Der rote Faden - Axel Rudolph - E-Book

Der rote Faden E-Book

Axel Rudolph

0,0

Beschreibung

Auf einer Landstraße in der Nähe von Stralsund wird ein brennendes Autowrack gefunden. In ihm die Leiche der jungen Tänzerin Graziella Holm. Alles deutet zunächst auf einen gewöhnlichen Autounfall hin, wären da nicht die Würgemale am Hals der Toten. Graziella Holm ist ermordet worden. Die Polizei ist ratlos; es lässt sich weder ein Motiv für den Mord finden, noch gibt es genügend Anhaltspunkte, um den Tathergang zu rekonstruieren. Den einzigen Hinweis auf den Täter liefert ein roter Wollfaden, der unter dem Fingernagel der Tänzerin gefunden wird. Was hat Graziella Holm getan oder gewusst, dass sie sterben musste? Und wer ist der mysteriöse Mann aus ihrer Vergangenheit, der sie kurz vor ihrem Tod in ihrer Wohnung aufgesucht und sie im Auto begleitet hat?-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 232

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Axel Rudolph

Der rote Faden

Kriminalroman

Saga

I

Graziella Holm ist tot.

Manche von euch haben sie gekannt: die Schüler der Blendorfschen Tanzschule, die jungen Kameraden und Kameradinnen, mit denen sie im Sommer auf den Havelseen paddelte oder abends lachend und plaudernd durch den Tiergarten spazierte. Ihr habt euch über sie amüsiert, wenn ihr allzeit schlagfertiges Mundwerk einen Aufdringlichen abfertigte; ihr habt euch mit ihr gefreut, als sie von ihrer Tante in Dänemark den kleinen Wagen als Geschenk erhielt.

Nun ist sie tot.

Ihr, die ihr sie kanntet, habt mit tiefem Erschrecken die Nachricht in der Zeitung gelesen:

„Stralsund, den 19. Juni. Gestern nachmittag fuhr ein Personenkraftwagen auf der Landstrasse nach Demmin gegen einen Baum und geriet in Brand. Die Lenkerin des Wagens, die zwanzigjährige Tänzerin Graziella Holm aus Berlin, erlitt dabei den Tod und konnte nur als Leiche geborgen werden.“

Tausende haben die Notiz gelesen, flüchtig, mit kühlem Bedauern, ohne zu ahnen, dass Graziella Holm das fesche junge Mädel war, das so oft auf dem Kurfürstendamm oder sonstwo im Westen in ihrem kleinen Wagen an ihnen vorüberfuhr und dem sie vielleicht einen Augenblick schmunzelnd nachgeschaut haben, als wäre es der Frühling selbst gewesen.

Ihr aber, die ihr Graziella Holm persönlich kanntet, habt erschüttert über die tragische Nachricht miteinander gesprochen. Ihr habt Vermutungen aufgestellt und ausgetauscht, wie das Unglück wohl geschehen sein konnte. Ihr habt Erwin und Gerda Röseler, Graziellas beste Kameraden, mit Fragen bestürmt. Ihr habt bei Frau Jenny Nerger, der verheirateten Schwester Graziellas, die in Kladow wohnt, angeläutet und aufgeregt gefragt, ob es denn wahr und wie es eigentlich gekommen sei. Die kurze Zeitungsnachricht sagt so wenig.

Aber weder Frau Jenny Nerger noch die Geschwister Röseler können euch mehr sagen, als ihr schon selber wisst.

Die Polizei weiss etwas mehr. Sie hat Graziella Holm nicht gekannt. Für sie war das frische junge Mädel bisher weiter nichts als ein Blatt im Einwohner-Meldeamt und auf ihrem zuständigen Revier. Familienname: Holm — Vorname: Graziella. — Familienstand: ledig. — Beruf: Tänzerin. — Geburtsdatum: 22. 5. 1915 zu Hamburg. — Staatszugehörigkeit: Deutsches Reich. — Religion: evangelisch.

Zur selben Stunde aber, da ihr alle noch traurig das jähe Ende Graziella Holms besprecht, hat — euch unbewusst — bereits das Räderwerk der Polizeimaschine den Namen Graziella Holm in seine weitausholenden Kreise gezogen. Denn Graziella Holm wurde ermordet.

*

Landjägerei Grimmen i. Pom.

Bericht.

Am 18. Juni, nachmittags 3.20 Uhr, bemerkte ich auf einer Streife auf der Landstrasse zwischen Grimmen und Demmin, nahe der Juni Gut Francke gehörenden Tannenschonung, 9 Kilometer von Grimmen, einen brennenden Personenkraftwagen. Dieser war anscheinend gegen einen Baum an der linken Strassenseite gefahren. Der starke Gewitterregen hatte bei meiner Ankunft die Flammen bereits so weit gelöscht, dass die Gefahr einer Explosion des Treibstoffbehälters nicht mehr bestand. Ich bemühte mich, den Brand völlig zu ersticken, was mir auch gelang. Am Lenksitz des Wagens sah ich eine anscheinend bewusstlose Frau sitzen. Weitere Insassen waren nicht zu sehen. Bei näherer Untersuchung stellte ich fest, dass bei der Frau der Tod bereits eingetreten war. Verletzungen konnte ich nicht wahrnehmen. Dieses erschien mir um so merkwürdiger, als die Frau bei dem Anprall des Wagens gegen den Baum zum mindesten durch die Glassplitter der zertrümmerten Windschutzscheibe verletzt sein müsste. Ich habe daraufhin die Leiche und den Wagen in dem gefundenen Zustand belassen. Ich bin auf meinem Fahrrad unverzüglich zu dem etwa fünf Minuten entfernten Gehöft des Pächters Kneese gefahren und habe von dort die Kriminalpolizei Stralsund sowie den Arzt Dr. Lange in Grimmen fernmündlich benachrichtigt. Dann bin ich sofort zur Unfallstelle zurückgefahren, wo ich Wagen und Leiche im gleichen Zustande vorfand.

gez. Sitka, Landjäger.

Kriminalpolizei Stralsund.

Bericht der Mordkommission.

Am 18. Juni, 3.45 Uhr, wurde die Krimpo Stralsund durch fernmündliche Meldung des Landjägers Sitka, Grimmen, davon benachrichtigt, dass auf der Landstrasse zwischen Grimmen und Demmin ein brennender Personenkraftwagen gefunden sei, der eine weibliche Leiche ohne ersichtliche Verletzungen enthielt. Es begaben sich darauf sofort an den Tatort: Krim.-Komm. Sartorius, Krim.-Ass. Wendhöfer, Gerichtsarzt Dr. Lueg und die Polizeiwachtmeister Stenzel und Fink.

Die Kommission traf um 4.10 Uhr am Tatort ein, wo sie die Landjäger Sitka und Scharnaus vorfand, und machte daselbst folgende Feststellungen:

Es handelt sich um den Personenkraftwagen IA 98 025, Marke Adler. Die Haube war leicht eingedrückt, ebenso der linke Kotflügel beschädigt. Die Windschutzscheibe war entzwei. Sonstige Beschädigungen wies der Wagen nicht auf. Es erscheint ausgeschlossen, dass der Wagen durch den stattgefundenen leichten Anprall gegen den Baum in Brand geraten sein konnte. Dies wird auch durch das Gutachten des Autosachverständigen (Blatt III b der Akten) bestätigt. Im Innern des offenen Wagens (Kabriolett) waren die Polster stark angesengt. Desgleichen die Polster der beiden Vordersitze.

Auf dem Lenkersitz hinter dem Lenkrad befand sich die Leiche einer jungen Frau in sitzender Stellung. Gerichtsarzt Dr. Lueg stellte fest, dass der Tod erst vor kaum einer Stunde, also etwa kurz nach 3 Uhr nachm., eingetreten sein konnte, und zwar, wie die Würgmale am Halse der Toten bewiesen, durch Erwürgen.

Aus dem in der Handtasche der Toten vorgefundenen Führerschein sowie einer Mitgliedskarte der Fachschaft stellten wir fest, dass es sich um die Tänzerin Graziella Holm, geb. 22. 5. 1915 zu Hamburg, zuletzt wohnhaft in Berlin-Steglitz, Ahornstrasse 133, handelte.

Es wurden ferner im Wagen bzw. in den Kleidungsstücken der Toten vorgefunden:

Eine rotlederne Geldbörse mit 64 RM. 55 Pf. (drei Zwanzigmarkscheine, vier Einmarkstücke und 55 Pf. Kleingeld). — Ein Taschentuch mit dem Monogramm G. H. — Ein Taschenkamm in roter Lederhülle nebst Taschenspiegel. — Ein silberner Lippenstift. — Ein Fläschchen Riechwasser (Eau de Cologne Russe). — Eine Ansichtskarte, den Berliner Tiergarten darstellend, abgestempelt Berlin W 8, 16. 6. 1935. Die Karte trug folgende Bleistiftzeilen: „Liebe Grazie! Zu deinem ersten Auftreten Hals- und Beinbruch. Wir hoffen, dich bald in Berlin bewundern zu dürfen. Nur nicht bange machen lassen! Erwin. Gerda.“ — Ein Brillantring, Gold, 16kar. mit zwei Diamantsplittern. Ohne Signierung. — Eine Armbanduhr, achteckig, Gold, 14kar., Nr. 8 466 354 IL. — Ein Hausschlüssel und zwei kleine Kofferschlüssel. — Ein gedrucktes Programm des Kabaretts „Plaza“ in Stralsund.

Die Tote war bekleidet mit weissem Flanellrock, weisser Bluse, hellroter Sportjacke (Wolle), weissen Strümpfen und Schuhen, hellroter Mütze (Baskenmütze). Auf dem Boden unter dem Führersitz fanden sich noch ein Paar Damenhandschuhe aus hellgelbem Schweinsleder.

Nach eingehender Untersuchung sowohl der Leiche wie des Wagens und der Umgebung des Tatortes kam die Kommission zu folgenden Ergebnissen:

Die Graziella Holm ist in ihrem Wagen durch Erdrosseln gewaltsam getötet worden, und zwar mit Hilfe eines Strickes oder Riemens. Die Tat ist in der Zeit zwischen 3 Uhr und 3.20 Uhr verübt worden. Der Täter hat darauf den Wagen in Brand gesteckt, wahrscheinlich, um die Spuren seiner Tat zu verwischen. Das Gelingen dieses Planes wurde durchkreuzt durch den kurz nach 3 Uhr unerwartet einsetzenden wolkenbruchartigen Regen, der die Flammen erstickte, bevor sie den Treibstoff erreichen konnten. Geraubt wurde anscheinend nichts, da die Wertgegenstände der Toten (siehe S. 2 des Berichtes) vorhanden waren.

Unordnung an den Kleidern der Toten, insbesondere an Bluse und Jacke deuten darauf hin, dass zwischen dem Täter und seinem Opfer ein kurzer Kampf stattgefunden hat. Unter den Fingernägeln der Toten wurde ein rot gefärbtes Stoffpartikelchen vorgefunden. Sämtliche Kleidungsstücke sowie insbesondere auch das vorerwähnte rote Fäserchen wurden unverzüglich dem chemischen Laboratorium beim Polizeipräsidium Stettin zur weiteren Untersuchung übersandt.

Die Umgebung des Tatortes wurde sofort gründlich und umfangreich abgesucht, wozu auch der Hund Wanda II des Oberlandjägers Kleimann aus Grimmen hinzugezogen wurde. Infolge des herniedergegangenen Regens war es indessen nicht möglich, irgendeine Spur zu entdecken. Brauchbare Fingerabdrücke wurden in und an dem Wagen nicht gefunden.

Die Leiche der Graziella Holm wurde polizeilich beschlagnahmt und nach Stralsund gebracht. Ebenso der Kraftwagen und sämtliche bei der Toten vorgefundenen Gegenstände. In Erwägung, dass der Täter nicht wissen kann, dass sein Plan, die Leiche zu verbrennen, durch den Regen völlig durchkreuzt wurde, kam die Kommission überein, vorläufig den Tatbestand geheimzuhalten und der Presse nur die Auskunft zu geben, dass Graziella Holm infolge eines Autounglücks, bei dem der Wagen in Brand geraten, ums Leben gekommen sei.

gez. Sartorius, Krim.-Komm.Dr. Lueg als GerichtsarztWendhöfer, Krim.-Ass.

*

Ermittlungsbericht.

In der Mordsache Holmhabe ich auf Anordnung des Krim.-Komm. Sartorius Frau Maria Karoline Peschke, Stralsund, Mönchstr. 214, in ihrer Wohnung vernommen. Frau Peschke sagt aus:

Fräulein Holm hat am 14. Juni ein möbliertes Zimmer bei mir gemietet und die Miete für den Monat im Betrag von 35 RM. im voraus gezahlt. Ich kannte Fräulein Holm vorher nicht. Dieselbe gab an, im Kabarett „Plaza“ als Tänzerin engagiert zu sein. Sie ist auch am 15., 16. und 17. Juni dorthin gegangen und jedesmal erst gegen Mitternacht heimgekehrt. Ich habe nicht bemerkt, dass sie Besuch hatte oder auf dem Heimweg von jemand begleitet wurde. Ich hätte das unbedingt bemerken müssen, da ich immer noch wach war und mit Fräulein Holm an jedem Abend noch ein Paar Worte gewechselt habe, bevor sie zu Bett ging.

Am 18. Juni, ungefähr um ein Uhr mittags, erschien ein Herr bei mir. Er gab an, ein Assessor König aus Berlin zu sein, und fragte nach Fräulein Holm.

Ich meldete den Besucher dem Fräulein an und hörte, wie sie ihn im Hausflur wie einen guten Bekannten begrüsste. Ich kam darauf aus der Küche auf den Flur und fragte Fräulein Holm, ob ich Kaffee kochen solle. Fräulein Holm war angezogen, in Mütze und Jacke, und sagte, sie sei eben im Begriff, eine Spazierfahrt zu machen. Ich hörte, wie der Herr darauf sehr erregt sagte: „Aber ich muss dich unbedingt sprechen, Graziella!“ Fräulein Holm antwortete darauf lachend, dann könne er sie ja begleiten. Die beiden gingen dann, lebhaft miteinander sprechend, zusammen die Mönchstrasse hinunter in der Richtung nach dem Ossenreyer, wo Fräulein Holm ihr Auto in der Garage des Herrn Assmann stehen hatte. Was die beiden weiter miteinander sprachen, habe ich nicht gehört.

Fräulein Holm trug, als sie das Haus verliess, ihre Handtasche und die Handschuhe in der Hand. Der Herr trug nichts in der Hand.

v. g. u.Marie Karoline Peschke

Stralsund, den 18. Juni, 18.30 Uhr.

Wendhöfer, Krim.-Ass.

Ermittlungsbericht.

In der Mordsache Holmhabe ich im Auftrage des Krim.-Komm. Sartorius Herrn Friedrich Assmann, Ossenreyer 310, in seinem Büro vernommen. Herr Assmann sagt aus:

Ich betreibe auf dem Grundstück Ossenreyer 310 ein Tank- und Garagengeschäft. Am 14. Juni mietete ein Fräulein Holm aus Berlin bei mir einen Garagenplatz für ihren Adlerwagen IA 98 025 und gab als ihre Adresse an: Mönchstr. 214, bei Frau Peschke.

Fräulein Holm hat am 16. Juni um 14 Uhr ihren Wagen geholt. Sie ist gegen 16 Uhr zurückgekehrt und hat den Wagen wieder bei mir untergestellt. Sowohl bei der Abfahrt wie bei der Rückkehr war sie allein.

Am 18. Juni erschien sie wieder kurz nach 13 Uhr und bestieg ihren Wagen. Diesmal war sie in Begleitung eines mir unbekannten Herrn, den sie mehrmals „Werner“ nannte. Ich hatte den Eindruck, dass sowohl Fräulein Holm wie der Herr in ärgerlicher Stimmung waren; sie sprachen in meiner Gegenwart jedoch nichts Besonderes.

Fräulein Holm bestieg den Lenksitz und der Herr den Sitz daneben. Bevor Frl. Holm Gas gab, hörte ich den Herrn sagen: „Haben wir Treibstoff genug bis Berlin?“ Sie sagte darauf ärgerlich: „Das könnte dir so passen!“

Dann fuhren sie beide in der Richtung auf den Neuen Markt davon.

v. g. u.Friedrich Assmann.

Stralsund, den 18. Juni, 18 Uhr.

Gautsch, Krim.-Wachtm.

Ermittlungsbericht.

In der Mordsache Holmhabe ich auf Anordnung des Krim.-Komm. Sartorius den Geschäftsführer des Kabaretts „Plaza“, Greifswalder Strasse 2, Herrn Heinz Möhring, vernommen. Herr Möhring sagt aus:

Durch die Blendorfsche Tanzschule, Berlin W, Kleiststrasse 317, wurde mir im April Fräulein Holm als Solotänzerin empfohlen. Ich tätigte mit der genannten Tanzschule einen Engagementsvertrag, demzufolge Frl. Holm vom 15. Juni bis 1. August in meinem Lokal als Tänzerin mit eigenem Programm auftreten sollte. Die Gage betrug wöchentlich 80 RM.

Frl. Holm traf am 14. Juni hier ein und suchte mich sofort in meinem Büro auf. Wir besprachen ihr Programm, und ich machte sie mit den Lokal-, Bühnen- und Garderobeverhältnissen bekannt. Frl. Holm machte auf mich einen sehr guten und anständigen Eindruck.

Am 15. Juni abends trat sie zum ersten Male auf. Ich war mit ihrer tänzerischen Darbietung zufrieden, und auch bei den Gästen fand sie Anklang. Am 16. und 17. Juni ist sie ebenfalls vertragsgemäss aufgetreten.

An ihre Kollegen und Kolleginnen hatte sie infolge der kurzen Zeitdauer noch keinen Anschluss gefunden. Ich selber unterhielt mich nach ihrem ersten Auftreten mit ihr und erfuhr — was ich schon durch die Tanzschule wusste —, dass dies ihr erstes Engagement sei. Sie sagte mir ferner, dass sie bei Frau Peschke, Mönchstr. 214, ein nettes Zimmer gemietet habe.

Am 15. Juni, nach ihrem ersten Auftreten, hat Frl. Holm gemeinsam mit mir und einer Kollegin, Frl. Elna Lissem, in meinem Lokal eine Flasche Wein getrunken. Sie war dabei sehr fröhlich und erwähnte, wie froh sie sei, endlich auftreten zu können. Ich erinnere mich auch, dass sie dabei erzählte, sie habe keine Eltern mehr, nur eine verheiratete Schwester in Berlin. Frl. Holm wurde an diesem Abend zweimal zum Tanz geholt, und zwar von Herrn Kaufmann Schröder, Lange Strasse, der öfter bei mir verkehrt, und von einem jungen Herrn, dessen Namen ich nicht kenne, der aber gleichfalls Stralsunder ist und oft in meinem Lokal verkehrt. Die Herren gingen sofort an ihre Tische zurück, nachdem der Tanz zu Ende war. Frl. Holm sass dann noch eine halbe Stunde bei uns am Tisch und sah sich das weitere Programm an. Gegen Mitternacht verabschiedete sie sich und ging nach Hause. Meines Wissens hat sie niemand begleitet. Die beiden Herren, die mit ihr tanzten, blieben noch bis gegen zwei Uhr im Lokal.

Am 16. und 17. Juni hat Frl. Holm sofort nach Beendigung ihrer Nummer das Kabarett verlassen und ist nach Hause gegangen. Ich habe nicht bemerkt, dass sie irgendwelche Bekanntschaften unter meinen Gästen gemacht hat.

v. g. u.Heinz Möhring, Geschäftsführer.

Stralsund, den 18. Juni, 20 Uhr.

Wendhöfer, Krim.-Ass.

Ermittlungsbericht.

In der Mordsache Holmhabe ich mich in die Wohnung der Frau Peschke begeben und im Beisein der Wohnungsinhaberin und des Krim.-Wachtm. Erkner das Zimmer der Graziella Holm einer Durchsuchung unterzogen.

Wir fanden dabei zwei Lederkoffer, die von Frau Peschke als Eigentum der Ermordeten bezeichnet wurden. Die bei der Leiche gefundenen Schlüssel passten zu den Koffern.

Als Inhalt fanden wir lediglich Garderobe, ein Theaterkostüm, Wäsche und einige Bücher (Unterhaltungsromane). Im Kleiderschrank befanden sich weitere Garderobestücke. Auf dem Tisch fanden wir eine Schreibmappe, die nach Aussage der Wirtin ebenfalls der Holm gehörte. Dieselbe enthielt:

Ein Foto, 18 × 24, einen Herrn und eine junge Frau darstellend. Fotograf: Atelier Gellert, Berlin, Kurfürstendamm. — Eine Foto-Postkarte, Brustbild, einen jungen Mann darstellend. Auf der Rückseite die Inschrift: „Zur Erinnerung an unsere choreographische Studienzeit — Erwin Röseler.“ — Eine Gruppenaufnahme der Tanzschule Blendorf, die zwischen anderen Tanzschülern Graziella Holm und den vorgenannten Erwin Röseler zeigt. — Mehrere Prospekte sowie das Programm einer Aufführung der Tanzschule Blendorf. — Unbeschriebenes Briefpapier und Briefumschläge.

Die sämtlichen Effekten wurden polizeilich sichergestellt.

Stralsund, den 18. Juni, 20 Uhr.

gez. Sartorius, Krim.-Komm.

Seit langem ist in den Dienstzimmern der Stralsunder Kriminalpolizei nicht so fieberhaft gearbeitet worden wie in diesen Spätnachmittagstunden des 18. Juni. Kommissar Sartorius setzt alles daran, die Mordsache Holm rasch aufzuklären oder wenigstens die Fäden in die Hand zu bekommen. Zwischen ihm und der Greifswalder Staatsanwaltschaft gehen dringende Ferngespräche hin und her. Die Polizeiposten und Landjägereien der Umgebung sind mobil gemacht. Bis hinüber nach Rügen ist der gesamte Apparat der Polizei alarmiert. Von Stralsund aus gehen sofort zwei Kriminalbeamte nach Sassnitz und Binz, um den dortigen Kollegen bei etwaigen Ermittlungen in den um diese Zeit stark besuchten Bädern zur Hand zu gehen. Die übrigen, dem Kommissar Sartorius zur Verfügung stehenden Beamten sind an diesem Abend dauernd unterwegs.

Die Bevölkerung Stralsunds merkt nichts von dieser fieberhaften Tätigkeit. Noch ist nichts weiter durchgesickert, als dass auf der Landstrasse nach Demmin heute nachmittag ein schweres Autounglück stattgefunden hat. Da es sich bei der Verunglückten nicht um eine in Stralsund bekannte Persönlichkeit handelt, regt man sich nicht sehr über die Nachricht auf. Selbst Frau Peschke und der Garagenbesitzer Assmann vermuten in den Vernehmungen, denen sie unterworfen wurden, nicht mehr als die üblichen amtlichen Erhebungen zur Klärung der Schuldfrage bei dem Unglücksfall. Nur die dunklen und zweifelhaften Elemente in der Stadt und Umgegend merken, dass „etwas Besonderes los ist“. Gegen alle Kleiderordnung erscheinen plötzlich in den Herbergen und Schlafstellen Kriminalbeamte, die nicht zu den mit der gewöhnlichen Kontrolle der Fremden betrauten Beamten gehören. Ausweispapiere und Pässe werden haarscharf geprüft, einige Verdächtige müssen sogar nachweisen, wo sie sich am heutigen Nachmittag aufgehalten haben. Die „Kunden“ auf den Landstrassen Vorpommerns haben heute einen „schlechten Tag“. Die Landjäger scheinen sich plötzlich unheimlich vermehrt zu haben. Allenthalben tauchen die Streifen auf, stellen jeden Wanderer und „flebben“ mit einer Gründlichkeit, die weit über das übliche Mass hinausgeht. Selbst der harmloseste, ehrsamste Handwerksgeselle auf Wanderschaft muss es sich gefallen lassen, drei-, viermal innerhalb weniger Stunden seine Ausweise revidiert zu sehen.

Aber bei alledem kommt wenig heraus. Als Kommissar Sartorius gegen neun Uhr abends von der Haussuchung im Zimmer der Ermordeten heimkehrt, versammelt er seine Beamten zu einer kurzen Besprechung im Dienstzimmer. Die Ergebnisse der ersten Ermittlungen werden verglichen und besprochen. Es ist wenig, sehr wenig. Die Suche nach Spuren am Tatort ist völlig ergebnislos geblieben. Die bei der Toten und in ihrer Wohnung gefundenen Sachen ergeben keinen Anhaltspunkt. Vor allem bleibt das Motiv der Tat in geheimnisvolles Dunkel gehüllt.

Kriminalassistent Wendhöfer, ein älterer und besonnener Mann, wirft die Frage auf, ob nicht schliesslich doch ein Unglücksfall vorliegen könnte. Auch das wird noch einmal gründlich erwogen. Die geringen Beschädigungen des Wagens machen einen Unfall zwar unwahrscheinlich, schliessen die Möglichkeit jedoch nicht aus. Nach dem Gutachten des Sachverständigen kann der Wagen zwar unmöglich durch den Anprall gegen den Baum in Brand geraten sein, aber andererseits ist auch nicht klar festzustellen, wie überhaupt das Feuer entstanden ist.

Kommissar Sartorius schüttelt zu den Argumenten seines Assistenten den Kopf. „Alles schön und gut, Wendhöfer, aber wie erklären Sie dann die unzweifelhaften Würgemale am Halse der Toten?“ Das vermag der Assistent auch nicht, und so bleibt notwendig die Annahme bestehen, dass ein Verbrechen vorliegt.

„Wir werden mehr wissen, wenn wir den Begleiter der Holm haben“, hofft Kommissar Sartorius und lässt sich die Fremdenlisten der Hotels vorlegen. Sie sind alle von gestern. Die heutigen Meldezettel werden erst im Laufe des nächsten Vormittags eingehen. In den vorliegenden Listen befindet sich kein Herr König aus Berlin.

Zwei Beamte werden abgeschickt, um die wenigen Gasthäuser der Stadt zu revidieren. Bereits dreiviertel Stunden später kommt ein Anruf. Einer der Beamten teilt mit, dass im Hotel „Berliner Hof“ tatsächlich ein Mann wohnt, der sich als Assessor Werner König aus Berlin eingetragen hat.

„Er ist heute vormittag dort abgestiegen“, sagt der Beamte im Fernsprecher. „Zur Zeit befindet er sich nicht hier im Hotel, aber abgereist ist er noch nicht. Seine Sachen sind noch im Zimmer.“

„Bleiben Sie im Hotel und erwarten Sie die Rückkehr des König“, dekretiert Kommissar Sartorius nach kurzem Nachdenken. „Wenn er kommt, führen Sie mir den Mann vor. Ist er bis elf Uhr nicht zurückgekehrt, so machen Sie mir Meldung.“