Der schiitische Islam - Katajun Amirpur - E-Book

Der schiitische Islam E-Book

Katajun Amirpur

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Beschreibung

Wie tief die Weltreligion des Islam gespalten ist in verschiedene Glaubensrichtungen oder ›Bekenntnisse‹, steht der ganzen Welt aktuell im Irak besonders eindrücklich vor Augen, wenn sich in Bürgerkriegen oder zwischenstaatlichen Kriegen im Nahen Osten die Fronten allzu oft nach diesen konfessionellen Gräben ausrichten. Insbesondere die uralte Spaltung aus der Frühgeschichte des Islam zwischen Sunna und Schia prägt Geschichte und Gegenwart islamischer Länder. Die Hamburger Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur beschreibt verständlich und differenziert Geschichte und aktuelle Bedeutung des schiitischen Islam, dem sich etwa 15 % aller Muslime weltweit zugehörig fühlen.

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Katajun Amirpur

Der schiitische Islam

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2015

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMSUNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960766-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019315-0

www.reclam.de

Inhalt

EinleitungDie Geschichte der Schia: Von den Anfängen bis ins 19. JahrhundertDer KonfliktDas SchismaDie Tragödie von KerbelaDie Imame nach HusainDie Schia in der Zeit der Großen VerborgenheitEine goldene ÄraDie Schia als Staatsreligion in Iran18. bis 20. Jahrhundert: Kontakt mit Europa im Osmanischen Reich und IranTheologie und Recht in der SchiaDie schiitische Argumentation für Ali als Nachfolger des ProphetenDie KoranfälschungDie ImamatstheorieDie schiitische Sicht der frühislamischen GeschichteInnerschiitische DifferenzenDer MahdiGlaubenslehre und gottesdienstliche HandlungenDer FünftDer schiitische MärtyrerkultDas Martyrium von Kerbela in Geschichte und GegenwartDer erschaffene KoranDie Konsequenzen der Verborgenheits-LehreDie vier BücherDie klerikale HierarchieDer IdschtihadEherechtVolksfrömmigkeitKetmanDie Schia und andere ReligionenPostschiitische ReligionenDie Schia in Staat und GesellschaftDer Diskurs über die legitime Herrschaft im 19. JahrhundertEine konstitutionelle Revolution im Namen der SchiaDer Begründer der demokratischen Tradition in der SchiaSchiitische Argumente für den KonstitutionalismusSchiitische Argumente gegen den KonstitutionalismusDie erste Verfassung IransIran in den Jahren zwischen zwei RevolutionenMohammad Mosaddeq, das Öl und der KlerusDie schiitische Geistlichkeit in den fünfziger JahrenVom Westen geschlagenDie Ideologisierung des schiitischen IslamsEine schiitische Revolution?Der Herrschaftsanspruch des RechtsgelehrtenInnerschiitische KonkurrenzDas schiitische Staatsdenken nach KhomeiniDie Wiederbelebung der quietistischen Tradition in der SchiaRevolution überall?Schiiten in Saudi-ArabienSunna gegen Schia?Die Schia im LibanonEin schiitischer Halbmond von Iran bis nach Syrien?Iraks SchiitenZitierte LiteraturWeiterführende Literatur

Einleitung

Im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit sind Schiiten, zumal gemessen an ihrem Minderheitenstatus sehr präsent: durch die Revolution in Iran, den Bürgerkrieg im Libanon, die aktuelle Situation in Syrien und im Irak.

Vor allem die neue politische Rolle der irakischen Schiiten ist auch für die anderen Staaten der Region, in denen schiitische Minderheiten und zum Teil auch Mehrheiten leben, bedeutsam. Denn der schiitisch-sunnitische Wettstreit um Vorherrschaft dürfte nicht nur zum wichtigsten Faktor für Frieden und Stabilität im neuen Irak werden: Dieser Konflikt wird auch auf andere Regionen der islamischen Welt Auswirkungen haben und die bisherige Machtverteilung zwischen Schiiten und Sunniten in Frage stellen. Zumal die Schiiten – außer in Iran und neuerdings im Irak – in ihren Heimatländern ausnahmslos politisch unterrepräsentiert sind, obschon sie beispielsweise in Bahrain und im Libanon sogar die Bevölkerungsmehrheit stellen. Zum Teil sind sie – wie in Saudi-Arabien – schwerer Verfolgung ausgesetzt.

Manche Autoren meinen wegen dieser zu erwartenden Umverteilung der Macht, das 21. Jahrhundert werde als das der Schia in die Geschichte eingehen: Der Anthropologe und Leiter des Institute for Middle East Studies der Brown University, William O. Beeman, vertritt die These, dass ein schiitischer transnationaler Block aus den Schiiten Irans, Iraks, Libanons, Bahrains, Kuwaits, Saudi-Arabiens, Afghanistans, Indiens und Pakistans im Entstehen begriffen sei. Und Juan Cole spricht in diesem Zusammenhang von einer schiitischen Achse, die in Zukunft die Politik des Nahen Ostens dominieren wird.

Dies wird von der Regierungen sunnitischer Länder im Nahen Osten gefürchtet: Im Dezember 2004 äußerte der jordanische König Abdallah seine Angst vor einem schiitischen Halbmond vom Libanon über Damaskus, Irak und Iran bis zu den Golfstaaten. Er beschrieb damit einen unter sunnitischen Herrschern weit verbreiteten Eindruck. Der damalige ägyptische Präsident Husni Mubarak stieß in dasselbe Horn, als er im April 2006 den arabischen Schiiten vorwarf, Teheran gegenüber loyaler zu sein als ihren eigenen Regierungen. Ähnliche Äußerungen sind auch von saudischen Politikern bekannt, die genau wie ihre Kollegen Arabertum und Sunnitentum weitgehend gleichsetzen. Oft bezeichnen sie die arabischen Schiiten als Perser, um sie zu verunglimpfen. Die Angst der sunnitischen arabischen Herrscher betrifft zum einen die Politisierung der Schiiten und die Gefahr innerer Destabilisierung in den betreffenden Ländern, zum anderen einen möglichen Kontrollverlust über die zentralen Ölregionen, in denen besonders viele Schiiten leben und die sich am Persischen bzw. Arabischen Golf befinden – nicht zuletzt in der Benennung des Golfes spiegelt sich der zentrale und traditionelle Konflikt zwischen Persern und Arabern wieder, der auch hier wirksam wird.

Doch über wen reden wir hier eigentlich? Die Schiiten stellen vermutlich etwa zehn bis fünfzehn Prozent der weltweit 1,3 Milliarden Muslime. Allerdings behaupten schiitische Quellen zuweilen, es seien bis zu 20 Prozent, die sie an der Gesamtheit der Muslime ausmachen würden. Die zahlenmäßig bei weitem bedeutendste Gruppe der Schiiten ist die Zwölfer-Schia, auch Imamiya genannt. Ihre Anhänger werden entsprechend auch als Imamiten oder eben Zwölfer-Schiiten bezeichnet. Ein fast ausschließlich schiitischer Staat (90 %) ist Iran, der einzige, in dem die Schia Staatsreligion ist. Deshalb wird die Schia oft fälschlicherweise für typisch persisch gehalten, doch Iran ist erst seit dem 16. Jahrhundert schiitisiert worden. Die ersten Schiiten waren Araber. Die Mehrheit der Bevölkerung stellen Schiiten in Bahrain, im Libanon und im Irak. Hinzu kommen Kuwait mit 20 bis 30 Prozent, die Vereinigten Arabischen Emirate mit 15 und Saudi-Arabien mit 10 bis 15 Prozent. Bedeutende, religiös-politisch zum Teil recht aktive zwölferschiitische Minderheiten gibt es in Afghanistan, im ehemals sowjetischen Zentralasien, in der Türkei, in den Küstengebieten der arabischen Golfländer und in einigen Regionen des indo-pakistanischen Subkontinents (z. B. in Lucknow).

Neben den Zwölfer-Schiiten gibt es noch die Ismailiten, die anders als die dominierende Richtung der Schiiten einer Reihe von nur sieben Imamen folgen und deshalb auch Siebener-Schiiten genannt werden. Sie leben heute vor allem in Pakistan, Indien, Syrien und Afghanistan. Als dritte (und kleinste) Gruppe folgen die Zaiditen, auch Fünfer- Schiiten genannt, die fünf Imamen folgen. Sie leben heute nur noch im nördlichen Jemen. Auch in Deutschland gibt es einzelne Zaiditen, darunter prominente Persönlichkeiten wie den ehemaligen Imam der deutschsprachigen Gemeinde in der Imam-Ali-Moschee in Hamburg, Mehdi Razvi.

Die Sunniten, die im Islam die Mehrheit stellen, bezeichneten die Schia schon früh als Sekte. Um eine sunnitische Orthodoxie zu etablieren und zu festigen, wurden andere religiöse Überzeugungen als Sekten und Häresien tituliert. Diese Vorstellung von der Schia als einer Sekte ist in die europäische akademische Orientalistik eingegangen, da diese aufgrund der engeren Kontakte zum Osmanischen Reich im 19. und zum Teil noch im 20. Jahrhundert wesentlich auf dem Studium von sunnitischen Handschriften und Texten beruhte. Heute wird die Bezeichnung der Schia als Sekte und Häresie in der Wissenschaft kritisch gesehen. Angesichts der formativen Periode des Islams, in der sich die islamischen Denkschulen erst allmählich und über Jahrhunderte hinweg entwickelten, ist die Vorstellung einer sunnitischen Orthodoxie und einer schiitischen Häresie oder sektiererischen Abspaltung abwegig – zumal auch die Schiiten für sich in Anspruch nehmen, sie hätten die wahre Tradition Mohammeds beibehalten und wären die besten oder immerhin besseren Muslime. Inzwischen spricht man meist von der Schia als einer Konfession innerhalb des Islams. Entstanden ist sie durch einen Konflikt, dessen Ursprung eher politisch denn religiös ist.

Die Geschichte der Schia: Von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert

Der Konflikt

Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten geht auf den Anbeginn des Islams zurück. Daher ist an dieser Stelle ein historischer Rückblick notwendig: Nach schiitischer wie auch sunnitischer Auffassung wurde Mohammed, der Religionsstifter des Islams, im Jahre 570 geboren. So weit sind sich Schiiten und Sunniten einig, aber schon beim Geburtstag beginnen die Uneinigkeiten: Während die Sunniten meinen, es sei der 12. Rabi ul-Awwal gewesen, beharren Schiiten auf seiner Geburt am 17. Tag dieses Monats.

Mohammed war Familienmitglied der Haschemiten aus dem bedeutenden vorherrschenden Stamm der Quraisch. Sein Vater starb kurz nach seiner Geburt, deshalb wurde er zuerst von seinem Großvater Abd al-Muttalib, dann von seinem Onkel Abu Talib, dem Vater des späteren Begründers der Schia, Imam Ali, großgezogen. Mohammeds Großvater und Onkel waren beide einflussreiche Mitglieder ihres Stammes. Mohammeds Vaterstadt Mekka lebte vom Handel, aber auch von ihrer Rolle als Pilgerort. Einmal im Jahr kam eine große Anzahl von Pilgern, um den Göttern in der Kaaba zu huldigen. Sie brachten der Stadt stattlichen Gewinn. Das missbilligte Mohammed, der im Gegensatz zu vielen Arabern seiner Zeit ein sehr religiöser Mensch war und das Profitstreben seiner Zeitgenossen ablehnte. Er warf ihnen vor, den Götzen nur aus Geldgier zu huldigen. Mohammed verbrachte jedes Jahr einen Monat auf dem Berg Hira in der Nähe von Mekka, um dort Buße zu tun. Gegen 610 erschien ihm dort der Erzengel Gabriel, der ihn aufforderte, das Wort Gottes vorzutragen.

Bis zu seinem Tod im Jahre 632 kamen die Offenbarungen von nun an in Abschnitten und durch die Vermittlung Gabriels auf ihn herab. Seine ersten Anhänger waren engste Familienmitglieder, seine Frau Khadidscha und sein Cousin, der besagte Ali ibn Abi Talib, sowie Zaid ibn Haritha, ein freigelassener Sklave. Abu Bakr, der später der erste Kalif, also Nachfolger Mohammeds, wurde, folgte ihm ebenfalls sehr frühzeitig. Nach etwa drei Jahren hatte Mohammed ungefähr 50 Anhänger. Diese frühesten Anhänger wurden durch persönliche Ansprache gewonnen, danach aber begann Mohammed seine Botschaft öffentlich zu verkündigen. Damit begannen die Probleme mit seinen mekkanischen Mitbürgern, denn schon seine früheste Botschaft richtete sich gegen den Polytheismus, also die wesentliche Einnahmequelle der Mekkaner. Mohammed ermahnte seine Zuhörer, dass Gott einer sei, der einzige Schöpfer und Richter, der alle Menschen am Letzten Tag zur Rechenschaft ziehen wird. »Sprich: Er ist Gott, ein Einziger, Gott, der Undurchdringliche. Er hat nicht gezeugt, und Er ist nicht gezeugt worden, und niemand ist ihm ebenbürtig«, schleuderte er den Mekkanern entgegen. Diese Worte wurden zwar auch gegen die christliche Dreifaltigkeit und sogar gegen eine mögliche unvollkommene Einhaltung des Monotheismus durch die Juden gewandt. Zuallererst aber richtete sich das Wort Gottes an die polytheistischen Mekkaner.

Anfangs, bis etwa 614, hatten die einflussreichen Vertreter der Quraisch keine Einwände gegen Mohammeds Lehren. Aus ihrer Perspektive fügte Mohammed ihren vielen Göttern noch einen weiteren hinzu. Das hielten sie für durchaus legitim. Erst als Mohammed die Bilderverehrung und die Vielgötterei seiner Vorfahren und Mitmenschen angriff, bildete sich eine starke Opposition gegen ihn und seine Anhänger. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn indem sich Mohammed gegen die Bilderverehrung und die Vielgötterei wendete, griff er die ökonomischen Interessen der Mekkaner an, die von der Wallfahrt zu den Götzen der Kaaba lebten.

Es waren jedoch nicht nur materielle Gründe, die sie gegen Mohammed einnahmen. Der Angriff auf die lokalen Gottheiten verletzte viele Mekkaner zutiefst. Sie empfanden durchaus Ehrfucht vor ihren lokalen Gottheiten. Am meisten aber traf sie die in ihren Augen große Absurdität der neuen Lehren. Die polytheistischen Mekkaner glaubten weder an den Himmel noch an die Hölle. Zwar hatte die Religion in diesem Leben wichtige rituelle und soziale Funktionen. Um die Götter milde zu stimmen, konsultierten die Menschen Hellseher und andere Seher, die Einblick in die übernatürliche Welt gewonnen hatten, oder berieten sich mit den Dschinnen, den Kobolden und anderen boshaften und missgünstigen Wesen. Mit dem Tod aber hörten diese auf zu existieren.

Zunächst erschien Mohammeds Lehre seinen Gegnern also nur töricht und pietätlos. Einige Mekkaner wollten bereitwillig dafür bezahlen, dass man Mohammed den Teufel austreibe, damit er seine Religion aufgebe oder modifiziere; andere wollten ihn sogar zum König machen, damit er von ihr ablasse. Als ihm dann immer mehr, darunter auch junge Leute folgten, wurde es gefährlich. Diejenigen, die seinen Worten glaubten und danach handelten, erhoben ihn in eine Machtposition, denn mit dem Anspruch, Gesandter und Prophet zu sein, verlangte der Koran implizit, Mohammed als dem Sprachrohr Gottes zu gehorchen und ihm eine herausragende Stellung in der Stadt zuzubilligen. Das schuf zusätzliche Konkurrenzängste.

Die neue Religion brachte zudem tiefe Spaltungen zwischen den verschiedenen Sippen des Stammes Quraisch zutage. Die frühesten Anhänger Mohammeds gehörten mehrheitlich zur Banu Haschim, doch nicht alle Mitglieder der Banu Haschim erkannten ihn als Propheten an, wohingegen einige Mitglieder anderer Sippen es taten. Die neue Religion hatte die wenigsten Anhänger unter den Banu Abd Schams, den erbittertsten Gegnern der Banu Haschim. Es lag nicht im Interesse der Banu Abd Schams, die religiösen Ambitionen des Angehörigen einer anderen Sippe zu unterstützen. Denn diese Ambitionen, so sie breitere Akzeptanz fanden, würden Mohammed Prestige und Macht in sozialen und religiösen Belangen verleihen. Deshalb belegten sie die Banu Haschim mit einem Boykott, der den Handel und Ehebündnisse betraf.

Die Araber wurden durch ihre jeweilige Sippe sowohl geschützt als auch diszipliniert. Jede Beleidigung oder Bedrohung eines Sippenangehörigen durch Außenstehende ließ den Rest der Sippe zu seiner Verteidigung herbeieilen. Ebenso kam es zu Vergeltungsmaßnahmen, sei es gegen den Täter selbst oder gegen andere Mitglieder seiner Sippe. Da sein Onkel Abu Talib mächtig genug war, ihm Schutz zu bieten, war Mohammed persönlich vor Verfolgung durch die konkurrierenden Sippen sicher. Aber nicht alle Mitglieder von Mohammeds Sippe standen aus vollem Herzen hinter dieser auferzwungenen Loyalität.

Dieser wachsende Unmut, die Unterdrückung seiner Anhänger in Mekka, vor allem aber auch der Tod seines Beschützers Abu Talib und seiner Frau Khadidscha ungefähr im Jahre 619 waren die Gründe dafür, dass Mohammed mit den Bewohnern der Stadt Yathrib Kontakt aufnahm: Als Abu Talib gestorben war, folgte Abu Lahab, sein Bruder, ihm an die Spitze der Banu Haschim nach. Die Banu Haschim hatte in all den Jahren sehr gelitten unter der Verfolgung Mohammeds, d. h. unter dem Boykott, der auch die Teile der Sippe traf, die nicht mit Agieren Mohammeds einverstanden waren. Auch ihnen wurden Eheschließungen und Handelsbeziehungen verweigert. Weil er nicht anders konnte, gewährte auch Abu Lahab seinem Neffen zwar zuerst den Schutz der Sippe, zog diesen dann aber schnell zurück. Den äußeren Anlas bot Mohammeds Meinung, sein heidnischer Großvater Abd al-Muttalib, also der Vater Abu Lahabs und Abu Talibs, sei in der Hölle. Aufgrund dieser anstößigen Worte über einen gemeinsamen Vorfahren konnte Abu Lahab seinen Schutz zurückziehen, ohne Gesicht und Ehre zu verlieren.

Zum Glück für Mohammed ergab sich die Möglichkeit, nach Yathrib zu gehen, einer blühenden Stadt etwa 400 Kilometer von Mekka entfernt. Eine Abordnung aus Yathrib schwor, Mohammed zu gehorchen und für ihn zu kämpfen. Ein weiterer Onkel Mohammeds, Abbas, war bei dem Abkommen, das geschlossen wurde, anwesend, um dafür zu sorgen, dass der Schutz des Propheten nun in die Verantwortung seiner Verbündeten in Yathrib überginge. Doch beinahe hätte Mohammed die Flucht nicht geschafft. So erbittert waren die Stammesrivalitäten und der Hass gegen ihn, der die Stammesloyalitäten und -strukturen in Frage stellte, dass sein erbitterter Feind Abu Dschahl vorschlug, ihn zu töten. Abgesandte der verschiedenen Sippen sollten dabei gleichzeitig auf Mohammed einstechen, um die Blutrache seiner Anhänger gegen eine Sippe zu verhindern. Doch Mohammed vereitelte den Plan durch seinen vorzeitigen Aufbruch nach Yathrib. In seinem Bett fanden die Mörder nur Ali vor, der jedoch früh genug erkannt wurde, um nicht selber dem Mordanschlag zum Opfer zu fallen.

Nach seiner Auswanderung nach Medina begann der Prophet wohlhabende mekkanische Karawanen, die in der Nähe von Medina vorbeizogen, zu überfallen. Vermutlich hatte er drei Gründe dafür: Er musste materielle Unterstützung sicherstellen für die Muhadschirun, also seine Anhänger, die ihm gefolgt waren. Darüber hinaus erschien es im zweifellos gerecht und angemessen, diese von denjenigen zu erstreiten, die ihn vertrieben und seine Anhänger verfolgt hatten. Schließlich wollte er unbedingt als siegreicher Prophet in seine Geburtsstadt zurückkehren, um so die Wahrhaftigkeit seiner Offenbarung gegen die Mitglieder seines alten Stammes zu beweisen. Nach mehreren Schlachten gelang es ihm schließlich, die Mekkaner zu besiegen und in seine Geburtsstadt als unangefochtener Herrscher einzuziehen.

Auch seine erbittertsten Gegner aus der Sippe der Abd Schams, unter ihnen Abu Sufyan und seine Frau Hind, die Eltern Muawiyas (603–680), des späteren Kalifen und größten Kontrahenten Alis, unterwarfen sich letztlich Mohammeds Herrschaft. Aber noch in dem Moment seiner politischen Unterwerfung zweifelte Abu Sufyan die religiöse Sendung Mohammeds an. Nach islamischer Überlieferung fragte Mohammed ihn, ob er nun daran glaube, dass es keinen Gott gibt außer Gott. Darauf soll Abu Sufyan die mutige, aber sehr zweideutige Antwort gegeben haben: Wenn es einen anderen Gott gegeben hätte, hätte er mir helfen können. Und als Mohammed fortfuhr, ob es nicht Zeit für ihn sei, anzuerkennen, dass er, Mohammed, der Gesandte Gottes sei, erwiderte Abu Sufyan: Was das betrifft, so habe ich noch meine Zweifel. Es kann also durchaus glaubhaft in Abrede gestellt werden, dass Abu Sufyan jemals von Herzen Muslim geworden ist. Noch hartnäckiger zeigte sich seine Frau Hind: Als Abu Sufyan mit den Kapitulationsbedingungen in die Stadt zurückkehrte, schrie sie ihm Flüche entgegen und forderte die Mekkaner auf: Nehmt keine Notiz von diesem alten Narren. Er hat sich als ein schöner Verteidiger seines Volkes erwiesen.

Mohammed blieb nach der erfolgreichen Übernahme der Stadt nicht lange in Mekka, sondern kehrte nach zwei Wochen nach Medina zurück. Dort starb er zwei Jahre später, am 8. Juni 632. Dass die Überwindung der Stammesstrukturen und -rivalitäten, die Mohammed hatte erreichen wollen, nur von kurzer Dauer war, zeigte sich bald nach seinem Tod: Die alte mekkanische Aristokratie begann, um ihre Pfründe zu kämpfen.

Das Schisma

Da große Misstöne zwischen jenen bestanden, die früh zu Mohammeds Anhängern geworden waren, und jenen Mekkanern, die sich erst im allerletzten Moment zu ihm bekannt hatten, wurde die muslimische Gemeinde schon in den ersten Jahren von Zwisten erschüttert. Auch zur Spaltung der muslimische Urgemeinde in Sunniten und Schiiten kam es bald durch einen Streit innerhalb der frühislamischen Gemeinde: Nach dem Tode Mohammeds stellte sich die Frage, wer nach ihm die Leitung der muslimischen Gemeinde übernehmen sollte. Dass Mohammed gestorben sei, ohne eine eindeutige Verfügung getroffen zu haben, behaupten diejenigen Muslime, die später Sunniten genannt werden sollten. Eine Minderheit erklärte hingegen laut schiitischer Auffassung, der Prophet selbst habe Ali, seinen Schwiegersohn und Cousin, zu seinem Nachfolger bestimmt. Was der Wahrheit entspricht, kann nicht abschließend geklärt werden; auch ist nicht zweifelsfrei nachzuweisen, ob diese Idee der Designation, die heute für die schiitische Gemeinde konstituierend ist, damals überhaupt schon geäußert wurde.

Die Mehrheit der Prophetengefährten akzeptierte indes keinerlei Designation und einigte sich, während Ali sich um die Beerdigung des Propheten kümmerte, auf Abu Bakr (um 573–634) als Nachfolger Mohammeds. Abu Bakr, einer der frühesten Anhänger Mohammeds, sollte fortan als Kalif (von arab. chalifa ›Statthalter‹) die muslimische Gemeinde anführen. Ali war zwar anderer Auffassung in der Nachfolgefrage und sah sich selbst als den rechtmäßigen Nachfolger, sagen die Schiiten, doch er unterwarf sich dem Mehrheitsentscheid der anderen Prophetengefährten. Kurz vor seinem Tode designierte Abu Bakr dann Umar als Nachfolger (reg. 634–644).

Nachdem Umar durch einen versklavten persischen Gefangenen zu Tode gekommen war, wählten die verbliebenen Prophetengefährten, darunter auch Ali, Uthman (reg. 644–656) aus dem mekkanischen Clan der Umaya zum neuen Kalifen. Obwohl Ali gegen die Wahl Uthmans nicht offen opponierte, hat er aus schiitischer Perspektive dessen Kalifat nur deshalb akzeptiert, weil er sich um die Einheit der muslimischen Gemeinde sorgte und eine Spaltung verhindern wollte. Nach schiitischer Auffassung hatte er gravierende Bedenken gegen Uthman, da Uthman, der selber zwar schon früh den Islam angenommen hatte, dem Teil der Quraisch entstammte, der Mohammed bis kurz vor seinem Tode feindlich gegenüber eingestellt gewesen war. Uthman war ein Neffe Abu Sufyans.

Wie berechtigt die Sorge Alis angesichts der bestehenden Clanrivalitäten war, zeigte der gewaltsame Tod Uth-mans: Er wurde von Aufrührern umgebracht. Diese waren erbost darüber, dass Uthman Verwandten aus seiner Sippe zu führenden Positionen verholfen hatte. Hintergrund der Mordtat war der Unmut einiger Muslime darüber, dass die in Mekka ehemals wichtige Sippe der Banu Umaya, die Mohammed so bitterlich bekämpft hatte, der Uthman aber angehörte, nun wieder das Sagen haben würde. Mit Uthman war die alte Elite wieder an die Macht gekommen. Ihre Gegner warfen der Banu Umaya vor, dass es ihnen nicht um den Islam gegangen sei, sondern sie aus reinem Opportunismus, nachdem Mohammed übermächtig geworden war, den Islam angenommen hatten. Diese Unstimmigkeiten führten zur sogenannten ersten Fitna (656–661), dem ersten Bürgerkrieg unter Muslimen. Sie hatte rein politische, keine religiösen Ursachen. In erster Linie handelte es sich um einen Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Clans.

Nach dem Tode Uthmans wurde Ali schließlich zum Kalifen gewählt. Er gilt somit auch den Sunniten als der vierte rechtgeleitete Kalif und genießt als solcher, aber vor allem als Schwiegersohn und Cousin des Propheten unter den Sunniten eine durchaus herausragende Stellung. Von einigen Mitgliedern der Banu Umaya wurde diese Wahl jedoch angefochten. Ihr Führer war Muawiya, ein Vetter Uthmans und der Sohn Abu Sufyans. Muawiya, eingesetzt als Gouverneur von Syrien, bezichtigte Ali der Komplizenschaft mit den Mördern Uthmans und trat im Namen der Blutrache gegen Ali auf. In der Folge brach ein bewaffneter Konflikt zwischen den Anhängern Alis, die sich nun »Partei Alis«, schiat Ali, nannten, und jenen Muawiyas aus. Ali hatte jedoch außer in den im heutigen Irak gelegenen Städten Kufa, wohin er sich zurückzog, Basra und im Ostiran kaum Machtbasen. Neben den Clanrivalitäten traten nun in diesem Konflikt auch regionale Spannungen zu Tage: die Araber Syriens gegen die Araber des heutigen Iraks.

In Siffin am oberen Euphrat sollte es schließlich zur entscheidenden Schlacht kommen. Beide Armeen standen sich hier im Sommer 657 wochenlang gegenüber, ohne dass eine der Parteien die Überhand hätte gewinnen können. Schließlich spießten Alis Gegner Seiten des Korans auf ihre Lanzen, um die Kampfhandlung zu beenden und ein Schiedsgericht herbeizuführen. Ali ließ sich auf das Schiedsgericht ein, weil er – nach schiitischer Auffassung – nicht gegen den Koran kämpfen wollte.

Was genau die Vereinbarung des Schiedsgerichts dann enthielt, kann aufgrund von widersprüchlichen Überlieferungen nicht mehr rekonstruiert werden. Muawiya legte das Schiedsgericht zu seinen Gunsten aus und ließ sich im Sommer 660 in Jerusalem als Kalif huldigen. Er wurde weithin anerkannt – und damit war die Spaltung der Gemeinde besiegelt.

Das Schiedsgericht, dem Ali sich unterworfen hatte, wurde von vielen seiner ursprünglichen Mitstreiter als Verrat am Islam kritisiert. Sie versagten ihm die Gefolgschaft, und einer von ihnen, Ibn Muldscham, stach Ali im Januar 661 nieder, als er eine Moschee in Kufa zum Gebet betreten wollte. Bis in die Gegenwart hinein wird Siffin als Beispiel dafür genannt, dass man sich nicht auf Kompromisse mit dem politischen Gegner einlassen sollte: Man läuft Gefahr, übervorteilt zu werden. So argumentierte beispielsweise Ayatollah Khomeini zu Beginn der Revolution von 1978/79, als versöhnlichere Stimmen noch einen Kompromiss mit dem Schah finden wollten. Die Ereignisse der frühen Schia haben somit bis heute einen großen Stellenwert im politischen Diskurs der Schia – wie noch an verschiedenen Beispielen deutlich werden wird.

Schon der erste Imam starb also aus schiitischer Sicht als Märtyrer. Er gilt den Schiiten als schahid-e edalat, als Märtyrer für die Gerechtigkeit. Die Figur Alis ist in der schiitischen Hagiographie durch die Nahdsch al-balagha (»Der Pfad der Beredsamkeit«) illustriert, eine von al-Scharif al-Radi (970–1015) zusammengestellte Sammlung von vermeintlichen Predigten, Briefen und moralischen Sprüchen. Die Nahdsch al-balagha gelten bis heute als Muster arabischer Prosa und Beleg für Alis meisterhafte Beherrschung des Arabischen. Zudem wird Ali für seine Ritterlichkeit, seinen außerordentlichen Mut und seinen hohen Gerechtigkeitssinn gepriesen, er ist der Prototyp des jugendlichen Helden. Da Ali schon als kleines Kind Muslim wurde (die Überlieferungen schwanken zwischen einem Alter von fünf und von neun Jahren), gilt er als der erste Muslim, der niemals einen anderen als den einen Gott angebetet hat. Für die Schiiten ist er der Vertraute der Geheimnisse Mohammeds und der eigentliche Träger der geistigen Erbschaft der Offenbarung. Der Ehrentitel, den die Schiiten nur ihm zugestehen, lautet: Amir al-mu’minin, Fürst der Gläubigen.

Alis Grab in der Nähe von Kufa wurde ab dem 8. Jahrhundert zu einem Wallfahrtsort für die Gläubigen. Zudem entstand hier später das geistige Zentrum der Schiiten, Nadschaf. Bis heute ist hier die wichtigste höhere theologisch-juristische Ausbildungsstätte der Schiiten angesiedelt. Fast alle namhaften Gelehrten der modernen Schia haben hier studiert oder gewirkt.

Die Tragödie von Kerbela

Mit dem Tode Alis hatten seine Anhänger die Macht auf lange Sicht an ihre politischen Gegner verloren. Nachdem Muawiya seinen Gegner Ali ausgeschaltet hatte, wurde er zum unangefochtenen Kalifen, begründete die Umayaden-Dynastie (661–750) und verlegte die Hauptstadt des islamischen Reiches von Mekka nach Damaskus. Alis Söhne Hasan (624–678) und Husain (625–680), die nach ihrem Vater als der zweite und dritte Imam der Schia gelten, zogen sich nach Medina zurück, an den Ort also, wohin ihr Großvater Mohammed im Jahre 632 ausgewandert war und bis zum Ende seines Lebens gelebt hatte. Die beiden führten ein zurückgezogenes Leben. Hasan gab alle Ansprüche auf die Leitung der islamischen Gemeinde zugunsten von Muawiya auf – nach schiitischer Auffassung wurde er dazu gezwungen, nach sunnitischer gekauft. Die Schia erinnert ihn als gelehrten Mann und als Erzeuger sehr vieler Nachkommen. Die meisten Sayyids, also Nachkommen des Propheten, sind über die Hasan-Linie mit dem Propheten verwandt.

Auch der jüngere Sohn Alis, Husain, hielt sich zunächst an das Abkommen Muawiyas mit seinem Bruder. Doch im Jahre 680 starb Muawiya. Daraufhin versagte Husain dessen Sohn Yazid, den Muawiya kurz zuvor – unter Einführung des dynastischen Prinzips auch im sunnitischen Islam – zum Nachfolger erklärt hatte, den Gehorsam. Er zog mit einer kleinen Schar von Anhängern nach Kufa, woraufhin auch Yazid in Damaskus mit einem Heer aufbrach. Husain wähnte sich der Unterstützung der mesopotamischen Bevölkerung sicher. In Mekka hatten ihn zahlreiche Briefe und Boten aus Kufa erreicht, die ihm berichteten, die Situation sei günstig und Tausende von Anhängern in Mesopotamien seien bereit, sich unter seiner Führung gegen Yazid zu erheben. Husains Cousin Muslim ibn Aqil, den er nach Kufa vorausgesandt hatte, hatte ihm diese Einschätzung bestätigt. Die Stadt Kufa war schon lange fest in der Hand der Aliden: Nachdem Ali im Jahre 661 ermordet worden war, hatte man hier zunächst seinen Bruder Hasan als Kalifen ausgerufen. Den neuen Umayaden-Kalifen verachteten die Bewohner der Stadt als Tyrannen und Verräter an der Botschaft des Propheten. Ihre Gegnerschaft zum Kalifen lässt sich nicht allein auf eine religiöse Meinungsverschiedenheit zurückführen. Es handelt sich um die Gegnerschaft einer legitimistischen Partei: Gegenüber den Umayaden, die die Macht einer arabischen Dynastie aufrechterhielten, verkörperten die Schiiten das universalistische Ideal des Islams. Das galt insbesondere für die nicht-arabische Klientel von Kufa.

Daher verließ Husain Mekka im September voller Hoffnung auf einen überwältigenden Sieg, nur von seiner Familie und einer kleinen Schar Anhänger begleitet, und machte sich auf den Weg nach Mesopotamien. In Kerbela, achtzig Kilometer von Kufa entfernt, hatten sich seine Unterstützer mit Husain verabredet, von wo aus sie mit ihm zusammen in den Kampf gegen den Usurpator Yazid ziehen wollten. Doch in Kerbela wurden Husain und seine kleine Anhängerschaft vom Heer Yazids umzingelt. Husain ibn Ali stand einem mehrere tausend Mann starken Heer gegenüber.

Am 2. Oktober 680, nach islamischer Zeitrechnung dem 2. Muharram des Jahres 61, lagert Husain nicht weit vom Euphrat. Hier spürt ihn das Heer Yazids auf und versperrt ihm den Zugang zum Wasser. Als die Schlacht unvermeidlich geworden ist, entlässt Husain, der um den Ausgang des bevorstehenden Kampfes weiß, seine Gefährten aus dem Treueschwur. Er fordert sie auf, dem bevorstehenden Massaker zu entfliehen, weil er nicht will, dass sie wie er selbst den Märtyrertod sterben. Doch die 72 übriggebliebenen Gefährten weigern sich: Sie wollen den Enkel des Propheten nicht allein der feindlichen Armee überlassen. Sie ziehen gemeinsam in eine Schlacht, die keiner von ihnen überlebt. Auch Husains Halbbruder al-Abbas, sein Sohn Ali der Ältere und sein junger Neffe al-Qasim, ein Sohn Hasans, finden den Tod. Aschura, der Todestag von Husain, also der 10. Muharram, ist daher der zentrale Tag des schiitischen religiösen Kalenders.

Kampf und Tod Husains in Kerbela sind das identitätsstiftende Moment des schiitischen Glaubens schlechthin – bis heute. Der Moment, in dem Husain für die schiitische Gemeinde stirbt, konstituiert diese weit mehr, als die eigentliche Abspaltung der Parteigänger Alis vom sunnitischen Mainstream es getan hat. Vor 680 hat es eine schiitische Religiosität gar nicht gegeben, und zu einer Konfession entwickelte sich die Schia erst nach der Katastrophe von Kerbela, nach ihrem politischen Scheitern also. Husains Tod machte die Schia, die bis dahin lediglich eine von mehreren Parteien innerhalb eines politischen Machtkampfes war, zu einem eigenen religiösen Phänomen. Symbolisiert Husains Person das Gute, das Gerechte, das Unschuldige schlechthin, so steht sein Widerstand für das Aufbegehren gegen Unterdrückung und Tyrannei.

Kein historisches Ereignis der schiitischen Geschichte ist ohne den Hintergrund der Schlacht von Kerbela zu begreifen – schon gar nicht die iranische Revolution von 1979, die sich als ein Aufbegehren gegen den Yazid jener Zeit verstand: Ayatollah Khomeini hatte den Schah bereits 1963 in einer berühmt gewordenen Rede, die von manchen als der Beginn der revolutionären Bewegung Irans gesehen wird, als Yazid denunziert: er versündige sich an allen Schiiten. Und Ali Schariati (1933–1977), ein wichtiger ideologischer Wegbereiter der Revolution, sah in Husains Marsch gen Kufa ein Vorbild für das revolutionäre Aufbegehren gegen die Diktatur des Schahs. Er prägte den Slogan »Jeder Tag ist Aschura, jeder Ort ist Kerbela« – ein Slogan, der dann von vielen Schiiten zur revolutionären oder kriegerischen Mobilisierung genutzt wurde, unter anderem von der Hizbollah im Libanon.

Das eigentlich Tragische der Tragödie von Kerbela ist: Ihre angeblichen Verbündeten sind Husain und seinen Getreuen nicht zu Hilfe gekommen. Deshalb hat sich die schiitische Gemeinde kollektiv an den Kindeskindern des Propheten versündigt und ist gehalten, Buße zu tun. Das macht sie noch heute. Schon bald, im Jahre 684, war die Bewegung der sogenannten Büßer aufgekommen. Die kufischen Parteigänger, die Husain gerufen hatten, ihm aber nicht zu Hilfe geeilt waren, wollten mit einem kollektiven Sühneopfer ihr Gewissen erleichtern. Hieraus haben sich dann im Laufe der Zeit die schiitischen Bußrituale entwickelt und in den Aschura-Bräuchen ritualisiert.

Wegen der Ereignisse des Jahres 680 wurde die Stadt Kerbela zum Pilgerort. Die Mekka-Pilger aus Iran verbinden ihre Hin- oder Rückreise nach Möglichkeit mit einer ziyara (Besuch) an den Imam-Gräbern im Irak. Um die Gräber der dort bestatteten Imame sind bedeutende Wallfahrtsorte entstanden. Besonders Kerbela und Nadschaf sind von weitläufigen Friedhöfen umgeben: Seit Jahrhunderten sind die Leichname frommer Schiiten, die im Tode Ali und Husain nahe sein wollten, dorthin übergeführt worden.

Die Imame nach Husain

Der einzige Sohn Husains, der das Massaker von Kerbela überlebte, war Ali, später genannt Zain al-Abidin, »Zierde der Gottesdiener« (gest. 713). Er war zum Zeitpunkt der Schlacht krank und durfte auf Anweisung seines Vaters das Zelt nicht verlassen. Zusammen mit Husains Schwester Zainab wurde er nach der Schlacht vom Umayadenherrscher Yazid an dessen Hof gebracht und später ins Exil nach Medina entlassen. Ali ibn Husains Mutter war Schahrbanu, eine Tochter des letzten Sassaniden-Herrschers Yazdegerd III. (632–651). Er ist somit nicht nur ein Nachkomme des Propheten Mohammed, sondern gilt vielen, die einen speziellen Bezug der Schia zu Iran herstellen wollen, auch gleichzeitig als inoffizieller Prinz von Iran. Er wird auch Ibn al-Chayratain, »Sohn der zwei Besten«, genannt. Gemeint ist damit seine doppelt noble Abstammung – in beiden Fällen übrigens durch die weibliche Linie. Ali ibn Husain wurde der vierte Imam der Schia. Er hielt sich – nach schiitischer Auffassung gezwungenermaßen – aus der Politik heraus und starb in Medina, wo er beigesetzt wurde.

Auch sein Sohn Muhammad al-Baqir (gest. 733), der somit fünfte Imam der Schia, verfolgte keinerlei politische Ambitionen. Dasselbe gilt für dessen Sohn Dschafar al-Sadiq (gest. 765), der sich aber einen Ruf als großer Gelehrter erwarb und als Begründer des schiitischen Rechts gilt. Die späteren Handbücher des schiitischen Rechts enthalten Tausende seiner Aussprüche. Nach ihm ist die schiitische Rechtsschule benannt; auch die Glaubensrichtung der Zwölfer-Schia wird nach ihm zuweilen Dschafariya genannt. Die dschafaritische Rechtsschule ist laut iranischer Verfassung die offizielle der Islamischen Republik.

Weil ihnen ein Anteil an der Macht versprochen worden war, unterstützten die Parteigänger der Familie Alis zu Imam Dschafars Lebzeiten die Sippe der Abbasiden, die danach trachtete und es schließlich nach einem Komplott vermochte, die Umayaden als Herrscherdynastie abzulösen. Die Abbasiden waren Nachkommen von Abbas (565–653), einem Onkel des Propheten Mohammed. Sie waren also Mitglieder der Sippe Haschim und nahe Verwandte der Prophetennachkommen. Das verschaffte ihnen Zuspruch. Die abbasidischen Kalifen kamen somit durch eine Bewegung an die Macht, die sich gegen die damals von vielen Muslimen als zu weltlich angesehenen Umayaden, die für sie zudem die alte mekkanische Aristokratie repräsentierten, richtete. Deshalb wird der Übergang von den Umayaden zu den Abbasiden von vielen Wissenschaftlern als konservative Revolution beziehungsweise abbasidische Revolution angesehen. Der Erfolg dieser abbasischen Revolution ist aber vor allem besagter heute als proto-schi-itisch geltenden Gruppierung anzurechnen, die der abbasidischen Sache viele Unterstützer brachte.

Ursprünglich sollen die Abbasiden es sogar ehrlich gemeint haben: Kufische Parteigänger sollen dem sechsten Imam das Kalifat angeboten haben. Doch der lehnte ab – wenn die Geschichte stimmt. Nachdem die Abbasiden die Macht gewonnen hatten, ließen sie die Schiiten, derer sie sich bedient hatten, allerdings schnell fallen. Weil sie ihnen als Ururenkel des Propheten gefährliche Rivalen schienen, setzten sie die Führer der schiitischen Gemeinde fest und hielten sie ab 795 gefangen.

Der Tod Dschafar al-Sadiqs stürzte die schiitische Gemeinde in eine Krise, denn der ausersehene Nachfolger, sein Sohn Ismail, war schon zehn Jahre vor seinem Vater gestorben. Auch Abdallah, der Erstgeborene, überlebte den Vater nur um wenige Monate. Ein halbes Dutzend Gruppen und Grüppchen schlossen sich verschiedenen Imamen an; es kam zur ersten Spaltung in der Schia. Von diesen Gruppen existieren heute nur die Ismailiten, die am Imamat des früh verstorbenen Ismail festhielten. Schließlich einigte sich die Mehrheit der Schiiten auf einen weiteren Sohn Dschafars, Musa.

Musa al-Kazim (gest. 799), der siebte Imam der Zwölfer-Schiiten, lebte als Hofgefangener der Abbasiden. Der schiitischen Überlieferung zufolge wurde er von Harun al-Raschid (gest. 809