Der Reichstag - Michael S. Cullen - E-Book

Der Reichstag E-Book

Michael S. Cullen

3,8

Beschreibung

Im Reichstagsgebäude spiegelt sich – wie nirgends sonst in Deutschland – die wechselvolle deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.Der Historiker und Publizist Michael S. Cullen erzählt in diesem Buch von den schwierigen Planungen, vom parlamentarischen Alltag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, von Missbrauch und Zerstörung in der Zeit des Nationalsozialismus, von den Debatten des Kalten Krieges, von der spektakulären Verhüllung durch Christo und Jeanne-Claude im Jahr 1995 und vom Wiedereinzug des deutschen Parlaments.

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Michael S. Cullen

Der Reichstag

Symbol deutscher Geschichte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

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ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen

und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos,

in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:

be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2015

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Robert Zagolla, Berlin

Umschlaggestaltung: Fernkopie, Berlin

ISBN 978-3-8393-0125-8 (epub)

ISBN 978-3-89809-114-5 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Vorwort

Die Anfänge

Parlamentarischer Alltag 1894–1932

Symbol der Weimarer Republik

Parlament ohne Demokratie

Im Kalten Krieg

Im wiedervereinigten Deutschland

Anhang

Vorwort

In seinem Vorwort zur Geschichte des US-Kapitols schrieb der Architekt Glenn Brown im Jahr 1901, der Bau sei keine fertige Schöpfung, sondern ein Gewächs. Sein höchster Wert liege darin, dass er nie fertig geworden sei, ja, dass er nie fertig werden könne. Dasselbe gilt auch für das Reichstagsgebäude in Berlin – und genauso für die Arbeit, die seine Geschichte festhalten will. So gesehen kann auch ein Buch über das Reichstagsgebäude niemals fertig sein: Man beendet seine Bücher niemals, man setzt sie aus. Auch dieses Werk ist also »ausgesetzt«.

Mit der feierlichen Schlüsselübergabe an den Deutschen Bundestag erhielt das Reichstagsgebäude am 19. April 1999 eine neue, alte Identität: Es ist seither (wieder) Sitz eines frei gewählten gesamtdeutschen Parlamentes. Das war nicht immer so. Kein anderes Parlamentsgebäude auf der Welt ist in ähnlich kurzer Zeit historisch derart gebeutelt worden. Deshalb – und wegen der prekären Lage des Hauses unmittelbar an der Berliner Mauer – zögerten die Künstler Christo und Jeanne-Claude nicht lange, meinen Vorschlag anzunehmen, das Reichstagsgebäude für eine ihrer spektakulären Verhüllungsaktionen zu nutzen. Es schien ihnen besser geeignet als das Kapitol in Washington, der Westminster-Palast in London oder das Palais Bourbon in Paris – alle in der universellen Geschichte der Demokratie weitaus bedeutsamer. Sie verhüllten 1995 das Reichstagsgebäude in Berlin, weil hier neben der ästhetischen Wirkung auch eine ideelle Botschaft vermittelt werden konnte, die – wenn auch nicht primär beabsichtigt – doch so verstanden wurde.

Das heutige, von Sir Norman Foster restaurierte Gebäude hat nur noch bedingt Ähnlichkeit mit dem von Paul Wallot zwischen 1884 und 1894 errichteten Reichstag. Es präsentiert sich heute so, dass ein Zeitgenosse seines Erbauers es nur schwerlich wiedererkennen würde. Die mächtige glaseiserne Kuppel – von Frank Wedekind einst spöttisch als »Bonbonnierendeckel« bezeichnet – ist durch ein im Inneren begehbares »englisches Ei« ersetzt worden. Die Ecktürme sind zum Teil »abrasiert«, die Fensterornamente und -zwickel fehlen, die Fenster selbst sind neu gestaltet. Der Reichstag präsentiert sich als stilbereinigtes, umgebautes, verhülltes, enthülltes und im Inneren völlig verändertes Haus, das seinem Zweck, ein modernes und zweckmäßiges Plenargebäude für den Bundestag zu sein, voll und ganz entspricht.

In den ersten hundert Jahren seines Bestehens war das Haus nur ganze 38 Jahre lang tatsächlich Heimstatt für eine gewählte Volksvertretung, die versuchen konnte, die Geschicke Deutschlands zu steuern. Dass die Zeit von der ersten Reichstagssitzung am 6. Dezember 1894 bis zur letzten am 9. Dezember 1932 so kurz war, hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass die meisten Deutschen das Reichstagsgebäude vor allem als Symbol für die Idee einer parlamentarischen Demokratie wahrnahmen – und weniger als den Ort, an dem diese Demokratie tatsächlich praktiziert wurde.

Ereignisse mit Symbolkraft gab es in der Tat viele: Am 9. November 1918 rief der Abgeordnete Philipp Scheidemann auf einem Balkon des Reichstags die Republik aus; im Plenum fand im Juni 1922 die Gedenkfeier für den ermordeten Reichsaußenminister Walther Rathenau statt; am 12. Mai 1925 wurde am gleichen Ort Reichspräsident Paul von Hindenburg vereidigt, einer der Totengräber der Weimarer Republik. Der Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 gilt als Fanal für die Machtübernahme durch die Nazis. Das Hissen der Roten Fahne auf dem Dach des Reichstags Ende April 1945 war dann zugleich Zeichen der Befreiung von der Nazi-Herrschaft und Symbol für den Beginn einer neuen Diktatur. Über die Jahre der deutschen Teilung hinweg galt das Gebäude – auch wegen seiner exponierten Lage – vielen Menschen im Ostteil Deutschlands als Symbol für ein demokratisches Gesellschaftssystem. Dennoch war es nach der Wiedervereinigung des Landes keine Selbstverständlichkeit, dass der Deutsche Bundestag hier wieder einziehen würde.

Hort der Demokratie oder »Gipfel der Geschmacklosigkeit«? Das Reichstagsgebäude war seit seiner Errichtung stets umstritten. Postkarte, um 1900.

Unumstritten war das Reichstagsgebäude nie. Schon Kaiser Wilhelm II. hatte für das Parlament und sein Haus viele beleidigende Ausdrücke auf Lager: zum Beispiel »Gipfel der Geschmacklosigkeit« oder »Reichsaffenhaus«. Noch um 1920 hatte das Haus mehr Kritiker als Verteidiger. Stadtbaurat Ludwig Hoffmann nannte es einen »Leichenwagen Erster Klasse«, der wortgewaltige Architekturkritiker Werner Hegemann hätte es am liebsten abgerissen gesehen. Um 1960 fand der einflussreiche SPD-Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt nur ein mildes Lächeln für die Idee, das Reichstagsgebäude wieder aufzubauen; um 1990 verdammten es der Architekt Günter Behnisch und der Publizist Rudolf Augstein. Die Diskussion um die Details von Nutzung und Gestaltung des Gebäudes, die nach dem Hauptstadt-Beschluss des Deutschen Bundestages am 20. Juni 1991 mit neuer Kraft entflammte, ist vielen Zeitgenossen noch in lebhafter Erinnerung.

Als ich 1983 mein erstes Buch über die Geschichte des Reichstags veröffentlichte, stand dahinter der Wunsch, der Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch Christo und Jeanne-Claude auf die Sprünge zu helfen. Das Buch wurde 1990 (sehr zu meinem Bedauern) ohne Korrekturen, ohne Veränderung nachgedruckt. Im Jahr 1995 erschien dann eine überarbeitete und erweitere Ausgabe, die mit der Christo-Verhüllung endete; in der Ausgabe von 1999 setzte der Umbau von Sir Norman Foster den Schlusspunkt. Während es damals darum ging, die Bau- und Nutzungsgeschichte des Gebäudes so umfassend und detailliert wie möglich zu dokumentieren, will dieses neue Buch dem Leser vor allem einen Überblick geben und ihm die Augen dafür öffnen, dass die Bedeutung des Reichstagsgebäudes weniger in seiner Architektur begründet ist – auch wenn gerade über diesen Aspekt immer wieder erbittert gestritten wurde –, sondern vor allem in seiner Symbolkraft und seinem Symbolgehalt. Insofern ist eine Geschichte des Reichstags zugleich auch eine Geschichte von Parlamentarismus und Demokratie in Deutschland. Wer sich auf dieses spannende Thema einlässt, wird erkennen, dass wir es – ganz im Sinne Glenn Browns – nicht mit etwas Endgültigem, Fertigem zu tun haben, sondern mit einem Gewächs, das stetig im Werden begriffen ist.

Michael S. Cullen

Berlin, im Oktober 2014

Die Anfänge

Von der Ständeversammlung zum Parlament

Der Parlamentarismus ist eine junge Errungenschaft. In vielen Gesellschaften werden Gesetze einfach vom jeweiligen Herrscher verkündet. Dass diese Gesetze zuerst besprochen werden – Parlament kommt vom lateinischen »parlamentum«, dem Gespräch der Mönche bei Tisch –, ist zwar schon in alten Zivilisationen üblich gewesen, dass jedoch diejenigen, die die Gesetze durch Rede und Gegenrede beschließen, vom Volk gewählt werden, ist relativ neu und zugleich Merkmal einer Demokratie.

Fast all diese Merkmale eines modernen Parlamentarismus fehlten jenen frühen Versammlungen, die in Deutschland um 1495 als »Reichstag« bezeichnet wurden. Diese Ständeversammlung, die Adel, Klerus und Stadtbürgertum repräsentierte, tagte an verschiedenen Orten, unregelmäßig und selten, meist für die Dauer eines Monats. Die Mitglieder wurden nicht gewählt, sondern aufgrund ihrer Stellung als Fürsten oder als Vertreter der Reichsstädte geladen. Das Recht auf Einberufung oblag dem Kaiser, der auch die Agenda festsetzte und sie mit der Einladung verschickte. Mitunter konkurrierten die Städte untereinander, um einen Reichstag abzuhalten, da dies hohe Einnahmen versprach; die Delegation eines Fürsten zählte leicht 6 000 Menschen und ebensoviele Pferde. Es gab aber auch Städte, für die ein Reichstag schlichtweg zu teuer war. Nur die wenigsten Reichstage tagten periodisch, manchmal vergingen viele Jahre zwischen den Versammlungen. Die Sitzungen waren nicht öffentlich; die Befugnisse jener Versammlungen hielten sich in Grenzen. Die meisten Sitzungen fanden in Rathäusern oder Ratsstuben statt; eröffnet und beendet wurde der Reichstag normalerweise in einem Dom oder einer anderen großen Kirche.

Im Jahr 1663 konnte der Reichstag, der im Regensburger Rathaus tagte, wegen unerledigter Geschäfte formal nicht auseinandergehen. Aus diesem Dilemma entstand in der Folgezeit der »immerwährende« Reichstag. Da die meisten Fürsten nicht lange außerhalb ihrer Territorien verweilen konnten, ohne die Basis ihrer Macht zu gefährden, entstand in Regensburg ein »Gesandtenkongress«. Dieser sollte ohne Unterbrechung bis zur Auflösung des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« im Jahr 1806 bestehen.

Was der Reichstag auf nationaler Ebene war, waren die Landtage, Landstände oder »Landschaften« auf regionaler Ebene. Sie versammelten sich in Schlössern und Rathäusern, jedenfalls bis 1806. Eine »landständische« Architektur hat es dabei ebensowenig gegeben wie eine »Parlamentsarchitektur«, wiewohl einzelne Parlamentsgebäude – etwa in Hannover, in Dresden – durchaus ein eigenständiges Gesicht hatten.

Nach den Befreiungskriegen ordnete der Wiener Kongress von 1815 die europäische Welt neu. Unter den vielen Ergebnissen hatten zwei eine besondere Bedeutung für die Entwicklung des Parlamentarismus. Zum einen entstand der Deutsche Bund – als Zusammenschluss deutscher Fürsten und Städte gewissermaßen ein Nachfolger des alten deutschen Reiches – mit Sitz in Frankfurt am Main. Dort tagte, um die politischen Geschäfte zu führen, der Bundestag. Dieser hatte mit unserem heutigen allerdings nur den Namen gemein: Er bestand, wie einst der Regensburger Reichstag, aus Gesandten, deren Treffen eher Sitzungen von Großkonzernen ähnelten als denen eines Parlaments. Zum anderen legte die Bundesakte fest, dass alle Mitglieder sich eine Verfassung geben sollten, in der auch die Rechte des jeweiligen Landtags geregelt waren. An dieser Frage entzündete sich ein dauerhafter Konflikt zwischen reaktionären Fürsten und liberalem Bürgertum, der in den Revolutionen von 1830 und 1848 gipfelte. Das bedeutendste Ergebnis war die Einberufung der Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1848, die – wenn auch nur für wenige Monate – als erstes tatsächlich demokratisch legitimiertes Parlament auf deutschem Boden tätig war. Tagungsort der Nationalversammlung war die Frankfurter Paulskirche.

Ein Vorgänger des modernen Parlaments: Der Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Regensburger Rathaus, um 1650.

Nach dem Sieg der monarchisch-restaurativen Kräfte und der Vertreibung und Auflösung des Paulskirchen-Parlaments Anfang 1849 wurde die alte Ordnung schnell wieder hergestellt. Größere Veränderungen brachte erst die Auflösung des Deutschen Bundes mit der anschließenden Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahr 1867, dem Österreich und die süddeutschen Staaten nicht mehr angehörten. An die Stelle des Bundestages trat nun wieder ein »Reichstag«, der in Berlin tagte. Mit der Reichsgründung wurde er 1871 vom Reichstag des Deutschen Reiches abgelöst.

Nach der vorläufigen Reichsverfassung vom 16. April 1871 ging die Macht im Deutschen Reich von drei Organen aus: Dem Bundesrat, dem Präsidium und dem Reichstag. Der Kaiser ernannte einen Reichskanzler, der zugleich Präsident des Bundesrates war. Der Bundesrat bestand zunächst aus 58 »Bevollmächtigten« der Bundesstaaten. Obwohl er an erster Stelle in der Reihe der Verfassungsorgane stand, war dieses »Parlament der Regierenden« ein eher schwaches und erzkonservatives Organ. So hatte er bei der Steuerfestlegung und in vielen anderen Bereichen der Gesetzgebung nur beratende Funktion. Er verhandelte nicht öffentlich, publizierte auch keine Wort-, sondern nur Ergebnisprotokolle und war deshalb wenig bekannt, folglich auch wenig populär. Natürlich trug dazu bei, dass die Mitglieder des Bundesrates nicht kandidieren mussten und sich zum größten Teil aus dem Adel rekrutierten; vielfach waren sie miteinander verwandt und verschwägert.

Nach dem zeitgenössischen Selbstverständnis war das Deutsche Reich nur eine Vergrößerung des Norddeutschen Bundes, dessen höchste politische Repräsentation der Reichstag schon seit 1867 dargestellt hatte. Hauptstadt des Norddeutschen Bundes war Berlin; Berlin blieb auch Hauptstadt des Deutschen Reiches. Nominelles Staatsoberhaupt war Wilhelm I., deutscher Kaiser und König von Preußen. Chef der Regierung war Otto von Bismarck, der zu Beginn der Legislaturperiode am 16. April 1871 vom Grafen zum Fürsten erhoben wurde. Mit der Annahme der Verfassung änderte sich gleichzeitig die Amtsbezeichnung Bundeskanzler in Reichskanzler. Erleichternd – oder auch erschwerend – kam die Tatsache hinzu, dass Bismarck nicht nur Kanzler, sondern – mit Ausnahme eines Jahres – auch Ministerpräsident von Preußen war. Da der Aufbau von zentralen Verwaltungen und Ministerien einige Zeit in Anspruch nahm, regelte in der ersten Zeit das Reichskanzleramt als oberste administrative Reichsleitung die wichtigsten Probleme im Reich sowie die auswärtigen Angelegenheiten. Fast alle anderen Aufgaben wurden von den preußischen Ministerien wahrgenommen, erst nach und nach bildeten sich fest abgesteckte Geschäftsbereiche heraus.

Die Wahlen zum Reichstag des neuen Deutschen Reiches fanden am 3. März 1871 statt. Die Einwohnerzahl des Reiches betrug damals mehr als 41 Millionen, wahlberechtigt waren jedoch nur knapp 7,7 Millionen Bürger (also 18,7 Prozent) – nämlich alle männlichen Staatsangehörigen, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten und im Besitz der »bürgerlichen und politischen Ehrenrechte« waren. Trotz mancher Einschränkungen war dieses Wahlrecht demokratischer als das in vielen deutschen Teilstaaten, zum Beispiel in Preußen, wo für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus Eigentumsnachweise, Grundbesitz und Steuererklärungen erforderlich waren. Frauen waren zu dieser Zeit nirgendwo in Deutschland wahlberechtigt.

Im ersten Reichstag gab es sieben Fraktionen: die Nationalliberalen waren mit 116, das Zentrum (die Katholiken) mit 57, die Konservativen mit 50, die Deutsche Fortschrittspartei mit 44, die Deutsche Reichspartei mit 38 und die Liberalen mit 29 Mitgliedern vertreten. Anders als heute gab es damals keine Fraktionsgeschäftsführer, und auch so gut wie keine Fraktionsdisziplin. Auch fehlte eine explizite Regierungspartei bzw. eine organisierte Opposition. In den Debatten spürte man aber relativ schnell antipreußische und Anti-Bismarck-Gefühle, besonders in den Reihen der süddeutschen und der katholischen Abgeordneten.

Leider war es mit den Vorrechten des Reichstags nicht so demokratisch bestellt wie ursprünglich gehofft, denn ureigene Kompetenzen – das Recht auf Einberufung, Vertagung und Auflösung – blieben nach Art. 12 der Reichsverfassung beim Kaiser. In der ersten Legislaturperiode verhandelte der Reichstag meist nur zweimal im Jahr über jeweils sechs Wochen – von März bis Mitte Juni und von Oktober bis Dezember.

Im Gegensatz zu den Vertretern des preußischen Abgeordnetenhauses erhielten die Reichstagsmitglieder keine Diäten bzw. Sitzungsgelder. Bismarck lag daran, dass sich die Politiker als ehrenamtlich verstanden und ihre Wahlkreise besser kannten als die Hauptstadt. Dies hatte zur Folge, dass die weniger betuchten Mitglieder, besonders wenn sie weit von Berlin entfernt wohnten, äußerst selten zu den Reichstagssitzungen kamen. Insofern waren beispielsweise die Abgeordneten aus Bayern und aus den fernen polnischen Gebieten stark benachteiligt.

Ein Reichstag ohne eigenes Gebäude

Eine Woche nach der konstituierenden Sitzung des Reichstags vom 21. März 1871 fragte der nationalliberale Abgeordnete Johannes Miquel, ob denn »der Bau eines neuen Parlamentshauses beabsichtigt« und »in der gegenwärtigen Session des Reichstags eine darauf bezügliche Vorlage zu erwarten« sei. Seine »kleine Interpellation« stellte er im Plenarsaal des Preußischen Abgeordnetenhauses in der Leipziger Straße 75, das zunächst als Sitzungslokal des neuen Reichstags diente. Dieses Haus war jedoch alles andere als ein repräsentativer Ort für die gewählten Abgeordneten des Deutschen Reiches. Es handelte sich um das ehemalige Stadtpalais des früheren Staatskanzlers Fürst August von Hardenberg. Dieses Gebäude war durch Preußens größten Baumeister Karl Friedrich Schinkel mehrmals umgebaut und erweitert worden und galt als »Fuchsbau«: verwinkelt, unzweckmäßig und unbequem. Kaum eine Sitzung, in der das Übel nicht beklagt wurde: Luftzug, Kälte, Hitze, Gestank, Lärm, Enge.

Die Debatte, die Miquels Antrag hervorrief, zeigt, dass die Raumprobleme des Parlaments der Regierung nicht fremd waren. Bismarcks Staatsminister Rudolf Delbrück lenkte die Aufmerksamkeit der Parlamentarier auf die rückwärtigen Teile des Kanzleramts in der Wilhelmstraße, die sogenannten Ministergärten, speziell auf das Gartengrundstück mit der Front zur Königgrätzer Straße – der heutigen Stresemannstraße. Für jene Grundstücke hatte Delbrück den preußischen Baurat Heinrich Herrmann mit der Ausarbeitung eines Bebauungsplanes beauftragt. Herrmann schlug vor, ein neues Parlamentsgebäude mit Front zur Königgrätzer Straße hinter dem Reichskanzlerpalais zu bauen und beide mit einem schmalen Gang, einem »Universalgelenk«, zu verbinden. Einerseits fand der Reichstag den Gedanken, in unmittelbarer Umgebung des Kanzlers zu sitzen, verlockend, andererseits lehnte er es ab, sich als bloßes »Anhängsel« behandeln zu lassen. So beschlossen die Abgeordneten, einen Neubau im »monumentalen Style« zu errichten und dafür eine Baukommission ins Leben zu rufen. Deren Aufgabe wurde genau definiert: So schnell wie möglich ein zweckmäßigeres, bequemeres Provisorium zu schaffen, den Platz für einen Neubau auszusuchen sowie Programm und Bedingungen für einen Wettbewerb zu formulieren.

Man könnte meinen, dass die Stadt Berlin hierbei ein Wörtchen mitzureden hatte, doch dem war mitnichten so; Berlin fiel durch Schweigen auf. Umso mehr allerdings mischte sich der Berliner Architekten-Verein in die Auseinandersetzung ein. Sein Organ, die »Deutsche Bauzeitung«, erörterte in ihren Artikeln Fragen der geeigneten Architektur, des geeigneten Bauplatzes und der geeigneten Methode, zu einem befriedigenden Entwurf zu kommen. Diese Artikel waren so klar, weitblickend und sachlich geschrieben, dass sie bei der Entscheidungsfindung eine große Rolle spielten. Dennoch war der Weg alles andere als geradlinig. Im Reichstag selbst und in der Presse wurden die Details erörtert, hin- und hergewendet, verteidigt, befehdet und bekämpft. Wie viele Abgeordnete und wie viele Bundesratsmitglieder sollten in der Kommission sitzen? Sollten Kunsthistoriker und Künstler, sollten Architekten dazu gehören und gar Stimmrecht besitzen?

Mitglieder des Reichstags in der Lobby des Hauses, Leipziger Straße 4, 1889.Der Ordensgeschmückte ist Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke.

Die Wahl zu der vom Reichstag einzusetzenden Kommission war von Parteiengerangel gekennzeichnet und zog sich daher in die Länge. Dennoch kam ein Gremium zustande, das sich wegen seines großen Sachverstandes sehen lassen konnte. Vor allem gehörten ihm zwei wichtige Leute an: der rheinländische Zentrumsabgeordnete August Reichensperger, Richter und Kunsthistoriker sowie passionierter Neugotiker, einerseits; andererseits Hans Viktor von Unruh aus Magdeburg, Bauingenieur und Eisenbahn-Experte, ehedem Präsident der preußischen Nationalversammlung in den historischen Tagen von 1848. Eine wichtige Rolle spielten auch der Buchhändler Franz Duncker und der Berliner Polizeipräsident Lothar von Wurmb – eine eigenständig agierende Baupolizei gab es damals noch nicht. Vorsitzender der Kommission war der preußische Bundesratsbevollmächtigte Theodor Weishaupt.

In der Frage eines vorübergehenden Ausweichquartiers konnte die Kommission schnell Ergebnisse liefern, da schon das preußische Abgeordnetenhaus ab 1860 mehrere neue Standorte ins Visier genommen hatte, unter anderem das Grundstück der Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) in der Leipziger Straße 4. 1871 brauchte man die Bemühungen um diese Lösung nur auf den Reichstag zu übertragen. Die Pläne für das zu errichtende Provisorium stammten von den Berliner Architekten Martin Gropius, Heino Schmieden und Friedrich Hitzig, die ihre Aufgabe innerhalb von zehn Wochen mit Hilfe von Nachtarbeit bei elektrischem Licht – ein Novum in Berlin – und trotz Streiks von Maurern und Zimmerleuten meisterten. Die Pläne für den Plenarsaal stammten von Baurat Herrmann, der sich in Brüssel und Paris hatte inspirieren lassen. Beim späteren Wettbewerb für das Reichstagsgebäude war eine der Auflagen, dass der Plenarsaal wegen der Akustik die gleichen Dimensionen haben müsse wie dieser Saal im provisorischen Vorgängerbau.

In dem »Provisorissimum« in der Leipziger Straße, wie Bismarck es nannte, wollte man sich für etwa fünf oder sechs Jahre einrichten – es wurden jedoch 23. Dieses Gebäude war der Tagungsort des Reichstages »im Zeitalter Bismarcks«; hier sagte der »Eiserne Kanzler« am 18. Mai 1872, er ginge nicht nach Canossa, und am 16. Februar 1888: »Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt«. Hier begann der Kulturkampf, hier wurden 1878 die Gesetze gegen die Sozialisten verabschiedet und wieder aufgehoben. Und in diesem Haus nahm Bismarck im März 1890 seinen Abschied.

Der wichtigste Raum des Parlaments, der Plenarsaal, maß 28,25 mal 22 Meter, hatte also eine Fläche von 621,5 Quadratmetern. Sitzplätze gab es für 400 Abgeordnete. Die »Deutsche Bauzeitung« beschrieb die fertige Tagungsstätte so: »Die Breite eines Platzes, welcher mit einem gepolsterten und mit Leder überzogenen Klappsitze und mit einem verschliessbaren Pulte ausgerüstet ist, wurde dabei auf mindestens 0,63 m, die Tiefe auf 0,78 m bestimmt und das Prinzip durchgeführt, dass neben einem zentralen Mittelgange so viele radiale Quergänge angelegt wurden, dass ein Abgeordneter beim Verlassen seines Sitzes höchstens an einem Nachbar vorbei zu passiren hat. Diese Anordnung, durch welche die Gesammtzahl der Plätze in sieben keilförmige Hauptgruppen zerlegt worden ist, die in dem inneren Halbkreise in einer Breite von zwei Plätzen auslaufen, macht neben ihren sonstigen Vorzügen auch eine sehr bequeme und übersichtliche Vertheilung der einzelnen Fraktionen möglich, die auf jenen Vorderplätzen voraussichtlich ihre streitfertigsten Kräfte plaziren werden, während die schweigsameren Mitglieder des Hauses die aufwärts gelegenen Sitze erhalten dürften. Dass es jedem einzelnen Abgeordneten möglich ist, das ganze Haus zu übersehen und von allen Seiten gesehen zu werden, und dass unter diesen Umständen das Sprechen vom Platze, dem ja bekanntlich die Mehrzahl der Abgeordneten den Vorzug giebt, wesentlich erleichtert worden ist, darf wohl besonders hervorgehoben werden.«

Auf der Suche nach einem Standort

Nachdem die Frage des Provisoriums bereits im Juli 1871 erledigt worden war, konzentrierten sich die Kommissionsmitglieder auf die Wahl eines passenden Grundstücks für den endgültigen Bau. In den Fokus geriet schnell der Königsplatz im Tiergarten – ein ehemaliger Exerzierplatz, der im Berliner Volksmund »Sahara« genannt wurde. Hier hatte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. in den 1840er-Jahren die Baugenehmigung für zwei einander gegenüberliegende Bauten erteilt: auf der Westseite ein Unterhaltungsetablissement für den Breslauer Gastwirt Josef Kroll und auf der Ostseite ein Wohnpalais mit Kunstgalerie für Graf Athanasius Raczynski. 1864 wurde der Platz von Wilhelm I. als Standort für ein Denkmal für den Sieg über die Dänen in den Düppeler Schanzen ausgewählt, das nach den Siegen über Österreich 1866 in Königgrätz und über Frankreich 1870 in Sedan zu einer »Siegessäule« wurde, die am 2. September 1873 eingeweiht wurde. Der Königsplatz blieb unter der persönlichen Kuratel des Königs von Preußen und avancierte zur feinsten Adresse, so dass die Standortwahl für den deutschen Reichstag naheliegend war.

Nach nur kurzen Überlegungen und auf Anraten des Polizeipräsidenten Lothar von Wurmb wurde als Bauplatz das Grundstück des Palais Raczynski ausgewählt – obwohl König Friedrich Wilhelm IV. dem Diplomaten das Grundstück seinerzeit solange zum Nießbrauch überlassen hatte, wie dieser seine dort ausgestellte Kunstsammlung dem Publikum zugänglich machte. Die Kommission ging davon aus, dass man sich mit Raczynski einigen oder ihn nötigenfalls enteignen könne. In diesem Punkt hatten sich die Herren allerdings gründlich geirrt und sozusagen die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der 83-jährige Graf erfuhr aus der »Berliner Volkszeitung« vom Schicksal, das seinem Lebenswerk zugedacht war. Für einen alten und erfahrenen Diplomaten gab es kaum Schlimmeres als solch einen Formfehler. Umgehend gab er zu verstehen, dass er einem Verkauf nicht zustimmen würde. Denn Raczynski wusste: Über eine mögliche Enteignung konnte nur der preußische König entscheiden. Und dieser König war der Bruder jenes Monarchen, der Raczynski das Grundstück für treue Dienste überlassen hatte. Schon aus Pietät würde ein preußischer König niemals die Unterschrift seines Bruders außer Kraft setzen.

Der Sitzungssaal in der Leipziger Straße 4. Hier fanden 23 Jahre lang die großen parlamentarischen Auseinandersetzungen der Bismarck-Ära statt.

Raczynskis Weigerung, sein Grundstück herzugeben, wurde natürlich auch der Reichstagsbaukommission bekannt. Als sie am 12. Juli 1871 zusammentrat, war sie in der Frage des Bauplatzes offenbar sehr verunsichert. Polizeipräsident Wurmb gab eine Erklärung ab, die dem Protokoll vorangestellt wurde: »Nach den Akten sind die Besitzverhältnisse des dem Grafen Raczynski gehörigen Gebäudes auf dem Königsplatz hierselbst derartig …, daß Seine Majestät ein Expropriationsverfahren wohl eintreten lassen würde.« Die Erklärung beruhigte die Baukommission und man beschloss, ein Bauprogramm und die Wettbewerbsbedingungen ausarbeiten zu lassen. Zu diesem Behufe kooptierte die Kommission zwei Berliner Architekten: Richard Lucae – den Schöpfer der alten Oper in Frankfurt am Main – und Johann Heinrich Strack – von ihm stammten das Palais Raczynski, die alte Nationalgalerie und die Siegessäule. Im November 1871 genehmigte Kaiser Wilhelm I. das vorgelegte Programm, aber er gab zu bedenken, dass man mit dem vorgesehenen Bauplatz wohl Schwierigkeiten haben werde. Der Reichstag verabschiedete beinahe gleichzeitig die Teilnahmebedingungen für den Wettbewerb, an dem sich 103 Architekten oder Architektengemeinschaften beteiligten, darunter 15 aus England, sieben aus Österreich und mehrere aus Italien, Belgien, Holland, Frankreich und sogar den Vereinigten Staaten. Bismarcks Regierung hatte besonders großen Wert auf die Teilnahme englischer und österreichischer Architekten gelegt, unter deren Ägide bereits große städtebauliche Ensembles entstanden waren. In den Wiener und Londoner Zeitungen luden sogar ganzseitige Anzeigen zur Teilnahme ein.

Der erste Preis ging an den in St. Petersburg geborenen und in Gotha tätigen Architekten Ludwig Bohnstedt, de jure bayerischer Staatsbürger. In der Öffentlichkeit fand sein Entwurf breite Zustimmung. Er zeigte einen gewaltigen, die gesamte Fläche bedeckenden Bau mit Betonung der Horizontalen; als Eingang diente ein dem römischen Triumphbogen nachgebildeter Portikus mit einer Quadriga à la Brandenburger Tor; rechts und links des Portikus schlossen sich monumentale Säulenarkaden an. Wie andere, zeigte auch Bohnstedts Entwurf eine monumentale Kuppel aus Glas und Eisen zur Betonung des Plenarsaals.

Bohnstedts Glück war allerdings kurzlebig; denn das Grundstück von Raczynski war nicht zu bekommen. Die hartnäckige Weigerung des Grafen, sein Grundstück zur Verfügung zu stellen, sowie des Kaisers Abneigung gegen eine nicht leicht zu bewerkstelligende Enteignung zwangen die Kommission, die Bauplatzfrage erneut zu erörtern. Nach langem Tauziehen machte sie Anfang 1873 den Vorschlag, das Grundstück der Kroll-Oper auf der anderen Seite des Königsplatzes zum Bauplatz zu wählen. Das Plenum des Reichstags jedoch wollte von diesem Standort nichts wissen; zu weit schien er von den Abgeordnetenwohnungen – meist in den Hotels Unter den Linden – entfernt. Die satirische Zeitschrift »Kladderadatsch« brachte in jenen Tagen eine Karikatur mit der Überschrift »Fata Morgana!«: »In letzter Zeit sah man in klaren Nächten auf dem Königsplatz häufig das neue Reichstagsgebäude, sowie aber der Reichstag anbrach, verschwand der ganze Spuk.« Der Kommission blieb nichts anderes übrig, als die Frage erneut zu erörtern. Sie untersuchte dabei 66 Bauplätze und kam 1874 zu dem Schluss, nochmals die Kroll-Oper vorzuschlagen. Erneut lehnte der Reichstag den Vorschlag ab, und das Problem eines Parlamentsneubaus drohte vollständig zu scheitern.

Der Königsplatz vor der Errichtung des Reichstagsgebäudes. In der Mitte die Siegessäule, links »Krolls Etablissement«, rechts der Bauplatz mit dem Palais Raczynski.

Als am 21. August 1874 der alte Raczynski hochbetagt starb, versuchte Staatsminister Delbrück Verhandlungen mit dem Sohn aufzunehmen, doch dieser lehnte aus Pietät seinem Vater gegenüber sowie mit dem Argument, dass das Gebäude zu einer kaum auflösbaren Familienstiftung gehöre, ab. Daraufhin wurde Wilhelm I. ungeduldig und, obwohl auch er die Stelle des Palais Raczynski favorisierte, versuchte er 1875 die Standortfrage zugunsten des Kroll’schen Etablissements zu forcieren. Er schrieb an Bismarck: »Es ist so viel über den zu wählenden Bauplatz gesprochen, discutirt, geplant etc. worden, daß meiner Ansicht nach nur der Krollsche Platz zu wählen übrig bleibt, dem doch eigentlich nur der gefürchtete Schnupfen einiger kränklicher Députirter entgegenstehet, den man sich auf dem Wege vom Brandenburger Thor zum Parlaments Gebäude zuziehen könne, aber nicht muß, und dem man durch eine Droschke oder guten Paletot sehr gut begegnen kann, ganz abgesehen, daß jene Opponenten schwerlich die Vollendung des Baus noch erleben werden, und deren Fürsorge für später zu Verschnupfende doch sehr weit ginge, wenn man auf diese Fürsorge eingehen wollte! Ich ersuche Sie daher nun allen Ernstes, die Angelegenheit schnell in die Hand zu nehmen, was auch noch einen anderen Grund für sich hat, daß nämlich eine Menge unbeschäftigter Arbeiter Berlins und auch auswärts den schweren Winter leichter hinnehmen würden, wenn sie zum Frühjahr einer großen dauernden Beschäftigung entgegensehen würden.«

Bismarck wollte dem Willen des Kaisers entsprechen, hatte allerdings keinen Erfolg: Der Reichstag blockierte 1876 einen Vorstoß Preußens im Bundesrat und wies das Kroll’sche Grundstück zurück. In den Wandelgängen des Reichstags kam, in Abwandlung eines Heine-Zitats, ein geflügeltes Wort auf: »Ich krolle nicht, und wenn das Herz auch bricht«. Der Abgeordnete August Reichensperger stellte im Plenum die Frage, ob es würdig sei, »wenn um die Winternachtszeit die Vertreter der deutschen Nation schlotternd oder triefend durch das Brandenburger Thor einmarschiren«. Auch dem nationalliberalen Abgeordneten Ludwig Bamberger war das Areal zu abgelegen und zu zugig. Mit Blick auf den Preis des Kroll’schen Grundstücks fügte er hinzu, der Pächter der Kroll-Oper könne mit dem Geld aus dem überhöhten Kaufpreis mitten in der Innenstadt auf allerbestem Baugrundstück ein neues, prächtigeres Lokal errichten, dessen Architrav die Inschrift tragen würde: »Dem Deutschen Reichstag der dankbare Kroll«.

Mit den Jahren schien die Geduld aller am Ende zu sein. 1873 veröffentlichte der Architekt Hubert Stier einen Vorschlag, in dem er eine Ost-West-Achse vom Brandenburger Tor bis zum »Knie« – dem nachmaligen Ernst-Reuter-Platz – vorsah, mit dem Reichstagsgebäude auf der Westseite des Tores. Und im Mai 1876 schrieb der Berliner Architektenverein einen Wettbewerb für ein »Prachtforum« am Königsplatz aus, den der Dresdener Architekt F. Oswald Kühn mit einem Ensemble gewann, in dem das Reichstagsgebäude einem anderen, gleich großen Parlamentsbau gegenüberstand. Aus all diesen Vorschlägen wurde nichts. Geschürt wurden allerdings die Zweifel am Vorgehen der Verantwortlichen.

Das von Johann Heinrich Strack 1844 bis 1847 erbaute Palais Raczynski galt als einer der schönsten Palaisbauten im Berlin des neunzehnten Jahrhunderts.

Im Jahre 1877 kam überraschend die Wende. Raczynskis Sohn sandte Signale, dass er jetzt auf ein seriöses Angebot zum Kauf seiner Berliner Grundstücke eingehen würde. Nach Verhandlungen, die mehr als ein Jahr dauerten, wurde zwischen Raczynski und dem Reich ein vorläufiger Vertrag über eine formelle Enteignung des Palais durch den preußischen Staat geschlossen, verbunden mit einer Entschädigung von etwas über einer Million Mark. Plötzlich meldete sich jedoch die Berliner Architektenschaft zu Wort – sie fand den Ort ungeeignet. Besonders August Orth und Stadtbaurat Hermann Blankenstein votierten gegen den vorgesehenen Platz. Im Wesentlichen wurde argumentiert, dass das Grundstück eine Architektur mit Front zum Königsplatz bedinge, daher das zu bauende Reichstagsgebäude seinen Rücken zur Stadt habe und dadurch unüberwindliche Probleme bei der Platzierung der Eingänge entstünden. Außerdem kamen Proteste von zwei Grundstückseigentümern, dem Gesellschaftsarzt Professor Dr. Theodor Frerichs – sein Haus sollte später die Schweizerische Gesandtschaft werden – und vom mächtigen Kaufhausbesitzer Rudolph Hertzog, dessen Haus in der Sommerstraße durch die Baupläne dem Abriss zum Opfer fallen würde. Vielleicht bewirkten diese Argumente, dass sich nun – 1879 – die Stimmung auch im Reichstag deutlich wandelte; eine Abstimmung im Haus brachte eine Mehrheit gegen Vertrag und Bauplatz. Der Regierung wurde auferlegt, ein anderes Grundstück auf der Nordseite des Königsplatzes, am Alsenplatz, zu erwerben und für das Parlament bereitzustellen. Im Reichstag wurden sogar Stimmen laut, die behaupteten, Berlin brauche überhaupt kein Reichstagsgebäude: Die Verfassung überlasse dem Kaiser – wie im alten deutschen Reich – die Wahl des Parlamentsortes und er könne den Ort des Zusammentreffens von Fall zu Fall bestimmen. Dem entgegnete der nationalliberale Abgeordnete Franz von Stauffenberg ironisch, dass dies zum Bau eines transportablen Reichstagsgebäudes führen müsse.

Doch auch mit dem neuen Bauplatz ergaben sich Probleme. Aus demselben Grund, aus dem Wilhelm I. ursprünglich eine Enteignung des Grafen Raczynski verweigert hatte, nämlich aus Pietät seinem verstorbenen Bruder gegenüber, musste er nun dem Reichstag den Alsenplatz verweigern. Friedrich Wilhelm IV. hatte diesen Platz geweiht und dessen Bestimmung festgelegt, und Wilhelm wollte ihn unter keinen Umständen zur Verfügung stellen. Daraufhin legte die Reichsregierung im Dezember 1881 den alten Raczynski’schen Vertrag erneut zur Annahme vor. Das wurde nun endlich im Reichstag befürwortet, und der Weg zu einem neuen Wettbewerb war nach vielerlei Turbulenzen frei.

Die lange, über zehnjährige Grundstückssuche hatte den Vorteil, dass inzwischen viele Probleme hinsichtlich Zweckmäßigkeit, Bequemlichkeit und Akustik bekannt geworden waren, die sich im Laufe der Zeit in dem provisorischen Saal bemerkbar gemacht hatten. Mehrere Experten hatten sich über das Jahrzehnt bereits zu Wort gemeldet. Der Chefredakteur der »Deutschen Bauzeitung«, Karl Emil Otto Fritsch, regte eine »nochmalige gründliche Untersuchung der Bedürfnissfrage« an, die er »am besten im Wege einer parlamentarischen Enquete nach englischem Muster« durchführen wollte. Dieser Vorschlag wurde allerdings nicht realisiert.

Der Wettbewerb von 1882

In der kurzen Zeit zwischen dem Reichstagsbeschluss und der Wettbewerbsauslobung hatte sich in Architektenkreisen, aber auch in großen Teilen der politischen Presse, eine hitzige Diskussion darüber entfaltet, ob Bohnstedt, der den ersten Wettbewerb gewonnen hatte, erneut und ohne Konkurrenz beauftragt werden sollte, seinen Plan umzuarbeiten und zur Ausführung zu bringen, oder ob ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben werden sollte. Auf Betreiben des Berliner Architektenvereins gab es einen neuen, offenen Wettbewerb – diesmal allerdings nur für Architekten »deutscher Zunge« sowie diejenigen Architekten aus dem Ausland, die beim Wettbewerb 1872 einen Preis gewonnen hatten. Da das nur auf einen einzigen Ausländer zutraf, den inzwischen verstorbenen Engländer Scott, gab es demnach keine ausländische Beteiligung.

Der Reichstag auf Rädern – ein Vorschlag des Magazins »Kladderadatsch« aus dem Jahr 1881, als Bismarck mit einem Wegzug von Regierung und Reichstag aus Berlin drohte.

An der Konkurrenz beteiligten sich 189 Architekten und Architektengemeinschaften. Da alle Entwürfe unter Motto – also anonym – eingeliefert werden mussten, ist es heute nicht möglich, die Namen aller Teilnehmer zu ermitteln. Aus dem Briefwechsel der beiden Sieger des Wettbewerbs – des Frankfurters Paul Wallot und des Münchners Friedrich Thiersch – wird die Schwierigkeit ersichtlich, ein Gebäude zu entwerfen, für das es in Deutschland kaum Vorbilder gab und über dessen Funktionen und künftiges Funktionieren nur vage Vorstellungen bestanden. Immerhin: Wallot wusste sich zu helfen – in Frankfurt befragte er ein Mitglied des Reichstags, den Verleger der »Frankfurter Zeitung« Leopold Sonnemann, über seine Erfahrungen im provisorischen Hause; die Antworten flossen in seinen Entwurf ein.

Wallot und Thiersch arbeiteten buchstäblich bis zur letzten Sekunde. Die Entwürfe von Wallot wurden »noch warm eingepackt« und zur Bahnspedition gebracht, so dass nicht einmal Zeit zum Fotografieren der Pläne blieb. Aus den Protokollen der Jury geht hervor, dass Wallots Entwurf (»Für Staat und Stadt«) letztlich 19 von 21 Stimmen auf sich vereinigen konnte. Wallots Sieg wurde in Architektenkreisen als »Überschreitung der Mainlinie in der Baukunst« gefeiert. Der Entwurf Friedrich Thierschs, des Zweitplatzierten, erhielt nur 11 Stimmen. Anfang Juli 1882 bekam Wallot den Auftrag, seinen Entwurf umzuarbeiten und erneut gegen Ende des Jahres vorzulegen.