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»Das ist ein Werk auf Leben und Tod! ...« Schon als kleiner Junge interessiert sich Hauke Haien nur für das Meer. Stundenlang steht der kluge, etwas eigenbrötlerische Sohn eines nordfriesischen Kleinbauern auf dem Deich und beobachtet fasziniert, wie sich die Wellen daran brechen. Schon früh erkennt er, dass die Deiche einer schlimmen Sturmflut nicht standhalten würden. So wächst in ihm der Wunsch, später einmal bessere Deiche zu bauen. Dank der großen Liebe zur Deichgrafen-Tochter Elke gelingt ihm tatsächlich der Aufstieg vom einfachen Bauernsohn zum Deichgrafen und er kann seine Vision verwirklichen. Doch in seinem Ehrgeiz unterschätzt er die Macht des Aberglaubens, dem die einfache Dorfbevölkerung verfallen ist. Sie glaubt sogar, dass in seinem unheimlichen Schimmel, mit dem er unzertrennbar verbunden ist, der Teufel stecke. Mehr und mehr verschwört sich die Gemeinde gegen Hauke, und als eine Jahrhundert-Sturmflut Nordfriesland erschüttert, geht es um Leben und Tod ... Packend und gleichzeitig kindgerecht erzählt Barbara Kindermann die wohl bekannteste Novelle Theodor Storms nach, deren sphärischem Sog sich keiner entziehen kann. Sabine Wilharms mystische Bilder lassen die Ereignisse um den gespenstischen Schimmelreiter lebendig werden.
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Seitenzahl: 37
Veröffentlichungsjahr: 2025
WELTLITERATUR FÜR KINDER
nach Theodor Storm
Neu erzählt von Barbara Kindermann
Mit Bildern von Sabine Wilharm
Cover
Titel
Der Schimmelreiter
Anmerkungen
Impressum
Es war im frühen 19. Jahrhundert, als ein Reisender des Nachts bei tosendem Sturm auf einem nordfriesischen Deich entlangritt. Zur Linken war nichts als das nasse, öde Land, zur Rechten peitschte der Wind unaufhörlich dunkelgraue Wellen den Deich hinauf. Es war bitterkalt und die klammen Hände des Mannes konnten kaum die Zügel halten.
Plötzlich bemerkte er, dass ihm auf dem Deich etwas entgegenkam. Er hörte nichts, aber immer deutlicher glaubte er im fahlen Mondlicht eine dunkle Gestalt auf einem hageren Schimmel zu erkennen. Ein schwarzer Mantel flatterte um ihre Schultern und im Vorbeireiten starrten ihn zwei brennende Augen aus einem bleichen Gesicht an. Wer war das? Und wieder fiel ihm auf, dass er keinen Hufschlag, kein Schnauben des Pferdes vernommen hatte, obwohl Ross und Reiter dicht an ihm vorbei galoppiert waren. Gedankenvoll ritt er weiter, doch schon näherte sich der unheimliche Reiter von hinten und flog erneut lautlos an ihm vorbei. Der Reisende sah ihn immer ferner und plötzlich glaubte er, seinen Schatten an der Seeseite des Deiches hinuntergleiten zu sehen bis ins dunkle Meer. Wo war er hin? Starr vor Angst lenkte der Reisende sein Pferd zu der Stelle, wo die Spukgestalt verschwunden war, doch unten am Deich schlugen nur schwarze Wellen, sonst nichts. Als er den Blick jedoch hob, entdeckte er voller Freude in der Ferne ein großes Haus mit erleuchteten Fenstern. Erleichtert er-kannte er, dass es ein Wirtshaus war. Schnell ritt er hin, band sein Pferd an und trat ein. Die anwesenden Männer begrüßten ihn freundlich und forderten ihn sogleich auf, sich zu ihnen zu gesellen.
Als er mit ihnen ins Gespräch gekommen war, erzählte er von seiner seltsamen Begegnung auf dem Deich und spürte, wie alle um ihn herum verstummten. »Der Schimmelreiter!«, rief einer und ein Schrecken ging durch die Runde. »Das bedeutet Unglück am Deich!«
Doch ein großer stattlicher Mann, den alle »Deichgraf« nannten, war aufgestanden und sagte mit ruhiger Stimme: »Ihr braucht keine Angst zu haben, sein Erscheinen gilt nicht uns, für uns besteht keine Gefahr. Wir haben mit dem Hauke-Haien-Deich einen sicheren Damm, der uns bisher noch vor jeder Sturmflut bewahrt hat. Wenn es wirklich der Schimmelreiter war, galt seine Warnung denen drüben. Ihr alter Deich ist schon beim letzten Hochwasser gebrochen«.
Der Gast schauderte. »Verzeiht«, fragte er neugierig, »aber was hat es denn auf sich mit dem Schimmelreiter?«
Nun winkte der Deichgraf einen kleinen, alten Mann herbei und sagte: »Von uns allen hier kann unser Schulmeister Euch am besten vom Schimmelreiter erzählen.«
Der alte Mann nickte freundlich und setzte sich zu ihnen. »Nun freilich, ich kenne die Geschichte, aber es steckt viel Aberglaube und Gespensterspuk mit drin.«
Alle lauschten gespannt, als der Schulmeister mit einem geheimnisvollen Lächeln zu erzählen begann.
Vor über hundert Jahren lebte hier der Bauer Tede Haien mit seinem Sohn Hauke. Er besaß ein paar Hektar Land, wo er Raps und Bohnen anbaute. Im Herbst ging er sein Land vermessen und im Winter, wenn der Wind an den Läden rüttelte, saß er in seiner Stube und rechnete die Zahlen nach, die er ausgemessen hatte. Hauke saß meist bei ihm und sah zu. Einmal fragte er: »Vater, was schreibst du da für Zahlen auf?«
Dieser zuckte mit den Schultern. »Ich kann sie dir nicht erklären. Aber wenn du mehr wissen willst, so lies dieses Buch, ein berühmter Mathematiker hat es geschrieben, das wird dir vielleicht helfen.«
Ab da war der Junge nur noch in das Buch vertieft. Er nahm es auch mit auf den Deich, wo er oft stundenlang stand und zusah, wie die Wellen immer höher daran hinaufschlugen. Erst bei Dunkelheit lief er meist halb durchnässt nach Hause. Als er so eines Abends in die Stube eintrat, fuhr sein Vater auf: »Was treibst du draußen! Du hättest ertrinken können! Die Flut ist mächtig heute am Deich!«
Hauke antwortete nicht, doch plötzlich sagte er: »Vater, unsere Deiche sind nichts wert. Die Wasserseite ist zu steil. Wenn eine Sturmflut kommt, wie früher schon so oft, werden sie nicht halten. Die Deiche müssen anders gebaut werden!«
»Was sagst du da?«, fragte der Alte erstaunt und stieß ein spöttisches Lachen aus. »Du bist wohl ein Wunderkind. Nun, wenn du es eines Tages schaffst, Deichgraf zu werden, dann mach sie anders!«
»Ja, Vater«, erwiderte der Junge ernst, und der Vater wusste nicht, was er noch antworten sollte.