Rätsel um Herta - Axel Rudolph - E-Book

Rätsel um Herta E-Book

Axel Rudolph

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Beschreibung

Niemand hätte je erraten, welches Geheimnis die junge Herta birgt. Kommissar Valvert sinniert, wenn man die kleine Sekretärin in entsprechende Kleider steckte, würde sie Furore machen in den ersten Salons von Paris. Sonderbar, dass eine junge Dame mit dem Gesicht und der Figur hier als unscheinbare Sekretärin arbeitet, statt in irgendeinem großen Modesalon die erste Geige zu spielen oder an der Seite eines eleganten Roués in einem schnittigen Wagen durch das Bois zu fahren. Er kann nicht umhin, seine schönheitsfreudigen Augen rasch und anerkennend über die Gestalt gleiten zu lassen, von den schmalen Fußgelenken und aufwärts über die schlanken Hüften, die edelgeformte junge Brust bis zu dem verhaltenden Gesicht. Ohne Zweifel eine Schönheit! Aber eine Schönheit, die ein Geheimnis birgt – und hier dreht es sich nicht nur um die läppischen 5000 Franken, die aus Henry Heitingers Jackentasche, die im Vorraum des Büros hing, verschwunden sind. Nein, Kommissar Valvert sieht diesen Fall nicht als einen einfachen Gelegenheitsdiebstahl. Ruhig mustert er die junge Frau, deren Gesicht sich jählings verändert und wie in ein Meer aus Spottlust und Schelmerei getaucht ist. Tausend kleine Kobolde schlagen Rad in ihren braunen Augen, aber nach seiner letzten scharfen, von Argwohn gebeizten Frage löst er eine andere Wirkung aus, als erwartet: Ein klingendes, glockenreines Mädchenlachen schwingt durch den Raum. Fast vertraulich beugt Herta sich etwas vor, die gezügelte Verbindlichkeit der großen Dame in jedem Zug, jeder Kopfbewegung. "Sie gefallen sich in Scherzen, mein Herr. Denn ich kann unmöglich glauben, dass ein so hervorragender Beamter der Sûreté wirklich eine so naheliegende Tatsache übersieht. Wenn Sie meinen gesunden Menschenverstand auf die Probe stellen wollen, so hoffe ich, die Prüfung zu bestehen", lächelt Herta. Und ihr Lächeln ist wie der Fächerschlag einer jungen Marquise des Ancien Regime.Monsieur Pollin räuspert sich heftig, ihm ist die ganze Geschichte äußerst undangenehm und er denkt, sein alter Freund, der Kommissar, hielte einen Diebstahl von 5000 Franken für eine Kleinigkeit, deren er sich nur der alten Freundschaft zuliebe persönlich herbemüht hat, doch weit gefehlt! "Nicht immer sind die sogenannten Kaptalverbrechen für uns Kriminalisten die interessantesten Fälle. Oft genug ist ein einfacher Diebstahl, kriminalistisch gesehen, schwerer aufzuklären als ein Raubmord. Hier zum Beispiel haben wir einen solchen Fall", sinnt der Kommissar und seine Ermittlung beginnt.

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Axel Rudolph

Rätsel um Herta

Kriminalroman

Saga

I.

Durch die hohen Glasfenster des Büros schimmert schiefergrau und regennaß das winklige Gewirr der Dächer jenes alten Paris, das sich auf der Ile de la Cité zusammengedrängt hat.

Monsieur Pollin, der Chef und Inhaber der optischen Fabrik Jacques Pollin Fils klopft nervös mit einem Bleistift auf die vor ihm liegende Unterschriftsmappe und wirft einen Mitleid und Verständnis heischenden Blick hinüber zu Monsieur Freeman, dem Produktionsgewaltigen aus Joinville, der mit halb geschlossenen Augen in seinem Sessel liegt und anscheinend der peinlichen, in den Ateliers Pollins ganz ungewöhnlichen Szene kein Interesse abgewinnen kann.

Kommissar Valvert von der Sûreté, der als Amts- und Hauptperson den Mittelplatz hinter dem massiven, langgestreckten Schreibtisch einnimmt, heftet seine flinken Jettaugen forschend auf den in bescheidener Haltung vor ihm stehenden jungen Mann.

„Sie heißen Henry Heitinger?“ Der Name holpert ein wenig im Munde des Parisers. „Gebürtig aus Mulhouse?“

„Jawohl, mein Herr.“

„Französischer Staatsangehöriger“, fährt der Kommissar fort, einen kurzen Blick auf das vor ihm liegende Papier werfend. „Hm. Ihre Eltern sind ... wann eingewandert?“

„Meine Eltern und auch meine Großeltern waren Elsässer, Herr Kommissar. Unsere Familie war bereits um 800 dort ansässig.“

„Also Franzose.“ Valvert nickt erfreut und mildert seine Strenge zu amtlich-freundlicher Verbindlichkeit. „Man hat Ihnen aus Ihrer Rocktasche einen Betrag von 5000 Franken entwendet?“

„Jawohl, mein Herr.“ Röte und Blässe wechseln auf dem Gesicht des jungen Mannes. „Ich trage bei der Arbeit immer eine Lüsterjoppe und hänge meinen Rock draußen ins Vorzimmer. Das tat ich auch heute, als ich von der Kasse zurückkam.“

„Ich weiß“, nickt Valvert gnädig. „Monsieur Pollin hat mich bereits über die Einzelheiten informiert. Sie sind seit zwei Jahren als Assistent bei Herrn Pollin beschäftigt und beziehen ein Gehalt von ...“ — wieder ein kurzer Blick in die Papiere — „von 1000 Franken. Wie kommt es, Herr Heitinger, daß Sie heute den fünffachen Betrag an Ihrer Kasse abheben konnten?“

Henry Heitinger zögert mit der Antwort und wirft einen hilfesuchenden Blick zu seinem Chef hinüber. „Es handelt sich nicht um das Salär“, beeilt sich Monsieur Pollin zu erklären, „Herr Heitinger hat eine Erfindung gemacht, für die ich ihm den Betrag von 5000 Franken als Vorschuß zur Verfügung stellte. Das heißt ... Herr Heitinger ist noch dabei, die praktische Verwertbarkeit seiner Erfindung auszuprobieren.“

„Oh! Eine Erfindung auf optischem Gebiet?“

„Ja, es handelt sich um ein neues Objektiv, das ...“

Freeman grunzt ärgerlich. „Tut wohl nichts zur Sache, die Erfindung, meine ich.“

„Ich verstehe. Geschäftsgeheimnis.“ Kommissar Valvert verbeugt sich leicht und ein wenig gekränkt gegen Herrn Pollin und wendet sich wieder der Vernehmung zu.

„Wie mir Ihr Chef gesagt hat, ist der kleine Vorraum, in dem sich die Kleiderablage befindet, zwar jedem Angestellten zugängig, doch kann niemand aus den Ateliers oder Büros in den Raum gelangen, ohne das Sekretariat zu durchschreiten, in dem zwei Damen sitzen. Wie waren doch die Namen?“

„Frau Grimmaud und Fräulein Friebel.“

„Ganz recht. Die beiden Damen bezeugen übereinstimmend, daß in der fraglichen Zeit niemand ihr Zimmer betreten hat. Bien. Es konnte also niemand, ohne von den Damen bemerkt zu werden, an Ihre Garderobe gelangen, Herr Heitinger. Ausgenommen natürlich die Damen selbst. Trauen Sie einer derselben den Diebstahl zu?“

„Nein, Herr Kommissar.“ Die Antwort kommt fest und sicher. Valvert macht eine liebenswürdige Handbewegung, die seine Achtung andeuten soll.

„Das macht Ihrer Ritterlichkeit und Kollegialität Ehre, Herr Heitinger. Ich aber bin Polizeibeamter, nicht wahr, und die Gerechtigkeit darf auch nicht vor einer Dame haltmachen. Die Vernehmung hat ergeben, daß Frau Grimmaud den ganzen Vormittag über das Sekretariat überhaupt nicht verlassen hat, Fräulein Friebel nur einmal auf kurze Zeit.“

„Herr Kommissar“, fällt Heitinger merklich erregt ein. „Fräulein Friebel kommt bei der peinlichen Angelegenheit unter keinen Umständen in Frage. Es ist völlig ausgeschlossen, daß sie etwas mit dem Diebstahl zu tun hat!“

„Hm. Ich habe die Dame auch keineswegs verdächtigt, Herr Heitinger. Sie kennen Fräulein Friebel schon länger?“

„Ja, mein Herr. Wir wohnen zusammen. Das heißt ... wir haben zwei benachbarte Zimmer bei Madame Dupont, Rue de la Gaité 79.“

Kommissar Valvert geht verstehend über die Angelegenheit hinweg. Es ist nichts Ungewöhnliches, daß zwei junge Leute, die miteinander befreundet und dazu noch Kollegen sind, auf dem Montparnasse einen gemeinsamen Haushalt führen.

„Wer wußte davon, daß Sie heute einen größeren Betrag bei der Kasse abhoben, Herr Heitinger?“

„Nur Monsieur Pollin. Und der Kassierer natürlich.“

Der Name des Fräulein Friebel liegt dem Kommissar auf der Zunge, aber er unterdrückt ihn höflich. „Sonst niemand?“

„Nein. Sonst niemand.“

Valvert neigt den Kopf. „Dann danke ich Ihnen, Herr Heitinger. Seien Sie versichert, wir werden unser möglichstes tun, die Sache aufzuklären und Ihnen zu Ihrem Eigentum zu verhelfen.“

Henry Heitinger verbeugt sich. „Es ... es wäre mir allerdings sehr lieb, Herr Kommissar. Der Verlust bedeutet für mich einen schweren Schlag. Sonst hätte ich den Diebstahl Herrn Pollin gar nicht gemeldet.“

Als der junge Mann das Zimmer verlassen hat, zündet der Kommissar sich eine Zigarette an und wiegt den Kopf. „Wie ist das, Herr Pollin, hat Herr Heitinger einen Anspruch auf Ersatz seitens Ihrer Firma?“

Pollin schüttelt erstaunt den Kopf. „Nein, das nicht. Es ist für mich natürlich überaus peinlich, daß dergleichen in meinem Betrieb vorgekommen ist, und ich lege großen Wert darauf, daß die Sache aufgeklärt und der Schuldige gefunden wird. Sonst aber ... Herr Heitinger hat den Betrag gegen Quittung von der Kasse erhalten. Von diesem Augenblick an haftet meine Firma natürlich rechtlich nicht mehr für das Geld.“

„Ein fingierter Diebstahl scheidet also aus“, nickt der Kommissar. „Heitinger hätte keinen Vorteil davon, einen solchen vorzutäuschen. Darf ich bitten, Herr Pollin. Wollen Sie noch einmal Fräulein Friebel herbemühen!“

Zwei Minuten nach dem Klingelzeichen Pollins öffnet sich die Tür, und ein junges Mädchen, den Stenogrammblock in der Hand, tritt ein. Ihr Kleid, einfach, aber mit Geschmack gewählt, umschließt eine schlanke, feste Figur. Ihr Gesicht zeigt klare, feine Linien. Über der hohen, sonngebräunten Stirn ringelt sich eine Flut von hellem Blondhaar. Zwei große, rehbraune Augen sind ruhig fragend auf die Herren gerichtet.

Kommissar Valvert kann nicht umhin, seine schönheitsfreudigen Augen rasch und anerkennend über die Gestalt gleiten zu lassen, von den schmalen Fußgelenken aufwärts über die schlanken Hüften, die edelgeformte junge Brust bis zu dem verhaltenen, bei aller Schönheit Kraft und Willensstärke verratenden Gesicht. Ohne Zweifel eine Schönheit! Wenn man die kleine Sekretärin in entsprechende Kleider steckte, sie würde Furore machen in den ersten Salons von Paris. Sonderbar, daß eine junge Dame mit dem Gesicht und der Figur hier als unscheinbare Sekretärin arbeitet, statt in irgendeinem großen Modesalon die erste Geige zu spielen oder an der Seite eines eleganten Roués in einem schnittigen Wagen durch das Bois zu fahren. Herr Valvert legt unwillkürlich die Zigarette auf den Aschenbecher.

„Sie wissen, um was es sich handelt, Mademoiselle. Ich habe vorhin das Vergnügen gehabt, mit Ihnen über die Sache ein wenig zu plaudern. Zu meinem Bedauern nötigt mich mein Amt nun doch, eine kleine Vernehmung auszuüben.“

„Bitte, Herr Kommissar.“ Fräulein Friebel neigt ruhig den Kopf und läßt die Hand mit dem Stenogrammblock sinken.

„Darf ich bitten, Platz zu nehmen.“ Valvert deutet weltmännisch auf einen Sessel und wartet, bis die junge Dame sich niedergelassen hat. „Zunächst wollen Sie mir Ihre Personalien angeben.“

„Herta Friebel, 23 Jahre alt, geboren in Hamburg, deutsche Staatsangehörige.“

Valvert hebt den Blick. „Meine Hochachtung, Mademoiselle! Sie sprechen unsere Sprache mit einem so reinen Akzent, daß ich in Ihnen unbedingt eine Pariserin vermutet hätte.“

Ein flüchtiges Lächeln zuckt um ihren Mund. „Ich kann auch mit dem Argot du Montparnasse dienen, Herr Kommissar. Meine Eltern lebten vor meiner Geburt über ein Jahrzehnt in Paris. Erst 1912 siedelten sie wieder nach Hamburg über.“

„Ihre Eltern leben noch dort?“

Ein Schatten fliegt über Herta Friebels Antlitz und verschluckt das Lächeln. „Ich bin Waise, mein Herr. Durch die Machenschaften eines jüdischen Konkurrenten wurde das Geschäft meines Vaters ruiniert. Vater vermochte die Schande des Konkurses nicht zu tragen und ging im Jahre 1922 freiwillig in den Tod. Meine Mutter starb ein Jahr später aus Gram darüber. Da die Verhältnisse in Deutschland mir wenig Möglichkeiten boten, nutzte ich meine Sprachkenntnisse aus und ging nach Paris. Seit 1928 lebe ich hier.“

Valvert verbeugt sich leicht und geschmeidig. „Es war nicht meine Absicht, Demoiselle, in Ihre Familienverhältnisse einzudringen oder traurige Erinnerungen in Ihnen wachzurufen. Gestatten Sie mir also, zur Sache zu kommen. Sie sind mit Herrn Heitinger näher bekannt?“

„Befreundet.“

„Sie wußten, daß er heute einen Betrag von 5000 Franken an der Kasse abgehoben hatte?“

„Nein, davon hat er mir nichts erzählt. Ich erfuhr es erst, als Herr Pollin ins Büro kam und uns über die unangenehme Angelegenheit befragte.“

„Während der Vormittagsstunden haben Sie auf kurze Zeit Ihren Arbeitsplatz verlassen, wie Sie mir selber sagten und wie Frau Grimmaud bestätigte. Dabei haben Sie den Weg durch den Vorraum genommen?“

Herta Friebel wirft den Kopf zurück. Sie wird nicht rot, aber ihre Augen sprühen förmlich Funken. Das bisher so sanfte Mädchenantlitz bietet plötzlich ein Bild flammender Entrüstung. Auch die melodische, ruhige Stimme wird hart und scharf wie Stahl. „Lassen Sie mich doch gleich abführen, Herr Kommissar! Ich versichere Ihnen, daß ich es unter meiner Würde halte, Ihnen auf derartige Verdächtigungen auch nur eine Antwort zu geben!“

Was ist mit Monsieur Freeman? Pollins Blick gleitet zur Seite und bleibt höchst verwundert an seinem Geschäftsfreund hängen. Der phlegmatische Produktionschef der Phaeton-Film-Gesellschaft ist auf einmal aus seiner schläfrigen Interesselosigkeit aufgetaucht. Er sitzt aufrecht in seinem Sessel und betrachtet unverwandt die Sekretärin. Was hat der nur? denkt Pollin erstaunt. Die Friebel ist hübsch, aber ihre Schönheit wirkt schwerlich auf den guten Freeman. Weibliche Anmut und Schönheit hat der doch draußen in Joinville bis zum Überdruß jeden Tag um sich.

Kommissar Valvert genießt halb unbewußt das schöne Bild des Mädchenzorns vor ihm. „Mademoiselle“, sagt er, seiner Stimme einen möglichst weichen Klang gebend, „ich verstehe durchaus Ihre Empörung. Zwar habe ich, das bitte ich zu beachten, nicht das geringste gesagt, das Sie kränken oder verdächtigen könnte, aber Ihre Intelligenz hat Ihnen zweifellos bereits gesagt, was nun einmal nicht zu ändern ist, nämlich, daß nach Lage der Dinge ein gewisser ... hm, wie soll ich sagen ... also ein gewisser ...“

„Verdacht auf mir ruht“, vollendet Herta Friebel herb. „Ich bin die einzige, die durch den Vorraum gegangen ist, folglich habe ich das Geld Heitingers gestohlen. Mein Herr Kommissar, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer scharfsinnigen Logik.“

Unbemerkt von Pollin und dem Beamten schlägt drüben im Sessel Monsieur Freeman leicht die Fingerspitzen zusammen, als markiere er gedämpften Applaus. Tolles Mädel, denkt er anerkennend, wie sie das eben machte, der Übergang von hellem Zorn zu überlegenem Spott, das war erstklassig. Dabei doch gemacht. Wette eine Runde Whisky gegen ein Sousstück, es ist ihr gar nicht Ernst mit ihrer Empörung und ihrem Spott!

Valverts Miene hat sich verschlossen. Die spöttische Bemerkung gewandt überhörend, gibt er den verbindlichen Weltmannston auf und fällt in seine amtliche Sprechweise zurück.

„Bitte, hören Sie mir zu, mein Fräulein. Es ist Ihnen bereits bekannt, daß außer Ihnen und Frau Grimmaud niemand unbemerkt den Vorraum betreten konnte. Frau Grimmaud hat das Sekretariat nicht verlassen. Oder doch?“

„Nein. Sie war keine Minute draußen.“

„Bleiben also nur Sie selbst. Würden Sie es nicht vorziehen, schon aus Rücksicht auf Ihren Chef, Herrn Pollin, meine Fragen ruhig und sachlich zu beantworten?“

Kurze Pause. Herta Friebel überlegt anscheinend, dann zuckt sie leicht die Achseln und sagt in ihrem gewohnten ruhigen Ton: „Gut, mein Herr. Fragen Sie bitte. Ich werde antworten.“

„Mille merci!“ Valvert ist sofort wie umgewandelt, freundlich, verbindlich, ganz lächelnder Weltmann. „Sie sind also durch den Vorraum gekommen. Soviel ich verstehen konnte, haben Sie Ihr Büro nur verlassen, um ... pardon, das läßt sich schwer ausdrücken, nicht wahr?“

Wieder verändert sich Hertas Gesicht jählings, ist wie in ein Meer von Spottlust und Schelmerei getaucht. Tausend kleine Kobolde schlagen Rad in ihren braunen Augen.

„Sie haben es erfaßt, mein Herr. Sagen wir also ruhig, ich war dort, wo — es sich schwer ausdrücken läßt.“

„Und bei Ihrem Gang durch den Vorraum hing dort der Rock des Herrn Heitinger?“

„Wahrscheinlich, denn Heitingers Rock hängt während der Arbeitszeit fast immer dort. Gesehen habe ich ihn nicht, weil ich der Kleiderablage keine Aufmerksamkeit schenkte.“

„Erinnern Sie sich, um welche Zeit Sie Ihr Büro verließen? Wenigstens ungefähr?“

„Sogar ganz genau, denn ich sah, als ich von meinem Platz aufstand, auf die Uhr meiner Kollegin Grimmaud, die vor uns auf dem Arbeitspult lag. Es war 10 Minuten vor 11 Uhr.“

„10 Uhr 50“, notiert der Kommissar. „Und wie lange ungefähr blieben Sie draußen?“

„Auch das kann ich genau sagen. 10 Minuten.“

„Wie kommt es, daß Sie die Zeitspanne so genau wissen?“

Überlegenes, damenhaftes Lächeln. „Daran ist meine Kollegin, Frau Grimmaud, schuld. Als ich zurückkam und meinen Platz einnahm, sah sie auf die Uhr und seufzte: ‚Erst 11 Uhr! Noch eine ganze Stunde bis zur Mittagspause.‘ Wir verglichen dann unsere Uhren und stellten fest, daß es tatsächlich grade 11 Uhr war.“

Monsieur Pollin macht unwillkürlich eine lebhafte Bewegung, wird aber durch einen warnenden Seitenblick des Kommissars gehindert, das auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag.

„Frau Grimmaud kann das bestätigen? Sehr gut. Herr Pollin, wenn ich bitten darf!“

Frau Grimmaud wird hereingerufen, eine ältere, hagere Dame, deren hochgeschlossenes Kleid nicht die Dürre von Hals und Schulterpartie zu verdecken vermag. Ihre in befangener Erregung gemachten Aussagen decken sich vollkommen mit den Behauptungen Hertas. Jawohl, auch über den Zeitpunkt kann kein Zweifel sein. Fräulein Friebel war höchstens 10 Minuten draußen, und als sie wiederkam, war es genau 11 Uhr.

„Meine Uhr geht unbedingt richtig“, beteuerte Frau Grimmaud, das Objekt hervorziehend und wie zur Begutachtung dem Kommissar hinhaltend. „Ich stelle sie jeden Morgen nach der Radio-Zeitangabe.“

Frau Grimmaud wird in Gnaden entlassen. Valvert vertuscht ein kurzes Nachdenken damit, daß er anscheinend eifrig in dem vor ihm liegenden Protokoll blättert und einige Stellen liest. Ohne den Kopf zu heben, sagt er mit zu betonter Nebensächlichkeit: „Damit wäre also Ihre Unschuld einwandfrei erwiesen, Fräulein Friebel.“ — „Wieso?“

Großartig, die Verblüffung! stellt von seinem Sessel aus Monsieur Freeman fest und reibt sich unbewußt die Hände. Gradezu dumm sieht das reizende Gesichtchen aus in seinem Erstaunen! Dabei um keinen Millimeter übertrieben.

Auch auf Kommissar Valvert hat die verblüffte Frage Hertas Eindruck gemacht, wenn auch nicht grade in angenehmem Sinne. Unmutig gibt er die gespielte eifrige Beschäftigung auf und wendet sich voll dem jungen Mädchen zu. Einen Augenblick noch sucht er nach einer harmlosverbindlichen Formel, findet sie zu seinem Ärger nicht und verschließt sich ganz, ist auf einmal nur noch der sachliche, unerbittliche Beamte.

„Wieviel Geld haben Sie in Ihrer Tasche, Fräulein Friebel?“

Der neue Zornesausbruch, den sowohl Valvert wie Herr Pollin erwartet haben, bleibt aus. Diesmal lacht Herta nur kurz und spöttisch auf.

„So genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Wahrscheinlich werden es ungefähr fünfzig Franken sein. Wenn Sie sich der Mühe unterziehen wollen, meine Handtasche zu durchsuchen, sie liegt in meinem Schreibpult.“

Valvert ersucht Herrn Pollin, die Tasche durch Frau Grimmaud hereinbringen zu lassen. Gleich darauf hält er die länglich - schmale dunkelblaue Ledertasche mit dem Goldbuchstaben „H“ in den Händen, öffnet sie und untersucht den Inhalt. Die Tasche enthält nichts Ungewöhnliches. Taschentuch, ein Paar hellgelbe Lederhandschuhe, Puderdöschen, Spiegel, eine Wochenkarte der Metro und eine kleine Seidenbörse.

„Siebenundzwanzig Franken“, beendet Valvert die Zählung.

„Also, wie ich sagte“, ergänzt Herta befriedigt.

„Hatten Sie die Tasche bei sich, als Sie gegen 11 Uhr Ihren ... hm ... kleinen Gang machten?“

„Wozu sollte ich das? Die Tasche lag an ihrem Platz unter meinem Pult. Frau Grimmaud wird das wohl bestätigen können.

Frau Grimmaud bestätigt auf einen fragenden Blick des Kommissars sofort, daß ihre Kollegin bestimmt nicht die Tasche mitnahm, als sie das Sekretariat auf einige Minuten verließ.

„Haben Sie heute einen Mantel getragen, Fräulein Friebel?“

„Einen Regenmantel, jawohl. Er hängt draußen in der Kleiderablage. Ebenso meine Kappe.“ Herta schweigt eine Sekunde und zuckt die Achseln. „Daß sich in meinen Manteltaschen keine 5000 Franken befinden, dürften Sie bereits wissen, mein Herr.“

„Woraus schließen Sie das?“ Kurz und scharf kommt die Frage. Herta deutet eine leichte Verbeugung an. Ihr Gesicht trieft von Ironie.

„Sie waren — zusammen mit Herrn Pollin — mindestens 20 Minuten draußen im Vorraum, um den Tatort zu besichtigen, bevor die Vernehmungen begannen, Herr Kommissar. Sollte ich mich täuschen in der Annahme, daß Sie dabei nachgesehen haben, ob sich das verschwundene Geld in den Taschen der anderen dort befindlichen Kleidungsstücke befindet?“

In unangenehmer Schärfe ruhen die Augen des Beamten auf ihrem Gesicht. „In der Tat, mein Fräulein. — Finden Sie es nicht bemerkenswert, daß Sie also bereits vor unserer Vernehmung in ihren Gedanken davon ausgingen, daß ich grade Sie verdächtigen würde?“

Die scharfe, von Argwohn gebeizte Frage löst eine andere Wirkung aus, als Valvert erwartet hat. Ein klingendes, glockenreines Mädchenlachen schwingt durch den Raum. Fast vertraulich beugt Herta sich ein wenig vor, die gezügelte Verbindlichkeit der großen Dame in jedem Zug, jeder Kopfbewegung.

„Sie gefallen sich in Scherzen, mein Herr. Denn ich kann unmöglich glauben, daß ein so hervorragender Beamter der Sûreté wirklich eine so naheliegende Tatsache übersieht.“

„Was meinen Sie? Sie würden mich verbinden, wenn Sie mir erklären wollten ...“

„Oh, wenn Sie meinen gesunden Menschenverstand auf die Probe stellen wollen, so hoffe ich, die Prüfung zu bestehen“, lächelte Herta, und ihr Lächeln ist wie der Fächerschlag einer jungen Marquise des Ancien regime. „Außer meinem Mantel hängt draußen auch noch der Mantel meiner Kollegin. Wenn ich nicht irre, hängt sogar auch die Handtasche Frau Grimmauds im Vorraum. Meine selbstverständliche Annahme, daß Sie im Vorraum die Taschen der dort befindlichen Kleidungsstücke untersucht haben, bezog ich also nicht auf einen lediglich meine Person betreffenden Verdacht.“

Der Unmut im Innern des Kommissars ist langsam einer erfreuten, gespannten Aufmerksamkeit gewichen. Er betrachtet Herta Friebel beinahe mit dem gleichen anerkennenden Interesse wie Monsieur Freeman, der keinen Blick von dem Mädchen läßt.

„Noch eine Frage, Fräulein Friebel. Sie bestätigen, daß Frau Grimmaud das Büro überhaupt nicht verlassen hat. Sind Sie dessen ganz sicher?“

„Ja, das bin ich.“

„Aber Sie können doch nicht wissen, ob Frau Grimmaud nicht in der kurzen Zeit Ihrer eigenen Abwesenheit ebenfalls hinausgegangen ist. Sie waren 10 Minuten draußen. Frau Grimmaud könnte immerhin in dieser Zeit wenigstens 5 Minuten lang ebenfalls das Büro verlassen haben.“ In Hertas Antlitz malt sich ein kurzes Stutzen. Dann schüttelt sie ernst den Kopf. „Das wäre allerdings denkbar, aber ich nehme es nicht an, da Frau Grimmaud selbst ja erklärt hat, daß sie unser Büro nicht verlassen hat.“

„Nur aus diesem Grund?“

„Nein“, sagt Herta mit klarer Stimme. „Ich weiß, daß ich mich nicht der sonderlichen Zuneigung Frau Grimmauds erfreue. Es beruht auf Gegenseitigkeit. Wir verstehen einander nicht recht. Aber ich halte Frau Grimmaud keine Sekunde für fähig, einen Kollegen zu bestehlen.“ Mit einer raschen Wendung streckt Herta der bis in die Haarwurzeln erröteten Kollegin die Hand hin. Frau Grimmaud erwidert den Händedruck etwas befangen und mit verkniffenen Lippen.

„Danke“, sagt der Kommissar abbrechend. „Die Vernehmung ist beendet. Sie können zu Ihrer Arbeit zurückkehren, Fräulein Friebel. Und Sie, Frau Grimmaud, natürlich gleichfalls.“

„Und meine Tasche?“

Valvert legt die Hand darauf und zaubert wieder ein Lächeln auf seine Lippen. „Bitte, lassen Sie uns die Handtasche noch hier. Ich habe meine Gründe. Selbstverständlich wird Ihnen Ihr Eigentum zugestellt, bevor Sie das Büro verlassen.“

Kaum hat sich die Tür hinter den beiden Frauen geschlossen, als Valvert hastig eine Lupe hervorholt und die Handschuhe Hertas, insbesondere die Innenseiten der Handschuhfinger einer gründlichen Untersuchung unterzieht.

„Nichts“, sagt er endlich mit unverkennbarer Enttäuschung. „Keinerlei brauchbare Abdrücke, ebensowenig wie an dem Rock oder der Brieftasche Heitingers.“ Er nimmt dankend eine von Herrn Pollin angebotene Zigarette, setzt sie in Brand und rafft bedächtig seine Papiere zusammen. „Das Ergebnis unserer Vernehmung ist etwas mager, verehrter Herr Pollin. Ich leugne nicht, daß wir festgefahren sind. Aber nur Geduld. Wir kommen dem Dieb schon hinter seine Schliche.“

Monsieur Pollin räuspert sich heftig. „Sie können sich denken, Herr Valvert, wie unangenehm mir die Geschichte ist. Solange meine Firma besteht, ist es noch nicht vorgekommen, daß einer unserer Angestellten bestohlen wurde. Oh, ich weiß, für Sie als Kriminalisten ist der Diebstahl von 5000 Franken nur eine Kleinigkeit, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich unserer alten Freundschaft zuliebe persönlich herbeibemüht haben. Aber glauben Sie mir, für mich stellt die Sache keine Kleinigkeit dar.“

Valvert lächelt sinnend. „Verehrter Herr Pollin, Sie befinden sich da in einem Irrtum. Nicht immer sind die sogenannten Kapitalverbrechen für uns Kriminalisten die interessantesten Fälle. Oft genug ist ein einfacher Diebstahl, kriminalistisch gesehen, schwerer aufzuklären als ein Raubmord. Hier zum Beispiel haben wir einen solchen Fall. Anfangs dachte ich an einen Gelegenheitsdiebstahl, und ich gestehe gern, daß ich die Sache persönlich nur übernahm, um mich für Ihre vielen Liebenswürdigkeiten erkenntlich zu zeigen. Aber ein kleiner Gelegenheitsdieb handelt nicht so umsichtig. Die Person, die den Diebstahl ausgeführt hat, verfügt über eine gehörige Dosis Scharfsinn und Überlegung, fast möchte ich sagen über fachmännisches Wissen. Brieftasche und Rock des Bestohlenen weisen keine Abdrücke auf. Der Täter scheint mit Handschuhen gearbeitet zu haben. Die Durchsuchung des Tatortes und der angrenzenden Örtlichkeiten, auch des Toilettenraumes, hat nicht die geringste Spur ergeben. Vor allem aber: Der Täter hat es verstanden, zu der Kleiderablage zu gelangen, ohne gesehen zu werden. Bei den vorliegenden lokalen Verhältnissen ist diese Tatsache allein ein interessantes kriminalistisches Rätsel.“

Herr Pollin nickt sorgenvoll. „Ja, das wird auch mir immer rätselhafter. Unser Fräulein Friebel kann es also nicht gewesen sein!“

„Ich bemerkte wohl, daß Ihnen der Kernpunkt der Vernehmung aufging“, stimmt Valvert zu. „Nach der übereinstimmenden Erklärung der beiden Damen war Fräulein Friebel zwischen 10.50 und 11 Uhr draußen. Zeit genug, um den Diebstahl auszuführen. Aber um diese Zeit hing draußen noch gar nicht der Rock des Herrn Heitinger, sondern dessen Lüsterjoppe, die kein Geld enthielt. Es war, wie sowohl Heitinger als auch Ihr Kassierer bestätigen, genau der Zeitpunkt, an dem Heitinger sich im Kassenraum befand, um sein Geld abzuheben.“

„Ja, das fiel mir gleich auf. Aber warum fragten Sie dann nach einer Abwesenheit der Grimmaud? Wenn sie wirklich im Vorraum war, ohne daß die Friebel es wußte, so kann das doch gleichfalls nur in jener Zeit gewesen sein, da Heitinger noch gar nicht von der Kasse zurück war!“

„Eine kleine Falle, lieber Herr Pollin“, lächelt der Beamte. „Unsere Fragen enthalten manche solcher Fallen, in die sich der Täter verstrickt, ohne es zu ahnen. Hm, ich muß gestehen, Fräulein Friebel hat sich in keiner Weise verblüffen lassen. Ihr Alibi wäre somit erwiesen.“

„Ich könnte es mir auch gar nicht vorstellen“, sagt Herr Pollin.

„Und Frau Grimmaud? Die Möglichkeit eines Einvernehmens zwischen den beiden Damen wäre theoretisch vorhanden.“

„Das kann ich mir noch weniger denken. Frau Grimmaud ist seit elf Jahren in meinem Betrieb. Eine gewissenhafte Kraft, wenn auch kein sonderliches Kirchenlicht. Sie bezieht ein anständiges Gehalt und lebt bescheiden. Ich kenne sowohl sie wie ihre Familie.“

„In näheren Beziehungen zu der Friebel steht sie nicht?“

„Durchaus nicht. Was Fräulein Friebel vorhin sagte, trifft zu. Es ist in meinem Büro allgemein bekannt, daß Frau Grimmaud ihre Kollegin nicht gerade liebt. Ich selber habe allerlei Beweise dafür. Zum Teil könnte man da sogar von Gehässigkeiten der Grimmaud sprechen. Ist ja auch kein Wunder, Fräulein Friebel hat eine raschere Auffassungsgabe, und ich kann daher nicht umhin, sie bei manchen vertraulichen Geschäftsangelegenheiten vorzuziehen. Dazu die natürliche Eifersucht und Abneigung der ältlichen und unansehnlichen Frau Grimmaud gegen die hübsche und so viel jüngere Kollegin. Ich glaube zwar nicht, daß die Grimmaud ihrer Kollegin etwas Schlechtes antun würde. Noch viel weniger aber, daß sie ihr durch falsche Angaben, zum Beispiel durch eine falsche Zeitangabe, beistehen würde.“

„Sie haben erfaßt, worauf es ankommt“, sagt Valvert, sich erhebend und seine Aktentasche ergreifend. „Nun, vorläufig kann ich hier nichts mehr machen. Wir werden den Fall weiter verfolgen und die nötigen Ermittlungen anstellen. Sowohl über Frau Grimmaud wie insbesondere über Fräulein Friebel.“

„Aber ich denke ...“

„Nach Lage der Dinge kommen zunächst nur die beiden Personen in Betracht“, fällt Valvert ein. „Die Bestätigung der Zeitangabe durch die Grimmaud entlastet die Friebel. Nun, so unwahrscheinlich es klingt, gerade das Vorhandensein des tadellosen Alibis gibt mir in bezug auf Fräulein Friebel sehr zu denken.“

Monsieur Freeman, der teilnahmlos in seinem Sessel gedöst hat, gibt ein Grunzen von sich. „Wer sagt denn überhaupt, daß hier ein Diebstahl vorliegt, Herr Kommissar? Vielleicht findet sich das Geld noch. Heitinger kann es ebensogut auf dem Weg zwischen Kasse und Vorraum auf dem Flur oder der Treppe verloren haben.“

Valvert verbirgt seine mitleidige Verachtung hinter doppelt gewinnendem Lächeln. „Dann müßte er auch die Brieftasche selbst verloren haben. Denn sowohl der Kassierer wie Heitinger selbst erklären ja, daß der junge Mann die Geldscheine beim Empfang in seine Brieftasche gesteckt und letztere in der Brusttasche seines Rockes verwahrt habe. Daß die Scheine unterwegs aus der Brieftasche herausfallen könnten, ist ein Ding der Unmöglichkeit.“

„Dann also nicht“, brummt Freeman ärgerlich und reicht dem Kommissar die Hand, ohne sich aus seinem Sessel zu erheben.

Als Valvert gegangen ist, macht Herr Pollin durch mehrere hastige Sturmläufe durch das Büro seiner Erregung Luft.

„Sie haben gut lachen, lieber Freeman! Sie stehen außerhalb dieser gemeinen Geschichte. Aber bedenken Sie meine Lage! In allen Büros meines Hauses spricht man in diesem Augenblick nur von dem Diebstahl. Kollegendiebstahl! Ein Dieb in unserem alten, guten Betrieb! Und in zwei Stunden ist Feierabend. Dann läuft die Geschichte durch halb Paris!“

„Wie lange ist die Friebel noch vertraglich an Ihre Firma gebunden?“

„Die Friebel?“ Herr Pollin bleibt unangenehm berührt stehen. „Sie glauben also auch, daß sie ...“

„Ich fragte nur, wie lange sie noch bei Ihnen bleibt.“

„Ich habe bisher nicht daran gedacht, ihr zu kündigen“, versetzt Pollin erstaunt. „Sie ist eine tüchtige Kraft. Ihr Vertrag ist übrigens der übliche. Anstellung auf dreimonatliche Kündigung.“

Freeman nimmt das mit kurzem Nicken zur Kenntnis. „Das Mädchen ist erstklassig“, sagt er sachlich. „Hervorragende Mimik. Ungeheure Begabung in bezug auf psychische Beobachtungen. Von der könnte ein alter Bühnenroutinier was lernen. Figur Ia. Auch das Gesicht muß sich wundervoll fotografieren lassen. Hören Sie, Pollin, das wäre etwas für uns. Ich bin nicht abgeneigt, einen Versuch zu wagen.“

Herr Pollin setzt sich vor Erstaunen in den Sessel. „Unsere Friebel zum Film? Lieber Freeman, ich glaube, da täuschen Sie sich. Fräulein Friebel hat so gar nichts von einer Filmschauspielerin an sich. Sie ist die Natürlichkeit in Person.“

„Eben darum“, grunzt Freeman trocken. „Nicht die große Dame und nicht das abgestempelte naive Filmkind. Stimmt schon. Das Publikum beginnt kritisch zu werden. Es will nicht mehr Filmstars, sondern Schauspieler sehen. Die Friebel ist eine Schauspielerin. Vielleicht weiß sie’s selbst noch nicht.“

Vergebens versucht Pollin dem Gedankengang seines Freundes zu folgen. „Aber wenn nun ... wenn nun die Friebel doch etwas mit dem Diebstahl zu tun hat?“

„Dann natürlich nicht. Eine wegen Diebstahl bestrafte Person ist für den Phaeton-Film untragbar. Darum meine ich eben ...“ Freeman hält inne und verzieht die Mundwinkel, was bei ihm ein Lächeln andeuten soll. „Sagen Sie mal, Pollin, wäre Ihnen nicht damit gedient, wenn dieser ganze Klamauk sich in Wohlgefallen auflöste?“

„Das können Sie sich denken, lieber Freeman!“

„Sie würden ein Stück Geld opfern, wenn dadurch die Sache ungeschehen gemacht werden könnte, was?“

„Das versteht sich. Aber wozu die Frage?“

„Well, dann ersetzen Sie doch dem Heitinger die lumpigen Fünftausend!“

„Ersetzen? Ich verstehe Sie nicht, Bester. Was sollte dadurch geändert werden?“

„Sie verdienen bald an Heitingers plastischem Objektiv das Hundertfache“, fährt der Filmmann unerschüttert fort. „Also opfern Sie den kleinen Betrag. Sie müssen natürlich dafür sorgen, daß das Geld in möglichst unverfänglicher Weise irgendwo auftaucht. Und der guten Sûreté muß mitgeteilt werden, daß sich der verlorene Betrag wiedergefunden hat.“

„So meinen Sie das! Wegen der Friebel also?“

„Ja, so meine ich’s. Überlegen Sie sich die Sache, Pollin.“ Freeman schwingt sich ächzend aus seinem Sessel empor. „Jetzt wollen wir mal in Heitingers Atelier rübergehen und sehen, wie sich seine Sache entwickelt.“

II.

Die Räume der Präfektur sind reichlich düster und ungemütlich, in diesem Augenblick aber doch behaglicher als die Straßen draußen, auf die unaufhörlich ein klatschender Regen niedergeht. Kommissar Valvert entledigt sich mit einem Befriedigungsseufzer seines Hutes und Mantels, legt die nasse Aktentasche zum Trocknen aufs Fensterbrett und sucht seinen Platz hinter dem Schreibtisch auf.

„Kleine Sache“, erwidert er auf den fragenden Blick seines Assistenten. „Einfacher Diebstahl. Immerhin manche interessante Momente. Bitte notieren Sie, Morlain: Eingehende Ermittlungen über Herta Friebel und Josefine Grimmaud. Hier haben Sie die Personalien. Etwas Neues inzwischen?“

Assistent Morlain, noch das Blatt mit den Personalien in der Hand, deutet mit dem Kopf nach einem Aktenstück auf dem Schreibtisch. „Unsere schöne Unbekannte ist wieder auf dem Kriegspfad gewesen.“

„Sacré nom ...! Unsere Unbekannte! L’inconnue de Paris! Ich wollte, sie läge in der Seine wie die andere Unbekannte! Was ist nun schon wieder los?“

„Das alte Spiel, mein Kommissar. Diesmal liegt die Anzeige eines Herrn Lecour vor. Gutsbesitzer aus dem Departement Haut-Auvergne. Den hat sie um 30 000 Franken leichter gemacht. Dazu um eine Brillantnadel, angeblich im Werte von 80 000 Franken.“

„Helas! Wie hat sie das nun wieder fertiggebracht?“

„Diesmal operiert sie mit einem schicken Auto. Eine ungewöhnlich hübsche und elegante junge Dame, die einen schnittigen Wagen lenkte, hat gestern abend auf dem Boul Michel dicht vor diesem Herrn Lecour gestoppt und ihn um Feuer für ihre Zigarette gebeten. Natürlich war Monsieur sofort dazu bereit. Kurze verbindliche Unterhaltung. Dann charmante Einladung, in den Wagen zu steigen. Madame behauptete, den gleichen Weg zu haben, den Herr Lecour zu seinem Hotel einschlagen wollte.“

„Wohin sie dann aber natürlich nicht fuhren?“