmt sagen, dass es eines gibt? Nein. Deshalb sollten wir wie geplant weitermachen. Hier steht zu viel auf dem Spiel, als dass wir vor Schatten weglaufen dürften.«
»Nein.« Riverdale schüttelte den Kopf. »Wie ich die Sache sehe, bedeutet ein mögliches Problem, dass es ein Problem gibt. Wir sollten …«
»Wir sollten uns Gewissheit verschaffen«, sagte Moseley. »Unsere Entscheidung auf der Basis von Fakten treffen. Hier geht’s darum, ob der Kerl in den Umschlag gesehen hat. Das müssen wir rausbekommen.«
Keiner sprach.
»Nun?« Moseley streckte ein Bein unter dem Tisch aus und stieß den Mann mit dem Arm in der Schlinge an. »Aufwachen! Beantworten Sie meine Frage.«
»Geht’s noch?« Der Mann unterdrückte ein Gähnen. »Wir mussten nachts durchfahren, um nach Colorado zu kommen. Und wieder eine Nacht, um zurückzukommen.«
»Schluss mit dem Gejammer.« Moseley stieß ihn nochmals an. »Sagen Sie’s mir einfach. Hat er reingesehen?«
Der Kerl starrte die Wand an. »Das wissen wir nicht.«
»Ein Blick in den Umschlag lässt keine eindeutigen Schlüsse zu«, sagte Riverdale. »Hat er’s getan, müssen wir wissen, ob er verstanden hat, was drin stand. Und was er in dieser Hinsicht unternehmen will.«
»Ob der Kerl reingesehen hat, ist irrelevant«, sagte Brockman. »Und wenn er’s getan hat? Der Inhalt hat keinerlei Hinweis auf die laufenden Ereignisse gegeben.«
Riverdale schüttelte den Kopf. »Darin war zehn Uhr am Freitagmorgen genannt. Unübersehbar. Uhrzeit, Datum, Ort.«
»Und wenn schon.« Brockman hob die Hände. »Freitag ist ein Anlass zur Freude, zum Feiern. Daran kann ich nichts entfernt Verdächtiges finden.«
»Aber das Foto war mit drin.« Riverdale stach bei jeder Silbe mit dem Zeigefinger in die Luft. »Dreizehn mal siebzehn. Unmöglich zu übersehen.«
»Auch das hat nichts zu bedeuten.« Brockman lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Außer der Kerl kreuzt tatsächlich hier auf. Aber selbst wenn er am Freitag kommt, kann nichts passieren. Wir haben sehr sorgfältig gewählt.«
»Nein, das stimmt nicht. Wie denn auch? Wir hatten nur neun zur Auswahl.«
Moseley grinste. »Ironie des Schicksals, nicht wahr? Dass der Kerl, den wir ausgewählt haben, tatsächlich unschuldig ist.«
»So würde ich’s nicht nennen.« Riverdale machte ein finsteres Gesicht. »Und es waren keine neun, sondern nur fünf. Die anderen hatten Familie. Also sind sie nicht infrage gekommen.«
»Neun?«, fragte Brockman. »Fünf? Wie viele auch immer. Die Zahl spielt keine Rolle. Nur das Ergebnis ist wichtig. Und das ist bereits gut. Selbst wenn der Kerl sich blicken ließe – wie nahe käme er denn heran? Höchstens bis auf fünfzig Meter.«
»Er braucht nicht selbst aufzukreuzen. Er könnt’s im Fernsehen verfolgen. Online. In der Zeitung davon lesen.«
»Der Chef hat recht«, sagte Moseley. »Vielleicht wär’s besser, dieses Mal weniger Aufsehen zu erregen. Vielleicht sollten wir die Medien ausschließen. Wir könnten irgendwelchen Bullshit verbreiten, dass wir die Persönlichkeitsrechte des Häftlings wahren oder so ähnlich.«
»Nicht nötig.« Brockman schüttelte den Kopf. »Glauben Sie, dass dieser Kerl einen Fernseher hat? Einen Computer? Ein Abonnement für die New York Times? Verdammt noch mal, er lebt in ärmlichen Verhältnissen. Diese Suche nach Problemen muss aufhören. Es gibt keine.«
Er klopfte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. »Jede Erwähnung in den Medien ist gut für die Marke. Wir veröffentlichen alles. Das haben wir schon immer getan. Eine plötzliche Änderung würde nur Aufsehen erregen. Die Leute auf die Idee bringen, hier stimme etwas nicht. Aber ich denke, dass wir’s erfahren müssen. Hat er reingesehen?« Brockman wandte sich an die beiden Männer in T-Shirts. »Was vermuten Sie? Hier gibt’s keine falsche Antwort. Was passieren soll, passiert eben. Darüber sind wir uns im Klaren. Wir wollen nur wissen, was Sie glauben.«
Der Typ mit der gebrochenen Nase atmete tief durch. »Ich glaube, er hat reingesehen.«
»Das glauben Sie?«, fragte Hix. »Aber Sie wissen es nicht bestimmt.«
»Nicht hundertprozentig.«
»Okay. Wo war der Umschlag?«
»In dem Müllbeutel.«
»Wo war der Beutel?«
»Der hat auf dem Boden gelegen.«
»Sie haben ihn abgelegt?«
»Ich wollte die Hände frei haben.«
»Wo war er, als der Wagen gekommen ist?«, fragte Hix.
Der Mann mit dem Arm in der Schlinge sagte: »Wie vorher auf dem Boden.«
»An derselben Stelle?«
»Woher soll ich das wissen? Ich war nicht dabei, als Robert ihn abgelegt hat. Robert war bewusstlos, als ich ihn mir geschnappt habe.«
Hix machte eine kurze Pause. »Okay. Wie lange war der Kerl mit dem Beutel allein?«
»Das wissen wir nicht. Kann nicht lange gewesen sein. Höchstens ein paar Minuten.«
»Also kann er reingesehen haben«, stellte Hix fest. »Wenigstens flüchtig.«
»Genau«, sagte der Kerl mit der gebrochenen Nase. »Und denken Sie daran, dass der Sack am oberen Rand beschädigt war. Wie ist das passiert? Und warum? Wir haben ihn nicht beschädigt.«
Brockman beugte sich nach vorn. »Ihrer Schilderung nach muss das eine verrückte Szene gewesen sein. Überall Trümmer. Totales Chaos. Wahrscheinlich ist der Müllbeutel aus Versehen beschädigt worden. Das klingt nicht nach einem wichtigen Hinweis. Und die beiden anderen haben nicht gemeldet, dass er reingesehen hat.«
Der Mann mit der Schlinge sagte: »Sie haben überhaupt nichts gemeldet. Wo sie sind, wissen wir nicht.«
Brockman sagte: »Bestimmt noch auf der Rückfahrt. Vermutlich haben sie irgendein Handyproblem. Aber wenn es was gäbe, das uns Sorgen machen müsste, hätten sie eine Möglichkeit gefunden, uns zu benachrichtigen.«
»Und der Kerl hat der Polizei gegenüber nichts erwähnt«, sagte Moseley. »Ich habe mehrmals mit dem Lieutenant dort drüben telefoniert. Das muss irgendwas bedeuten.«
»Ich glaube trotzdem, dass er reingesehen hat«, sagte der Typ mit der gebrochenen Nase.
»Wir könnten den Stecker ziehen«, schlug Riverdale vor.
»Das wäre das Dämlichste, was wir tun könnten«, meinte Brockman. »Wir haben das Datum nicht festgelegt. Auch den Zeitpunkt nicht. Das hat der Richter getan, als er die Entlassung verfügte. Das wissen wir alle. Verfallen wir auf irgendeine Verzögerungstaktik, haben wir sofort ein paar Inspektoren auf dem Hals. Ihr wisst, wohin das für uns führen könnte, gleich hier, sofort.«
Riverdale runzelte die Stirn. »Ich wollte nicht vorschlagen, auf Zeit zu spielen. Ich finde, wir sollten zum ursprünglichen Plan zurückkehren. Der Tausch war schon immer ein Fehler.«
»Damit wäre das Freitagsproblem gelöst. Falls es eines gibt. Aber dann gäbe es keinen Ausweg aus der noch schlimmeren nächsten Krise, in die wir prompt geraten würden. Carpenters Dilemma.«
»Ich habe von Anfang an gesagt, dass die Lösung ganz einfach ist. Ein Genickschuss reicht aus. Den übernehme ich selbst, wenn ihr zu zimperlich seid.«
»Wissen Sie, was uns das kosten würde? Wie viel Umsatz wir einbüßen könnten?«
»Wir verlieren weit mehr als nur Geld, wenn dieser Kerl anfängt, das große Bild zu begreifen.«
»Wie könnte das passieren?«
»Er könnte herkommen. Das haben Sie selbst gesagt. Er könnte alles Mögliche ausgraben. Er war früher bei der Militärpolizei. Das liegt ihm im Blut.«
»Seine Zeit als MP ist lange her«, sagte Moseley. »Das hat mir der Lieutenant erzählt.«
Hix klopfte mit einem Fingerknöchel auf den Tisch. »Was wissen wir sonst noch?«
»Nicht viel. Er besitzt keinen Führerschein. Hat nach Auskunft der Steuerbehörde nie regelmäßig gearbeitet. Nicht mehr seit seinem Ausscheiden aus der Army. Keine Präsenz in den sozialen Medien. Es gibt nicht mal ein aktuelles Foto von ihm. Heutzutage könnte man ihn als Landstreicher bezeichnen. Irgendwie traurig, aber leider wahr. Das klingt nicht nach jemandem, der uns wirklich Sorgen machen müsste.«
Brockman sagte: »Landstreicher oder Millionär, wie verrückt muss man sein, um durchs halbe Land zu reisen, nur weil man ein paar Dokumente gelesen und ein harmloses Foto gesehen hat?«
»Trotzdem macht mir das Sorgen«, warf Riverdale ein. »Bei jedem unserer Treffen haben wir geglaubt, das Problem sei gelöst. Aber was ist, wenn wir uns wieder täuschen?«
»Ausgeschlossen!« Brockman schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wir haben auf jede Situation reagiert, als sie entstanden ist. Neunundneunzig Prozent.«
»Ja, aber nicht hundert.«
»Das Leben ist nicht perfekt. Manchmal muss man zerbrochenes Glas aufkehren. Das haben wir getan. Wir haben gemerkt, dass es ein Leck gab, und es wie vereinbart abgedichtet. Wir haben von dem verschwundenen Umschlag erfahren. Den haben wir wie beschlossen zurückgeholt.«
»Und jetzt hat dieser unbekannte Typ in den Umschlag gesehen.«
»Vielleicht hat er’s getan. Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Aber es ist unwahrscheinlich, das müsst ihr zugeben. Den Cops hat er nichts davon erzählt. Das wissen wir. Und er hat weder das FBI noch die Gefängnisbehörde informiert. Davon hätten wir längst erfahren. Nehmen wir mal an, er hätte alles bei einem einzigen kurzen Blick in den Umschlag erfasst. Wieso hätte er sein Wissen dann für sich behalten? Was will er damit anfangen? Uns erpressen? Und ihr denkt, dass er’s irgendwie schafft, bis Freitag zwölfhundert Meilen per Anhalter zurückzulegen? Ausgeschlossen.«
»Gentlemen!« Hix pochte erneut auf die Tischplatte. »Wir haben genug diskutiert. Hier ist meine Entscheidung: Wir können nicht wissen, ob der Kerl in den Umschlag gesehen hat. Wahrscheinlich nicht, also sollten wir nicht in Panik geraten. Vor allem nicht angesichts der möglichen Folgen. Trotzdem ist Vorsicht geboten. Er ist leicht zu erkennen, oder?«
Der Typ mit der gebrochenen Nase nickte. »Allerdings! Er ist nicht zu übersehen. Fast zwei Meter. Gut hundert Kilo. Ein wenig verwahrlost.«
»Und er ist ziemlich übel zugerichtet«, sagte der Mann mit der Schlinge. »Dafür hab ich gesorgt.«
»Sie hätten ihn erledigen sollen«, meinte Brockman.
»Ich dachte, ich hätt’s getan.«
»Sie hätten sich vergewissern sollen.«
»Wie denn? Das Ganze soll wie ein Unfall aussehen. Das waren Ihre Anweisungen für die beiden anderen. Ich dachte, sie würden auch für diesen Kerl gelten. Die Unfallgeschichte ist schwer zu verkaufen, wenn ich ihm eine Kugel in den Kopf jage.«
»Schluss jetzt!« Hix wartete, bis wieder Schweigen herrsch-te. »Hier ist der Plan. Wir richten eine Überwachung ein. Tag und Nacht. Ab sofort bis Samstag. Setzt er nur einen Fuß in unsere Stadt, stehen wir bereit. Und hier braucht uns nicht zu kümmern, wie irgendwas aussieht.«
2
Zwei Tage bevor die Minerva-Verantwortlichen zu ihrer dritten Geheimbesprechung zusammenkamen, traf Jack Reacher an einem Montagvormittag in Gerrardsville, Colorado, ein. Weil er per Anhalter mit einem Lkw mitgefahren war, der Luzerneballen für eine Farm südlich der Stadt geladen hatte, legte er die letzten fünf Meilen zu Fuß zurück. Das war ein angenehmer Spaziergang. Das Wetter war warm, aber nicht heiß. Über den klaren blauen Himmel segelten weiße Wolken wie Wattebäusche. So weit das Auge reichte, war das Land eben, grün und fruchtbar. Wassergräben bezeichneten die Grenzen riesiger Felder, auf denen Stängel und Blätter in allen möglichen Formen und Grüntönen der Sonne entgegenstrebten. Links wurde der Horizont von einer Bergkette begrenzt. Die Berge wuchsen ohne vorgelagerte sanfte Hügel direkt aus dem Boden, und ihre schneebedeckten Gipfel ragten wie die Zähne einer Säge in den Himmel.
Reacher marschierte weiter, bis er die Hauptstraße der Kleinstadt erreichte. Sie erstreckte sich ungefähr eine halbe Meile weit, aber schon nach einem Block gingen die Büro- und Geschäftshäuser in Wohnbebauung über. Die kommerziell genutzten Gebäude waren ohne Ausnahme einstöckig und sahen sich äußerlich ähnlich. Alle stammten aus derselben Zeit – Ende des neunzehnten Jahrhunderts, wie auf einigen Türstürzen eingemeißelt zu lesen war –, was dem Ort eine Art Zeitkapselatmosphäre verlieh. Eine Zeit, in der Handwerkskunst noch geschätzt wurde. Das war unübersehbar. Alle Fassaden bestanden aus Marmor oder Granit. Die hölzernen Tür- und Fensterrahmen waren aufwendig geschnitzt und teils üppig vergoldet und auch nach so vielen Jahren tadellos erhalten. Reacher gefiel, was er sah. Aber er war nicht hergekommen, um die hiesige Architektur zu bewundern, sondern um ein Museum zu besuchen.
Am Tag zuvor hatte Reacher in einer von jemandem in einem Schnellrestaurant liegen gelassenen Zeitung geblättert. Er hatte einen Artikel über einen Zahnarzt und seinen Metalldetektor gelesen. Das Gerät hatte der Mann bei der Verabschiedung in den Ruhestand geschenkt bekommen. Ein Insiderscherz, der auf seine Marotte abzielte, bei Patienten die Zahnfüllungen anderer Dentisten zu entfernen und durch eigene zu ersetzen. Um seine unbegrenzte Freizeit zu nutzen, hatte der Mann sich als Amateurarchäologe neu erfunden. Weil er sich seit Langem für den Bürgerkrieg interessierte, war er aufgebrochen, um die damaligen Schlachtfelder zu besuchen. Große und kleine, berühmte und fast vergessene. Bei Pea Ridge, Arkansas, hatte er eine Menge Granatsplitter und weitere Artefakte gefunden. Daraus war eine Wanderausstellung über die Entwicklung der Taktik der Nordstaaten entstanden, auf die Reacher aufmerksam geworden war. Gerrardsville gehörte zu den Orten, an denen sie gastierte. Und weil er sich gerade nur ein paar Dutzend Meilen entfernt aufhielt, wollte er sich die Ausstellung ansehen.
In einem Café, an dem er vorbeikam, trank Reacher eine Tasse Kaffee und war kurz vor Mittag in dem Museum. Dort blieb er, bis es geschlossen wurde. Tatsächlich musste ihn eine der Kuratorinnen hinausscheuchen. Sie hieß Alexandra. Reacher verwickelte sie in ein Gespräch über die Ausstellung. Danach tauschten sie sich über Restaurants in der Stadt aus, und zuletzt gingen sie gemeinsam einen Burger essen. Alexandra führte ihn in ein eher rustikales Lokal mit naturbelassenen Holztischen, an denen lange Bänke standen. Die Wände waren mit alten LP-Hüllen tapeziert. Aber das Essen kam schnell und schmeckte gut. Die Teller waren üppig bestückt und die Preise niedrig. Reacher gefiel alles daran.
Nachdem sie beim Essen über Musik gesprochen hatten, landeten sie in einer Bar. Sie war klein und intim. Dunkel. Ein Quartett spielte Blues. Hauptsächlich von Magic Slim mit ein paar eingestreuten Songs von Howlin’ Wolf. Auch das gefiel Reacher. Alexandra bestellte zwei Bier, und während sie tranken, wechselten sie erneut das Thema. Diesmal führte es sie in eine ganz andere Richtung – bis in Alexandras Wohnung.
Ihr Apartment lag über dem Supermarkt an der Hauptkreuzung von Gerrardsville. Es war ziemlich klein. Minimalistisch eingerichtet. Hier gab es kaum Möbel, Bilder und Vorhänge. Aber einen Kühlschrank, sodass sie noch ein Bier trinken konnten. Und einen CD-Player, sodass sie dabei Musik hören konnten. Und ein Schlafzimmer. Als sie es erreichten, war alles andere ohnehin überflüssig.
3
Am folgenden Morgen öffnete das Museum erst um zehn Uhr, also blieben Reacher und Alexandra bis zur letzten Minute im Bett.
Sie blieben im Bett, ohne jedoch zu schlafen. Obwohl Alexandra wusste, dass die Zeit drängte, duschte sie noch rasch. Das erschien ihr nach ihren letzten Aktivitäten angebracht. Reacher kochte inzwischen Kaffee. Dann küsste sie ihn zum Abschied und brach zu ihrer Zeitreise in die Vergangenheit auf. Reacher duschte etwas gemächlicher, bevor er die Treppe hinunterstieg und auf den Gehsteig trat. Er blieb kurz stehen, um die Bergkette zu betrachten. Dann sah er eine Frau auf sich zukommen. Sie befand sich auf der anderen Straßenseite, fast schon an der Kreuzung nach Westen. Die Fußgängerampel zeigte Rot. An der Ecke wartete ein Mann darauf, die Straße überqueren zu können. Und ein nach Norden fahrender Bus war kurz davor, die beiden zu passieren.
Die Busfahrerin sah nur eine Bewegung.
Nicht viel mehr als ein verschwommener Schatten. Ein kugelförmiges Objekt, das vor ihr einen perfekten Viertelkreis beschrieb. Wie eine Melone am Ende eines Seils, erklärte sie der Polizeipsychologin am folgenden Tag. Nur war das keine Melone, sondern ein Kopf. Ein menschlicher Kopf. Der einer Frau. Dicht vor der Frontscheibe. Im Sonnenschein hell und blass, als gehörte er bereits einem Gespenst. Dann wieder weg, aber nicht, weil die Fahrerin ihn sich nur eingebildet hatte. Nicht weil er eine Illusion war, wie sie hoffte, sondern weil er seine Bewegung bis zum Asphalt hinunter fortsetzte. Vor den Bus.
Dann darunter.
Die Busfahrerin zog scharf nach links. Sie trat mit aller Kraft aufs Bremspedal. Ohne Zögern. Ohne Panik. Sie war gut ausgebildet. Sie hatte jahrelange Erfahrung. Aber ihre Reaktion kam trotzdem zu spät. Sie hörte die Bremsen kreischen. Hörte die Fahrgäste schreien. Und spürte den Aufprall durchs Lenkrad. Nur ein von der Lenkradpolsterung gedämpftes leichtes Zittern. Weniger stark, als wenn sie in ein Schlagloch oder über einen dicken Ast gefahren wäre. Aber Asphalt hatte keine Knochen, die gebrochen und zertrümmert werden konnten. Holz hatte keine Organe, die blutend zerquetscht werden konnten.
Die Fahrerin schloss die Augen und versuchte, sich nicht zu übergeben. Sie wusste, was für ein Bild sie draußen auf der Straße erwarten würde. Sie hatte schon einmal unfreiwillig bei einem Selbstmord mitgewirkt. Das war ein Berufsrisiko.
Der Mann auf der anderen Straßenseite sah viel mehr.
Er sah den nach Norden fahrenden Bus. Er sah, wie die Frau die Südwestecke der Kreuzung erreichte. Seine Sicht war durch nichts eingeschränkt. Er war nahe genug dran, um glaubwürdig zu sein. In seiner Aussage gab er zu Protokoll, die Frau habe nervös gewirkt. Unruhig. Er sah sie einen Blick auf ihre Uhr werfen. Anfangs glaubte er, sie habe es eilig. Sie schien zu überlegen, ob sie vor dem Bus über die Straße laufen sollte. Aber dann tat sie’s doch nicht. Sie stand ruhelos von einem Fuß auf den anderen tretend da, bis der Bus fast heran war. Bis die Fahrerin keine Chance mehr hatte auszuweichen oder rechtzeitig zu bremsen.
Dann warf sie sich unter die Räder.
Die Frau warf sich darunter. Das stand für den Mann fest. Sie stolperte nicht, sie fiel nicht. Das war Absicht gewesen. Das bewies ihm der zeitliche Ablauf. Er beobachtete, wie ihr Körper beschleunigte. Sah die Kurve, die er beschrieb. Das konnte kein Unfall gewesen sein. Sie hatte sich absichtlich vor den Bus geworfen. Es gab keine andere Erklärung.
Reacher war der Einzige, der den gesamten Ablauf verfolgen konnte.
Er befand sich etwa fünfzehn Meter von der Kreuzung entfernt. Auch seine Sicht war nicht eingeschränkt, aber sein Blickfeld war größer. Er sah die Frau und einen Mann, die an der Ampel in entgegengesetzten Richtungen warteten. Und er sah eine weitere Person, einen mittelgroßen, drahtigen Mann in Jeans und Kapuzenjacke. Auf derselben Seite wie die Frau. Einen halben Meter vom Randstein und zweieinhalb Meter von ihr entfernt. Unbeweglich dastehend.
Der Kerl hatte sich diese Stelle sorgfältig ausgesucht. Das war offensichtlich. Er stand so nahe an dem Übergang, dass er nicht auffiel. Wie jemand, der sich ziellos herumtreibt. Andererseits war er weit genug von der Frau weg, um nicht den Eindruck zu erwecken, er habe irgendwas mit ihr zu tun. Aber als der Bus herankam, hielt er sich nahe genug auf, um mit wenigen Schritten neben ihr zu sein. Seine Bewegungen waren geschmeidig. Er glich mehr einem Schatten als einem Menschen. Die Frau merkte nicht, dass er neben ihr stand. Sie merkte nicht mal, dass er einen Fuß vor ihre Schuhe stellte.
Der Kerl legte eine Hand zwischen die Schulterblätter der Frau und versetzte ihr einen Stoß. Das war nur eine kleine Bewegung. Kraftsparend, undramatisch. Nichts, was die meisten Beobachter richtig wahrgenommen hätten. Aber für die Zwecke des Kerls ausreichend, das stand fest. Dass die Frau nur vorwärtsstolperte und von dem Bus abprallte, war ausgeschlossen. Dass sie mit Knochenbrüchen und einer Gehirnerschütterung davonkam, war ebenfalls ausgeschlossen. Dafür sorgte der Fuß des Kerls. Er verhinderte, dass die Frau ihre Füße bewegte. Er stellte sicher, dass sie mit den Armen rudernd nach vorn stürzte. Und er garantierte, dass sie der Länge nach auf den Asphalt schlug.
Der Aufprall trieb die Luft aus der Lunge der Frau. Ihren letzten Atemzug. Im nächsten Augenblick quetschte das Vorderrad des Busses ihren Unterleib flach wie eine gefaltete Zeitung zusammen.
4
Der Bus kam schräg zum Randstein zum Stehen, als wäre er von einem Betrunkenen entführt worden, der ihn so abgestellt hatte, als er den Spaß daran verlor. Sein vorderer Teil ragte in die Kreuzung hinein. Reacher sah die Fahrtzielanzeige über der vorderen Tür plötzlich zu POLIZEIRUFEN wechseln. Er sah auch die Beine der Toten. Sie ragten ungefähr in der Mitte zwischen Vorder- und Hinterachse seitlich unter dem Bus heraus. Einer ihrer Sneaker lag daneben. Der Kerl, der sie gestoßen hatte, zog einen schwarzen Müllbeutel aus der Hüfttasche seiner Jeans. Damit kniete er sich neben den nackten Fuß, griff mit einem Arm unter den Bus, bekam etwas zu fassen und zog es heraus. Reacher sah, dass es die Umhängetasche der Frau war. Er steckte sie in den Sack und stand auf. Rückte seine Kapuze zurecht. Schlenderte nach Süden davon und kam außer Sicht.
Reacher rannte schräg über die Straße auf den Bus zu. Auf dem Gehsteig sammelten sich bereits Menschen an. Aus Läden, Cafés und Büros strömten Leute, um die Tote anzugaffen. Ein Mann im Anzug hielt mit dem Auto an und stieg aus, um das Ganze besser sehen zu können. Aber niemand achtete auf den Kerl in dem grauen Hoodie, der sich unauffällig entfernte. Reacher bahnte sich seinen Weg durch die Menge, stieß Leute beiseite, trat einem Mann sogar in den Hintern. Der Kerl in dem Hoodie ließ die letzten Gaffer hinter sich, wurde schneller. Reacher kämpfte sich zwischen einem letzten Paar durch und trabte weiter. Der Kerl hatte zwanzig Meter Vorsprung. Reacher verringerte ihn allmählich auf knapp fünfzehn Meter. Dann bemerkte der Kerl, dass er verfolgt wurde. Er schaute sich um, entdeckte Reacher hinter sich und begann zu rennen, während er den Müllbeutel weiter an seine Brust gedrückt hielt. Mit der freien Hand griff er nach dem Ohrhörer unter seiner Kapuze. Er blaffte ein paar kurze Sätze hinein, dann verschwand er in einer nach links wegführenden Gasse.
Reacher machte gut einen Meter vor der Einmündung der Gasse halt, um zu horchen. Als nichts zu hören war, kniete er sich hin, rutschte vorwärts und spähte um die Ecke. Besaß der Kerl eine Pistole, würde er Ausschau nach einem Ziel in Kopfhöhe halten. Hatte er ein Messer, würde er’s auf einen Stich in den Unterleib anlegen. Doch Reacher sah sich mit keiner Gefahr konfrontiert. Es gab keinerlei Reaktion. Also stand er auf und trat zwei Schritte vor.
Die Gasse war sauberer als alle anderen, die er jemals gesehen hatte. Die Mauern der Gebäude, von denen sie begrenzt wurde, bestanden aus präzise verlegten blassgelben Klinkersteinen. Hier gab es keine Graffiti. Keines der Fenster im ersten Stock war eingeworfen. Die blauen und grauen Abfallcontainer auf der Gasse standen in regelmäßigen Abständen verteilt. Jeder verfügte über einen Deckel. Keiner quoll über, und um sie herum lag kein Müll auf dem Pflaster.
Der Kerl stand zehn Meter weit entfernt mit dem Rücken zur linken Wand. Er stand unbeweglich da, hatte den schwarzen Müllbeutel vor sich abgelegt. Reacher bewegte sich auf ihn zu. Er verringerte den Abstand auf acht Meter. Daraufhin hob der Kerl den Saum seines Hoodies hoch. In seinem Hosenbund steckte eine klobige schwarze Pistole.
Der Kerl sagte: »Halt, das ist nah genug.«
Reacher bewegte sich weiter. Er verringerte den Abstand auf fünf Meter.
Die Hand des Kerls lag auf dem Pistolengriff, als er sagte: »Stopp! Lassen Sie Ihre Hände, wo ich sie sehen kann. Hier braucht niemand zu Schaden zu kommen. Wir müssen nur miteinander reden.«
Reacher verringerte den Abstand auf zwei Meter. Dann sagte er: »Das gilt nicht für alle.«
»Was?«, fragte der Kerl.
»Jemand ist schon zu Schaden gekommen. Die Frau, die Sie vor den Bus gestoßen haben. Weshalb?«
Der Mund des Kerls öffnete und schloss sich, aber er brachte kein Wort heraus.
»Hinlegen«, befahl Reacher ihm. »Hände hinter dem Kopf falten.«
Der Kerl reagierte nicht.
»Vielleicht braucht wirklich niemand zu Schaden zu kommen«, sagte Reacher. »Damit meine ich Sie. Das hängt ganz davon ab, was Sie als Nächstes tun.«
Der Kerl wollte seine Pistole ziehen. Er war schnell, aber nicht schnell genug. Reacher bekam sein rechtes Handgelenk zu fassen und riss den Kerl nach rechts, sodass er der Mauer zugekehrt dastand.
»Stopp!« Die Stimme des Kerls klang plötzlich schrill. »Was soll der Scheiß?«
»Ich will sehen, wie’s Ihnen gefällt«, antwortete Reacher. »Hier gibt’s keinen Bus, aber Ziegel. Die müssen reichen.«
Reacher ließ das Handgelenk des Kerls los. Legte eine Hand zwischen seine Schulterblätter und schob kräftig an. Sein Stoß war unwiderstehlich. Ungebremst. Wild. Viel kräftiger als nötig. Der Kerl versuchte noch, sich zu retten, aber er hatte keine Chance. Der Druck war überwältigend. Er knallte mit dem Gesicht voran an die Mauer und sackte zusammen, als wären seine Beine plötzlich kraftlos geworden. Von Platzwunden auf der Stirn lief ihm Blut übers Gesicht. Seine gebrochene Nase schwoll bereits an. Er war ernstlich in Gefahr zu ersticken.
Keine dieser Möglichkeiten machte Reacher große Sorgen.
5
Reacher hatte vorgehabt, sich den Kerl über die Schulter zu hieven und zu dem Bus zurückzutragen. Dann wäre er bereit gewesen, wenn die Polizei eintraf. Aber als er den schwarzen Müllbeutel aufhob, zögerte er. In dem Beutel steckte die Umhängetasche der Frau. Irgendwas in ihr war so wertvoll, dass es einen Mord lohnte. Reacher war dreizehn Jahre lang Ermittler bei der Militärpolizei gewesen. Alte Gewohnheiten hielten sich hartnäckig. Und er konnte bisher keine Sirenen hören. Er wusste, dass ihm noch etwas Zeit blieb.
Reacher hob die klobige Pistole auf, steckte sie in seinen Hosenbund. Dann wälzte er den Kerl am Fuß der Mauer in eine stabile Seitenlage und machte sich daran, seine Taschen zu durchsuchen. Wie erwartet enthielten sie nichts mit einem Namen oder einer Adresse, aber der Mann hatte einen Schlüsselbund. Reacher wählte den spitzesten Schlüssel aus und benutzte ihn dazu, vom oberen Rand des Müllbeutels zwei breite Plastikstreifen abzutrennen. Mit denen umwickelte er seine Hände, bevor er die Tasche aus dem Sack zog. Sie war vierzig mal vierzig Zentimeter groß, bestand aus beigem Lederimitat und besaß außer einem langen Schulterriemen auch zwei normale Tragegriffe. Eine Seite war mit Blut gesprenkelt. Oben hatte die Tasche einen Reißverschluss, den Reacher aufzog. Als Erstes nahm er die Geldbörse der Frau heraus. Sie enthielt einen in Mississippi auf den Namen Angela St. Vrain ausgestellten Führerschein mit einer Adresse in Winson. Dazu dreißig Dollar in kleinen Scheinen, einen Packen Rechnungen aus einem Supermarkt und einem Drugstore. Und ein Foto von Angela mit einem kleinen Mädchen von etwa drei Jahren. Die beiden sahen sich unverkennbar ähnlich. Mutter und Tochter, das stand für Reacher fest.
Reacher legte die Geldbörse auf den Boden und griff erneut in die Umhängetasche. Diesmal zog er eine laminierte Karte an einem hellblauen Band heraus. Ein Dienstausweis mit Foto. Er zeigte, dass Angela in irgendeinem Gefängnis arbeitete: im Minerva, ebenfalls in Winson, Mississippi. Außerdem fand er eine Haarbürste, Lippenstift, Wimperntusche und weiteren persönlichen Besitz. Als Nächstes einen Schlüsselring mit drei Schlüsseln und einen großen braunen Briefumschlag. Er war jedoch an einen gewissen Danny Peel in Winson adressiert. Und er war geöffnet worden.
Der Umschlag enthielt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme – ein siebzehn Jahre altes Polizeifoto – und einen Stapel Dokumente. Das Foto zeigte einen jungen Erwachsenen. Sein schmales Gesicht war verhärmt, sein aschblondes Haar so kurz, dass die blasse Kopfhaut durchschimmerte. Reacher fielen die dicht beieinanderstehenden Augen des Jungen auf. Sie waren halb ängstlich, halb verwirrt weit aufgerissen. Und der Junge wies ein weiteres unveränderliches Kennzeichen auf: sein linkes Ohrläppchen fehlte. Es schien glatt abgesäbelt worden zu sein. Die Schnittkante sah gerade aus, und eine Narbe setzte sich zum Genick hin fort. Mit einem Rasiermesser, vermutete Reacher. Jemand musste versucht haben, dem Jungen die Kehle durchzuschneiden, aber er hatte im letzten Augenblick den Kopf wegdrehen können. Nicht schnell genug, um unverletzt zu bleiben. Aber schnell genug, um zu überleben. Wenigstens etwas, dachte Reacher. Vielleicht.
Die Schriftstücke bildeten zwei Gruppen. Die erste stammte aus der Strafverfolgungsbehörde des Staats Mississippi und begann mit dem Lebenslauf eines Kerls namens Anton Begovic. Geschildert wurde zumindest sein Erwachsenenleben. Angefangen hatte alles damit, dass Begovic bei einem Einbruch geschnappt wurde. Dazu kamen weitere Straftaten, die ihn zuletzt hinter Gitter brachten. Eine anscheinend unaufhaltsame Entwicklung. Und im Gefängnis wurde alles nur noch schlimmer. Binnen drei Jahren kam er in Einzelhaft, in der er sieben Jahre lang blieb. Doch die zweite Gruppe von Schriftstücken dokumentierte eine Wende in Begovic’ Leben.
Ursächlich für diese Wende war die Übernahme des Gefängnisses durch das Unternehmen Minerva Correctional, bei dem Angela gearbeitet hatte. Begovic kam wieder in eine Gemeinschaftszelle. Sein Verhalten besserte sich. Die Gefängnisverwaltung unterstützte einen Antrag auf Wiederaufnahme seines Verfahrens. Ein Privatdetektiv brachte eine auf dem Totenbett gemachte Aussage eines Exhäftlings bei, Begovic sei zu Unrecht beschuldigt worden. Der damals in seinem Fall ermittelnde Kriminalbeamte hatte vor einem Jahrzehnt wegen astronomisch hoher Spielschulden Selbstmord verübt. Daraufhin ordnete ein Richter Begovic’ Freilassung an, die unmittelbar bevorstand. Am kommenden Freitag um zehn Uhr sollte er entlassen werden.
Reacher schob das Foto und die Schriftstücke zurück in den Umschlag und steckte ihn mit dem übrigen Zeug wieder in Angelas Umhängetasche. Er zog den Reißverschluss zu und ließ die Tasche in den Müllbeutel fallen. Dann wickelte er die Plastikstreifen von seinen Händen und steckte sie ein. Er dachte über den Inhalt des Umschlags nach. Die tragische Geschichte eines zu Unrecht verurteilten Mannes. Er fragte sich, was sie mit Angela St. Vrain zu tun gehabt hatte. Was zu einer weiteren tragischen Geschichte führte, die eben erst begann. Für das kleine Mädchen auf dem Foto in der Geldbörse. Angelas Tochter, die nun ohne Mutter aufwachsen musste.
6
Ein Auto fuhr in die Gasse ein. Eine schwarze Limousine. Glänzender Lack, elegante Linien. Ein BMW, das sah Reacher an dem blau-weißen Emblem auf der Motorhaube. Es sollte einen Propellerkreis darstellen. Das hatte Reacher irgendwo gelesen. Es erinnerte an die Anfänge des Autobauers als Hersteller von Flugmotoren. Allerdings hatte er keine Ahnung, um welches Modell es sich handelte. Von Autos verstand er nicht viel.
Der BMW kroch weiter. Auch sein Fahrer trug einen grauen Kapuzenpullover. Der Kerl hielt an, fuhr sein Fenster herunter und sagte: »Hände, wo ich sie sehen kann. Dann zur Seite treten.«
Reacher bewegte sich nicht.
Der Fahrer stellte den Wählhebel auf N und ließ den Motor zwei-, dreimal aufheulen. Er wartete, bis der Lärm verhallt war. »Zur Seite treten, hab ich gesagt.«
Reacher blieb stehen.
Der BMW war zehn Meter von Reacher und acht Meter von der Mauer entfernt. Der bewusstlose Kerl lag dicht vor Reachers Füßen. Bestimmt war er ein Kumpel des Fahrers. Deshalb sollte Reacher zur Seite treten – damit nicht beide zu Schaden kamen.
Reacher blieb, wo er war.
Die Limousine kroch vorwärts. Der Fahrer schlug das Lenkrad ein. Er rollte weiter, bis der Abstand zwischen Reacher und der vorderen Stoßstange nur noch vier Meter betrug. Dann gab er plötzlich Gas. Der Wagen schoss vorwärts. Der Fahrer lenkte mit der rechten Hand. Mit der Linken öffnete er seine Tür. Er stieß sie ganz auf und hielt sie fest, als wäre er ein Ritter, der einen Gegner mit seinem Schild rammen und aus dem Sattel heben wollte.
Aber Reacher wich nicht zurück. Stattdessen machte er einen Schritt nach vorn – auf den BMW zu. Ein gewaltiger Fußtritt, in den er sein ganzes Gewicht legte, traf die Autotür mittig. Stahlblech verformte sich, wurde kreischend tief eingedellt. Die Autotür schloss sich mit lautem Knall, dann flitzte der Wagen an Reacher vorbei. Der Fahrer kämpfte mit dem Lenkrad. Er bremste scharf, aber einen Augenblick zu spät. Die Limousine rammte einen Abfallcontainer, wobei ihr rechter Scheinwerfer zersplitterte. Der Fahrer wechselte zu R und gab erneut Gas. Er schlug das Lenkrad ein, bis die linke Schlussleuchte auf Reachers Beine zielte. Dem Liegenden würde nichts passieren. Er war unter dem Überhang der Limousine sicher. Aber für Reacher gab es kein Entrinnen. Nicht bei diesem Winkel. Er würde an die Mauer gequetscht werden.
Reacher warf sich zur Seite, rollte sich ab und rappelte sich sofort wieder auf. Der Wagen prallte gegen die Mauer. Wieder zersplitterte Glas. Splitter regneten auf Brust und Unterleib des bewusstlosen Kerls herab. Aber sie waren nicht scharf genug, um ihn zu verletzen. Und der Aufprall reichte nicht aus, um den BMW fahruntüchtig zu machen.
Der Fahrer war die ganze Zeit im Wagen geblieben – verständlicherweise. Eine körperliche Auseinandersetzung zu vermeiden, war ein cleverer Schachzug. Aber er hatte auch nicht zu schießen versucht. Reacher vermutete, dass er’s darauf anlegte, ihn als Opfer eines Unfalls erscheinen zu lassen. Das wäre verdächtig gewesen, wenn man bedachte, wie nahe sich die Kreuzung befand, an der Angela St. Vrain vor den Bus gestoßen worden war. Aber weit weniger verdächtig als eine Leiche mit tödlichen Schusswunden.
Für Reacher galten solche Erwägungen nicht. Er zog die Pistole, die er von dem Bewusstlosen erbeutet hatte, und trat seitlich an den Wagen, um durchs rechte vordere Fenster zu schießen. Als der Fahrer erkannte, was kommen würde, gab er Vollgas und raste in der Mitte der Gasse davon. Reacher gab drei Schüsse auf die Heckscheibe ab. Der erste verwandelte die Scheibe in ein dichtes Geflecht aus undurchsichtigen Kristallen. Der zweite schmetterte alles Glas auf den Rücksitz des Wagens. Der dritte traf etwas in seinem Inneren, davon war Reacher überzeugt. Aber er wusste nicht, ob er den Fahrer oder seine Kopfstütze getroffen hatte. Oder irgendein anderes Bauteil.
Der Wagen wurde langsamer, hielt an. Im nächsten Augenblick leuchtete der noch verbliebene Rückfahrscheinwerfer auf. Durchdrehende Reifen quietschten, als der BMW herangerast kam. Reacher gab drei weitere Schüsse ab. Alle trafen den Fahrersitz, aber der Wagen wurde nicht langsamer. Er hielt unbeirrbar genau auf Reacher zu. Der Fahrer musste tief nach unten gerutscht sein. Vielleicht bis halb in den Fußraum, wenn er klein genug war. Reacher vermutete, der Kerl benutzte die Rückfahrkamera, um zu sehen, wohin er lenken musste. Er hob die Pistole und fragte sich, wo das Kameraobjektiv eingebaut sein mochte. Dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Dafür war keine Zeit mehr. Er wandte sich scheinbar nach links, flitzte aber nach rechts, um wieder ans Beifahrerfenster zu kommen. Das war knapp. Noch ein paar Sekunden, dann würde er freies Schussfeld haben, um den Kerl zu erledigen. Das stand verdammt fest. Der Fahrer lenkte stark nach rechts. Reacher steckte mit dem Rücken zur anderen Mauer in der Klemme. Seitlich konnte er nicht ausweichen. Oder nach vorn. Oder indem er zurückwich.
Der Wagen kam schnell näher. Sein Heck war nur mehr einen Meter entfernt.
Reacher konnte nirgendshin.
Außer nach oben. Wenn er den richtigen Moment erwischte.
Er steckte die Pistole in seinen Hosenbund. Wartete noch eine Zehntelsekunde, bevor er auf den Kofferraumdeckel des BMW sprang. Dann schnellte er mit hochgereckten Armen in die Luft. Seine Fingerspitzen streiften Metall. Rauen, kalten Stahl, Teil einer Feuertreppe. Eine der Stufen in ihrer waagrecht hochgeklappten untersten Sektion. Er fasste nach und zog sich mit beiden Händen hoch, sodass seine Füße das Autodach nicht mehr berührten.
Reacher schaffte es beinahe. Der Oberrand des Heckfensters prallte an seine Zehenkappen. Das war ein gewaltiger Schlag, der eine Schockwelle durch den ganzen Körper bis in seine Fingerspitzen auslöste. Sein Griff lockerte sich etwas, aber Reacher ließ nicht los. Er packte noch fester zu und beobachtete, wie die Motorhaube des Wagens unter ihm hinwegglitt. Er streckte die Beine und machte sich bereit, sich fallen zu lassen, sich herumzuwerfen und erneut abzudrücken. Dieses Mal würde er durch die Frontscheibe schießen. Direkt von vorn, sodass der Fahrer sich nicht mehr wegducken konnte.
Dann hörte Reacher ein Geräusch über sich. Ein metallisches Schleifen, Scharren und Krachen. Dem folgte ein lauter Knall wie ein weiterer Schuss. Diese aus der Stahlkonstruktion kommenden Geräusche wiederholten sich. Irgendwas brach auseinander. Vielleicht wegen Reachers Gewicht. Vielleicht weil es die Feuertreppe schlagartig belastet hatte. Oder weil ihr Wartungszustand schlechter war, als zu vermuten gewesen wäre. Vielleicht hatten immer wieder neue Farbschichten strukturelle Defekte überdeckt. Jedenfalls rissen die Bolzen, die den beweglichen unteren Teil mit dem Rest der Feuertreppe verbanden. Die gesamte Konstruktion erzitterte. Sie begann nach außen, von dem Gebäude weg, zu kippen. Zehn Grad. Fünfzehn Grad weit. Dort kam sie in ungewohnt neuer Position zur Ruhe. In einem Winkel, für den die Verankerungen in der Mauer nicht ausgelegt waren. Sie wurden herausgerissen. Eine Verankerung nach der anderen vibrierte, knackte und kreischte, als ihr Dübel nachgab.
Reacher erkannte, was kommen würde. Er ließ die Stufe los. Seine Füße berührten das Pflaster. Er machte einen halben Schritt. Dann krachte eine Masse aus verdrehten Eisenträgern auf ihn herab.
7
In den ersten fünfzehn Jahren seines Lebens machte Jed Starmer sich nicht viele Gedanken über den Sinn und Zweck von Gesetzen.
Ihm war bewusst, dass es Gesetze gab. Er verstand, dass sie die Welt um ihn herum irgendwie formten und kontrollierten, aber nur auf unsichtbare, abstrakte Weise wie die Schwerkraft oder der Magnetismus. Er wusste, dass Gesetzesverstöße Folgen hatten. Stress und Strafen. Alle möglichen Unannehmlichkeiten. Er hatte gesehen, wie kleine Gruppen von Männern in orangeroten Häftlingsoveralls an Straßenrändern Müll aufsammeln mussten. Er kannte die Warnungen seiner Pflegeeltern vor Erziehungsanstalten. Und Gefängnissen. Und letztlich der Hölle. Aber trotzdem hatte ihn nichts davon wirklich beeindruckt. Es schien für sein Leben nicht relevant zu sein. Er hatte nicht vor, eine Bank zu überfallen. Oder ein Auto zu stehlen. Er schwänzte nicht mal sehr oft die Schule. Es gab andere Dinge, die ihm Sorgen machten. Weit wichtigere Dinge. Wie er vermeiden konnte, aus dem Haus geworfen zu werden und auf der Straße leben zu müssen. Und wie er vermeiden konnte, erschossen oder erstochen zu werden, wenn er irgendwohin unterwegs war.
Jeds Perspektive änderte sich an seinem fünfzehnten Geburtstag vollständig. Der lag jetzt zwei Wochen und zwei Tage zurück. Während seine Pflegeeltern an diesem Sonntag in der Kirche waren, fuhr er mit dem Bus fünf Meilen weit tief nach South Central L.A. hinein, was ihm streng verboten worden war. Die letzten zweihundert Meter legte er auf einem unebenen Gehsteig zurück: verzweifelt bemüht, nicht ängstlich zu wirken, jeden Blickkontakt mit etwaigen Beobachtern meidend. So erreichte er die wenigen ausgetretenen Steinstufen, die ins Apartmentgebäude seiner leiblichen Mutter hineinführten. Hastete die Treppe hinauf. Stieß die Haustür auf. Wie bei früheren Besuchen in den letzten Jahren funktionierte das Schloss nicht richtig, also betrat er den Eingangsbereich und stieg die Treppe empor. In den zweiten Stock. Dort ging er bis zum Ende des Korridors. Weil er wusste, dass Klingeln keinen Zweck hatte, klopfte er nur. Er wartete. Und er hoffte, dass seine Mutter zu Hause und nüchtern sein würde. Und dass sie sich wenigstens an ihn erinnern würde, selbst wenn sie vielleicht nicht wusste, welcher Tag heute war.
Wie sich zeigte, erinnerte seine Mutter sich. An den Tag und die Person. Sie war völlig nüchtern. Sie war sogar angezogen. Sie machte ihm mit einer Zigarette in der Hand auf und ging durch den blauen Qualm ins Wohnzimmer voraus. Die Jalousien waren heruntergelassen. Der Raum glich einer Müllhalde: Kleidung, Schuhe, Taschen, Bücher, Zeitschriften, CDs, Briefe und Rechnungen bildeten wüste Haufen, als hätte jemand ohne wirklichen Begriff von Ordnung versucht, hier etwas aufzuräumen. Sie blieb kurz in der Mitte des Raums stehen, seufzte und zeigte auf das Sofa. Jed fand mühsam in einer Ecke Platz. Sie setzte sich in die andere, drückte ihre Zigarette in dem übervollen Aschenbecher auf einem Beistelltisch aus. Ein Aschestrom rieselte auf den Teppichboden. Sie seufzte erneut, dann wandte sie sich Jed zu und sagte, sie habe ihn erwartet. Sie habe leider kein Geschenk für ihn, sei aber froh, dass er gekommen sei, weil sie ihm etwas sagen müsse. Sie habe sogar zwei Mitteilungen für ihn.
Die erste war, dass sie krank sei. Sie hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs im vierten Stadium. Jed kannte sich mit dem menschlichen Körper nicht sehr gut aus. Er wusste nicht, wofür die Bauchspeicheldrüse diente. Auch die Zahl sagte ihm nichts. Aber die Tränen seiner Mutter zeigten ihm, dass die Nachricht schlecht war. Sie hatte nicht mehr lange zu leben. Vielleicht Monate. Vielleicht nur Wochen. Auf keinen Fall länger.
Die zweite Mitteilung von Jeds Mutter betraf die Wahrheit über seinen Vater. Oder zumindest das, was sie für die Wahrheit hielt.
Die erste Nachricht bewirkte, dass Jed sich schuldig fühlte. Das war eine unerwartete Reaktion. Im Lauf der Jahre hatte er beobachtet, dass die meisten Leute erstarrten, wenn sie erfuhren, enge Verwandte würden bald sterben. Aber als er die Nachricht ganz begriff, stellte er fest, dass er nicht traurig war, sondern erleichtert. Das war nicht richtig, aber er konnte es nicht ändern. Ihm schien, als wäre er sein Leben lang mit einem um die Taille gebundenen Gewicht gegen die Strömung angeschwommen. Mit Sorgen belastet. Die ständige Angst, dass die Polizei bei seinen Pflegeeltern aufkreuzen würde. Mit Nachrichten über seine Mutter. Dass sie an einer Überdosis gestorben oder ermordet worden war. Oder in irgendeinem erbärmlichen Loch tot aufgefunden worden war, sodass er hingehen und sie identifizieren musste. Oder noch schlimmer, dass sie in einem unbeschreiblichen Zustand bei ihm vor der Tür stehen würde. Seine Pflegeeltern missbilligten seine Mutter. Sogar sehr. Das machten sie ihm bei jeder Gelegenheit klar. Und Jed hatte keine Lust auf weitere Vorwürfe, bloß weil er mit ihr Kontakt pflegte. Aber nun war ein Ende in Sicht. Er wusste jetzt, wie die Geschichte seiner Mutter enden würde. Und wann. Das Seil würde bald gekappt werden. Dann konnte er endlich frei schwimmen.
Die zweite Nachricht hatte eine andere Wirkung auf Jed. Die Worte seiner Mutter leuchteten wie ein Scheinwerfer in einen Winkel seiner Vergangenheit, der ihm bis dahin verborgen gewesen war. Sie erhellten die punktierte Linie, die sein Leben mit dem Gesetz verband. Zeigten ihm eine Verbindung, von der er bisher nichts geahnt hatte. Etwas sehr Persönliches. Ein Link, der Auswirkungen auf seine gesamte Existenz gehabt hatte. So gelangte er zu einem ganz neuen Respekt. Einer Entschlossenheit, nie gegen irgendein Gesetz zu verstoßen, sondern den Zyklus zu unterbrechen. Um zu verhindern, dass die Geschichte sich wiederholte.
Jeds Entschlossenheit hielt exakt zwei Wochen an. Dann wurde sie durch eine Onlinerecherche, während seine Pflegeeltern sonntags in der Kirche waren, auf eine ganz neue Ebene gehoben. Als Erstes begann er eine Google-Suche auf Grundlage der Informationen über seinen Vater, die seine Mutter ihm gegeben hatte. So gelangte er zuletzt zu einem Artikel auf einer Nachrichtenseite, der eine komplizierte Geschichte erzählte, die sich über viele Jahre erstreckte. Jed las ihn sorgfältig. Er merkte sich alle Einzelheiten. Registrierte alle Unstimmigkeiten. Und als er fertig war, hatte er das Gefühl, in seinem Kopf sei ein Suchscheinwerfer eingeschaltet worden. Eine Million Watt an gleißend heller Erleuchtung. Im Vergleich dazu wirkte die Version seiner Mutter leblos blass. Als hätte sie die wichtigen Dinge mit einer Kerze beleuchtet. Oder mit einem Glühwürmchen. Den springenden Punkt hatte sie ganz übersehen. Nun erkannte Jed nicht nur die Macht des Gesetzes, sondern sah auch die von ihm ausgehende Gefahr.
Das Licht von Jeds neuem Wissen fiel nicht nur in seine Vergangenheit zurück. Es leuchtete auch voraus, zeigte ihm, was er tun musste. Und wohin er musste. Erst mal fort von seinen Pflegeeltern. Dann ganz weg aus Kalifornien.
Jed hatte zwei Tage Zeit, um einen Plan auszuarbeiten. Um seine Recherchen abzuschließen. Um sich Mut zu machen. So kam es, dass Jed in dem Augenblick, in dem Reacher die Gasse in Gerrardsville, Colorado, betrat, im Schlafzimmer seiner Pflegeeltern vor der Kommode stand. Die abgetragene Unterwäsche seiner Pflegemutter war zur Seite geschoben. Darunter war ein Packen Zwanziger sichtbar. Und Jed steckte in einem Dilemma. Er brauchte dieses Geld. Unbedingt. Aber er wollte es nicht stehlen. Weil er kein Gesetz brechen wollte, versuchte er, sich einzureden, es sei kein Diebstahl, wenn das Geld bereits gestohlen war. Was es ja irgendwie war. Der Staat hatte es gezahlt, um ihm Nahrung und Unterkunft zu sichern. Ihm und den drei weiteren Pflegekindern, mit denen er zusammenlebte. Und trotzdem lag das Geld unangetastet hier, während er Sachen trug, die ihm längst nicht mehr passten und fast jeden Abend hungrig ins Bett ging.
Das Endresultat war, dass Jed keine Straftat begehen wollte. Aber er wollte auch nicht verhungern. Oder mehr als die Hälfte der Strecke zwischen West- und Ostküste per Anhalter zurücklegen müssen. Denn unabhängig von dem, was er wollte, standen drei Tatsachen fest: Vor ihm lag eine weite Reise. Ihm blieb nicht viel Zeit, um sein Ziel zu erreichen. Und er konnte es sich nicht leisten, zu spät anzukommen.
8
Reachers Ohren summten, als er wieder zu sich kam. Er hatte bohrende Kopfschmerzen. Das auf seiner Brust lastende Gewicht machte jeden Atemzug mühsam. Er brauchte einen Augenblick, um herauszufinden, worunter er festgenagelt war. Dann musste er weitere fünf Minuten lang heben und schieben und sich verrenken, bevor er unter dem Gewirr aus Stahlträgern hervorkriechen konnte.
An der Einmündung der Gasse hatte sich eine kleine Menge versammelt. Reacher erkannte einige der Leute wieder. Sie hatten den Bus und die überfahrene Angela St. Vrain angegafft. Die erste Aufregung darüber musste sich gelegt haben. Sie schienen darauf gesetzt zu haben, dass die Action in der Gasse spannender sein würde. Jedenfalls waren sie mehr daran interessiert zu gaffen, als Hilfe zu leisten. Erst als Reacher sich aus dem Stahlgewirr befreit hatte, traten ein paar der jüngeren Männer vor und versuchten, ihm beim Aufstehen behilflich zu sein.
Reacher stieß sie beiseite.
Einer von ihnen fragte: »Alles okay, Kumpel?«
Reacher gab keine Antwort.
»Wir dachten, wir hätten Schüsse gehört.« Der Kerl zuckte mit den Schultern. »Aber das muss das Krachen des Absturzes gewesen sein.«
Reacher atmete mehrmals tief durch, während er darauf wartete, dass die Menge sich zerstreute, und sah sich dann in der Gasse um. Auf dem Pflaster waren Reifenspuren zu erkennen. Die Mauern wiesen an einigen Stellen Schrammen mit Spuren von schwarzem Autolack auf. Der nächste Abfallcontainer war stark eingebeult. Hier und da waren kleine Haufen von Glassplittern zu sehen. Aber keine Pistole. Keine Männer in Hoodies. Kein Auto, Kein Müllbeutel. Keine Schultertasche. Und kein Umschlag.
Die Rettungsdienste waren in voller Stärke im Einsatz, als Reacher wieder die Straße erreichte. Die Kreuzung war durch vier quer gestellte Streifenwagen mit eingeschalteten Blinkleuchten gesperrt. Die linke Seite des Busses, unter der Angela St. Vrains Leiche gelegen hatte, war unter einem hastig errichteten Zelt verschwunden. Nicht als Wetterschutz, vermutete Reacher, sondern als Sichtschutz vor Fernsehteams mit Teleobjektiven oder Hubschraubern. Die Todesursache der Frau war kein großes Rätsel. Die Frage nach dem Täter war eine andere Geschichte. Und die nach seinem Motiv.
Reacher registrierte vier uniformierte Cops, die dabei waren, die hartnäckigen Gaffer zu befragen. Er verfolgte das Ganze weiter, bis er einen Mann in einem Anzug hinter dem Bus hervorkommen sah. Der Kerl trug sterile Handschuhe und hielt ein kleines Notizbuch in der linken Hand. Reacher fand, es sage einiges über die Kriminalitätsrate in Gerrardsville aus, wenn zu einem scheinbar gewöhnlichen Verkehrsunfall gleich ein Kriminalbeamter auftauchte. Aber er beschwerte sich nicht darüber. So sparte er sich die Mühe, das Polizeirevier aufzusuchen.
Der Kriminalbeamte schien Anfang dreißig zu sein. Er war über einen Meter achtzig groß, wirkte durchtrainiert und hatte einen Bürstenhaarschnitt. Seine Anzughose besaß messerscharfe Bügelfalten. Sein Oberhemd war frisch gebügelt, die Krawatte ordentlich gebunden. Und seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert.
Als der Mann merkte, dass Reacher ihn beobachtete, ging er auf ihn zu und streckte die Hand aus. »Detective Harewood. Was kann ich für Sie tun?«
Reacher berichtete, was er an der Kreuzung gesehen und was sich anschließend in der Gasse ereignet hatte. Er sprach langsam und brachte die Informationen leicht verständlich an den Mann. Harewood schrieb alles in sein Notizbuch. Er ließ nichts aus. Er fasste nichts zusammen. Und er vergeudete keine Zeit damit, nach Reachers Beruf oder Adresse zu fragen.
Als sie fertig waren, ließ Reacher sich Harewoods Karte geben und versprach ihn anzurufen, wenn ihm nachträglich weitere Details einfielen. Dann ging er mit der Überzeugung davon, dass der Fall in guten Händen war. Er überlegte, ob er versuchen sollte, die Stadt per Anhalter zu verlassen, kam aber zu einem anderen Resultat. Sein Kopf schmerzte. Sein Körper fühlte sich wund und steif an. Um sich zu erholen, war es bestimmt besser, gut auszuschlafen. Dafür sprach auch etwas anderes: Die Kerle in Hoodies konnten zurückkommen. Sie brauchten natürlich ein Ersatzfahrzeug. Und vielleicht wollten sie den Umschlag jemandem übergeben. Oder ihn irgendwo sicher aufbewahren. Aber dann würden sie vielleicht an den Augenzeugen denken, den sie zurückgelassen hatten. Wahrscheinlich würden sie etwas dagegen unternehmen wollen.
Das hoffte Reacher jedenfalls.
Gerrardsville war nicht groß. Reacher verbrachte den Nachmittag damit, so sichtbar wie möglich zu sein. Er schlenderte durch die Straßen, interessierte sich für die Auslagen der Geschäfte und saß Kaffee trinkend vor mehreren Cafés. Das begann als angenehmer Zeitvertreib. In der Stadtmitte gab es Fußgängerzonen mit Sitzbänken unter Bäumen. Die hiesige Einwohnerschaft schien überwiegend aus Studenten, jungen Eltern mit Babys in Kinderwagen, Hipstern und smarten Akademikern in übertrieben lässiger Kleidung zu bestehen. Aber je länger Reacher sich zeigte, desto frustrierter wurde er. Er musste sich mit den Tatsachen abfinden. Wenn er der Wurm war, wollte kein Fisch anbeißen. Also gab er dieses Vorhaben auf und machte sich auf den Weg zum südlichen Stadtrand, an dem ihm am Vortag zwei Motels aufgefallen waren.
Reacher hatte sich getäuscht.
Das stellte er fest, bevor er zwei Blocks zurückgelegt hatte. Er wurde beobachtet. Jemand behielt ihn im Auge. Das spürte er. Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. Eine steinzeitliche Reaktion. Ein von seinem Echsengehirn ausgehendes Warnsignal. Äußerst zuverlässig. Niemals zu ignorieren.
Reacher machte vor dem nächsten Schaufenster halt. In dem Laden gab es bunt verpackte Schokolade in allen möglichen Geschmacksrichtungen. Aber er interessierte sich nicht für die Auslage, sondern nur für die Scheibe, in der sich die Straße hinter ihm spiegelte.
Ein höher gelegter schwarzer Truck mit Chromfelgen rollte vorbei. Sein Beifahrersitz war leer. Der Fahrer achtete nicht auf Reacher. Beim nächsten Wagen handelte es sich um einen silbergrauen Jeep mit zwei Kajaks auf dem Dach und roten Schlammspritzern an den Seiten. Sein Fahrer hatte nur Augen für den schwarzen Truck vor ihm. Dann tauchte ein weißer Viertürer auf. Ein Toyota Corolla.