Der Ruf des Königs - Corinna Wolf - E-Book

Der Ruf des Königs E-Book

Corinna Wolf

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Beschreibung

Auf dem Weg zum König der Könige Ein ferner Kontinent. Ein Volk, das ums Überleben kämpft gegen einen übermächtigen Feind. Ein König, der sie zum Sieg führen will. Doch nicht alle sind bereit, seinem Ruf zu vertrauen. Als eine kleine Gruppe nach Jahren des Friedens einen besonderen Auftrag erhält, wird ihnen klar, dass sie die Macht des Königs gerade erst kennen lernen ... Jahrhunderte später wartet das Volk auf die Rückkehr des Königs. Während Traditionen zu Ritualen werden, erwacht in einigen die Erkenntnis, dass ein neuer Aufbruch vor ihnen liegt, der mehr Mut und Glauben erfordert als jemals zuvor.

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften,Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7529-6 (E-Book)ISBN 978-3-7751-6089-6 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Aachen

© 2021 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Lektorat: Anna KoppriUmschlaggestaltung: Jan Henkel, www.janhenkel.comTitelbild: Komposition: © Stephen Mulcahey / Trevillion ImagesAutorenfoto: © privatSatz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Für meine Familie, ohne deren tatkräftige Unterstützung und anhaltende Ermutigung ich dieses Buch nicht hätte schreiben können.

Inhalt

Über die Autorin

Verzeichnis der Figuren

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

CORINNA WOLF (Jg. 1987) lebt mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Töchtern in Konstanz. Sie ist Psychologin in eigener Beratungspraxis mit Schwerpunkt Stressmanagement. Ihre große Leidenschaft sind Geschichten, die in uns den Glauben wecken, dass Gott noch Größeres mit uns vorhat, als wir uns vorstellen können.

www.wolf-literatur.de

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Verzeichnis der Figuren

Elouan

König des Kontinents

Die Zeit der Großen Kriege

Ilai

Bauer aus einem Dorf nahe der Berge im Osten

Lukan

Ilais bester Freund

die Solech

Feindliche Krieger aus dem Land des Ostens

Herion

Schmied in Ilais Dorf

Esad

Wanderer, dem Ilai und Lukan auf dem Weg zum Schloss begegnen

Irina

Lukans Schwester

Meli

Lukans Schwager

Lachlan

Jugendlicher im Lager des Königs

Rani

Koch im Lager des Königs

Helen

Soldatin des Königs, führt eine Truppe Soldaten

Armin

Späher in Helens Truppe

Aaron

Kämpfer in Helens Truppe

145 Jahre nach den Großen Kriegen

Yara

Soldatin des Königs, Teilnehmerin der Mission ins Land des Ostens

Nathan

Yaras Bruder, Kommandant der Schlossgarde vor dem Aufbruch in den Osten

Silas

Teilnehmer der Mission ins Land des Ostens

Diana

Teilnehmerin der Mission ins Land des Ostens

Peter

Teilnehmer der Mission ins Land des Ostens

Emmi

Teilnehmerin der 2. Mission ins Land des Ostens

Jakob

Teilnehmer der 2. Mission ins Land des Ostens

655 Jahre nach den Großen Kriegen

Kanan

Bewohner der Stadt der Könige am Fuße des Berges der Könige

Dinah

Freundin von Kanan aus Jugendtagen

Tamir

Dinahs Mann

Ben

Sohn von Dinah und Tamir

Jalis

Kanans Mentor

Rat Clay

Rat im Regierungsrat, später Kanans Freund

Arani

Archivarin im Archiv der Stadt der Könige

Umar

Kanans bester Freund

Nour

Umars Schwester und Kanans Frau

Noah

Umars Vater

Mara

Kanans Mutter

Ron

Kanans Bruder

Simon

Kanans Vater

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Prolog

Der Alte brauchte fast zehn Minuten für die kurze Strecke von seinem Esstisch bis zu der Bank vor seiner kleinen Hütte. Dort ließ er sich erleichtert seufzend auf seinen angestammten Platz mit Sicht auf die aufgehende Sonne sinken. Der Anblick war den Weg wert gewesen. Auf dem Gras lag noch der Tau der Nacht, doch die ersten Sonnenstrahlen versprachen bereits die Wärme des Frühlings. Auf den Feldern um das Schloss, das sich unweit der Hütte erhob, sprießten bereits die ersten zarten Halme. Das Hellgrün der Bäume und Büsche leuchtete, wie es nur zu dieser Tageszeit zu sehen war. Er genoss das Gefühl des Friedens, das er in diesen Momenten immer verspürte, und lauschte dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel.

Er war nicht überrascht, als er wenige Minuten später Gesellschaft auf seiner Bank bekam. Lächelnd neigte er den Kopf in einer angedeuteten Verbeugung. »Mein König.«

Dieser erwiderte die Geste. »Alter Mann.«

»Wer ist hier alt?«, konterte der Alte.

Sie grinsten beide über den Scherz, mit dem sie sich seit seinem hundertsten Geburtstag immer begrüßten. Sein hundertster Geburtstag … Damals war seine Frau Helen gestorben.

»In letzter Zeit muss ich oft an Helen denken«, sagte er nachdenklich. »Es sind fast vierzig Jahre, seit ich sie nicht mehr bei mir habe. Dabei kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen.«

Der König antwortete nicht, aber der Alte wusste, dass er ihm zuhörte. »Naty erinnert mich an sie. So viel Energie in einer Fünfjährigen!«, fuhr er fort. Sie lachten beide, als sie an seine Urururenkelin dachten, deren Neugier keine Grenzen kannte und deren Fragen nie endeten.

Einer der Hunde aus dem Schloss trottete den Weg entlang und wurde von der ausgestreckten Hand des Königs angelockt. Er legte sich auf dessen Füße vor der Bank und genoss die Sonne auf seinem Fell ebenso wie die Streicheleinheiten.

»Heute Nacht habe ich von meinem Heimatdorf geträumt. Zeit ist schon merkwürdig. Ich habe zwanzig Jahre nicht an ihn gedacht, aber nun vermisse ich die Gegenwart meines besten Freundes von damals«, unterbrach der Alte die Stille.

Der König nickte. »Er war immer Teil deines Herzens.«

Der Alte stützte sich auf seinen Stock, um den Hund hinter den Ohren zu kraulen. »Ich habe dir nie gedankt für das, was du damals getan hast.«

Der König schüttelte den Kopf. »Er war einer der Meinen. Und er hat seine eigene Entscheidung getroffen.«

Der Alte nickte nachdenklich. »Ich glaube, meine Zeit hier neigt sich dem Ende zu. Es gibt Momente, da fühle ich mich dem Licht näher als diesem Ort hier. Mir ist, als müsse ich nur loslassen und hinübergleiten.«

Der König musterte ihn. »Ich weiß. Das Licht fließt regelrecht aus dir heraus. Naty hat mich schon gefragt, warum deine Augen so viel heller leuchten als die der anderen.«

Der Alte grinste, als das Mädchen genau in diesem Moment hinter der Hütte hervorgerannt kam. Ihr rotes Kleid war etwas schräg gebunden und ihre Haare noch nicht in den ordentlichen Zopf geflochten, den ihre Mutter ihr immer machte. Vermutlich war sie vor ihrer Familie aufgestanden und so schnell sie konnte den Weg aus dem Dorf zum Schloss hinaufgerannt. Sie breitete ihre Arme aus, flog lachend in die Umarmung ihres Urururgroßvaters und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann wiederholte sie die Begrüßung beim König, bevor sie die beiden etwas zur Seite schob, um sich zwischen ihnen auf die Bank zu setzen.

»Ich habe zwei Hasen gesehen, direkt am Ortsrand«, begann sie fröhlich ihre Erzählung über alles, was sie seit ihrem letzten Treffen erlebt hatte.

Die Männer sahen sich lächelnd an und der König zwinkerte dem Alten zu.

Er sieht immer aus, als sei er etwa vierzig Jahre alt, aber in diesem Moment erscheint er noch viel jünger, dachte der Alte. Der König war nicht ein bisschen gealtert seit dem Tag vor hundertzwanzig Jahren, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. So viel Entschlossenheit, so viel Zukunft in seinem Blick.

Er selbst war inzwischen meistens müde und sein Körper war am Ende seiner Kräfte angelangt. Sein Geist sehnte sich nach der Ruhe der Zeitlosigkeit.

Er schloss die Augen und lehnte den Kopf hinter sich an die Hauswand, sein Gesicht den wärmenden Strahlen der Sonne zugewandt. Sobald er sich entspannte, war es jedoch nicht das Licht der Sonne, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Stimme seiner kleinen Nachkommin trat in den Hintergrund, als sich, wie so häufig in diesen Tagen, das Licht tief in ihm auszubreiten begann. Es zog ihn zu sich hin, bis es alles zu sein schien, was er wahrnehmen konnte. Er spürte den Frieden, den es versprach. Die Sehnsucht, mit dieser Urgewalt des Universums und Quelle allen Lebens ganz eins zu werden.

Für einen Moment vergaß der alte Mann alles andere und ließ sich ins Licht sinken. Nicht mehr lange, versprach er sich selbst. Nur noch ein Tag mit Naty, ein Essen mit meiner Familie.

Als er die Augen wieder öffnete, spürte er den Blick des Königs auf sich ruhen. Ihre Augen trafen sich über dem Kopf des kleinen Mädchens, das gerade in einem seltenen Moment der Stille ebenfalls den Morgen zu genießen schien. Ihre Beine baumelten fröhlich hin und her. Im Blick des Königs sah er überrascht einen Anflug von Bedauern.

»Ich werde unsere Gespräche vermissen«, sagte dieser schließlich mit einem Lächeln.

»Es war mir eine Freude, mein König.« Dieses Mal blieb sein Gesicht ernst, als Ausdruck des tiefen Respekts, den er vor seinem Freund empfand.

»Die Freude war ganz meinerseits, alter Freund«, antwortete der König.

»Wie lange wirst du noch bleiben?«, fragte der Alte. Er wusste, niemand außer ihm hatte genug Einsicht, um diese Frage zu stellen. Er stellte sie selbst zum ersten Mal.

Der König neigte nachdenklich den Kopf. »Das wird sich zeigen. Aber lange genug, um über den Kindern von Naty zu wachen, und über deren Kinder. Sie werden niemals alleine sein.«

Der Alte spürte, wie eine Last von seinen Schultern wich, als der König die letzte Sorge von ihm nahm, die er nicht recht hatte in Worte fassen können.

Auf seinen Stock gestützt erhob er sich mühsam von der Bank. »Komm, kleiner Wirbelwind, wir besuchen deine Mutter«, sagte er an das Mädchen gewandt und streckte ihr eine Hand hin.

Sie sprang von der Bank und musterte besorgt seinen Stock. »Aber kannst du denn so weit laufen?«

Er lachte und winkte mit einem Augenzwinkern ab. »Wenn ich mich auf dich stützen darf, werde ich das schon schaffen!«

Naty nickte eifrig. »Ich helfe dir!«

Sie stellte sich neben ihn, sodass er seine freie Hand vorsichtig auf ihre Schulter legen konnte.

Naty winkte dem König zum Abschied und der Alte nickte ihm noch einmal lächelnd zu. Dann bogen die beiden um die Hausecke.

Der König saß noch eine Weile alleine auf der Bank vor der kleinen Hütte. Er sah dem ungleichen Paar noch lange nach und blickte dann auf das langsam erwachende Land vor ihm. Schließlich erhob auch er sich und wandte sich wieder dem Schloss zu.

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Kapitel 1

Ilai – 15 Monate vor den Großen Kriegen

Ilai sah prüfend zum Himmel, bevor er sich wieder dem von Frost bedeckten Boden widmete. Er hatte höchstens noch eine Stunde Zeit, bevor es zu dämmern beginnen würde. Die Tage wurden zwar wieder länger, aber bisher hatte der Frühling noch keine wärmeren Temperaturen gebracht. Es war eine mühselige Arbeit, die Fläche, die er für ein weiteres Getreidefeld vorgesehen hatte, von Steinen zu befreien.

Diesen Winter waren die Nahrungsmittel knapp gewesen. Wenigstens hatten sie auf der Jagd immer wieder Glück gehabt und ihre eintönigen Mahlzeiten mit etwas Fleisch aufbessern können. Schuld an ihrer Situation war weder das Wetter noch schlechte Planung. Im Spätsommer hatten sie so viele Vorräte eingelagert gehabt, dass es für zwei Winter gereicht hätte. Doch dann waren die Solech gekommen.

Seine Hände zitterten, als er sich daran erinnerte, wie er und die anderen Dorfbewohner sich voller Panik in der Schmiede versteckt hatten, während sich die Krieger genommen hatten, was sie wollten. Sie hatten ihren Raubzug durch die Ritzen der Wände hindurch beobachtet, während sie verzweifelt gehofft hatten, dass keiner der Krieger die Tür aufreißen und sein Schwert gegen sie erheben würde. Denn den Solech wurde nachgesagt, dass sie, wo sie hinkämen, nur Tod und Zerstörung zurückließen. Er vermutete, dass die Solech genau gewusst hatten, dass sich die Dorfbewohner in der Schmiede versteckt hielten. Aber nachdem sie ihre Taschen gefüllt und das halbe Dorf zerstört hatten, waren sie einfach davongeritten. Weshalb sie verschont geblieben waren, konnte keiner so recht erklären. So hatten sie ihre Wintervorräte und den Großteil ihrer Tiere eingebüßt. Wenn die Solech das nächste Mal kämen, würden sie vermutlich alles dem Erdboden gleichmachen. Und sie würden wiederkommen, daran zweifelte niemand.

Wütend stieß Ilai mit dem Fuß mehrere kleine Steine Richtung Waldrand. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als in diesem Jahr noch mehr Vorräte anzulegen und zu hoffen, dass sie genügend davon würden verstecken können. Keiner von ihnen hielt das für eine gute Strategie, doch sie hatten den Angriffen ansonsten schlicht wenig entgegenzusetzen.

Die Solech waren ein Volk von Kriegern, sie selbst waren nur Bauern. Ilai hatte, ebenso wie alle anderen seines Volkes, von Kindesbeinen an gelernt, dass sie einander brauchten, um ein gutes Leben zu führen. Die Solech hingegen ließen ihre Kinder bis auf den Tod gegeneinander kämpfen, damit nur die Stärksten übrig blieben. Zumindest besagten das die Geschichten, die man sich über sie erzählte. Eigentlich hatte niemand so richtig eine Idee, wer sie waren. Man wusste nur, dass sie aus einem Land hinter dem großen Gebirge kamen, das selbst im Sommer kaum passierbar war. Seit Hunderten von Jahren gab es kaum Kontakt zwischen den Solech und dem restlichen Teil des Kontinents. Zum einen war die Reise über das Gebirge zu gefährlich, zum anderen gab es genug Geschichten von wenigen Abenteurern, die nie zurückgekehrt waren. Warum sie seit zwei Jahren immer häufiger in Gruppen von Kriegern über das Gebirge kamen, wusste niemand. Man erzählte sich, dass das Land der Solech, das im östlichen, deutlich kleineren Teil des Kontinents lag, den fruchtbarsten Boden mit einer blühenden Landschaft hatte. Warum sollten sie darauf angewiesen sein, zu stehlen? Noch weniger war nachzuvollziehen, warum sie ganze Landstriche niederbrannten, Dörfer zerstörten und die Einwohner ermordeten. Sie trafen schließlich auf wenig Gegenwehr.

Ilai nahm eine Hacke zur Hand, um seinen Unmut an einem widerspenstigen Stein auszulassen.

Plötzlich traf ihn etwas Hartes an der Schulter. Er ignorierte es und konzentrierte sich auf seinen Widersacher am Boden. Das nächste Geschoss traf ihn am Rücken.

»Heute nicht!«, rief er unwillig, ohne sich umzudrehen.

Ein weiteres Geschoss erwischte ihn am Hinterkopf. Dieses Mal tat es weh genug, um zu reagieren. Ilai griff einen Tannenzapfen vom Boden, drehte sich blitzschnell und schleuderte ihn ins Gebüsch am Waldrand. Ein unterdrückter Schmerzenslaut verriet ihm, dass er sich nicht vertan hatte, als er die Richtung geschätzt hatte, aus der die Geschosse ihn getroffen hatten. Er grinste zufrieden.

»Tannenzapfen? Wie alt bist du eigentlich?«, rief er, nun doch froh, dass er aus seinen dunklen Gedanken gerissen wurde, und rieb sich den Kopf.

Der Busch antwortete nicht. Die wenigen trockenen Blätter, die den Winter über ausgehalten hatten, bewegten sich nur leicht im frostigen Wind, der von den Bergen kam. Ilai musterte das Dickicht nach Anzeichen, die ihm sagten, auf welchem Weg der Übeltäter zu entkommen versuchte. Eine leichte Bewegung der Äste verriet es ihm schließlich und ließ Ilai seine Arme zum Schutz vor das Gesicht nehmen und sich an dieser Stelle in die Büsche fallen.

Ein überraschter Aufschrei und er hatte seinen besten Freund für einen Moment gepackt, bevor dieser sich ihm geschickt entwand. Er riss Ilai seinerseits von den Füßen und hielt ihn auf dem harten Waldboden fest. Ilai versuchte noch einen Moment erfolglos, sich loszumachen, dann gab er auf.

»Schon gut«, sagte er mürrisch und brachte Lukan damit nur noch mehr zum Grinsen.

»Fünf Siege für mich, keiner für dich«, erwiderte dieser.

»Ha, nicht so schnell. Du bist mir noch kein einziges Mal entkommen.«

Lukan nickte beschwichtigend. »Nun gut. Ich bin stärker, du bist schneller.« Sie befreiten sich aus dem Gebüsch und musterten Ilais Acker, während sie sich die braunen Blätter und Tannennadeln aus den Haaren und der Kleidung zupften.

»Wie alt bist du eigentlich?«, wiederholte Ilai seine Frage von zuvor, »mich wie ein Kind mit Tannenzapfen zu bewerfen.«

Lukan zuckte mit den Schultern. »Du hättest dein Gesicht sehen sollen, während du den Stein bearbeitest hast. Du brauchtest dringend etwas Aufmunterung.«

Ilai zuckte mit den Schultern. »Das brauchen wir alle.«

Lukan steckte die Hände in die Taschen und wippte mit den Füßen auf und ab, um die Kälte des herannahenden Abends abzuschütteln. »Mag sein. Komm, lass es gut sein für heute. Du kannst bei uns essen.«

Wenig begeistert blickte Ilai seinen Freund an: »Kohlsuppe, wie immer?«

Lukan seufzte. »Vielleicht haben wir Glück und die Hühner haben noch ein paar Eier gelegt.«

Sie gingen schweigend nebeneinanderher. Auch Lukans Unbeschwertheit war gewichen. Er sah in Richtung des Gebirges, das bei klarem Himmel am Horizont erkennbar war. »Höchstens noch zwei Monate, bis der Schnee so weit geschmolzen ist, dass sie wieder hinüberkönnen.«

Ilai rieb sich das Gesicht. »Wir haben ja kaum mehr etwas, das sie noch stehlen könnten.«

»Nur noch einige Tiere und später den Ertrag unserer Felder, wenn sie uns so lange am Leben lassen.«

Ilai musterte seinen Freund von der Seite. Solch harte Worte war er von Lukan nicht gewohnt. Normalerweise war er derjenige, der immer irgendwie zuversichtlich blieb. Dass selbst er das nicht mehr konnte, zeigte, wie schlimm der Winter ihn getroffen hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, wie viel schmaler Lukans Gesicht geworden war. Er selbst sah vermutlich nicht viel besser aus.

»Herion redet dauernd davon, dass wir uns wehren sollen, wenn sie zurückkehren«, sagte Lukan.

Ilai lachte verächtlich. »Und mit was sollen wir ihnen entgegentreten?« Er hob seinen Sack, aus dem der Stiel einer Hacke hinausschaute. »Hiermit? Du hast letzten Herbst genauso wie ich ihre Schwerter gesehen. Sie wissen, wie man damit umgeht. Wir haben keine Chance.«

»Dann willst du lieber kampflos sterben? Oder verhungern?«

Ilai wusste, die Frage war ernst gemeint. »Wie gesagt, wir haben keine Chance«, seufzte er. »Wenn es soweit kommt, sterbe ich lieber, ohne das Leben anderer Menschen auf dem Gewissen zu haben.«

»Stimmt. Du kannst ja nicht einmal das Huhn töten, das du essen willst.«

Ilai warf die Hände in die Luft. »Musst du immer wieder davon anfangen? Ich war damals zwölf und deine Familie wollte sich einen Spaß erlauben.«

Sie mussten beide lachen, als sie daran dachten. Ilai war entsetzt über den Vorschlag gewesen, er solle das Huhn für das Familienessen töten. Die Familien der beiden Freunde waren schon vor ihrer Geburt befreundet gewesen, sie waren praktisch wie Geschwister aufgewachsen. Das war ein Trost für Ilais Eltern gewesen, die sich immer weitere Kinder gewünscht hatten.

»Egal, was wir tun werden, kämpfen oder nicht, lass es uns gemeinsam tun«, sagte Lukan und legte Ilai eine Hand auf die Schulter.

Ilai nickte und erwiderte die Geste. Zumindest hatten sie einander.

Später am Abend wälzte Ilai sich noch lange im Bett hin und her. Er konnte die Unruhe nicht abschütteln, dabei waren es noch einige Wochen, bevor sie wieder mit Angriffen rechnen mussten. Das ganze Leben erschien ihm sinnlos, wenn alles im Leid enden würde, egal, wie sie sich verhielten. Vielleicht steckte zu wenig Heldentum in ihm, doch er sah nichts Glorreiches im Kampf. Natürlich war es auch nicht besser, sich einfach dem Tod zu ergeben.

Er spürte die Furcht in sein Bett kriechen, genau wie als Kind, wenn er sich nachts geängstigt hatte. Nur dass ihn damals seine Mutter immer hatte beruhigen können. Irgendwie wusste Ilai, dass die Solech erst haltmachen würden, wenn sie den ganzen Kontinent vereinnahmt, sich alles und jeden unterworfen hatten und nichts mehr übrig sein würde.

Im Traum stand Ilai im Dämmerlicht draußen auf seinen Feldern. Alles erschien ihm bekannt und doch anders. Eine unnatürliche Stille lag auf dem Land. Das Gebirge im Osten schien plötzlich nur wenige Tagesmärsche entfernt. Er konnte den Schnee auf den Bergspitzen erkennen. Auf einmal sah er eine dunkle Wolke bedrohlich über die Berge schwappen und sich in seine Richtung ausbreiten. Er wollte zum Dorf laufen und alle warnen, doch er konnte sich nicht bewegen. Seine Füße ließen sich nicht vom Boden lösen. Er wollte schreien, aber seine Stimme versagte. Verzweifelt sah er die Dunkelheit näher kommen und wünschte sich, ihr etwas entgegenhalten zu können.

Plötzlich spürte er eine Veränderung hinter sich und riss den Kopf herum. Am Horizont erschien ein goldener Streifen, wie die aufgehende Sonne, doch tausendmal heller. Innerhalb weniger Herzschläge rollte das Licht wie eine gewaltige Welle so blendend von dort auf ihn zu, dass er die Hände schützend vor seine Augen hielt. Die Macht dieser Lichtwelle machte ihm kaum weniger Angst als die Dunkelheit vor ihm. Er konnte keinen Atemzug mehr tun, als ihm klar wurde, dass sie genau dort, wo er stand, aufeinandertreffen würden.

Im letzten Moment vor dem großen Zusammenprall hörte er eine Stimme. Sie war kaum mehr als ein Flüstern und gleichzeitig so laut, dass sie jede Zelle seines Seins zu durchdringen schien: »Ilai!«

Schweißgebadet schreckte er mit rasendem Herzen im Bett hoch. Er sprang auf und schien genau zu wissen, was er tun musste. Ohne sich um Schuhe zu kümmern, hastete er nach draußen. Erst als er bereits auf der Straße stand, wurde ihm klar, dass er nicht erklären konnte, warum er das gerade tat. Doch damit schien er nicht alleine zu sein. So weit er sehen konnte, waren die Bewohner aus allen Häusern nach draußen gekommen. Sie standen in ihren Nachtgewändern auf der Straße und sahen sich verwundert an. Doch keiner schien so geschockt und außer Atem zu sein wie er. Die meisten wirkten eher verwirrt.

»Was ist passiert? Wer hat mich gerufen?«, fragte er seinen Nachbarn.

»Dich gerufen? Ich bin davon aufgewacht, dass jemand nach mir rief. Ich kam heraus, weil ich nachsehen wollte, wer mitten in der Nacht meinen Namen ruft.«

Ilai hörte noch weitere ähnliche Gespräche von allen Seiten, während er versuchte, seine zitternden Hände zu beruhigen. Alle sprachen von einer Stimme, die ihren Namen gerufen hatte, und von dem unkontrollierbaren Drang, nach draußen zu gehen. Doch niemand erwähnte einen Traum. War er der Einzige gewesen, der geträumt hatte? Ilai wusste nicht, ob er glauben sollte, dass sein Traum etwas mit dieser Stimme zu tun hatte. Noch nie hatte er einen derart realen Traum erlebt, der ihn so mitgenommen hatte.

Er griff nach dem Arm seines Nachbarn, der immer noch neben ihm stand. »Die Dunkelheit, hast du sie gesehen?«

Sein Nachbar sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Junge, beruhige dich. Es wird schon eine Erklärung dafür geben, warum wir hier mitten in der Nacht aus dem Bett geholt werden. Seien wir einfach froh, dass es kein Angriff der Solech ist!« Er tätschelte Ilai den Arm und wandte sich seinem Haus zu.

Ilai hastete zu der kleinen Gruppe, die sich in der Mitte der Straße gesammelt hatte. »Zum Glück sind die Kinder nicht aufgewacht«, hörte er eine der Frauen sagen.

»Habt ihr einen Traum gehabt?«, unterbrach er das Gespräch.

Alle schüttelten den Kopf. »Wieso fragst du?«, erwiederte jemand.

Doch da hob die Frau von zuvor die Hand. »Warte, jetzt wo du es sagst …«

Ilai hielt den Atem an. Er war nicht alleine!

»Ich hatte einen Albtraum. Die Solech haben unser Dorf überfallen und ich konnte die Kinder nirgends finden.« Ihr standen Tränen in den Augen. »Diesen Traum hatte ich schon öfter, ich habe einfach solche Angst. Manchmal weiß ich nicht, wie ich es ertragen soll, jeden Tag darauf zu warten, dass sie zurückkommen.«

Ihre Freundin legte ihr tröstend die Hand um die Schultern. »Wir halten zusammen«, flüsterte sie.

Niemand bemerkte, dass Ilai sich daraufhin umdrehte und ging. Er schlug den Weg in Richtung Lukans Hütte ein. Als er diesen schon von Weitem auf sich zukommen sah, beschleunigte die Hoffnung seine Schritte, dass sein bester Freund etwas Ähnliches erlebt haben könnte wie er.

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Kapitel 2

Yara – 145 Jahre nach den Großen Kriegen

Yara preschte im Galopp in den Innenhof der Stallungen und brachte ihr Pferd zum Stehen. Mit einem kurzen Blick über die Schulter lenkte sie es zur Seite, um ihrem Verfolger Platz zu machen, der in diesem Moment ebenfalls das Ziel erreichte. Keuchend schüttelte der junge Soldat den Kopf und klopfte seinem Pferd beruhigend auf den Hals.

»Irgendwann schlage ich dich!«, versprach er mit einem gutgelaunten Grinsen.

»Nicht diesen Monat«, zwinkerte ihm Yara zu. Er würde es weiter versuchen. Yara schaffte es immer, die richtige Mischung aus Ehrgeiz und Spaß in ihren Schülern zu wecken. Lachend sprang der junge Mann vom Pferd und streckte die Hände auch nach ihren Zügeln aus, um die Tiere zu versorgen.

Yaras Bruder Nathan kam über den Hof auf sie zu und musterte seine kleine Schwester mit kritischem Blick. Sie war bedeckt vom Staub der Kampfübungen mit den jungen Soldaten. Auch einige Riemen ihrer Uniform waren locker, weil das im vollen Galopp für sie angenehmer war. Niemand holte sie auf dem Pferd ein. Ihre hüftlangen, kastanienbraunen Haare hatte sie am Morgen zu einem straffen Zopf geflochten, doch inzwischen war davon nicht mehr viel übrig. Sie hatte die glatten Haare ihrer Mutter geerbt und ein Zopf hielt nie lange. Damit sie ihr Haar bändigen konnte, wenn es darauf ankam, hatte sie immer einige Stoffstreifen in der Tasche. Mit ihrem goldbraunen Hautton und den dunkelgrünen Augen ähnelte sie ihrem Bruder so wenig, dass wohl kaum jemand auf die Idee käme, sie für Geschwister zu halten.

Nathan war acht Jahre älter als sie und das Ebenbild ihres Vaters. Sein kurz geschnittenes Haar war dunkelblond und seine Augen so blau wie der Teich hinter dem Schloss. Wären da nicht sein durchdringender Blick und der immer ernste Gesichtsausdruck, hätte man ihn eher für den Dorfschwarm als für den Kommandanten der Schlossgarde gehalten. Dennoch rissen sich die jungen Frauen im Schloss darum, jegliche Aufgabe zu übernehmen, die zu einer Begegnung mit ihm führte. Die unweigerlich folgenden Gerüchte im Schloss, wem er wohl als Nächstes seine Aufmerksamkeit schenken würde, waren eine nette Unterhaltung für Yara. Als kleine Schwester wurde sie häufig als Informationsquelle genutzt. Die Bestechungsversuche in Form von besonderen Köstlichkeiten aus der Küche nahm sie gern entgegen, um ein wenig mit den Frauen zu plaudern. Die nahmen es ihr auch nicht übel, dass sie kaum etwas über die Vorlieben ihres Bruders sagen konnte. Der Einzige, der nichts von alledem mitbekam, war Nathan selbst. Bei all seiner sonstigen Wachsamkeit schien ihm völlig zu entgehen, welche Bewunderung er bei den Frauen auslöste, was Yara nur noch mehr erheiterte.

Als der Bruder schließlich bei ihr ankam, deutete er mit einem Nicken auf die Schramme an ihrem freiliegenden Oberarm. »Alles in Ordnung?«

Mit einem nachsichtigen Lächeln stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Alles in Ordnung, großer Bruder! Eines der Mädchen ist mit dem Speer ausgerutscht.«

Nathan runzelte die Stirn. »Das sollte nicht passieren.«

Nun musste Yara lachen. »Natürlich nicht. Deshalb ja das Training. Damit es nicht passiert, wenn es darauf ankommt.«

Nathans Stirn glättete sich. »Natürlich.« Dennoch hielt er ihren Arm, um die Verletzung genauer zu inspizieren. »Komm mit, ich mache das sauber.«

Yara ließ sich von ihm mitziehen. Manche Dinge ändern sich eben nicht so schnell, dachte sie und erinnerte sich an all die Male, bei denen sie als Kind dankbar gewesen war, sich auf seine Hilfe verlassen zu können. Vielleicht hatte sie ihre Abenteuerlust deshalb auch etwas zu sehr genossen. Sie hatte ihn wohl mehr als einmal zur Verzweiflung getrieben. Solange er ihre Fähigkeiten nicht infrage stellte, würde sie ihm daher nicht verwehren, auch jetzt noch für sie da zu sein. Er war eben ihr großer Bruder. Und streng genommen als Kommandeur der Schlossgarde auch ihr Vorgesetzter.

Nachdem Nathan mit dem Zustand der Wunde zufrieden war und sich wieder anderen Pflichten zuwandte, legte Yara in ihrem Zimmer die Uniform ab und band ihre Haare wieder zusammen. Sie hatte nun einige Stunden Zeit bis zu ihrer nächsten Schicht.

Mit einem Brot und einem Apfel in der Hand machte sie sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz. Im Wind, der die Hügel hinauf in Richtung des Schlosses zog, breitete sie die Arme aus. Sie liebte den Anblick dieses ehrwürdigen Gebäudes, wenn sie von Weitem darauf zukam. Es verkörperte alles, was ihr wichtig war und ihrem Leben Bedeutung gab. Schließlich setzte sie sich unter die weitausladenden Zweige des Nussbaumes am Rande der Schlossgärten, von wo aus sie die Hügel hinab auf die Felder schauen konnte, die sich bis zum Horizont erstreckten. Jetzt im Sommer stellten sie ihre Früchte in voller Pracht zur Schau. Die dunkelgrünen Blätter des Baumes spendeten ihr angenehmen Schutz vor der Mittagssonne.

Zweimal war sie bisher im Auftrag Elouans, des Königs, als Soldatin davongeritten und mit Erinnerungen an Kampf und Blut zurückgekehrt. Sie hatten nicht gegen feindliche Armeen gekämpft. Die hatte der Kontinent seit den Großen Kriegen, die vor hundertfünfundvierzig Jahren beendet worden waren, nicht mehr gesehen. Aber nicht alle Menschen hatten sich im Anschluss für das Licht entschieden. Einige versuchten weiterhin mithilfe von Gewalt und Furchteinflößung Macht und Reichtum an sich zu reißen. Meist konnten die von Elouan eingesetzten Verwalter vor Ort selbst einschreiten, doch von Zeit zu Zeit baten sie um Unterstützung vom Schloss.

Der Kontinent war so groß, dass es Wochen dauerte, die äußeren Bezirke von Elouans Herrschaftsgebiet zu erreichen. Das Schloss stand im Südwesten, nur wenige Tagesritte von der Küste entfernt. Weiter im Osten waren nicht alle Gebiete von Elouan verwaltet, auch wenn sie streng genommen zu seinem Herrschaftsbereich gehörten. In manchen Landstrichen hatten sich so wenige Menschen dem König angeschlossen, dass er ihnen eine vom Schloss unabhängige Verwaltung gestattete, solange die zu ihm Gehörenden dort in Frieden leben konnten.

Der weiße Fleck auf der Landkarte im Festsaal des Schlosses war das Land hinter den Bergen im Osten. Obwohl es fast ein Viertel des Kontinents ausmachte, war dort nichts eingezeichnet; keine Stadt, keine Wege. Yara hatte immer angenommen, dass der Grund dafür das fast unüberwindbare Gebirge war. Elouan hatte es während der Großen Kriege mit seinen Armeen überschritten, denn von dort waren die Solech immer wieder über das Land hergefallen. Schließlich waren sie von Elouan endgültig geschlagen worden.

Jeder kannte die Geschichten der Siege von Elouan und seiner Armee. Doch erst seit Kurzem konnte Yara nicht aufhören, über das Land im Osten nachzudenken. Wann immer sie Ruhe hatte, kehrten ihre Gedanken zu dem weißen Fleck auf der Karte zurück. Wie es dort wohl aussah? Lebte noch jemand oder war die Gegend in den letzten Jahrzehnten zu einer unberührten Wildnis geworden? Die alten Geschichten besagten, dass dort der fruchtbarste Teil des Kontinents war. Vermutlich hatten die Kriege ihre Spuren hinterlassen, aber die Natur hatte sich im Laufe der Jahre sicherlich alles zurückerobert. Doch was war mit den überlebenden Solech geschehen? Keine der Geschichten behandelte ihr Schicksal. Sie musste Elouan endlich einmal danach fragen.

Yara warf den Rest ihres Apfels ins Gebüsch und wollte gerade aufstehen, um im Schloss nach ihm zu suchen, als sie Schritte hinter sich hörte. Erstaunt sah sie Elouan auf sich zukommen. Sooft sie ihn aufsuchte, wie sie es seit ihren Kindertagen tat, oder seiner Aufforderung folgte, zu ihm zu kommen, so selten war er bisher zu ihr gekommen. Die junge Frau deutete eine leichte Verbeugung mit dem Kopf an. Sie hatte sich diese Begrüßung angewöhnt, seit ihr als Jugendliche aufgegangen war, dass sie sich dem König des Kontinents womöglich etwas zu respektlos gegenüber verhielt. Elouan hatte dies nie kommentiert, doch sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er über die Geste amüsiert war. Sie hatte sie trotzdem beibehalten, schließlich konnte sie dem König zur Begrüßung keinen Kuss mehr auf die Wange drücken, wie sie es als Kind getan hatte. Dennoch ging sie immer noch wesentlich vertrauensvoller als die meisten mit ihm um. Doch auch hier wurde sie den Eindruck nicht los, dass Elouan die respektvolle Distanz seiner Bürger eigentlich gar nicht einforderte, sondern eher akzeptierte. Dies bestätigte sich ihr wieder einmal, als er sich ohne Rücksicht auf seinen kunstvoll verzierten Umhang neben sie ins Gras setzte. Er streckte eine Hand nach oben und legte die Handfläche an die raue Rinde des Baumes. Dann erwiderte er Yaras Lächeln von der Seite. Sie schwieg, um ihm Gelegenheit zu geben, erklären zu können, warum er sie aufgesucht hatte. Er wiederum schien darauf zu warten, dass sie sprach.

»Das Land im Osten«, begann sie schließlich und er folgte ihrem Blick zum Horizont. »Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Es ist, als ob das Licht in mir mich immer wieder dazu auffordert.«

Elouan blickte für einige Momente nachdenklich in die Ferne, als lausche er auf etwas. »Es ist das Land, das ruft«, sagte er schließlich. »Du hörst es, aber verstehst es noch nicht. Es ist Zeit.«

»Zeit wofür? Was ist dort?«, fragte Yara. Sie war es gewohnt, dass Elouan bis zu einem gewissen Grad in Rätseln sprach. Er sagte immer, sie müsse nur die richtigen Fragen stellen, dann würde sie auch die Antworten verstehen. Daher hatte sie sich angewöhnt, geduldig so lange nachzufragen, bis ihr Wissensdurst gestillt war. Doch dieses Mal war es anders. Es war nicht nur ihre Neugier, die sie fragen ließ. Etwas zog sie in Richtung der Berge, die das östliche Land vom Rest des Kontinents trennten.

»Zeit, diesen Ort zu befreien und wieder zu einem Teil meines Reiches zu machen«, beantwortete Elouan ihre Frage.

Yara runzelte die Stirn. »Hast du das nicht bereits getan, als du die Großen Kriege mit dem Sieg über die Solech dort beendet hast?«

Elouan blickte sie an und es verschlug ihr für einen Moment die Sprache, als sie die Trauer in seinen Augen sah. Das Licht seiner Gegenwart verband sich mit dem Licht in ihrem Inneren und sie begann zu fühlen, was er fühlte. Für einen Moment gestattete ihr Elouan, den Verlustschmerz und die Trauer zu fühlen, die sie auf seinem Gesicht lesen konnte. Er hatte schon früher tiefe Gedanken und Gefühle mit ihr geteilt, es war allerdings noch nie so intensiv gewesen. Innerhalb von Sekunden schien Yara darin zu ertrinken. Der Schmerz schien noch viel weiter zurückzureichen als zu den Großen Kriegen. Sie spürte Verzweiflung und den tiefen Wunsch, zu ändern, was sie nicht ändern konnte. Bevor sie sich in den Wogen der Gefühle verlor, ebbten sie plötzlich ab und sie erinnerte sich, dass es nicht ihre eigenen waren. Mit Tränen in den Augen sah sie ihren König an. Auf seiner Wange hatte sich eine einzelne Träne ihren Weg gebahnt.

»Was ist dort geschehen?«, flüsterte sie.

Er wandte sich wieder dem Horizont zu. »Was dort passiert ist, was ich tun musste, war nicht Sieg, es war Vernichtung.«

Aus seinen Worten sprach eine Härte, von der Yara nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Die Macht, die in diesem Moment von ihm ausging, machte ihr das Atmen schwer und sie musste sich beherrschen, nicht den Abstand zu ihm zu vergrößern. Sie hatte immer gewusst, dass seine Kraft noch weit über den Kontinent hinausreichte. Jedoch hatte sie es nur noch nie so intensiv gespürt.

»Jeder von euch hat Zugang zum Licht. Auch diejenigen, die ohne das Licht geboren werden, weil ihre Eltern keine Verbindung zum Licht haben, können sich jederzeit dafür entscheiden.« Yara nickte. Auch wenn sie es noch nie so formuliert hatte, war ihr das klar.

»Es braucht sehr viel, um diesen Zugang zum Licht auszulöschen«, fuhr Elouan fort.

»Aber es ist möglich?«, fragte Yara erstaunt.

»Nicht in einer Generation, auch nicht in zwei. Die Entscheidung dafür muss immer und immer wieder getroffen werden, bis es keinen Weg mehr zurück gibt.« Er verschränkte die Arme vor den aufgestellten Knien.

Trotz der lockeren Haltung spürte Yara noch immer die Kraft, die von ihm ausging und ihre Haut zum Kribbeln brachte.

»Als der Krieg begonnen hatte, existierte noch eine Möglichkeit für die Solech«, fuhr er fort. »Doch mit jeder verlorenen Schlacht hatten sie sich weiter in die Dunkelheit bewegt. Nachdem wir die Berge überschritten hatten, war schlicht keine Entscheidung mehr übrig. Kein einziger von ihnen hatte einen anderen Weg eingeschlagen. Ihre Taten hatten ihr eigenes Land vernichtet. Ich löschte diese Dunkelheit schließlich aus und ließ nichts übrig.« Abscheu war auf seinem Gesicht zu lesen.

Dennoch hatte Yara nur wenige Momente zuvor seine Trauer um alle gespürt, die dort vernichtet worden waren. »Auch die Kinder?«, wagte sie zu fragen.

Er schüttelte den Kopf. »Zu diesem Zeitpunkt waren seit Jahrzehnten keine Kinder mehr unter ihnen geboren worden.« Er sah sie an. »Das Licht ist Leben. Jede Verbindung dazu zu zerstören, hat Konsequenzen.«

Yara versuchte mit dem umzugehen, was sie gehört hatte. Sie hatte zwar Kämpfe und den Tod ihrer Gegner durch das Schwert erlebt, dabei war es jedoch immer um Gerechtigkeit und Freiheit für andere gegangen, die nicht für sich selbst hatten kämpfen können. Das hatte es für sie einfacher gemacht. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, was ein Volk hatte getan haben müssen, damit es als Ganzes keinen Weg zur Umkehr zum Licht mehr hatte. Ein Volk, das sich bereits selbst zum Aussterben gebracht hatte, weil es keine neue Generation mehr hervorbringen hatte können. »Also gibt es dort niemanden mehr?«

Elouan nickte. »Die Dunkelheit der Taten der Solech hat das Land vergiftet. Aber nun ist es Zeit, dass das Licht dort wieder Wurzeln schlägt und eine neue Zukunft schafft.«

Yaras Augen weiteten sich, als sie verstand, was das bedeutete. »Du wirst jemanden dorthin schicken.« Ihr Herz begann schneller zu schlagen und ohne nachzudenken sagte sie: »Lass mich gehen. Ich spüre, dass es der Ort ist, an den ich gehöre!«

Elouan stand auf und streckte ihr eine Hand entgegen, um sie auf die Füße zu ziehen. »Nimm dir Zeit, um darüber nachzudenken«, sagte er ernst. »Das ist keine Mission für einige Jahre. Es ist eine Lebensaufgabe.«

Er wandte sich dem Schloss zu, während Yara stehen blieb. Um darüber nachzudenken, wollte sie einen Spaziergang machen.

Doch eine Frage musste sie noch stellen. »Wer wird mitkommen? Wissen andere schon von dieser Mission?«, rief sie Elouan hinterher.

Er drehte sich noch einmal um. »Dein Bruder Nathan wartet schon lange darauf«, antwortete er zu ihrer Überraschung. Sie vertagte ihren Spaziergang und machte sich auf die Suche nach Nathan.

Schließlich fand sie ihn in seinem Arbeitsraum im Schloss, wo er mit einem der Truppenführer über die Pläne auf seinem Tisch diskutierte. Sie unterbrach ihn normalerweise nicht bei der Arbeit, da sie sich diese Sonderstellung nicht herausnehmen wollte. Doch dieses Mal klopfte sie an die halb geöffnete Tür und blieb abwartend stehen.

»Yara, können wir später …« Ihr Bruder hob den Kopf. Als er ihr Gesicht sah, beendete er seinen Satz nicht. Er runzelte die Stirn und wandte sich Beran zu. »Tut mir leid, wir müssen unterbrechen.«

Beran erhob sich mit einem Nicken. »Natürlich. Ich bin heute Abend wieder im Schloss.« Im Hinausgehen grüßte er Yara freundlich und schloss die Tür hinter ihnen.

Nathan kam um den Schreibtisch herum, setzte sich mit verschränkten Armen auf die Kante und legte den Kopf schief. »Was habe ich falsch gemacht?«, fragte er mit leicht amüsiertem Unterton.

Erst jetzt wurde Yara bewusst, dass sie wütend auf ihn war. Ihr Bruder kannte sie gut genug, um das vor ihr bemerkt zu haben. Ihre Wut begann sich zu lösen und Verwirrung Platz zu machen. »Du weißt seit Langem, dass es eine Mission gibt, die dich für immer von hier wegführen wird, und hast mir nie etwas gesagt?«

Nathan ließ die Arme fallen. Eine Mischung aus aufgeregter Freude und kontrollierter Zurückhaltung legte sich auf sein Gesicht. »Also ist es so weit«, flüsterte er. Dann kam er auf sie zu, nahm ihr Gesicht in die Hände und sah ihr in die Augen. »Tut mir leid, kleine Schwester. Dich zurückzulassen, war immer der schwierigste Teil, wenn ich an diese Aufgabe gedacht habe. Ich wollte es dir schon lange erzählen.«

Yara ließ sich in seine Umarmung fallen. »Warum hast du es dann nicht getan?«

Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Elouan bat mich, es dir nicht zu sagen.«

»Wieso?«, fragte Yara verblüfft.

Nathan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Und du hast ihn nicht gefragt? Du musst wirklich noch lernen, etwas neugieriger zu sein.«

Das brachte ihr den Blick aus zusammengekniffenen Augen ein, der sonst für Jungsoldaten bestimmt war, die sich zu viel herausnahmen. »Und du musst lernen, Befehle zu befolgen.«

Sie grinsten sich an und der Frieden zwischen ihnen war wiederhergestellt.

Dann fiel Yara ein, dass sie ihm das Wichtigste noch gar nicht gesagt hatte. »Ich werde ebenfalls gehen.«

Für einen Moment sah Nathan sie mit einem selbst für sie unlesbaren Ausdruck an, dann ließ er sich auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch sinken. »Bist du sicher?«

Bevor sie antworten konnte, hob er abwehrend die Hände. »Versteh mich nicht falsch. Es ist nicht so, dass ich es dir nicht zutraue. Aber du schienst mir hier immer sehr glücklich zu sein. Du gehst in deiner Aufgabe auf. Du hast selbst gesagt, dass diese Mission nicht nur ein paar Jahre dauert. Sie ist für immer.«

Yara setzte sich etwas enttäuscht von seiner zurückhaltenden Reaktion auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. »Das Gleiche kann ich an dich zurückgeben. Du bist der Kommandeur der Schlossgarde! Du hast hart für diese Position gearbeitet und bist sehr gut darin.«

Nathan nickte, das Kompliment schien er gar nicht wahrzunehmen. »Aber ich wusste von Anfang an, dass es nur für eine gewisse Zeit sein würde. So lange, bis die Zeit für meine eigentliche Aufgabe kommen würde.«

Yara atmete tief ein und nahm sich einen Moment Zeit, ihre Gefühle kritisch zu prüfen. Sie musste sich eingestehen, dass sie diese wichtige Lebensentscheidung in einem einzigen Moment getroffen hatte. Um nicht irgendwann aufzuwachen und festzustellen, dass es nur ihre Abenteuerlust gewesen war, die sie getrieben hatte, horchte sie noch einmal tief in sich hinein. Sie berührte das Licht in ihrem Inneren, wodurch sich schließlich aller Zweifel verflüchtigte. »Ich kann es dir nicht erklären. Es ist, als ob ich auch schon seit Jahren darauf gewartet hätte, ohne davon zu wissen. Natürlich habe ich tausend Fragen, aber nichts hat sich jemals richtiger angefühlt als das!«

Etwas an der Art, wie sie es gesagt hatte, musste Nathan überzeugt haben. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich. In einer für ihn untypischen Zurschaustellung seiner Gefühle sprang er auf und zog Yara in eine feste Umarmung. »Ich bin sehr froh, das zu hören.«

Yara grinste. Diese förmliche Aussage passte wieder zu ihrem Bruder. Sie war natürlich genauso froh wie er, dass sie ihn auf dieser Reise ins Unbekannte an ihrer Seite haben würde. Nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, stützte sie die Ellenbogen auf den Tisch und sah ihren Kommandanten gespannt an. »Erzähl mir alles über diese Mission!«

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Kapitel 3

Ilai – 3 Monate später

Ilai stand mit verschränkten Armen gegen seine Hauswand gelehnt und beobachtete das Treiben auf der Straße. Lukan saß neben ihm auf einer umgedrehten Kiste, den Kopf in die Hände gestützt. Mit nachdenklichem Blick sah er zu, wie sich einige Familien voneinander verabschiedeten. Manche lagen sich mit Tränen in den Armen, andere warteten ungeduldig darauf, dass ihre Mitreisenden endlich so weit waren. Die Habseligkeiten, die sie nicht zurücklassen wollten, hatten sie auf Karren geladen. Ihre Vorräte für den Weg waren unter wasserdichte Wachstücher gestapelt. Keiner von ihnen wusste, wie lange sie unterwegs sein würden, was die Planung schwierig gemacht hatte.

»Ilai, lass los, ich kann deine Anspannung bis hier drüben spüren!«, sagte Lukan, ohne seinen Blick von den Geschehnissen abzuwenden.

»Ich kann nicht. Ich habe das Gefühl, ich sollte ebenfalls gehen. Jede Nacht werde ich aus dem Schlaf gerissen. Ich sitze schweißgebadet im Bett, weil jemand meinen Namen ruft, als ginge es um Leben oder Tod.«

»Warum gehst du dann nicht?« fragte der Freund mit hochgezogenen Augenbrauen. Dieses Gespräch hatten sie schon mindestens zwanzig Mal geführt.

»Ich werde doch keiner Stimme folgen, ohne zu wissen, wer mich ruft und was er von mir will.«

»Obwohl du tief in dir weißt, dass es das Richtige ist?« Lukan stand von seiner Kiste auf, wandte sich seinem besten Freund zu und lehnte seine Schulter ebenfalls an die Hauswand.

Ilai fixierte weiterhin mit gerunzelter Stirn die Wagen, die sich nun zum Aufbruch bereit machten. Auch wenn es nach einer großen Gruppe aussah, waren es doch weniger Familien, als Ilai erwartet hatte. »Würdest du denn mitkommen? In Kombination haben wir bisher immer am besten funktioniert.«

Lukan seufzte und sah zu Boden. »Du weißt, ich kann nicht. Ich höre diese Stimme nicht so wie du, spüre keine Dringlichkeit, ihr zu folgen. Wenn ich das Dorf mit dir verlasse und bei unserer Rückkehr feststelle, dass die Solech hier alles dem Erdboden gleichgemacht haben, könnte ich mir das nie verzeihen. Ich kann meine Familie nicht im Stich lassen. Ein Viertel der kampffähigen Männer ist gerade dabei, uns zu verlassen.« Er nickte zur Straße.

Ilai spürte Unwillen in sich aufsteigen. Er wollte seine Familie ebenso wenig im Stich lassen wie Lukan. Doch da sie den Solech nichts entgegenzusetzen hatten, würde es am Ende sowieso keinerlei Unterschied machen, ob ihnen ein paar Männer mehr oder weniger zum Opfer fallen würden. Er setzte an, sich zu verteidigen, doch seine Wut verblasste, als er seinen eigenen Gedanken folgte. Lukan hatte nicht nur Eltern, er hatte auch eine Schwester und deren Kinder. Er konnte ihm wohl kaum vorwerfen, sie beschützen zu wollen. Wenn er ehrlich war, wusste er selbst nicht, was das Richtige war. Gehen oder bleiben? Das Einzige, was er mit Gewissheit wusste, war, dass er Angst hatte. Angst vor einem Kampf gegen die Solech. Angst vor einem Aufbruch ins Ungewisse und einer möglichen Rückkehr in ein zerstörtes Dorf, dessen Verteidigung seine Freunde das Leben gekostet hätte. Jede Entscheidung würde ihn mit dem Gefühl zurücklassen, einen Fehler zu begehen. Deshalb würde er sich für die Version entscheiden, bei der er wenigstens die Menschen an seiner Seite haben würde, die ihm am meisten bedeuteten.

Er stieß sich von der Hauswand ab. »Lass uns ihnen wenigstens noch einmal helfen.«

Lukan folgte ihm und sie packten mit an, als einige ihre letzten Gepäckstücke aus den Häusern holten. Andere drückten ihnen kurz die Zügel in die Hand, um noch einmal Freunde zu umarmen, von denen sie nicht wussten, wann oder ob sie sie überhaupt wiedersehen würden.

Ilai bemühte sich, freundlich zu lächeln, als er ein kleines Mädchen hochhob, das weinend am Straßenrand stand. Sie war höchstens zwei Jahre alt. Er wischte ihr mit seinem Ärmel die Tränen vom Gesicht. Noch bevor er beruhigende Worte finden konnte, rannte ihm ihre erleichterte Mutter entgegen. Sie nahm das Mädchen auf den Arm, das sich sofort an ihren Hals klammerte und beruhigte. »Du kannst doch nicht einfach davonlaufen!«

»Ich will nicht wegfahren!«, verkündete die Kleine mit erstaunlich nachdrücklicher Stimme.

Ilai unterdrückte ein Lachen. Das Mädchen wusste scheinbar genau, was es wollte.

»Das wird eine tolle Reise, und am Ende werden wir dort ankommen, wo wir jetzt gebraucht werden«, hörte er ihre Mutter sagen, während sie sich beeilte, wieder zu ihrem Wagen zu kommen.

Ilai wünschte, er könnte ein solches Vertrauen in diese Stimme setzen, die ihn immer wieder rief. Er konnte nicht leugnen, dass sie in ihm Hoffnung, Freude und eine Zuversicht weckte, die er in dieser Weise seit Jahren nicht gespürt hatte. Doch es fühlte sich zu gut an, um wahr sein zu können. Er schüttelte den Kopf und entschied sich wieder einmal für die Vernunft. Zu viele unbeantwortete Fragen nagten in ihm. Er würde bleiben und seine Felder bestellen. Und wenn es so weit war, würde er herausfinden, ob er den Mut hatte, an Lukans Seite sein Leben für die Verteidigung des Dorfes einzusetzen. Bis dahin hatten sie noch Zeit, denn bisher waren die Solech noch nicht am Horizont aufgetaucht. Es waren sogar schon Stimmen laut geworden, dass sie vielleicht gar nicht wiederkommen würden. Doch Ilai wusste, dass diese Hoffnung vergebens war. Er hatte immer noch den Traum vor Augen, den er vor zwei Monaten zum ersten Mal gehabt hatte und der seitdem in regelmäßigen Abständen wiederkehrte. Er verspürte eine unangenehme Gewissheit darüber, dass die Dunkelheit über die Berge rollen und das Land unter sich begraben würde.

Yara – ein Jahr später

Der große Ballsaal war geschmückt wie sonst nur an großen Festtagen. Auf den langen Tischen waren eine Menge Köstlichkeiten aufgetürmt. Das halbe Königreich schien anwesend zu sein. Yara strich etwas nervös ihre Uniform glatt und hielt Ausschau nach ihren Eltern. Die Nachricht, dass sich ihre beiden Kinder auf einen Weg ins Ungewisse machen, und sicherlich für lange Zeit fort sein würden, hatte sie hart getroffen. Yara hatte den Eindruck gehabt, dass sie Elouan insgeheim Vorwürfe machten. Sie hatte sich bemüht, ihnen verständlich zu machen, dass der König ihnen die Entscheidung freigestellt hatte. Aber für ihre Eltern war Elouan nun einmal der König. Er befahl und man folgte. Es fiel ihnen schwer, nachzuvollziehen, dass Yara eine andere Beziehung zu ihrem Herrscher hatte. Nathan hatte immer irgendwo dazwischengestanden.

Erst in letzter Zeit war Yara klar geworden, dass ihr Bruder wahrschenlich noch Seiten hatte, die sie kaum kannte. Sie hatte immer geglaubt, er würde bis ins hohe Alter die Schlossgarde kommandieren. Dass er bereit war, seine Heimat hinter sich zu lassen, hatte sie überrascht. Noch mehr, da er ebenso wenig wie sie wusste, was sie im Land des Ostens erwarten würde. Elouan war auch ihm gegenüber in seinen Anweisungen spärlich gewesen. Er hatte ihnen nur deutlich gemacht, dass das Land dort von seinem Volk besiedelt werden sollte.

Yara schnappte sich ein Törtchen vom noch nicht eröffneten Buffet und gesellte sich zur Gruppe derer, die heute Abend offiziell zu ihrer Mission verabschiedet wurden. Inzwischen wusste Yara, wer alles mitkommen würde. Von den insgesamt fünfunddreißig Personen waren nur fünf Soldaten, darunter ihr Bruder und sie. Die anderen waren Handwerker, Lehrer, Bauern und ein Schmied. Auch wenn sie nur einige von ihnen näher kannte, waren sie alle auf die ein oder andere Weise aus Elouans direkter Umgebung und hatten die letzten Jahre schon für das Schloss gearbeitet. Sie hegte den leisen Verdacht, dass Elouan sie, schon von langer Hand geplant, einen nach dem anderen in seiner Nähe versammelt hatte. Sie hatte noch nicht mit jedem von ihnen persönlich sprechen können. Doch hatte sie gehört, dass Elouan einigen, genau wie Nathan, die Aufgabe direkt angeboten hatte, andere hatten sich wie sie selbst plötzlich vom Osten angezogen gefühlt. Als sich die Mission schließlich offiziell herumgesprochen hatte, hatten sie deshalb darum gebeten, mitreisen zu dürfen.

Silas war einer derer, mit denen sie schon zusammengearbeitet hatte, denn er war Aufseher der Waffenkammer gewesen. Sie hatte ihn von Anfang an gemocht und auch er schien ihr immer sehr zugewandt zu sein. Als sie von Nathan erfahren hatte, dass Silas sich ebenfalls der Mission angeschlossen hatte, musste sie sich eingestehen, dass eine freudige Aufregung in ihr aufstieg.

Sie konnte Nathan nirgends finden. Dafür sah sie nun ihre Eltern durch die Tür kommen und ging zu ihnen. Die wenige Zeit, die sie noch miteiander hatten, wollte sie nutzen.

Im Nebenraum des Festsaales beendete Nathan seine Zusammenfassung für den König. Die Übergabe an den neuen Kommandeur war damit abgeschlossen. Derek war schon lange sein Stellvertreter gewesen. Er war fähig und hoch motiviert, seine neue Rolle einzunehmen.

»Danke für deinen Bericht. Hört sich an, als ob du an alles gedacht hättest.« Elouan musterte den Mann, der seit Jahren die Organisation und Führung der Schlossgarde übernommen hatte und dabei nie einen nennenswerten Fehler gemacht hatte. Er hatte sich immer darauf verlassen können, dass Nathan ihm die Angelegenheiten vorbrachte, die seiner Aufmerksamkeit bedurften, und den Rest besonnen und gerecht selbst regelte. Zu wissen, was vor den König gebracht werden musste und was nicht, war eine der wichtigsten Fähigkeiten seiner obersten Stellvertreter. Nicht alle bewältigten sie so souverän wie Nathan, und das in seinem Alter. Aber jetzt war der junge Mann nervös, auch wenn er versuchte, es zu verstecken. Er war es gewohnt, die Kontrolle über alle Aspekte eines Auftrages zu haben. Doch bei dem, was vor ihnen lag, war fast alles offen.

»Bist du bereit?«, fragte Elouan ihn.

Nathan nickte und hielt dem Blick des Königs stand, als dieser ihn abwartend ansah. Wie schon so oft hatte er den Eindruck, dass der König bis in die Tiefen seiner Seele sah. Deshalb entschied er sich, geradeheraus zu fragen, was ihn schon die ganze Zeit beschäftigte. »Gibt es eine Kommandostruktur in der Gruppe? Oder, um es weniger militärisch auszudrücken; gibt es einen Anführer?«

Der König stand von seinem Platz auf der anderen Seite des Schreibtisches auf und ging zu Nathan, der seine stramme Berichtshaltung aufgab und sich auf einen Sessel sinken ließ. Er hatte sich daran gewöhnt, dass es im Kontakt mit Elouan immer fließende Übergänge gab. Zuallererst war er der König, doch manchmal fühlte er sich auch wie ein Bruder oder gar wie ein Vater an. Nathan hatte ihn auch schon als unmissverständlichen Herrscher des Kontinents erlebt, dessen Macht so greifbar und unanfechtbar war, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen war. In dem Moment war er froh gewesen, auf seiner Seite zu stehen. Einige Male hatte er sogar wahrgenommen, dass er noch viel mehr war als all das, auch wenn er nicht erklären konnte, was das genau bedeutete. Doch allein die Tatsache, dass er nicht alterte, machte deutlich, dass es einen unvorstellbaren Unterschied zwischen ihm und allen anderen gab. Er hatte ihnen die Verbindung zum Licht geschenkt und ein Leuchten in die Augen gelegt, das sie eindeutig als sein Volk kennzeichnete.

Elouan setzte sich auf die Tischkante und verschränkte nachdenklich die Arme. »Was würdest du für richtig halten?«

Nathan hielt einen Moment inne, um noch einmal die Aufmerksamkeit auf das Licht in seinem Inneren zu lenken, das ihm dieselbe Antwort gab wie schon zuvor, wenn er sich diese Frage gestellt hatte. »Ich denke nicht, dass es einen Anführer in dieser Gruppe geben sollte.«

Der König nickte. »Ich stimme dir zu. Doch wenn du anders entscheiden willst, werde ich dich nicht aufhalten. Wenn du es möchtest, erkläre ich dich offiziell zum Leiter der Gruppe.«

Nathan schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ich weiß zwar nicht, wie es funktionieren soll, aber ich spüre, dass es der richtige Weg ist, keinen Anführer zu haben.« In einer für ihn ungewöhnlichen Geste von Unsicherheit fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare und zuckte mit den Schultern. »Es wird nicht leicht für mich sein. Ich bin es gewohnt, anzuführen. Wahrscheinlich werde ich mich sehr zusammennehmen müssen, damit ich nicht wieder in diese Rolle rutsche.« Er kannte seine Schwächen und war diesbezüglich immer ehrlich mit sich selbst gewesen.

Doch Elouan hob abwehrend die Hände. »Dass du nicht der Leiter dieser Mission bist, heißt nicht, dass du nicht führen sollst!«

Nathan runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«