Der Schamane Masou - Sissi Kaipurgay - E-Book

Der Schamane Masou E-Book

Sissi Kaipurgay

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Beschreibung

Henry erhält den Auftrag, eine Dokumentation über das Warm Springs Reservat zu drehen. Sein Chef McGregor, ein Ultra-Rechter, möchte damit den amtierenden Präsidenten unterstützen. Nach McGregors Meinung ruhen sich die Natives auf Kosten der braven, steuerzahlenden Bürger aus. In Warm Springs trifft er unter anderem den Schamanen Masou. Ein faszinierender Mann, der vorwiegend mit Kräutermedizin arbeitet. Stets an Masous Seite: Der Rabe Abraxas, ein frecher Vogel, der Henry ein ums andere Mal einen gehörigen Schrecken einjagt.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Schamane Masou

Arztromane Vol. 22

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig.

Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

Text: Sissi Kaiserlos/Kaipurgay

Bilder: Shutterstock

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt:

https://www.sissikaipurgay.de/

Sissi Kaiserlos/Kaipurgay

c/o Autorenservice Karin Rogmann

Kohlmeisenstieg 19

22399 Hamburg

Der Schamane Masou

Henry erhält den Auftrag, eine Dokumentation über das Warm Springs Reservat zu drehen. Sein Chef McGregor, ein Ultra-Rechter, möchte damit den amtierenden Präsidenten unterstützen. Nach McGregors Meinung ruhen sich die Natives auf Kosten der braven, steuerzahlenden Bürger aus.

In Warm Springs trifft er unter anderem den Schamanen Masou. Ein faszinierender Mann, der vorwiegend mit Kräutermedizin arbeitet. Stets an Masous Seite: Der Rabe Abraxas, ein frecher Vogel, der Henry ein ums andere Mal einen gehörigen Schrecken einjagt.

1.

Henry drehte seinen Schreibtischsessel in Richtung Fenster und betrachtete den Himmel. Keine einzige Wolke in Sicht. Laut Wetterbericht sollte es in den nächsten Tagen richtig heiß werden. Über dreißig Grad waren angesagt. Entweder verschanzte man sich zu Hause, wo eine Klimaanlage für Kühlung sorgte oder man fuhr ans Meer. Zwei Stunden Fahrt waren akzeptabel.

„Debra sagt, wenn ich nicht endlich den Pool beauftrage, lässt sie mich erst Weihnachten wieder ran.“ Sein Kollege Daniel stöhnte genervt. „Keine Ahnung, wie sie sich das vorstellt. Unser Konto ist leer.“

Sie teilten sich seit über fünf Jahren ein Büro. In dieser Zeit hatte er gefühlt tausendmal gehört, dass Daniels Gattin aus diesem oder jenem Grund Sex verweigerte. Auf diversen Firmenevents war er Debra begegnet und fragte sich manchmal, ob sein Kollege ohne sie nicht besser dran wäre. Die Frau war laut, ordinär, fett und trug mehr Schminke als ein Clown. Wie sie ohne aussah, stellte er sich lieber nicht vor.

Henry drehte den Sessel zurück zum Schreibtisch. „Du kannst doch den Auftrag erteilen mit der Maßgabe, dass der Pool erst nächstes Jahr gebaut wird.“

„Der Trick wird nicht klappen.“ Daniel seufzte. „Ich überlege eher, ob ich mir einen zweiten Job zulege.“

„Leg dir lieber eine Geliebte zu. Das macht mehr Spaß.“

„Ha-ha! Sehr witzig! Zufällig liebe ich meine Frau.“

„Dir ist echt nicht zu helfen.“

„Hoffentlich hat Elena andere Kekse besorgt“, wechselte Daniel das Thema. „Die letzten schmeckten beschissen.“

Elena, die Sekretärin des Chefs, war zuständig für die Ausstattung der Konferenzräume mit Getränken und dem obligatorischem Kekssortiment. Beim letzten Meeting hatte eine neue Sorte auf dem Tisch gestanden. Furztrockenes Zeug, das fast allen Teilnehmern ein angewidertes Naserümpfen entlockt hatte. Sogar Bert, der als menschlicher Mülleimer galt, war beim Verzehr der Kekse sehr zurückhaltend gewesen.

Daniel stand auf. „Ich checke schon mal die Lage.“

Henry schloss sich seinem Kollegen an. Sie fuhren in den 8. Stock, in dem die Geschäftsführung residierte. Der Ausblick über Portlands Innenstadt war den hochpreisigen Angestellten vorbehalten. Henry konnte von Glück reden, in einem Büro auf der Nordseite zu sitzen, weil man von dort auf einen Park guckte. In allen anderen Himmelsrichtungen standen Gebäude mit mindestens sechs Stockwerken.

Bert saß bereits in Konferenzraum drei. Bei ihrem Eintreten schenkte der Kollege ihnen ein abwesendes Lächeln und fuhr fort, mit seinem Smartphone zu spielen. Daniel und Henry setzten sich ans Ende des Tischs, möglichst weit weg von dem Platz, den für gewöhnlich Arthur McGregor, der Chef, einnahm.

Daniel beäugte die Keksteller. „Mist! Der gleiche trockene Kram wie letztes Mal.“

„Elena sagt, die sind günstiger als die anderen“, meldete sich Bert zu Wort.

„Wer hätte das gedacht?“, murmelte Henry, zückte sein Handy und begann, die Preise von Konferenz-Keks-Mischungen zu checken. Momentan war jeder Anlass willkommen, um ihn von seinem Problem abzulenken.

Der Raum füllte sich. Als letzter tauchte McGregor auf und beanspruchte den Stuhl am Kopfende des Tisches.

Mit mäßigem Interesse verfolgte Henry die Präsentation der aktuellen Zahlen. Die Sparte Unterhaltung verzeichnete einen leichten Zuschauerrückgang. Dafür hatte der Bereich Nachrichten und Dokumentationen eine hohe Zuwachsrate. Die Leute waren es eben müde, sich die immer gleichen Shows und Serien anzugucken.

Zum Schluss lobte McGregor alle Anwesenden für ihr Engagement. Etwas, das bestimmt die Personalabteilung gefordert hatte, um die Mitarbeiter zu motivieren. Die hohe Fluktuationsrate würde man damit nicht bremsen.

Seit des Amtsantritts des Mannes mit den gelben Haaren, war die Ausrichtung des Senders noch weiter nach rechts gedriftet. Damit kamen viele nicht klar, zumal die Unzufriedenheit über die aktuelle politische Lage wuchs.

„Walker“, wandte sich McGregor an Henry. „Kommen Sie bitte mit in mein Büro.“

Verwundert, weil er sich keines Fehlverhaltens bewusst war, warf er Daniel einen fragenden Blick zu. Der zuckte mit den Achseln. Die Mienen der anderen Konferenzteilnehmer verrieten Erleichterung, dass es nicht sie getroffen hatte.

McGregor schritt voraus, Henry mit einem mulmigen Gefühl hinterher.

Das Chefbüro besaß zwei große Fensterfronten. Der Blick auf die Hawthorne Bridge und den Fluss war spektakulär. Vor den Fenstern stand ein imposanter Schreibtisch, in einer Ecke eine Sitzgruppe.

„Setzen Sie sich“, bat McGregor, verschanzte sich hinter dem Ungetüm aus Stahl und Chrom und holte eine Zigarettenschachtel hervor. „Möchten Sie eine?“

Er schüttelte den Kopf. „Danke, nein.“

McGregor zündete sich eine Kippe an und lehnte sich zurück. „Vorhin hatte ich einen Anruf aus Washington.“

Vielsagend guckte McGregor auf ein Foto des amtierenden Präsidenten, wobei Henry anzweifelte, dass dieser persönlich am Telefon gewesen war.

„Sie haben bestimmt schon von der geplanten Pipeline, die durch South Dakota führen soll, gehört. Es wäre ein Desaster, wenn das Projekt nicht durchgeführt werden kann, nur weil ein paar Leute dagegen sind.“ McGregor sog an der Zigarette und blies den Rauch in seine Richtung. „Können Sie mir folgen?“

Henry war noch zu sehr mit aufatmen, keinen Rüffel bekommen zu haben, beschäftigt, um etwas Eloquentes zu erwidern. In letzter Zeit hatte er nämlich während der Arbeitszeit viel privat gesurft. Er beschränkte sich daher auf ein Nicken.

„Haben Sie Kinder?“

Er schüttelte den Kopf. Über seine sexuellen Vorlieben wusste keiner in der Firma Bescheid, nicht mal Daniel.

„Ich habe drei und muss an ihre Zukunft denken. Wovon sollen sie leben, wenn die gesamte Wirtschaft zusammenbricht?“ Erneut pustete McGregor Qualm in seine Richtung.

Die Logik erschloss sich ihm nicht, aber er hielt lieber den Mund.

„Die paar aufständische Rothäute wären kein Problem, wenn es nicht die Bewegung dieser Sarah Cardriver gäbe. Ihre Initiative hat immensen Zulauf. Es ist wichtig, dass wir den Menschen die Augen öffnen, für welche Individuen sich diese Frau einsetzt.“

So abfällig, wie McGregor das Wort Individuen aussprach, hörte es sich eher nach Kreaturen an. Die angewiderte Miene sprach ebenfalls Bände. Der Mann hasste die Natives und würde es vermutlich auch dann tun, wenn es diese Pipeline-Sache nicht gäbe.

Henry hatte bislang noch keinen Ureinwohner getroffen und konnte sich daher kein Urteil erlauben.

„Und an der Stelle ...“ Mit der Zigarette zeigte McGregor an auf ihn. „... kommen Sie ins Spiel.“

„Ich verstehe“, murmelte er, obwohl seine Vorstellung noch etwas schwammig war.

„In den Reservaten ist medizinische Versorgung umsonst. Die Bewohner erhalten Lebensmittelkarten und zahlen keine Miete. Jeder brave, amerikanische Bürger muss für seinen Lebensunterhalt schuften und für Arztbesuche tief in die Tasche greifen. Diese Ungerechtigkeit stinkt zum Himmel. Wir müssen uns endlich von dieser verdammten Kollektivschuld befreien.“ McGregor drückte die Kippe aus. „Elena schickt Ihnen die Details. Sie haben eine Woche, um Material zu sammeln.“

Goodbye Wochenende. Henry seufzte innerlich.

„Haben Sie Fragen?“, erkundigte sich McGregor sichtlich ungeduldig.

„Momentan nicht.“ Er erhob sich. „Und wenn ich später welche habe: Wer ist für das Projekt zuständig?“

„Dann wenden Sie sich direkt an mich.“

Nachdenklich kehrte er in sein Büro zurück. Daniel hatte bereits Feierabend gemacht. Er setzte sich vor seinen Computer und verschaffte sich einen Überblick über die Pipeline-Sache.

In der Tat war die Cardriver-Initiative eine nicht zu unterschätzende Bewegung. Die Frau tourte durch die Bundesstaaten und hatte inzwischen eine große Anhängerschaft um sich gesammelt. Sogar bis Europa reichte ihr Einfluss. Auch dort gruppierten sich Leute, um sie zu unterstützen. Ein Bericht, wie er McGregor vorschwebte, könnte die Sache verschlimmern. Henry müsste sehr subtil vorgehen, damit niemand die wahre Intention erkannte.

Generell hatte er nichts dagegen, die Wahrheit ein bisschen zu verdrehen. Seit einigen Monaten war das ja praktisch legalisiert worden, indem der Präsident ständig Falschinformationen über sein persönliches Socialnetwork verbreitete. Es hinterließ trotzdem einen faden Beigeschmack. Andererseits verdienten viele Branchen, beispielsweise Werbeagenturen, ihr Geld damit, Lügen unter die Leute zu bringen.

Er räumte seinen Schreibtisch auf, begab sich in die Tiefgarage, setzte sich in seine Wagen und fuhr nach Hause.

Gegen sieben – er hatte inzwischen geduscht und eine Kleinigkeit gegessen – traf die angekündigte E-Mail ein. Homeoffice bedeutete Fluch und Segen zugleich. Der Chef verlangte nicht, dass sie rund um die Uhr erreichbar waren. Das war nur ein ungeschriebenes Gesetz, dem man sich beugte oder die Konsequenzen trug.

Sein Ziel war nicht das betroffene Reservat, sondern eines, das in Oregon lag: Warm Springs. Somit blieb ihm eine lange Anreise erspart. Begleiten würde ihn der Kameramann Curt Miller, mit dem er schon oft gearbeitet hatte. Zumindest ein positiver Aspekt. Mit Curt kam er gut klar. Ansonsten schmeckte ihm das Projekt gar nicht.

Aufhänger für die Reportage war die Entwicklung des Ka-Nee-Ta Resorts oder eher gesagt dessen Niedergang. Der 1964 eröffnete Komplex musste in 2018 wegen mangelnder Rentabilität schließen. Als Kontaktperson war Nakoma Smith, Mitglied des Tribal Council, benannt. Es gab eine Dreherlaubnis mit Einschränkungen. Für jede Aufnahme von Personen galt, vorher deren Einwilligung einzuholen.

Henry hatte für heute genug, ungeschriebenes Gesetz hin oder her. Er wechselte in Sportklamotten und begab sich in den Fitnessraum, der im Keller des Gebäudes lag. Eigentlich bevorzugte er joggen, aber bei den herrschenden Temperaturen riskierte man dabei einen Herzkasper.

Glücklicherweise war der Raum leer.

Von den sieben Parteien, die außer ihm im Haus wohnten, benutzten drei Leute die Geräte. Doreen aus dem Erdgeschoss. Eine Frau, die nur aus Haut und Muskeln bestand. Vielleicht besaß sie nicht mal eine Zunge. Er hatte sie noch nie sprechen gehört. Craig aus dem 2. Stock. Vater von zwei Kindern, beleibt und redselig. Dann war da noch Vince aus dem Dachgeschoss. Ein pickliger Bursche, homophob und dumm wie Bohnenstroh. Immer, wenn sie sich begegneten, simulierte Vince Kotzreiz, indem er sich den Finger in den Hals steckte. Die Zettel mit Beleidigungen, die ab und zu in seinem Briefkasten steckten, stammten garantiert auch von diesem Hirnakrobaten.

Er stellte das Laufband auf mittlere Geschwindigkeit. Während er sein Pensum zu absolvieren begann, wanderten seine Gedanken zu seinem eigentlichen Problem. Gemäß ärztlichem Rat verzichtete er auf Alkohol und trieb mehr Sport, bisher ohne positives Ergebnis – abgesehen von der besseren Kondition. Weiterhin schwächelte sein Schwanz.

Angefangen hatte der Scheiß vor ungefähr vier Monaten. Erst dachte er, es liegt an seinem Lover. Da das mit Ben und ihm eh eine On-Off-Beziehung war, hatte er sie endgültig auf Off gestellt. Zwei schiefgelaufene Ficks später stand fest: Es lag an ihm. Auch bei anderen Typen bekam er keinen hoch.

Hinter ihm lag eine Odyssee durch Arztpraxen. Physisch war bei ihm alles in Ordnung. Man hatte ihn von vorne bis hinten durchgecheckt. Auch bei zwei Therapeuten war er gewesen. Sorry, aber dass die einen Riesenbatzen Geld dafür verlangten, ihm zuzuhören, fand er unverschämt. Da konnte er genauso gut seine Mutter vollquatschen. Nein, das wollte er natürlich nicht. Sein Sexleben ging sie nichts an.

Er hatte es mit Sildenafil versucht. Das Zeug verschaffte ihm zwar einen Ständer, doch zugleich Herzrasen, Schweißausbrüche und Kotzeritis. In dem Zustand machte Sex echt keinen Spaß.

Er war mit seinem Latein am Ende und hoffte, dass es sich lediglich um eine Phase handelte. Vorläufig hatte er jedenfalls von Ärzten die Nase voll.

2.

Am nächsten Morgen traf er sich mit Curt in der Kantine.

„Ich war noch nie in ’nem Reservat“, verkündete Curt.

„Ich auch nicht. Fest steht schon mal, dass es dort keine Unterkunft gibt. Elena hat uns in der nächstliegenden Ortschaft untergebracht.“

„Na, wenn das einzige Hotel dichtgemacht hat, ist das doch klar.“

„Ich brauche ungefähr zwei Stunden, um mit unserem Kontaktmann zu sprechen und mir ein Bild von den Gegebenheiten zu machen. Kannst du um halb elf startklar sein?“

Curt nickte.

„Wie viel Ausrüstung schleppst du mit? Passt das Zeug in meinen Kombi?“

Erneutes Nicken. „Ich hab mir gestern schon mal das Resort angeguckt. Es ist eine Schande, dass die Anlage verfällt. Vielleicht hätten die Leute bloß mehr Werbung machen müssen, damit sie wieder in Schwung kommt.“

„Vielleicht haben die in Warm Springs keinen vernünftigen Internetanschluss. Oder niemanden, der sich mit Webdesign auskennt.“

„Ich bin gespannt, was uns erwartet.“

„Ich auch. Dann treffen wir uns nachher in der Tiefgarage.“

Vor der Kantine trennten sich ihre Wege. Curts Büro lag im 1. Stock, wo sich die gesamte Technik befand. Henry fuhr mit dem Lift in die 5. Etage.

Auf den ersten Blick erkannte er, dass Daniel in der vergangenen Nacht ran durfte. Die gestern noch hängenden Mundwinkel waren hochgebogen und die Augen nicht mehr trübe, sondern klar und glänzend.

„Was wollte der Chef gestern von dir?“, verlangte Daniel zu wissen.

Vorhin war der Kollege noch nicht dagewesen, daher hatten sie bisher nicht darüber sprechen können. „Er hat mir einen geheimen Spezialauftrag erteilt.“

„Zu geheim, um ihn mir zu verraten?“

Henry winkte ab. „War nur ein Scherz. Ich produziere eine Reportage über das Ka-Nee-Ta Resort.“

Daniel runzelte die Stirn. „Das ist geschlossen.“

„Das macht doch gerade den Reiz aus.“

„Ich war mit Debra vor ungefähr zehn Jahren da. Tolle Landschaft, schöne Anlage.“

Henry setzte sich hinter seinen Schreibtisch, öffnete die Mail mit den Informationen und griff nach dem Telefonhörer.

Nakoma Smith schien in Ordnung zu sein und freute sich auf ihre Zusammenarbeit. Sie verabredeten, sich gegen zwei vorm Ka-Nee-Ta zu treffen. Anscheinend glaubte der Mann, dass sie eine Werbekampagne für das Resort, das derzeit renoviert wurde, drehten. Henry hasste es, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu arbeiten.

Als nächstes schaute er sich das Resort via Satelliten an. Das Areal war überwiegend bergig. Landwirtschaft dürfte in dieser Region schwierig zu betreiben sein. Es gab einen großen Recylinghof, auf dem sich Autoleichen stapelten. Ehrlich gesagt machte das Ganze den Eindruck, als ob man die Natives in ein unwirtliches Gebiet abgeschoben und mit Müll zugepflastert hatte. Es fehlt nur noch eine Pipeline, um das Grundwasser zu vergiften.

Diese Gedanken durfte er nicht weiter verfolgen, wenn die Reportage dem Zweck, den McGregor im Sinn hatte, dienen sollte. Er fragte sich allerdings, ob es in dem Reservat überhaupt etwas gab, um die These, dass die Natives als glückliche Schmarotzer lebten, zu untermauern. Das Casino wäre vielleicht geeignet. Es sah neu aus. Auch die Krankenstation machte aus der Vogelperspektive einen passablen Eindruck.

„Übrigens hab ich Debra überredet, dass erstmal ein Planschbecken reicht“, meldete sich sein Kollege zu Wort. „Gestern Abend hab ich eines besorgt und gleich aufgebaut.“

Ach, deshalb hatte sie Daniel rangelassen. „Ein Planschbecken ist doch auch viel ungefährlicher für die lieben Kleinen.“

„Nicht wahr?“ Daniel guckte über den Bildschirm zu ihm rüber. „Sag mal, wie sieht es eigentlich bei dir aus? Hast du endlich eine Maus in Sicht?“

Henry winkte ab. „Ich bin nicht für die Ehe geschaffen.“

„Das hab ich früher auch gedacht, aber dann kam Debra.“

„Da du die einzige Frau, die als Gattin taugt, weggeheiratet hast, bleibt mir doch gar nichts anderes übrig, als weiter mein Singledasein zu genießen.“

Daniel zeigte ihm einen Vogel und verschanzte sich wieder hinterm Monitor.

Henry wandte sich wieder den Satelliten-Bildern zu. Leider gab es via Streetview nur eine Strecke, nämlich die zum Resort, die er sich angucken konnte. Ach, nein, es gab eine weitere, die zu einem winzigen Dorf führte. Dort stand ein Haus, das als Nichtraucherunterkunft angepriesen wurde und daneben der Hinweis auf einen Tribal Market. Das hörte sich gut an. Den wollte er sich auf jeden Fall anschauen.

Er beließ es erstmal dabei, holte sich einen Kaffee aus der Teeküche und hing seinen Gedanken nach. Wieso funktionierte sein Schwanz nicht mehr? Das Ding war immer sehr zuverlässig gewesen. War doch etwas dran, dass ein Mann nur soundso viel Schüsse pro Leben hatte? Und wirkte sich der Zustand auf seinen Verstand aus, dass er sowas überhaupt in Erwägung zog?

Gewissermaßen außer Betrieb zu sein, hatte einiges verändert. Vorher war er regelmäßig in Clubs unterwegs, häufig Gast in Darkrooms und WC-Kabinen gewesen. Natürlich nur, wenn er nicht gerade in einer On-Beziehung steckte. Er war nämlich eine treue Seele.

Dieser Freizeitbeschäftigung beraubt zu werden, hatte in seinem Kopf einiges in Gang gesetzt. Er dachte mehr über sein Leben nach; darüber, warum er so lange mit Ben zusammen gewesen war. Gewohnheit? Vermutlich, denn Liebe hatte er für Ben nicht empfunden.

Außerdem hatte er angefangen, Prosa zu schreiben. Nichts Weltbewegendes. Lediglich kleine Storys aus dem Alltag. Eine Idee für ein ganzes Buch war da, aber noch nicht ausgereift. Das Setting, eine fremde Welt, musste erst noch Form annehmen. Bevor er sich an ein großes Werk setzte, musste er eh ganz viele Fingerübungen machen. Schließlich fiel kein Autor vom Himmel. Alle hatten mal klein angefangen.

„Übrigens: Wir veranstalten am Wochenende ein Grillfest. Ich soll dich einladen, sagt Debra“, riss Daniel ihn aus seinen Träumereien. „Du brauchst nur was zu trinken mitbringen.“

Garantiert hatte Debra mal wieder irgendeine Freundin/Bekannte am Start, um ihn zu verkuppeln. „Voraussichtlich bin ich dann noch in Warm Springs. Sag Debra vielen Dank für die Einladung. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.“ Hoffentlich hatte er dann abermals eine gute Ausrede parat.

„Schade“, brummelte Daniel. „Sie wird sehr enttäuscht sein.“

Damit konnte Henry leben. Lieber eine enttäuschte Debra, als einen ganzen Abend irgendeine Tussi am Hals.

Sein Telefon klingelte. Curts Name stand im Display. Er nahm ab. „Ja?“

„Ich wäre startklar.“

„Dann komme ich runter.“

„Bis gleich“, erwiderte Curt und legte auf.

„Ich bin dann mal weg“, wandte sich Henry an seinen Kollegen.

„Viel Spaß.“ Daniel klang missmutig.

„Liebe Grüße an Debra.“ Er schnappte sich seine Tasche und Jacke und eilte aus dem Raum.

Curt wartete bereits in der Tiefgarage. Sie verstauten Gepäck und Filmequipment in seinem Wagen. Nachdem Henry sein Navi programmiert hatte, ging es los.

Eine Weile war Curt damit beschäftigt, auf seinem Smartphone rumzutippen. Bestimmt handelte es sich um Liebesgeplänkel mit der werten Gattin. Curt hatte erst kürzlich geheiratet.

„Nur damit ich unsere Mission richtig verstehe“, beendete Curt schließlich das Schweigen. „Wir sollen ein positives Bild der Reservatsbewohner zusammenschustern, richtig?“

Henry nickte. „Glückliche Menschen, die dem braven US-Bürger gern auf der Tasche liegen.“

„Täusche ich mich, oder höre ich da eine Spur Sarkasmus?“

„Ich weiß noch nicht, wie ich zu der Sache stehe. Vielleicht stimmt es ja, dass die Natives eine ungerechtfertigte Sonderbehandlung bekommen.“

„Wir gehen mal ganz objektiv an das Ganze ran“, entschied Curt. „Erinnerst du dich an unsere letzte Zusammenarbeit?“

Henry seufzte. „Wie könnte ich das vergessen.“

In vergangenen Herbst waren sie in Springfield gewesen. Anlass für die Reise: Die Behauptung des damaligen Präsidentschaftskandidaten, dass die Haitianischen Einwanderer die Haustiere der Einwohner essen würden. Beweise dafür hatten sie keine gefunden. Stattdessen waren sie auf intelligenzfreies Leben gestoßen.

Obwohl die Lüge gleich als solche entlarvt worden war, trieben sich in dem Ort haufenweise Rechtsradikale herum und versetzten die armen Einwanderer in Angst und Schrecken. Bei manchen dieser Typen konnte man förmlich sehen, dass sich im Oberstübchen nur heiße Luft befand.

Es hatte Curt und ihm alles abverlangt, einen einigermaßen neutralen Bericht abzuliefern. Wäre McGregor damals schon so drauf gewesen wie aktuell, hätten sie ihr Material wegwerfen können. Es gab nämlich keinen einzigen positiven Aspekt an der ganzen Sache, was den Kandidaten ziemlich alt aussehen ließ. Na gut, verschreckte Einwanderer empfand wohl so mancher Zuschauer als positiv. Es war alles eine Frage der Betrachtungsweise.

„Ich finde, wir haben das damals ziemlich gut hinbekommen“, meinte Curt.

„Aber nur unter Einsatz von Blut und Schweiß.“

„Das ist nun mal unser Job.“ Erneut zückte Curt sein Smartphone.

Wieder trat Stille ein. Das gefiel Henry an der Arbeit mit Curt: Sie konnten gut zusammen schweigen.

Je näher sie dem Mount Hood kamen, desto weniger Häuser standen an der Strecke, bis sich links und rechts nur noch Bäume befanden. Er liebte seine Heimat, mit den ausgedehnten Wäldern und hübschen Küstenabschnitten. Schaute man von oben, sah das Areal von Eugene bis Portland aus wie ein Flickenteppich, eingerahmt von einem grünen Gürtel.

Sobald er einen Führerschein und Wagen besaß, war er viel im Bundesstaat umhergereist. So manches Mal hatte er am Strand oder im Auto geschlafen. Inzwischen fuhr er nicht mehr ziellos herum. Zeit wurde mit zunehmendem Alter zu einem kostbaren Faktor, den man lieber sparsam einsetzte. Wie vieles wusste man sie erst zu schätzen, wenn man sie fast aufgebraucht hatte. Womit er mal wieder bei seinem Problem war. Niemals hätte er sich träumen lassen, je unter erektiler Dysfunktion zu leiden.

Kurz vor eins erreichten sie ihr Domizil. Elena hatte für sie in der Econo Lodge gebucht. Sie mussten sich ein Zimmer mit zwei Kingsize Betten teilen. Für Henry war das in Ordnung. Er hatte schon unter schlechteren Bedingungen übernachtet.

Sie luden ihr Gepäck ab und nahmen im Hotelrestaurant einen Imbiss ein. Anschließend stiegen sie wieder in seinen Wagen.

Eine Weile säumten Felder die Straße, dann wurde die Landschaft karger. Berge erhoben sich links und rechts der Strecke. Sie überquerten einen Fluss. Kurz darauf passierten sie das Ortsschild von Warm Springs, danach das Casino. Dahinter stand eine ärmliche Behausung, umgeben von etlichen Autos, die ebenfalls einen armseligen Eindruck machten.

Irgendwie war es ironisch, dass die Natives die Spielsucht der Weißen für ihre Zwecke ausnutzten. Die Rache dafür, damals von den Invasoren mit Feuerwasser ins Verderben getrieben worden zu sein? Wie auch immer: es war ein kluger Schachzug, auf diese Weise Einnahmen zu generieren.

Ungefähr nochmal eine Viertelstunde dauerte die Fahrt zum Resort. Anfangs entdeckte Henry hier und da ein Gebäude. Schließlich gab es nur noch Natur zu sehen. Unter dem strahlend blauen Himmel sahen die von gelbem Gras überzogenen Berge malerisch aus.

„Also, landschaftlich ist das schon mal großartig“, merkte Curt an. „Schade, dass wir nicht im Auftrag des Naturressorts unterwegs sind.“

Dafür fehlte sowohl Curt als auch Henry die nötige Sachkenntnis. Er wusste ja noch nicht mal, wie die Bäume und Büsche hießen, die hier und da im Gelände rumstanden.

Als sie auf den Parkplatz des Ka-Nee-Ta rollten, stieg ein Mann aus einem rotmetallic Jeep Cherokee. Natürlich. Was sollte ein Native auch sonst fahren?

Henry hielt neben dem Jeep. Curt und er stiegen aus.

Mit einem breiten Lächeln und ausgestreckter Hand kam Nakoma Smith auf sie zu. „Willkommen im Ka-Nee-Ta Resort.“

Henry schüttelte Nakoma die Hand und stellte sich und Curt vor. „Gibt es denn schon etwas zu sehen?“, erkundigte er sich mit einem Blick auf das Objekt, das auf der anderen Seite des Flusses lag.

„Natürlich. Wir renovieren ja nur.“

Er schätzte Nakoma auf vierzig bis fünfzig. Der untersetzte Mann war ungefähr eins sechzig groß, trug die verbliebenen Haare – vorne war er kahl - als Zopf, ein kunterbuntes Hemd, braune Jeans und Westernstiefel.

---ENDE DER LESEPROBE---