Khomeini - Katajun Amirpur - E-Book

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Katajun Amirpur

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Beschreibung

Kein anderer Revolutionär hat die islamische Welt so sehr verändert wie Ruhollah Musawi Khomeini (1902 – 1989). Katajun Amirpur entdeckt in dieser ersten umfassenden Khomeini-Biographie in deutscher Sprache einen im Westen weitgehend unbekannten Gelehrten, Dichter und Mystiker und erklärt, wie es dem charismatischen Asketen gelang, den schiitischen Islam zu politisieren und den übermächtigen Westen in Angst und Schrecken zu versetzen.

Khomeini gibt bis heute Rätsel auf: Der modebewusste Ayatollah besang in eleganten Gedichten den Wein und die Liebe, verband Mystik mit klassischer Gelehrsamkeit und nahm im Pariser Exil Liberale und Linke für sich ein. War er wirklich so vielschichtig? War vieles Verstellung? Oder nahm er innerlich keinen Anteil? Auf die Frage eines Journalisten, was er nach fünfzehn Jahren im Exil bei der Rückkehr nach Iran empfinde, antwortete er schlicht: «Nichts!» Ähnlich emotionslos verheizte er die Jugend an der Front und ließ politische Gegner hinrichten. Katajun Amirpur erzählt anschaulich und im Kontext der iranischen Geschichte das Leben Khomeinis von der Kindheit in einer Provinzstadt bis zum Tod in Teheran. Sie beschreibt seine frühe Prägung durch den schiitischen Islam, stellt seine wichtigsten Lehrer, Weggefährten und Werke vor und erklärt, wie er eine traditionell unpolitische Glaubenswelt in wenigen Jahren umpolte. Noch über dreißig Jahre nach seinem Tod ist Khomeini in Iran übermächtig: Selbst Oppositionelle reklamieren sein wahres Erbe für sich, wie Katajun Amirpur am Ende ihres fesselnden Buches zeigt.

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Katajun Amirpur

KHOMEINI

Der Revolutionär des Islams

Eine Biographie

C.H.Beck

Zum Buch

Kein anderer Revolutionär hat die islamische Welt so sehr verändert wie Ruhollah Musavi Khomeini (1902–1989). Die bekannte Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur entdeckt in dieser ersten umfassenden Khomeini-Biographie in deutscher Sprache einen im Westen weitgehend unbekannten Gelehrten, Dichter und Mystiker und erklärt, wie es dem charismatischen Asketen gelang, den Islam zu politisieren und den übermächtigen Westen in Angst und Schrecken zu versetzen.

Khomeini gibt bis heute Rätsel auf: Der modebewusste Ayatollah besang in eleganten Gedichten den Wein und die Liebe, verband Mystik mit klassischer Gelehrsamkeit und nahm im Pariser Exil Liberale und Linke für sich ein. War er wirklich so vielschichtig? War vieles Verstellung? Oder nahm er innerlich keinen Anteil? Auf die Frage eines Journalisten, was er nach fünfzehn Jahren im Exil bei der Rückkehr nach Iran empfinde, antwortete er schlicht: «Nichts!» Ähnlich emotionslos verheizte er die Jugend an der Front und ließ politische Gegner hinrichten. Katajun Amirpur erzählt anschaulich und im Kontext der iranischen Geschichte das Leben Khomeinis von der Kindheit in einer Provinzstadt bis zum Tod in Teheran. Sie beschreibt seine frühe Prägung durch den schiitischen Islam, stellt seine wichtigsten Lehrer, Weggefährten und Werke vor und erklärt, wie er eine traditionell unpolitische Glaubenswelt in wenigen Jahren umpolte. Noch über dreißig Jahre nach seinem Tod ist Khomeini in Iran übermächtig: Selbst Oppositionelle reklamieren sein wahres Erbe für sich, wie Katajun Amirpur am Ende ihres fesselnden Buches zeigt.

Über die Autorin

Katajun Amirpur ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität zu Köln und schreibt regelmäßig für große Zeitungen und Zeitschriften. Zuletzt erschien von ihr bei C.H.Beck «Reformislam. Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte» (3. Aufl. 2018).

Inhalt

Einleitung

1: Kindheit und Jugend (1902–1918)

Neischabur – Kintur – Khomein: Die Familie

Idschtihad: Das Instrument zur Rechtsfindung

Der Vater: Gelehrter und Anwalt der kleinen Leute

Verfassung: Geheimnis von Macht und Fortschritt?

Unter den Fittichen starker Frauen

2: Im Bann des Schiismus: Erste Sozialisation (1918–1922)

Streit um die Nachfolge: Die Entstehung der Schia

Die Passionsspiele: Buße für die Tragödie von Kerbela

Pflichtfach schiitische Dogmatik

Vom Mudschtahid zum Groß-Ayatollah

3: Lehrjahre und Lehrtätigkeit in Qom (1922–1963)

Vorbild Haeri Yazdi

Ein Blick in die Vergangenheit

Die houze: Lehrstätten und Orte gelebter Frömmigkeit

Frühe Lehrtätigkeit und erster politischer Traktat

Quietistische Tradition gegen politische Einmischung

4: Konkurrierende schiitische Systeme

Machtprobe zwischen Herrscher und Geistlichkeit

Khomeinis Bruch mit Borudscherdi

Zurück zum Koran: Die Entwicklung eines modernen Islams

Vokabular iranischer Sozialkritik: Al-e Ahmads Gharbzadegi

5: Die Herrschaft des Rechtsgelehrten

Ist dem Rechtsgelehrten Gehorsam zu leisten?

Befürworter des Konstitutionalismus

Anpassung an die Moderne, aber ohne Demokratie

6: Khomeini und der Schah (1961–1964)

Das Nachfolgeproblem des Klerus und die Tricks des Schahs

Khomeini betritt die politische Bühne

Die Weiße Revolution und die Zuspitzung des Konflikts

Der Juni-Aufstand von 1963

7: Exil in der Türkei und im Irak (1964–1978)

Abschiebung in die Türkei

Irak: Aufenthalt mit Fingerspitzengefühl

Die Rückkehr zu den eigenen kulturellen Wurzeln

Ali Schariati: Imamitische Führung statt demokratischer Regierung

8: Khomeinis Vorlesungen über den islamischen Staat

Eine antiimperialistische Kampfschrift?

Der Koran als Richtschnur

Die «Herrschaft des Rechtsgelehrten»

Der geistige Antipode: Abolqasem Choi

9: Ein Herrscher ist angezählt (1971–1979)

Die 2500-Jahr-Feier der persischen Monarchie

Geldverschwendung, Korruption, Inflation: Die letzten Jahre des Schahs

Khomeini und die Volksmudschahedin

Verzweifelte Aktionen eines Despoten

In Wartestellung in Paris

10: Die neue Verfassung: Ein demokratischer Meilenstein?

Rückkehr nach Iran und Abkehr von der Demokratie

«Denn die Basis des Islams ist Gehorsam, nicht Freiheit»

Schariatmadari: Demokratie mit islamischer Ausrichtung

Der Umgang mit den religiösen Minderheiten

11: Die Ära Khomeini (1979–1989)

Der Kampf um die Macht und die Konsolidierung des Regimes

Vom Wunschnachfolger zur Persona non grata: Montazeri

Literarische Abrechnung

Ein Triumvirat entscheidet

12: Die «Herrschaft des Rechtsgelehrten» nach Khomeinis Tod

Ein Staatsbegräbnis außer Kontrolle

Absolute Führungsbefugnis hat nur Gott

Mesbah Yazdi: «Der faqih ist der Repräsentant des unfehlbaren Imams»

13: Khomeinis Frauenbild im Wandel

Männer in den öffentlichen, Frauen in den privaten Raum?

Die Ehe ist eine religiöse Pflicht

«Fatima ist Fatima»

Der Hidschab als Symbol des revolutionären Islams

14: Khomeini und der Westen: Philosophische Ablehnung und pragmatische Kooperation

Ökonomische Ausbeutung und kulturelle Invasion

«Wer immer uns mit Respekt behandelt, ist unser Freund»

15: Die andere Seite des Revolutionärs: Philosophie, Poesie und Mystik

Die mystische Einheit mit Gott

Khomeinis Bildersprache

Epilog: Khomeinis Enkel

Zeittafel

Glossar

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Einleitung

Die Welt schaute ungläubig zu, als der König aller Könige – wie Mohammad Reza Pahlavi sich selbst nannte – durch den Mullah aller Mullahs – wie Ayatollah Khomeini bald genannt werden sollte – vom Pfauenthron gestoßen wurde. Von den Vereinigten Staaten hochgerüstet, galt das Kaiserreich Iran in den 1960er und 1970er Jahren als das stabilste System der islamischen Welt. Noch kurz vor Ausbruch der Revolution von 1978, zu deren Führer das Volk – für die meisten Außenstehenden überraschend – den im Westen fast unbekannten Ayatollah Ruhollah Musavi Khomeini wählte, hatte US-Präsident Jimmy Carter den iranischen Schah als «Gendarmen am Golf» bezeichnet.

Die meisten Erwartungen, die in sie gesetzt wurden, hat die Revolution enttäuscht. Entsprechend zwiespältige Gefühle hegt die iranische Bevölkerung Khomeini gegenüber bis heute. Er blieb vielen ein Rätsel. Als er sein Vaterland nach fünfzehn Jahren Exil wiedersah, empfand er nichts – so beschrieb er es zumindest einem Reporter. Ähnlich emotionslos soll er auf den plötzlichen Tod seines ältesten Sohnes reagiert haben. «Wir sind alle vergänglich. Gott hat ihn uns gegeben und jetzt wieder genommen. Da gibt es überhaupt keinen Grund zum Weinen», soll er gesagt haben. «So, jetzt an die Arbeit, meine Herren!» (Nirumand 1989, 159)

Khomeini war auch der Mann, der es verstand, die Macht an sich zu reißen und alle anderen auszubooten. Doch nie nutzte er die Macht zu seinem persönlichen wirtschaftlichen Vorteil. Anders als viele, die durch die Revolution in bedeutende Positionen aufstiegen, führte er bis zu seinem Tod ein asketisches Leben. Und für sein zentrales politisches Bemühen, die Unabhängigkeit Irans, war er bereit, große Opfer zu bringen. Diese forderte er allerdings auch von allen anderen. Mit dem Blut der Jugend gedeiht der Baum des Islams, hatte er den Kindern zugerufen, die mit einem Schlüssel für das Paradies um den Hals über die irakischen Minenfelder geschickt wurden. Sie waren nicht die Einzigen, die einen sinnlosen Tod starben. Tausende wurden in den iranischen Gefängnissen hingerichtet, als Feinde des Islams, als Feinde Gottes, als Feinde Irans, als Feinde – wovon doch gleich? Viele verließen das Land oder gingen in die innere Emigration, fühlten sich und ihre Revolution verraten. Doch für die Millionen Iraner, die Ayatollah Khomeinis Tod am 3. Juni 1989 betrauerten, war er der Retter, der Erleuchtete, der Heilsbringer.

Über viele Aspekte seiner Persönlichkeit weiß man in der westlichen Öffentlichkeit nichts. Verglichen mit anderen, um deren politisches Erbe ähnliche Kontroversen entbrannt sind – wie etwa Lenin, Mao, Castro oder Che Guevara –, ist Khomeini wenig erforscht. Dies erstaunt umso mehr, als Iran ja ein Dauerthema der Medien ist. Doch Khomeini hat weder eine Biographie in Auftrag gegeben noch selbst eine verfasst, und auch aus seiner Umgebung ist wenig Intimes zu erfahren. So ist es schon viel an Persönlichem, wenn wir von seinem Vertrauten und langjährigen Mitstreiter Sadeq Tabatabai (1934–2015), der in Paris zur Entourage Khomeinis gehörte, in dessen Memoiren erfahren, dass Khomeini durchaus modebewusst war. Er achtete darauf, dass seine Socken zu seinem Kaftan passten, und hatte etwas übrig für gutes Eau de Toilette.

Neu dürfte vielen sein, dass er nicht nur Revolutionär und ganz klassischer Gelehrter war, was schon unvereinbar genug erscheint, sondern zudem in der islamischen Mystik bewandert und selbst ein Dichter mystischer Liebespoesie. Weder seine politischen Gegner noch Kritiker des klassischen Stils der persischen Dichtung sprechen ihm ab, dass seine Gedichte handwerklich sehr gut gemacht sind. Dass sie von Wein, Weib und Gesang erzählen, ist dabei nicht nur für den westlichen Leser verwirrend.

In dieser Biographie soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Khomeini eine überaus komplexe Figur war. Sie beschreibt daher zunächst in chronologischer Form das Leben von Irans Staatsgründer. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Einflüsse gelegt, die ihn prägten und seine spätere Weltsicht bestimmten. Hier sind immer wieder ausführlichere Erklärungen notwendig, um zu beschreiben, welche Umstände seinen Werdegang und seine Sozialisation ausmachten. Dazu gehört auch eine Einführung in spezifisch schiitische Zusammenhänge wie den Ausbildungsweg der Geistlichen, ihre Finanzierung oder die Geschichte der Schia, die für Khomeinis Entwicklungsprozess und sein Denken von Bedeutung sind. Besonderer Wert wird dabei auf die Ideen und Thesen Khomeinis gelegt, vor allem da, wo sie die heutige Islamische Republik immer noch bestimmen und prägen. Deshalb werden sowohl Genese als auch Inhalt und Fortentwicklung der Idee von der sogenannten Führungsbefugnis des Rechtsgelehrten, velayat-e faqih, der Grundlage für das iranische Regierungssystem, ausführlich beschrieben.

In zwei Kapiteln gehe ich auf Khomeinis Aussagen zur Frauenfrage und zum Westen ein, welche die Ideologie der Islamischen Republik bis heute maßgeblich prägen, ein Erbe, mit dem seine Nachfolger zu kämpfen haben. Das letzte Kapitel vermittelt anhand einiger Beispiele einen Eindruck von Khomeinis Dichtung, einem der interessantesten Aspekte seiner vielschichtigen Persönlichkeit.

Das Buch verwendet eine Transkription aus dem Persischen, die sich möglichst nahe an der Aussprache der Wörter orientiert, wie sie ein deutscher Muttersprachler wählen würde. So wird auch in Bezug auf arabische Wörter verfahren, die von persisch sprechenden Iranern verwendet werden. Alle arabischen Wörter, die der Duden kennt, werden in dieser eingedeutschten Schreibweise verwendet, also auch dekliniert. Arabische Namen werden, wenn es sich bei den Namensträgern um Araber handelt, arabisch transkribiert, persisch, wenn es sich um Iraner handelt. Deshalb wird der Prophetenenkel Husain geschrieben, iranische Namensträger hingegen Hosein. Im Deutschen eingeführte Namen werden jedoch so transkribiert, wie es üblich geworden ist. Das gilt auch für den Namen «Khomeini», den man eigentlich «Chomeini» transkribieren müsste, da der persische Anfangsbuchstabe wie «ch» gesprochen wird. Dasselbe gilt für den Namen Khamenei. Auf Konsistenz wird auch dann verzichtet, wenn Autoren selbst ihren Namen anders transkribieren, als es die Aussprache erfordern würde, so im Falle von Soroush.

Bei der Aussprache ist Folgendes zu beachten: Das oft in Namen auftauchende «z» ist ein stimmhaftes «s» (etwa in Montazeri oder Yazdi). Das «s» dagegen wird als stimmloses «s» gesprochen (etwa in Sadeq oder Soroush).

Persische Begriffe werden zumindest bei der ersten Nennung übersetzt, oft auch mehrfach. Ein Glossar am Ende des Buches erklärt im Überblick die wichtigsten Begriffe.

Die Koranübersetzungen stammen von Hartmut Bobzin (Der Koran, Verlag C.H.Beck, München 2010).

1

Kindheit und Jugend (1902–1918)

Neischabur – Kintur – Khomein: Die Familie

Am 24. September 1902 wurde Ruhollah Musavi in Khomein, einem kleinen Dorf in den weiten halbtrockenen Gebieten Zentralirans, 200 Kilometer nordwestlich von Isfahan, der Hauptstadt der Safawidenkönige, geboren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Ort zwar das Verwaltungszentrum von Kamareh, einem Distrikt in der Provinz Golpayegan, aber es lebten dort nur 2000 Menschen, ungefähr 800 Haushalte. Im Land der für ihre Gesetzlosigkeit bekannten Luren gelegen, war das Dorf, das zudem strategische Bedeutung hatte, ständig von marodierenden Stämmen bedroht. Denn durch Khomein wurden auf der Verkehrsroute zwischen den Häfen des Persischen Golfs und der Hauptstadt Teheran Güter aller Art auf Lastkarren, Eseln und Kamelen transportiert. Überdies war der Ort umgeben von ertragreichen Getreidefeldern, ergiebigen Obstplantagen und gutem Weideland, die leicht zu bewässern waren, weil das Schmelzwasser des nahen Zagros-Gebirges nach Khomein und in die Umgebung geleitet werden konnte. Nicht weit entfernt von Khomeinis Geburtsort befanden sich einige der besten Weinberge der Region, und im Dorf Lilian, das in der Nähe lag, produzierten dort lebende Juden einen feinen Arak. Erst 1920 gelang es dem späteren Reza Schah (1878–1944), damals noch Reza Chan und Oberkommandierender der persischen Kosakenbrigade, die Luren zu unterwerfen.

Das Haus, in dem Ruhollah Musavi geboren wurde, lag in einem großen Garten am östlichen Ende des Dorfes: ein geräumiges, zweistöckiges Gebäude, um drei Innenhöfe herum gebaut, so wie es üblich war für die Häuser der Wohlhabenden. Es verfügte über mehrere kühle Balkone und zwei Türme, von denen aus der Fluss oder die umgebenden Gärten und Häuser zu überblicken waren. In Khomeinis Kindheit war die große Anlage stets mit Leben erfüllt, denn seine verwitwete Mutter Hadschie Chanum hatte den andaruni, die ehemaligen Familien- und Frauenteile des Hauses, an den Stellvertreter des Provinzgouverneurs von Kamareh vermietet. Dieser nutzte den ersten Stock für seine Büros und den zweiten als Unterkunft für seine Wachleute. Hadschie Chanum lebte mit ihren fünf Kindern, ihrer Schwägerin, der Zweitfrau ihres Mannes und ihren Wachen und Bediensteten im Biruni, dem Teil, der normalerweise als Männertrakt gilt und Gästen vorbehalten ist.

Das Geburtshaus des späteren Revolutionsführers in Khomein im Jahre 2011. Heute ist es ein Museum.

Es gibt nicht viele Informationen über diese Zeit. Khomeini hat selbst nie in Interviews darüber gesprochen. Lediglich auf einer Homepage des Imam-Khomeini-Instituts für die Sammlung, Zusammenstellung und Veröffentlichung der Werke Khomeinis finden sich einige offizielle Angaben, die jedoch nicht sehr detailliert sind und wenig Persönliches enthalten. Einzelne Details wissen wir von seinem älteren Bruder Morteza, der ihm in jungen Jahren in gewisser Weise Vaterersatz war. So traf dieser wichtige Entscheidungen mit, beispielsweise als es um den Ausbildungsweg des späteren Ayatollah Khomeini ging. Auf der Homepage des Imam Khomeini Instituts wird Khomeini mit den Worten zitiert: «Hätte ich nicht einen Bruder wie Morteza gehabt, so hätte ich nicht studieren können.» (http://en.imam-khomeini.ir/en/n3122/Biography/The_childhood_period)

Die Brüder führten ihre Abstammungslinie auf den Propheten zurück, weshalb sie Sayyid bzw. im Persischen Seyyed genannt werden. Ihre Verwandtschaftslinie läuft über die Tochter des Propheten, Fatima, und über den siebten Imam der Schia, Musa al-Kazim, daher Musavi. Man nimmt an, dass die Vorfahren Khomeinis ursprünglich aus Neischabur kamen, einer Stadt in der Nähe von Maschhad im Nordosten Irans. Im frühen 18. Jahrhundert emigrierte die Familie nach Indien, wo sie sich in einer kleinen Stadt namens Kintur nahe Lucknow niederließ. Das dortige Königreich von Oudh wurde von Zwölferschiiten beherrscht. Khomeinis Großvater, Seyyed Ahmad Musavi Hindi, wurde noch in Kintur geboren. Er verließ Indien im Jahr 1830, um die Pilgerfahrt nach Nadschaf im heutigen Irak anzutreten. Vermutlich wollte er auch dort studieren. Er sollte nie wieder nach Indien zurückkehren, denn in Nadschaf freundete er sich mit einem Landbesitzer aus dem Dorf Farahan unweit von Khomein an, der ihn überzeugte, mit ihm nach Iran zu kommen. 1834 übersiedelten die beiden, und ungefähr fünf Jahre später erwarb Seyyed Ahmad ein großes Haus mit üppigem Garten in Khomein, das mehr als anderthalb Jahrhunderte lang im Familienbesitz bleiben sollte. Ob er Geld aus Indien mitgebracht hatte oder erst in Iran zu Wohlstand gelangt war, ist unklar, jedenfalls war er für damalige Verhältnisse ein reicher Mann. Der 4000 Quadratmeter große Besitz hatte Seyyed Ahmad die damals durchaus hohe Summe von 100 Toman gekostet.

Zu diesem Zeitpunkt war er bereits mit zwei Frauen verheiratet, 1841 nahm er noch eine dritte hinzu, Sakine, die Schwester seines Freundes aus Farahan. Aus seinen ersten beiden Ehen hatte Seyyed Ahmad nur ein Kind; Sakine gebar ihm drei Töchter und einen Sohn (Mostafa, geb. 1856). Der Wohlstand der Familie nahm in den folgenden Jahren noch zu. Seyyed Ahmad kaufte Land in den kleinen Dörfern der Region, und in Khomein selbst eine Obstplantage und eine Karawanserei.

Als er starb, war sein Sohn Mostafa dreizehn Jahre alt und hatte gerade das Studium der islamischen Wissenschaften aufgenommen. Zuerst lernte er einige Jahre in den Seminaren des nahe gelegenen Isfahan, später dann in Nadschaf und Samarra. Bei seiner Ankunft in Nadschaf 1891 wurde er von seiner ersten Frau Hadschar, genannt Hadschie Agha Chanum, begleitet, der Tochter von Mirza Ahmad Motschtahed-e Chonsari, einem hoch angesehenen Gelehrten aus Zentraliran. Für einen jungen Kleriker war es eine aufregende Zeit in der heiligen Stadt, da die Geistlichkeit zum ersten, aber nicht letzten Mal in der iranischen Geschichte einen Massenprotest organisierte.

Nur wenige Monate vor Mostafas Ankunft in Nadschaf hatte der Qadscharenkönig Naseroddin Schah (1831–1896) der British Imperial Tobacco Company für die lächerliche jährliche Summe von 15.000 Pfund das Monopol über die Tabakindustrie des Landes gewährt, eine Aktion, die Menschen verschiedenster Gesellschaftsschichten erzürnte: die Landbesitzer und Bauern, die den Tabak anbauten, die Kaufleute, die ihn exportierten, die Händler, die ihn auf dem Markt verkauften, sowie die große Zahl von Iranern und Iranerinnen, die ihn rauchten. Es gehörte zu ihrem Brauchtum, sich mit ihren Gästen eine Wasserpfeife zu gönnen.

Mirza Hasan Schirazi (1815–1896), einer der führenden iranischen Geistlichen in Nadschaf, reagierte auf die Wut, die sich in Iran Bahn brach, im Dezember 1891 mit einer Fatwa, einem Rechtsgutachten. Darin wurde allen Gläubigen der Tabakgenuss verboten und das Rauchen als eine Kampfansage an den Islam und den zwölften Imam bezeichnet. Tatsächlich hielten sich die Menschen in ganz Iran, sogar im königlichen Harem, an das Verbot, sodass sich der Schah gezwungen sah, den Verkauf rückgängig zu machen. Über die Hintergründe dieser Fatwa gibt es jedoch keine Gewissheit: War sie wirklich von Mirza Hasan Schirazi selbst erstellt worden? Oder stand dahinter nicht vielmehr Dschamal ad-Din al-Afghani (1838–1897), der große Pan-Islamist und Kämpfer gegen die Briten? Vielleicht aber war sie auch von den Händlern gefälscht worden. In jedem Fall gewann die Geistlichkeit dadurch immens an Prestige, bewies sie doch, welchen Einfluss sie auch auf die Politik hatte. Immerhin hatte die Fatwa den ersten politischen Massenprotest der iranischen Geschichte ausgelöst und gezeigt, was eine Koalition aus Klerus und Basar bewirken kann.

In Nadschaf studierte Mostafa, Ruhollahs Vater, bis 1894. In diesem Jahr erhielt der 39-Jährige als fertiger Rechtsgelehrter die Erlaubnis zum eigenständigen Erstellen einer Fatwa, die sogenannte Idschazat al-Idschtihad. Diese Qualifikation erlaubte es ihm, das religiöse Recht selbst zu interpretieren.

Idschtihad: Das Instrument zur Rechtsfindung

Idschtihad bedeutet die selbständige Meinungsbildung in Rechtsfragen und das daraus resultierende Erstellen von Rechtsgutachten, die für die Gläubigen bindend sind. Der Idschtihad begründet die große Macht, die die schiitischen Geistlichen über die normalen Gläubigen haben.

Allerdings darf der Rechtsgelehrte nur dann zum Mittel des Idschtihads greifen, wenn das göttliche Gesetz in einer bestimmten Frage keine eindeutige Vorschrift kennt. So erläutert Allama al-Hilli (1250–1325) in seinem bis heute grundlegenden Werk Die Ausgangspunkte, von denen man zur Wissenschaft von den Grundlagen [der Religion] gelangt: Nur wenn es diese eindeutige Vorschrift nicht gibt, soll der Rechtsgelehrte unter Einbeziehung der Dogmen des Korans den Idschtihad anwenden, um neu aufgetretene Probleme zu lösen. Diese Rechtsfindung muss auf dem Koran und den Traditionen des Propheten und der Imame, das heißt ihren mündlichen Äußerungen und Schriften, basieren. Dem eigenen verstandesmäßigen Beitrag kommt dabei eine große Bedeutung zu, wobei jedoch einkalkuliert wird, dass Menschen irren. Diese Fehlbarkeit zählt zu den wichtigsten Kennzeichen des Idschtihads: Die Rechtsgelehrten können im Gegensatz zu den vierzehn Unfehlbaren – dem Propheten, seiner Tochter und den zwölf Imamen – auch eine falsche Entscheidung treffen. Dann dürfen sie ihre Aussagen revidieren. Zudem verliert ein Rechtsgutachten (Fatwa) ganz automatisch seine Gültigkeit, wenn sein Verfasser stirbt. La qaula li l-mayyit, heißt es in der schiitischen Jurisprudenz: Tote haben nichts zu sagen. Eine Ausnahme wurde hier bekanntlich für den späteren Ayatollah Khomeini gemacht. Viele seiner Fatwas haben einen sakrosankten Charakter angenommen.

Mit der Etablierung des Idschtihads entstand in der Schia eine klerikale Klasse, die sich vom Rest der Gemeinde durch eben diese Befähigung zur Rechtsfortbildung unterschied. Dieser Unterscheidung zufolge gibt es auf der einen Seite religiöse Autoritäten, sogenannte Quellen der Nachahmung, und auf der anderen Seite religiöse Laien, die sich den Autoritäten unterwerfen und sie nachahmen müssen, taqlid zu üben haben. Jeder Schiit muss sich eine Quelle der Nachahmung, einen zum Idschtihad befähigten Rechtsgelehrten, der in der Hierarchie möglichst weit oben steht, suchen. Diesen kann der normale Gläubige, der Nachahmende, um Klärung einer den religiösen Bereich betreffenden Frage bitten; der Geistliche leitet ihn an und weist ihm den rechten, islamisch korrekten Weg, wobei er sich oft Schützenhilfe bei einer Quelle der Nachahmung holt, die in der klerikalen Hierarchie über ihm steht. Die religiösen Laien müssen den Anweisungen in kultischen und – je nach Sichtweise – auch in politischen Fragen Folge leisten. Die Nachahmenden dürfen die Quelle der Nachahmung aber notfalls auch wechseln, wenn ihnen beispielsweise eine Fatwa als unvereinbar mit ihrem Gewissen oder eine Vorgabe als undurchführbar erscheint. Als Laien sind sie selbst indes ausdrücklich vom Idschtihad ausgeschlossen und stattdessen auf das Urteil der Experten angewiesen.

Diese schiitische Eigenart erwies sich als ganz entscheidend für den Verlauf der Islamischen Revolution und die Entstehung der iranischen Theokratie. Deshalb ist allerdings auch das System, das Khomeini später begründet hat und das auf diesen Grundlagen fußt, nicht in die restliche islamische Welt exportierfähig.

Zudem wurde der Auffassung, dass nur Spezialisten den Willen Gottes begreifen können und aus diesem Grund allen anderen Gläubigen überlegen sind, in der Geschichte der schiitischen Theologie durchaus widersprochen. Die Gegenthese hatte Mohammad Amin Astarabadi (gest. 1624) aufgestellt und ausformuliert. Er kritisierte die Monopolstellung des Rechtsgelehrten und dessen Anspruch, dass seinen Rechtsgutachten gehorcht werden müsse. Stattdessen sollte – fast protestantisch – jeder Gläubige die Quellen selbst lesen und interpretieren, sich dabei aber streng an die Vorgaben und Aussagen des Korans und der Überlieferungen des Propheten halten. Zwar war diese Richtung damit einerseits basisdemokratischer orientiert, hinterfragte aber andererseits implizit die Fähigkeit des menschlichen Verstandes, da der Rechtsgelehrte ja durch Anwendung seines Verstandes zu neuen Rechtsurteilen gelangt. Da dem Verstand, der eigenständigen Meinungsbildung, so wenig Raum gegeben wird, ist diese Richtung weniger frei im Denken und weniger offen für Neues.

Mit dem Gelehrten Mohammad Baqer Vahid Behbahani (1705–1791) setzte sich im 18. Jahrhundert jedoch die Gegenseite, die Schule der sogenannten usuli, durch. Im Verlauf der Auseinandersetzung waren die Anhänger der usuli-Doktrin immer stärker zusammengerückt, mit der Folge, dass sie ein größeres Klassenbewusstsein ausbildeten. Nachdem sie schließlich gesiegt hatten, kam es im schiitischen Islam zur Entstehung eines dem der katholischen Kirche vergleichbaren Klerus und einer klerikalen Hierarchie. Für das System, das später unter Federführung Ayatollah Khomeinis in Iran entstehen sollte, war diese klerikale Hierarchie eine weitere Voraussetzung.

Der Vater: Gelehrter und Anwalt der kleinen Leute

1895 kehrte Seyyed Mostafa nach Khomein zurück. Seinem Studienabschluss gemäß gehörte er zu den höheren Rängen schiitischer Gelehrsamkeit. Doch er nahm weder die damit verbundenen Aufgaben wahr, noch kümmerten ihn die Privilegien. In seinen Memoiren schreibt Ruhollahs älterer Bruder Morteza, dass ihr Vater nach seiner Rückkehr in Khomein keiner religiösen Tätigkeit nachgegangen sei. Damit dürfte gemeint sein, dass er keine der spezifischen Funktionen ausübte, die der Klerus damals in der traditionellen iranischen Gesellschaft innehatte. Mullahs betreuten nicht nur die persönlichen religiösen Angelegenheiten der Menschen, sondern waren auch zuständig für gesellschaftliche und gesetzliche Fragen. Zudem waren sie besonders im Bildungswesen aktiv. Manche wurden Notare, Richter oder spezialisierten sich als Prediger. In einem kleinen Ort vereinigte jemand mit einer religiösen Ausbildung oft all diese Professionen in seiner Person. Seyyed Mostafas klerikaler Hintergrund, seine weitreichenden Beziehungen und seine starke Persönlichkeit machten aus ihm eine lokale Führungspersönlichkeit. Die Bauern und kleinen Händler soll er immer verteidigt und für ihre Nöte ein offenes Ohr gehabt haben. Viele Beschreibungen entspringen wohl postrevolutionärer Hagiographie, aber ein Körnchen Wahrheit dürfte sicherlich enthalten sein.

Zudem war Seyyed Mostafa Oberhaupt einer schnell wachsenden Familie: Sein erstes Kind, eine Tochter, war noch in Nadschaf geboren worden, kurz nachdem er und seine Frau dorthin übergesiedelt waren, fünf weitere Kinder folgten in Khomein. Der älteste Sohn, Morteza, kam 1896 zur Welt und wurde 101 Jahre alt, der zweite, Nureddin, wurde später Anwalt in Teheran, und der dritte Sohn war Ruhollah, der spätere Revolutionsführer.

In den ländlichen Gebieten Luristans lebte es sich im 19. Jahrhundert sehr unsicher. Ständig kam es zu Zwischenfällen mit den Stämmen, aber auch zu Auseinandersetzungen über die Ernte, die Landgrenzen oder die Steuern. In solchen Situationen brauchten die kleinen Leute den Schutz von Notabeln wie Seyyed Mostafa, der nach Angaben seines Sohnes Morteza bestens mit Waffen ausgerüstet war und über genügend Männer verfügte. Diese nutzte er nicht nur zum Schutz seines eigenen Landes, sondern auch, um anderen beizustehen. Seine Kampfbereitschaft sollte ihn das Leben kosten. Sechs Monate nach der Geburt seines dritten Sohnes wurde Mostafa erschossen. Er war 47 Jahre alt. Über diesen Vorfall kursieren seit der Revolution zahlreiche, sehr unterschiedliche Versionen. Allen zufolge jedoch nahm Mostafas Frau den Verlust ihres Mannes nicht einfach hin, sondern ging mit ihren drei Söhnen nach Teheran, um für Vergeltung zu streiten.

Im Übrigen war Hadschie Chanum keine arme Witwe. Seyyed Mostafa hinterließ ihr ein jährliches Einkommen von 100 bis 200 Toman, eine beachtliche Summe, brauchte es doch damals für den Unterhalt einer Person nur einen Toman im Monat. Einen Teil ihres Geldes setzte Hadschieh Chanum in ihrem Kampf für Gerechtigkeit ein. Nach zwei Jahren hatte sie Erfolg: Der Mörder ihres Mannes wurde hingerichtet. Daraufhin kehrte sie mit ihren Söhnen wieder nach Khomein zurück– nur wenige Monate vor dem für Iran größten Ereignis des frühen 20. Jahrhunderts, der Konstitutionellen Revolution.

Der spätere Revolutionsführer dürfte als Kind und in der Peripherie lebend nicht allzu viel von der etwa fünf Jahre dauernden Verfassungsrevolution (1905-circa 1911) mitbekommen haben. Allerdings wurden einige Personen, von denen er als junger Mann hörte und las, prägend und richtungsweisend für sein Denken und Agieren, allen voran Scheich Fazlollah Nuri (1843–1909), der erst Anhänger, dann Gegner der Verfassungsrevolution war. Für Khomeini wurde diese Verfassungsrevolution zum Paradebeispiel für die Unvereinbarkeit der säkularen und der religiösen Idee.

Verfassung: Geheimnis von Macht und Fortschritt?

Gemeinsames Ziel aller Mitglieder der konstitutionellen Bewegung, die sich zur ersten Revolution Irans im 20. Jahrhundert ausweitete, war eine Machtbeschränkung des absolutistischen Herrschers Mozaffaroddin Schah (1853–1907). Mithilfe einer Verfassung sollte dessen Allmacht begrenzt und er selbst kontrolliert werden. Zu diesem Zweck tat sich eine Koalition aus säkularen und religiösen Kräften zusammen. Das Problem bestand allerdings darin, dass die meisten Geistlichen, die sich an der Bewegung beteiligten, kaum Kenntnis hatten von Sinn und Inhalt einer Verfassung. Überdies fehlte ihnen jedes Wissen darüber, was eine Institution wie ein Parlament als gesetzgebende Versammlung an Veränderungen für das islamische Recht mit sich bringen würde, kaum einer war sich über die Implikationen im Klaren.

Ausgelöst worden war die Idee durch die militärische und technische Überlegenheit Europas. In Iran hatte angesichts dieser Dominanz schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Nachdenken über Reformen und die Übernahme europäischer Ideen und Begriffe von Staat und Verfassung eingesetzt, nahm man doch an, damit so fortschrittlich wie Europa werden zu können. Fath Ali Achundzade (1812–1878) zum Beispiel, der vermutlich erste erfolgreiche Dramatiker der islamischen Welt, propagierte diese Idee in seinen Komödien aus den Jahren 1850 bis 1855.

Auch Mirza Malkom Chan (1833–1908) hatte zum Ziel, mit seinen Büchern der iranischen Bevölkerung die Verfassungsidee nahezubringen. Ein Beispiel ist der in Dialogform gehaltene Essay Der Freund und der Wesir aus dem Jahre 1859. In dessen Zentrum steht eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Protagonisten. Der eine tritt für Recht und Gesetz ein, der andere, der Wesir, repräsentiert das herrschende System, das von Korruption geprägt ist. Malkom Chan lebte im Londoner Exil und gab von dort ab 1890 die Zeitschrift qanun, Gesetz, heraus, die 15 Jahre lang eines der populärsten persischsprachigen Anti-Establishment-Organe war und in iranischen Intellektuellenzirkeln eine starke Verbreitung genoss.

Einen weiteren Auslöser für die Konstitutionelle Revolution bildete die Tatsache, dass sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Russen anschickten, Iran vollkommen unter ihre Kontrolle zu bringen. Dazu war in diesem Fall nicht einmal ein Krieg oder ein Einmarsch notwendig gewesen. Mozaffaroddin Schah, der unter anderem wegen seiner teuren Reisen nach Europa ständig in Geldnot war, wollte signifikant hohe Summen Geldes von Russland leihen. Ohnehin war Iran bereits im Frieden von Turkmantschai im Jahre 1828, nach dem verlorenen russisch-iranischen Krieg, auferlegt worden, Russland die volle Gerichtsbarkeit über in Iran lebende russische Bürger zuzugestehen. Hier hatte das berüchtigte System der sogenannten Kapitulationen seinen Anfang genommen, das später zur Tabakrevolte führen sollte, und Mozaffaroddin Schah führte die Konzessionspolitik seines Vaters fort.

Des Weiteren befeuerte der Sieg Japans über die Großmacht Russland die revolutionäre Stimmung des Jahres 1905, galt Japan doch bislang als rückständig. Auch dies wurde der Verfassung zugeschrieben: Die einzige asiatische konstitutionelle Macht überwand die einzige wirkliche europäische Macht, die keine Verfassung hatte. In einer solchen entdeckte man das Geheimnis von Macht und Fortschritt, und folglich wurde die Verfassung als Wunderwaffe und Allheilmittel gesehen. Hinzu kam der Erfolg der russischen Revolution von 1905, der die Bewegung der iranischen Konstitutionalisten obendrein beflügelte.

Kaufleute, Geistliche, religiöse Dissidenten, Sozialisten und viele Angehörige religiöser Minderheiten fanden sich daraufhin als die wesentlichen Protagonisten der konstitutionellen Bewegung Irans zusammen. Bei dieser Zusammensetzung verwundert es kaum, dass die unterschiedlichsten Zielsetzungen aufeinandertrafen. Dennoch vermochte die Bewegung, im Protest zunächst geschlossen aufzutreten. Die Ayatollahs Abdollah Behbahani (gest. 1910) und Mohammad Tabatabai (1841–1918), zwei der wichtigsten Teheraner Rechtsgelehrten, führten die Bewegung an. Im Verlauf der Auseinandersetzungen flüchteten etliche Konstitutionalisten in einen in der Nähe Teherans gelegenen Schrein, um das traditionelle Zufluchts- und Asylrecht, bast, zu nutzen. Dort waren sie sicher, da Schreine von den Regierungstruppen nicht betreten werden durften. Die Revolutionäre forderten von hier aus ein nicht näher definiertes adalatchane, ein Haus der Gerechtigkeit, das sie als Ort der politischen Mitsprache des Volkes bezeichneten. Nach 25 Tagen andauernden Protests lenkte der Schah mit dem Versprechen ein, eine Verfassung ausarbeiten zu lassen. Als dies jedoch nicht geschah, kam es im Juli 1906 erneut zu Protesten. Weil in Teheran das Geschäftsleben durch die Demonstrationen der Konstitutionalisten vollständig zum Erliegen kam, zeigte sich Mozaffaroddin Schah schließlich abermals zum Einlenken bereit.

Erst zu diesem späten Zeitpunkt begann unter den Anhängern der Bewegung eine Diskussion über den Inhalt der Verfassung, für die sie gemeinsam gestritten hatten. Nun zeigte sich ihre Uneinigkeit: Die Liberalen wollten – in Anlehnung an die Bourgeoisie, die in Europa für die Demokratie gekämpft hatte – ein System, in dem das Volk der Souverän war. Sie stellten sich vor, dass auf der Grundlage von Mehrheitsbeschlüssen Politik gemacht und Gesetze erlassen würden. Dies sollte mittels Repräsentanten geschehen, die einer effektiven öffentlichen Kontrolle unterlägen, indem regelmäßig nach dem Prinzip der politischen Gleichheit und unter der Bedingung politischer Freiheit Wahlen organisiert würden.

Das allerdings wollten die Geistlichen nicht. Für sie waren das islamische Recht, die Scharia, und die maschrute, das verfassungsmäßige System, das durch die konstitutionelle Bewegung installiert werden sollte, ein und dasselbe. Deshalb setzten sie als vollkommen selbstverständlich voraus, dass das islamische Recht gelten würde, wenn in Iran eine verfassungsgemäß gewählte Regierung an die Macht käme. Dieses Missverständnis hing nicht unwesentlich mit den Begrifflichkeiten zusammen. So hatten die säkular orientierten Revolutionäre vollkommen andere Ansichten über Bedeutung und Inhalt der Begriffe, die im Diskurs über die Verfassung verwendet wurden, als ihre Mitstreiter aus dem Klerus.

Mit dem persischen Begriff maschrute wird sowohl die konstitutionelle Bewegung als auch der Konstitutionalismus bezeichnet. Übernommen wurde dieses Wort von den Osmanen Namık Kemal (1840–1888) und Ahmet Shefik Midhat Pascha (1822–1884). Namık Kemal hatte eine doulat-e maschrute gefordert und damit eine konstitutionelle Regierung gemeint bzw. die Herrschaft des Gesetzes. Doulat-e maschrute war für ihn die Übersetzung des französischen bzw. englischen constitution bzw. constitutional. Der Erste, der den Begriff doulat-e maschrute im Jahr 1868 in Iran benutzte, war der Reformer Mirza Hosein Sepahsalar (1827–1881), ehemaliger Botschafter in Istanbul und wichtigster Minister Naseroddin Schahs. Auch Sepahsalar meinte damit die Herrschaft des Gesetzes. Letztlich handelte es sich aber einfach um eine falsche Übersetzung: Denn sowohl im Persischen als auch im Osmanisch-Türkischen hat maschrut die Bedeutung conditional (bedingt), nicht constitutional (gesetzmäßig), es handelt sich um eine Ableitung des arabischen Wortes schart, Bedingung. Besorgte Stimmen hatten sogar noch vor der Wahl des Wortes maschrute gewarnt, weil es vom Klerus falsch aufgefasst werden könnte. Genau dies geschah: Die Geistlichen verstanden unter maschrute Begrenzung, und zwar die Begrenzung des Herrschers durch die Scharia, und versteiften sich auf die ursprüngliche arabische Bedeutung. An der Bewegung teilgenommen hatten sie also nur, weil sie eine «konditionierte», das heißt eine mit Bedingungen oder Grenzen versehene Monarchie statt des herrschenden Absolutismus wollten, aber keine demokratische Ordnung, wie sie von den Sozialisten und dem Bürgertum angestrebt wurde.

Die Verfassung, auf die sich schließlich dennoch eine Mehrheit der Konstitutionalisten einigte, war eine Synthese aus westlichen und islamischen Grundsätzen. Der Führung des zwölften Imams wurde ebenso Rechnung getragen wie der Autorität des Monarchen. Das Neue an dieser Verfassung aber war die Idee einer Regierung, die durchaus über Macht- und Kontrollkompetenzen verfügte. Bisher war postuliert worden, dass der Herrscher unfehlbar sei, was unweigerlich zu Despotismus führen musste. Zwar war der Schah in der Theorie dem göttlichen Recht unterworfen, aber es hatte in der Praxis keine Institution gegeben, die ihn kontrollieren konnte. Die neue Verfassung unterzeichnete Mozaffaroddin Schah Ende des Jahres 1906, kurz vor seinem Tod.

Nicht nur in Iran lebende Geistliche unterstützten die konstitutionelle Revolution, sondern auch die drei führenden schiitischen Kleriker im Irak, die Iraner Mirza Hosein Tehrani (gest. 1908), Mohammad Kazem Chorasani (1839–1911) und Abdollah Mazandarani (1840–1912). Sie halfen den Konstitutionalisten im Nachbarland, indem sie Schriften verfassten und Fatwas herausgaben. In der islamwissenschaftlichen Forschung ist man sich bis heute nicht einig über ihre Beweggründe und ihre Ziele. Allerdings ist ziemlich klar, dass es nicht ihre Vorliebe für das europäische Modell einer konstitutionellen Regierung war, die sie für die Bewegung einnahm. Vermutlich war ihr Eintreten für den Konstitutionalismus lediglich der Tatsache geschuldet, dass das herrschende Regime – Mozaffaroddin und später ebenso Mohammad Ali Schah (1872–1925) – auf Tyrannei und Ungerechtigkeit gründete und sich damit als areligiös zeigte. Aus diesem Grund war es ihrer Auffassung nach sogar vom Islam geboten, sich dem König zu widersetzen.

Die Geistlichen wandten sich also nicht gegen die herrschende Dynastie, weil sie diese als undemokratisch erachteten, sondern weil sie sie für unislamisch hielten. Sie unterstützten die konstitutionelle Bewegung, weil sie hofften, damit Tyrannei und Ungerechtigkeit verhindern zu können, was ihnen ihr Glaube gebot. Deshalb forderten sie auch ein Haus der Gerechtigkeit, adalatchane – ein Begriff und eine Institution ohne Vorläufer –, das aus den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammengesetzt sein sollte, einschließlich denen, die bisher nicht repräsentiert waren. Die Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit ist hier in der Tat der Schlüsselbegriff, denn neben dem Glauben an die Einheit Gottes, dem Prophetentum, dem Imamat und der Auferstehung zählt der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes zu den fünf elementaren schiitischen usul ad-din, den Grundlagen der Religion. Auch im Diskurs des späteren Ayatollah Khomeini sollte diese Betonung der Gerechtigkeit und die Kritik an der Ungerechtigkeit immer wieder eine entscheidende Rolle spielen.

Der Teheraner Ayatollah Tabatabai gehörte ebenfalls zu den Unterstützern des Konstitutionalismus, zeigte sich der herrschende Absolutismus seiner Ansicht nach doch als ungerecht und somit unislamisch. Tabatabai wandte sich daher ab vom Konzept des Königs als Schatten Gottes auf Erden, das so lange die schiitische Staatstheorie bestimmt hatte, und forderte dagegen ausdrücklich eine Art säkularer Monarchie. Darin habe der König zwar durchaus noch eine autoritative Rolle, aber vor allem eine dienende Funktion gegenüber dem Volk. Dieses Verständnis von einem König als dem Diener des Volkes war für die schiitische Staatstheorie vollkommen neu, aber eine Sichtweise, die dann auch für Khomeini mehr und mehr in den Vordergrund trat.

Die wichtigste Rolle in dieser Revolution spielte für ihn allerdings Scheich Fazlollah Nuri. Zwar hatte auch dieser Geistliche ursprünglich für die Verfassung gekämpft, sie später jedoch abgelehnt wegen ihrer Forderung nach Gleichheit, und zwar Gleichheit von Männern und Frauen sowie von Muslimen und Nicht-Muslimen. Außerdem, so Nuri, könne nur Gott Gesetze machen, nicht jedoch der Mensch. Hier handelt es sich um die zentralen Argumente gegen ein westliches Verfassungssystem, wie sie auch vom späteren Ayatollah Khomeini formuliert werden sollten.

Das Verfassungsexperiment scheiterte indes nicht nur an den inneriranischen Querelen zwischen säkularen Kräften und Geistlichkeit. Russland und Großbritannien beendeten 1907 in einem Geheimabkommen das Great Game und grenzten ihre Einflussbereiche in Iran und Afghanistan ab. Nun herrschten die Russen über Nord-Iran, die Briten über den Südosten des Landes. Hinzu kam eine neutrale Zone in der Mitte, in der die Hauptstadt Teheran lag. Mohammad Ali Schah (1872–1925), der es für einen großen Fehler seines Vaters hielt, die Verfassung unterzeichnet zu haben, nahm 1908 die Lage zum Anlass, das Parlament aufzulösen.

Das Verfassungsprojekt war damit erst einmal beendet. In der Bevölkerung machte sich allerdings mehr und mehr Unzufriedenheit breit, da sich die in die Revolution gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hatten. Nicht nur die wirtschaftliche Lage war schlechter als zuvor, auch die Sicherheitslage hatte sich verschärft. Während die iranische Armee die Kontrolle über die Provinzen vollends verloren hatte, gelang es russischen Truppen schließlich 1909, mit dem aserbaidschanischen Täbris das Zentrum der Revolution einzunehmen, das sich noch lange dem russischen Ansturm widersetzt hatte. Dies hatte zur Folge, dass die vertriebenen Revolutionäre nun von Nordwesten aus auf Teheran zumarschierten, um sich dort mit den Führern der Bachtiaren-Stammeskonföderation zu treffen, die mit mehreren Tausend Kriegern von Süden gegen Teheran vorrückten. Gemeinsam eroberte die Opposition gegen den Schah die Hauptstadt und setzte ihn ab. Mohammad Ali Schah, der ins Exil ging, folgte sein minderjähriger Sohn Ahmad (1898–1930) auf den Thron. In ihrem Erfolgsrausch richteten die Revolutionäre den reaktionären Fazlollah Nuri wegen seiner aktiven Unterstützung des Schahs am 31. Juli 1909 hin – Staatsgründer Khomeini ließ einen der größten Highways Teherans nach ihm benennen.

Unter den Fittichen starker Frauen

Sofortige Auswirkungen auf die Situation der Menschen in Khomein hatten die Konstitutionelle Revolution und ihr Scheitern nicht. Dazu war der Ort zu weit weg vom aktuellen Geschehen. Allerdings war Ruhollah als Kind Zeuge der gesetzlosen Atmosphäre jener Jahre und der Ungerechtigkeiten, die der Bevölkerung von den Wohlhabenden über Regierungsangestellte angetan wurden. Diese Erfahrungen waren prägend für seinen späteren Diskurs über die Entrechteten, die mostazafan. Er erzählt:

Ich selber sah eines Tages, wie die Leute der Regierung einen Händler ärgerten, der für seine Rechtschaffenheit bekannt war. Ich war damals ein kleines Kind und stand in einer Ecke und sah zu. Ich sah, wie sie den Mann schlugen und drangsalierten. Sie schlugen ihn mit einem Hammer. Ich weiß nicht, was als Nächstes passierte. Es herrschte große Korruption damals. Wenn zum Beispiel jemand den Gouverneur von Isfahan bestach, konnte er machen, was er wollte, niemand konnte sich wehren. Proteste brachten nichts. (Khomeini 1999d, 185)

Der junge Ruhollah wurde nach dem Tod des Vaters in einer etwas trostlosen Atmosphäre von seiner Mutter sowie von seiner Amme Nane Chavar und seiner Tante Sahebe großgezogen. Diese Tante war, nachdem ihr Bruder gestorben war, in dessen Haus zurückgekehrt, um ihrer Schwägerin mit den Kindern zu helfen. Wie sich dies auf ihr Verhältnis zu ihrem Ehemann, einem reichen Landbesitzer und Kaufmann, auswirkte, ist nirgendwo festgehalten. Aber Sahebe scheint kaum die Frau gewesen zu sein, die sich durch ihn davon hätte abhalten lassen. Sie übte in der Familie einen großen Einfluss aus, und Geschichten über ihren Mut und ihre Stärke gibt es im Überfluss. So berichtet Ahmad Khomeini, der Sohn des späteren iranischen Staatsgründers, dass seine Großtante Sahebe einst die Aufgaben eines Scharia-Richters in Khomein übernommen hatte, als es in einer Übergangszeit keinen Richter in der Stadt gab. Wenn die Geschichte stimmt, ist sie mehr als ungewöhnlich, denn nach traditionellem islamischem Recht können Frauen nicht Richter werden. Ahmad erzählt auch, dass sich Sahebe zwei rivalisierenden Gruppen im Streit entgegenstellte und sie aufforderte, mit dem Schießen aufzuhören. Man gehorchte ihr, weil sie über genügend Charisma und Macht verfügte. Ruhollah Khomeini scheint also von zwei Frauen großgezogen worden zu sein, die in der Lage waren, für ihr Recht zu kämpfen, sich nicht kleinkriegen ließen und sich der ihnen von den Traditionalisten auferlegten Rolle widersetzten.

Die Berichte Ahmad Khomeinis und die Memoiren von Ruhollahs Bruder Morteza Pasandide sind die wenigen uns zur Verfügung stehenden Quellen über Kindheit und Jugend des Revolutionsführers. Im Falle Ahmads handelt es sich natürlich nicht um selbst Erlebtes, sondern um Geschichten, die in der Familie tradiert wurden. So soll Ruhollah als Kind sehr energiegeladen gewesen sein, oft den ganzen Tag draußen in den Gassen gespielt haben und abends mit schmutzigen und halb zerrissenen Kleidern nach Hause gekommen sein. Er war wohl körperlich stark und wurde mit zunehmendem Alter ein wirklicher Champion, auch im iranischen Nationalsport Ringen. Vermutlich hatte der spätere Revolutionsführer also eine ganz normale Jugend. Allerdings, so berichtet sein Bruder Morteza in einem Interview, sei Ruhollah schon als Kind besonders fromm, ernst und zielstrebig gewesen.

Wie die meisten anderen Kinder in Khomein und überall in Iran zu jener Zeit wurde Ruhollah mit sieben Jahren in die örtliche maktab geschickt, die unter der Leitung eines Mullahs namens Abdolqasem stand. Maktab bedeutet auf Arabisch wörtlich Ort des Schreibens, aber eigentlich war es ein Ort des Lesens und Auswendiglernens. Meistens lehrten dort – wie im Falle Abdolqasems – ein alter Mullah oder eine Frau, Unterrichtsstoff bildeten das Alphabet, der Koran und religiöse Geschichten. Jedes Kind brachte sein Essen und ein Stück Stoff oder Tierhaut zum Sitzen mit. Im Chor wiederholten die Kinder, was der Lehrer ihnen vortrug. Die Regeln in der maktab waren sehr streng, die Strafen für eine falsche Aussprache oder Betonung eines Koranverses hart. Das Leiden der Heranwachsenden, die ihnen ausgesetzt waren, ist legendär. So lautet ein Reim aus jener Zeit: «Am Mittwoch denke ich, am Donnerstag genieße ich, am Freitag spiele ich. Oh, unglücklicher Samstag, meine Beine bluten von den Schlägen mit dem Kirschstock.»

In der maktab lernte Ruhollah zunächst einige Kapitel des Korans auswendig, ebenso einige Sätze und Wörter auf Arabisch über den Propheten und die Imame. Zuhause wurde die Unterweisung im Glauben fortgesetzt. Dem vaterlosen Kind brachten Bruder, Mutter und Tante die Prinzipien und Regeln des Islams bei. Kinder lernen diese Prinzipien auswendig, ohne zu wissen, was sie bedeuten; der Rhythmus der persischen Sprache macht es ihnen leicht, sie wie Kinderverse zu lernen: erstens, die Einheit Gottes; zweitens, das Prophetentum; drittens, Gerechtigkeit; viertens, das Imamat; fünftens, die Wiederauferstehung am Jüngsten Tag. So wurden Ruhollah die ersten Grundlagen des islamischen Glaubens nahegebracht.

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Im Bann des Schiismus: Erste Sozialisation (1918–1922)

Streit um die Nachfolge: Die Entstehung der Schia

Die vielen religiösen Feiertage, die den schiitischen Kalender bestimmen, trugen zur Sozialisation des jungen Ruhollah in der Kultur des Schiismus bei. Bevor es Kino und Fernsehen gab, stellten diese in einem Ort wie Khomein die wichtigste Form des Entertainments dar, und die Menschen sahen ihnen mit großer Freude entgegen. Die meisten dieser Feiertage finden zu Ehren der Geburtstage der Imame oder zum Gedenken an ihr Martyrium statt. Den Höhepunkt dieser Feierlichkeiten bildet für Jung und Alt der Monat Muharram, wenn auch Kinder an den bunten Prozessionen, den Passionsspielen und der Rezitation der Klagelieder und den Eulogien der Imame teilnehmen. Der Muharram ist der erste Monat des islamischen Mondkalenders, aber für die Schiiten ist er zudem der Monat, in dem für das Leiden des dritten Imams Husein (625–680), der am 10. Oktober 680 in Kerbela getötet wurde, und die unterlassene Hilfeleistung seitens der Muslime Buße getan wird. In der gesamten schiitischen Welt werden die Ereignisse jenes Tages mit großer Intensität erinnert. Der spätere Ayatollah Khomeini wird sie wirksam in seiner Rhetorik und seinem Kampf gegen den Schah einsetzen.

Die Tragödie von Kerbela bildet den Höhepunkt eines lange schwelenden Konflikts über die Nachfolge des Propheten und die Natur der politischen und religiösen Führung im Islam. Sie trennt Schiiten und Sunniten bis heute. Die Schiiten glauben, dass der Prophet Mohammed kurz bevor er starb seinen Cousin und Schwiegersohn Ali ibn Abi Talib (601–661) zum Nachfolger bestimmte. Neben zahlreichen Hinweisen im Koran, auf die sie sich stützen, weisen sie vor allem darauf hin, dass Mohammed auf göttliche Anweisung hin Ali zu seinem Nachfolger bestimmt habe. Schiitischer Überzeugung zufolge soll Mohammed im Anschluss an seine Abschiedswallfahrt, als sie an der Wasserstelle von Chum eine Rast einlegten, gesagt haben: «Der, dessen Herr ich bin, der hat auch Ali zum Herrn.» Ali war somit nach schiitischer Auffassung Gottes eigene Wahl. Da die Sunniten diese Worte jedoch nicht als Designation verstanden, wurde nicht Ali, sondern vielmehr Abu Bakr, der langjährige Gefährte und Schwiegervater des Propheten, zu Mohammeds direktem Nachfolger, das heißt zum Kalifen, auserkoren, und zwar von einer Versammlung, die zur Wahl zusammengekommen war, als Ali und Fatima bint Mohammed (606–632), Alis Frau und das einzige noch lebende Kind des Propheten, mit der Organisation der Beerdigung beschäftigt waren. Ali leistete Abu Bakr den Treueid auch erst deutlich verspätet, nach dem Tod seiner Frau Fatima, die mit Abu Bakr im Streit um das Landgut Fadak gelegen hatte. Bei dem Landgut handelte es sich um ihr einziges Erbe, das Abu Bakr ihr nehmen wollte.

Abu Bakr starb 634, nur zwei Jahre nach dem Propheten. Sein Nachfolger wurde Umar (584–644), der wie Abu Bakr ein langjähriger Mitstreiter des Propheten war. Schiiten werfen Abu Bakr vor, Umar eigenmächtig ernannt zu haben. Außerdem sei dieser für den Tod Fatimas und ihres noch ungeborenen Kindes verantwortlich gewesen, habe er doch im Streit eine Tür eingetreten, hinter der die Schwangere stand. Da Ali eine Spaltung der Gemeinde befürchtete, erkannte er Umar nolens volens als zweiten Kalifen an. Diese Befürchtung wird auch als Argument für die Anerkennung Abu Bakrs angeführt, denn natürlich musste die schiitische Hagiographie einen Grund dafür angeben, warum Ali, wenn er überzeugt war, der rechtmäßige, von Gott auserwählte Nachfolger des Propheten zu sein, Abu Bakr und Umar überhaupt anerkannte und sich nicht spätestens dem Kalifat Umars widersetzte.

Umar wiederum berief einen Rat von sechs Männern ein, darunter auch Ali, die nach seinem Tod seinen Nachfolger bestimmen sollten. Als Ali, der sich um die Nachfolge beworben hatte, gefragt wurde, ob er bereit sei, gemäß den Geboten Gottes, dem Vorbild des Propheten und dem Vorbild der ersten beiden Kalifen zu regieren, verneinte er Letzteres, woraufhin ihm die Kandidatur entzogen und Uthman zum dritten Kalifen ernannt wurde.

Dieser hatte das Amt zwar am längsten inne, war aber äußerst unbeliebt, weil man ihn der Korruption und der Vetternwirtschaft verdächtigte. Nachdem Uthman (geb. 577) 656 umgebracht worden war, wurde Ali, der inzwischen eine beachtliche Gefolgschaft gewonnen hatte, zum vierten Kalifen erklärt. Ali hatte allerdings keine militärischen Meriten erworben und kaum Anhänger unter den Truppen. An den Eroberungskriegen, die in den ersten beiden Jahren nach dem Tod des Propheten begonnen und schnell eine beträchtliche territoriale Erweiterung der islamischen Herrschaft bewirkt hatten, hatte er nämlich nicht teilgenommen, sondern sich stattdessen dem Studium der religiösen Wissenschaften gewidmet. Anders als die meisten anderen Mitglieder der mekkanischen Aristokratie lebte Ali zudem ein sehr asketisches Leben.

Obschon längst nicht ohne Hausmacht, sah sich Ali vielen Problemen gegenüber: Die Armeeoberen und die Provinzgouverneure waren nämlich von seinem Vorgänger Uthman ernannt worden, und der mächtigste von ihnen, Muawiya (603–680), weigerte sich, Ali als Kalifen anzuerkennen. Unterstützt wurde Muawiya von der Prophetenwitwe Aischa (613–678), der Tochter Abu Bakrs. In der Gegend von Basra trafen ihre Truppen auf diejenigen des Prophetenschwiegersohns. Ali gewann zwar die Schlacht, aber mit seinen Versuchen, die islamische Gemeinde auf den rechten islamischen Weg zurückzuführen, von dem man in seinen Augen unter seinem Vorgänger abgewichen war, machte er sich viele Feinde. Zwei Jahre später stießen Muawiya und Ali mit ihren Truppen bei Siffin, in der Nähe des heutigen Raqqa, am Ufer des Euphrat aufeinander. Alis Streitkräfte waren schon dem Sieg nahe, als Muawiyas Generäle ihren Soldaten befahlen, Koranexemplare auf ihre Speere zu spießen – als Signal, dass nur Gott den Konflikt entscheiden könne. Es folgte ein Schiedsgericht, das zu Alis Ungunsten ausfiel. Was genau die Vereinbarung beinhaltete, kann aufgrund von widersprüchlichen Überlieferungen nicht mehr rekonstruiert werden. Muawiya jedenfalls legte das Schiedsgericht zu seinen Gunsten aus und ließ sich im Sommer 660 in Jerusalem als Kalif huldigen. Damit war die Spaltung der Gemeinde besiegelt, die sich schon im Kampf Aischas gegen Ali, der sogenannten ersten fitna (meist als Bürgerkrieg übersetzt), angedeutet hatte.

Das Schiedsgericht von Siffin hat für die Schiiten eine besondere Bedeutung. So erklärte Ayatollah Khomeini während der Revolution, er habe die Lehre daraus gezogen, dass man sich mit dem politischen Gegner nie auf Verhandlungen und eine Schiedsinstanz einlassen sollte. Als Minderheit sei man zwangsläufig unterlegen, egal wie sehr man auch im Recht sei. Traumatisch für die Gläubigen aber war, dass Ali wenig später in Kufa, wohin er seine Hauptstadt verlegt hatte, von einem Rebellen, der ihm vorwarf, mit dem Schiedsgericht von Siffin die islamische Sache verraten zu haben, ermordet wurde. Alis Grab in Nadschaf nahe der Stadt Kufa entwickelte sich ab dem 8. Jahrhundert zu einem Wallfahrtsort für die Gläubigen. Zudem entstand hier später das geistige Zentrum der Schiiten. Bis heute ist in Nadschaf die wichtigste höhere theologisch-juristische Ausbildungsstätte der Schiiten angesiedelt. Fast alle namhaften Gelehrten der modernen Schia haben hier studiert oder gewirkt. Auch Ayatollah Khomeini kam 1965 hierher.

Nachdem die Schiat Ali, die Anhänger oder Parteigänger Alis, mit seinem Tod die Macht verloren hatten, wurde Muawiya zum unangefochtenen Kalifen und Begründer der Dynastie der Umayaden, die von 661 bis 750 die Macht innehaben sollte. Muawiya verlegte die Hauptstadt des islamischen Reiches nach Damaskus. Alis Söhne mit der Prophetentochter Fatima, Hasan (624–678) und Husain zogen sich daraufhin nach Medina zurück, an den Ort, wohin ihr Großvater Mohammed 622 ausgewandert war und bis zu seinem Tod gelebt hatte. Die beiden einzigen Enkel des Propheten, die nach ihrem Vater als der zweite und dritte Imam der Schia gelten, führten zu Muawiyas Lebzeiten ein zurückgezogenes Leben. Hasan, der ältere, gab alle Ansprüche auf die Leitung der islamischen Gemeinde zugunsten des amtierenden Kalifen Muawiya auf und schloss einen Friedensvertrag mit ihm. In der schiitischen Erinnerung geblieben ist Hasan als gelehrter Mann und Erzeuger vieler Kinder. Die meisten Nachkommen des Propheten führen ihre Verwandtschaft über die Hasan-Linie zurück.

Bis Muawiya 680 starb, hielt sich der jüngere Sohn Husain ebenfalls an das Stillhalteabkommen. Muawiya hatte zuvor seinen Sohn Yazid (644–683) zum Nachfolger erklärt und damit entgegen der Vereinbarung im Friedensvertrag mit Hasan die Erbmonarchie eingeführt. Daraufhin versagte Husain ihm den Gehorsam, den Yazid explizit eingefordert hatte. Um Muawiyas Sohn zu stellen, zog Husain mit einer kleinen Schar von Anhängern nach Kufa. Dort wähnte er sich der Unterstützung der Bevölkerung sicher, hatten ihn die Einwohner der Stadt doch in Briefen aufgefordert, zu kommen, um mit ihnen gemeinsam gegen den Tyrannen zu kämpfen. Kufa war schon lange fest in der Hand der Anhänger Alis und seiner Söhne: Hier war Husains Bruder Hasan nach der Ermordung seines Vaters zum Kalifen ausgerufen worden. Die Bewohner der Stadt verachteten Muawiya als Tyrannen und Verräter an der Botschaft des Propheten. Dabei lässt sich ihre Gegnerschaft zum Kalifen nicht allein auf eine religiöse Meinungsverschiedenheit zurückführen. Speziell die Umayyaden gerierten sich als eine arabische Dynastie mit starken monarchistischen Tendenzen. Ihre Kritiker warfen ihnen daher vor, den ganzheitlichen Anspruch des Islams als einer Religion, die sich an alle richtet und gegen Blutsbande und die Aristokratie angetreten war, verraten zu haben. Deshalb fühlten sich insbesondere nicht-arabische Muslime, die dort vermehrt ansässig waren, eher durch die Schia als Verkörperung des universalistischen Ideals des Islams angesprochen.

Voller Hoffnung auf einen überwältigenden Sieg verließ Husain daher – nur von seiner Familie und einer kleinen Schar Anhänger begleitet – im September Medina und machte sich auf den Weg nach Mesopotamien. Achtzig Kilometer von Kufa entfernt, in Kerbela, wollte er seine Unterstützer treffen und von dort aus mit ihnen zusammen in den Kampf gegen den Usurpator Yazid ziehen. Doch anstatt auf die vermeintlichen Verbündeten trafen Husain und seine Leute in Kerbela auf das mehrere Tausend Mann starke Heer Yazids und wurden umzingelt. Neben Imam Husain starben bei den Kampfhandlungen fast alle männlichen Mitglieder seiner Familie und Anhängerschaft. Der Todestag von Husain am zehnten Tag des Monats Muharram, daher der Name aschura, ist daher der zentrale Tag des schiitischen religiösen Kalenders.

Die Passionsspiele: Buße für die Tragödie von Kerbela