Der Schlunz und die barfüßigen Riesen - Harry Voß - E-Book

Der Schlunz und die barfüßigen Riesen E-Book

Harry Voß

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Beschreibung

"Für den Schlunz beginnt der Ernst des Lebens! Der Junge ohne Gedächtnis, den Lukas und seine Familie vor einigen Wochen im Wald gefunden haben, muss in die Schule gehen. Zuerst freuen sich Lukas und Schlunz. Aber schon bald begegnen sie Knut und Brutus, zwei älteren Jungen, die ihnen das Leben schwer machen. Während sie versuchen, sich die brutalen Jungen vom Hals zu halten, heckt der Schlunz wieder lauter verrückte Ideen aus: Wie kann man mit einem Kopfkissen im Kinderzimmer eine Schneeballschlacht machen? Was haben 20 aufgestellte Mausefallen vor der Haustür zu suchen? Wie weit kann man mit einer selbstgebastelten Steinschleuder schießen? Und woher kennen sich Adelheid aus dem Kindergottesdienst und Frau Preisel, die Lehrerin? Gleichzeitig sucht der Schlunz weiterhin nach Hinweisen aus seiner Vergangenheit. Was hat der geheimnisvolle silberne Audi damit zu tun, der immer wieder auftaucht?"

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Harry Voß

Der SchlunzBand 2

Der Schlunzunddie barfüßigen Riesen

Zum Autor vom „Schlunz“:

Harry Voß wurde 1969 in Dillenburg geboren (auf der Landkarte zwischen Gießen und Siegen) und ist in dem schönen hessischen Dorf Eibelshausen aufgewachsen. Als Kind ist er dort zum Kindergottesdienst und zur Jungschar gegangen und hat durch die Bibellese-Zeitschrift „Guter Start“ das Bibellesen kennengelernt. Das hat ihm so gut gefallen, dass er als Jugendlicher selbst in Jungschar und Kindergottesdienst mitgearbeitet hat. Weil er die Arbeit mit den Kindern so klasse fand, besonders Kinderbibelwochen und Jungscharfreizeiten, wollte er das auch beruflich machen. Sein Traumberuf: Kindermissionar. Darum hat er in Darmstadt Religionspädagogik studiert. Und jetzt ist sein Traum wahr geworden: Harry ist Kindermissionar beim Bibellesebund. Er führt in Gemeinden Kinderbibelwochen durch, fährt mit Kindern auf Freizeiten und hat 10 Jahre lang sogar die Kinder-Bibellese-Zeitschrift „Guter Start“ als verantwortlicher Redakteur geleitet.

2007 hatte er das Vergnügen, sein erstes Buch schreiben zu dürfen: „Der Schlunz“. Das war eine klasse Sache, aber jetzt spuken ihm schon wieder neue Ideen im Kopf herum. Harry spielt für sein Leben gern Theater, mag Peter Pan und Mary Poppins und möchte am liebsten für immer ein kleiner Junge bleiben.

Mit seiner Frau Iris und seinen Kindern Elisa und Josia lebt er in Gummersbach, geht dort zur evangelischen Kirchengemeinde und arbeitet ehrenamtlich in der CVJM-Jungschar mit.

Impressum

© 2007 Bibellesebund Verlag, Marienheide und

SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

6. Auflage 2011

© 2019 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

https://shop.bibellesebund.de/

 

Autor: Harry Voß.

Coverillustration: Daniel Fernández Adasme

Covergestaltung: Julia Plentz

ISBN 978-3-95568-303-0

 

Hinweise des Verlags

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des Textes kommen.

Noch mehr eBooks des Bibellesebundes finden Sie auf

https://ebooks.bibellesebund.de

Inhalt

Titel

Impressum

1

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5

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1

Als Lukas aufwachte, war der Schlunz nirgendwo zu sehen. Sein Bett war leer. Was hatte denn das nun wieder zu bedeuten? Heute war doch der erste Schultag vom Schlunz. Er würde doch nicht abgehauen sein?

Nein. War er nicht. Von unten hörte er ihn schon rufen: »Lukas! Komm endlich! Wir müssen los!«

Lukas schaute auf seinen Wecker: zehn nach sieben. Es reichte völlig, wenn sie um zwanzig vor acht das Haus verließen. Um acht begann die Schule und länger als eine Viertelstunde brauchten sie nie für den Schulweg. Was um aller Welt wollte der Schlunz jetzt schon so früh unten im Flur?

»Lukas«, kam es noch lauter von unten. »Komm!«

Lukas schlug die Bettdecke zurück, verließ sein Zimmer und schaute vom oberen Treppenabsatz nach unten in den Flur. Da stand der Schlunz, geschniegelt und gebügelt mit der neuen Jeansjacke, die Mama ihm letzte Woche extra für den Schulanfang gekauft hatte. Seine langen, dunklen Haare waren so ordentlich gekämmt, dass sich Lukas einen Augenblick lang fragte, ob er sich die Haare mit Gel an den Kopf geklebt hatte. Trotzdem fiel ihm wie immer die eine oder andere Strähne ins Gesicht und verdeckte sein linkes Auge zur Hälfte. Auf dem Rücken trug er den Schulranzen, den er sich hart erkämpft hatte: mit grün-braun geflecktem Muster.

»Da bist du ja endlich!«, rief Schlunz. »Los, zieh dich an. Wir kommen zu spät.«

Nele war längst fertig mit essen, als Lukas einige Minuten später angezogen am Frühstückstisch saß, und Schlunz war ja sowieso schon seit einer halben Stunde bereit loszugehen.

»Ich bin ja so aufgeregt«, rief Nele andauernd und wedelte dabei mit ihren Fäusten herum. Dass sie vom Marmeladenbrot immer noch einen Bart von einem Ohr bis zum anderen hatte, war ihr gar nicht aufgefallen.

»Und ich soll wirklich nicht mitkommen?«, fragte Mama.

»Mama, Schlunz kommt nicht in den Kindergarten, sondern in die vierte Klasse«, sagte Lukas und verdrehte die Augen. Wie sollte das denn aussehen, wenn Lukas mit seiner Mama zusammen auf dem Schulhof auftauchen würde! Es war schon schlimm genug gewesen, als sie letzte Woche mit Schlunz beim Schulleiter gewesen war, um ihn anzumelden. Da hatte sie in der großen Pause über den ganzen Schulhof »Lukas!« gerufen und ihm zugewinkt. Lukas wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Der Schulleiter hatte übrigens gesagt, im Unterricht sollte der Schlunz einen bürgerlichen Namen bekommen. »Schlunz« könnte ja wohl unmöglich in den Unterlagen verzeichnet werden. Mama hatte daraufhin irgendeinen Allerweltsnamen vorgeschlagen wie Benjamin Schmidtsteiner oder so. Aber Schlunz hatte auch da seine festen Vorstellungen gehabt. Reiner Schlunz wollte er heißen. Zuerst wollte Mama ihm das energisch ausreden. Kein Kind hieß heute Reiner, meinte sie. Aber Schlunz blieb dabei. »Ich bin doch durch und durch ein reiner Schlunz«, beharrte er, »also kann ich ja wohl auch so heißen.« Und wenn die Kinder ihn ganz frech beim Nachnamen anredeten, wie das in Lukas’ Klasse bei einigen der Fall war, dann würde sich letztlich gar nichts ändern.

Um halb acht verließen sie das Haus im Lerchenweg 6: Lukas Schmidtsteiner, seine Schwester Nele, die immer noch aufgeregt hüpfte und mit den Händen wedelte, und der Schlunz, der ab heute Reiner Schlunz heißen sollte. Zumindest in der Schule.

Sie hatten gerade durch das Gartentor den Gehweg betreten, als der Schlunz plötzlich wie vom Donner gerührt stehen blieb und in Richtung Kreuzung starrte.

»Was ist?«, fragte Nele, die das als Erstes bemerkte.

»Da vorne«, sagte Schlunz, ohne sich dabei zu bewegen.

»Wo denn?«, fragte Nele und schaute in die Richtung, in die Schlunz starrte. »Was denn?«

»Das Auto da! Das kenne ich!«

»Was?«, rief Lukas aufgeregt. Sollte da etwa die echte Familie von Schlunz auf ihn warten? Die Familie, die er nun schon seit vielen Wochen suchte und von der es bisher noch immer kein Lebenszeichen gab? Lukas sah in die gleiche Richtung wie Nele und Schlunz. »Welches Auto denn?«

»Das silberne da! Der Audi!«

In einiger Entfernung parkte am rechten Straßenrand ein silberfarbener Audi TT Roadster, ein offener Cabrio-Sportwagen. »Sind das deine Eltern?«, fragte Lukas.

»Ich weiß nicht«, sagte Schlunz. Und wie ein Schlafwandler taumelte er darauf zu. In diesem Augenblick heulte der Motor des Fahrzeugs auf, mit quietschenden Reifen schoss es aus der Parklücke, bog an der Kreuzung um die Ecke und war verschwunden.

»Wer war das?«, fragte Lukas, packte Schlunz an beiden Schultern und schüttelte ihn. Schlunz’ Blick wurde wieder klar. Jetzt war er wieder ganz da. Und seine Erinnerungen weg. »Wer war das?«, wiederholte Lukas seine Frage.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht!«, sagte Schlunz laut. »Aber irgendetwas sagt mir, dass ich es auch gar nicht wissen will. Irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl, als ich das Auto gesehen habe.«

»Waren es deine Eltern?«

»Ich hab gesagt, ich weiß es nicht. Ich hab ja nicht gesehen, wer drinnen sitzt.«

»Woher kanntest du dann das Auto?«

»Das weiß ich eben auch nicht.«

»Denk doch nach.«

»Ich kann nicht«, schimpfte Schlunz. »Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht! Wann willst du das endlich kapieren?«

Lukas ließ die Arme hängen. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich sag ja schon gar nichts mehr.«

»Ist schon okay«, sagte Schlunz nun wieder versöhnlicher. »Komm, lass uns gehen. Wir wollen doch die Schule nicht verpassen.«

Seit nun schon sechs Wochen wohnte der Schlunz bei den Schmidtsteiners. Sie hatten ihn Mitte April völlig verängstigt und verstört im Wald gefunden. Er konnte sich an nichts erinnern, weder an seinen Namen, noch an seine Familie. Er wusste noch nicht einmal mehr, wie er in den Wald gekommen war. Schlunz – das war das Einzige, an das er sich erinnern konnte. So war er wohl zu Hause genannt worden. Mehr hatte auch der Kinderpsychologe nicht aus ihm herausbekommen. Und eine Familie, die diesen Jungen als vermisst gemeldet hatte, war auch noch nicht aufgetaucht. Aber die Polizei und die Leute vom Jugendamt suchten fleißig weiter nach Spuren. Denn so viel war klar: Schlunz gehörte in seine richtige Familie. Und bei den Schmidtsteiners durfte er nur wohnen, weil Frau Rosenbaum, die Leiterin vom Jugendamt, eine ganz große Ausnahme gemacht hatte. Normalerweise hätte Schlunz so lange in einem Kinderheim bleiben müssen, bis seine Eltern auftauchten.

Meistens war der Schlunz lustig und fröhlich. Manchmal sogar zu fröhlich, fand Lukas. Aber dann wieder – ganz plötzlich – tauchte er mit seinen Gedanken in eine ganz andere Welt ab. Dann bekam er ganz glasige Augen und schien in ein fernes Land zu starren, das jedem anderen verborgen blieb. Reden konnte er darüber nie. Oder wollte er es nicht? Manchmal hatte Lukas den Verdacht, Schlunz verriet absichtlich nichts über sein Leben, weil er sich dafür schämte. Aber dann wieder, wenn Schlunz nachts im Schlaf weinte oder am hellen Tag in tiefe Traurigkeit verfiel, war ihm klar, dass der Schlunz sich wirklich nicht erinnerte.

Zwei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite kamen gerade Tom und Meike aus der Haustür. Sie wohnten in dem Haus mit der Nummer 3. Tom war so alt wie Lukas und ging mit ihm in die gleiche Klasse. Er hatte auch ein ferngesteuertes Auto. Wenn Lukas nachmittags seinen Ferrari rausbrachte, ließen sie oft gemeinsam ihre Autos über die Straße flitzen. Zum Glück war im Lerchenweg nicht so viel Verkehr, sonst wäre das natürlich nicht gegangen.

Meike war Neles beste Freundin. Meike war genau wie Nele acht Jahre alt. Wenn Nele nicht gerade zu Hause war und mit Lukas spielte, war sie garantiert bei Meike. Oft schrien sie sich beim Spielen an, als flögen die Fetzen, aber wenn man dann schnell hinlief und den Streit schlichten wollte, waren beide ganz überrascht und meinten, sie hätten gar nicht gestritten.

»Meike, heute hat Schlunz seinen ersten Schultag«, rief Nele sofort, als Tom und Meike die Straße überquerten und auf sie zukamen.

»Weiß ich doch«, sagte Meike laut und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

Zu fünft gingen sie den Lerchenweg entlang und bogen am Straßenende nach rechts ab. An der Ecke lehnte Hendrik aus dem Haus Nummer 7. Er rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Hendrik war erst 15, aber er sah aus wie 18. Lukas und Nele waren immer froh, wenn sie ihm nicht begegnen mussten. Jedes Mal, wenn sie ihn sahen, schaute er sie scharf und geheimnisvoll an. So war es auch heute Morgen. Die eine Hand tief in seiner Hosentasche vergraben, die andere Hand mit der Zigarette immer in der Nähe seines Mundes, schaute er finster zu ihnen herüber. Die Kinder verstummten, als sie in seiner Nähe waren. Nur Schlunz sagte laut: »Hallo!«, als er an ihm vorüberging. Hendrik antwortete nicht, aber seine Augen hefteten sich an Schlunz’ Gesicht, sein Kopf bewegte sich langsam mit den vorübergehenden Kindern.

»Der ist aber komisch drauf«, meinte Schlunz, als sie einige Meter entfernt waren.

»Achte gar nicht auf ihn«, beschwor ihn Lukas leise, aber sehr eindringlich, »der kann total gefährlich werden.«

»Der hat schon oft Sachen gemacht, für die man eigentlich ins Gefängnis kommt«, sagte Tom mit leiser Stimme, »aber weil er bis letztes Jahr noch nicht 14 war, konnte er noch nicht eingesperrt werden. Seit er über 14 ist, lässt er sich aber einfach nicht erwischen.«

»Was hat er denn schon alles verbrochen?«, fragte Schlunz.

»Autoknacken, Tankstelleneinbruch«, zählte Lukas sofort auf.

»Ist oft betrunken«, ergänzte Nele, »und hängt immer mit diesen Jugendlichen oben im alten Fabrikgelände rum.«

»Manche sagen, er würde sogar mit Drogen handeln.« Lukas flüsterte immer noch, obwohl sie schon weit genug weg waren.

»Echt?«, fragte Schlunz erstaunt, aber er machte dabei ein Gesicht, als fände er das spannend und ein tolles Abenteuer. »Woher wisst ihr das alles?«

»Das spricht sich rum«, sagte Nele und zog dabei die Augenbrauen hoch.

»Oh«, machte Schlunz. Dann sah er nachdenklich vor sich und schwieg. Für die nächsten Minuten sagte keiner was. Ob Schlunz an etwas aus seiner Vergangenheit denken musste? Aber keiner traute sich nachzufragen.

2

»So, Kinder, dann seid mal wieder schön leise«, versuchte Frau Nimeier die Kinder zu beruhigen. Sie saßen in ihrem üblichen Stuhlkreis, den sie jeden Montagmorgen vor dem Unterricht vor der Tafel bildeten. Kai war immer noch damit beschäftigt, seinen Schulranzen unter seinem Tisch zu verstauen und dabei so laut zu reden, dass auch wirklich alle dabei zuschauen mussten. Elli stopfte noch in aller Umständlichkeit ihre Trinkflasche in den Ranzen und wischte dabei mit dem Ärmel die Sauerei vom Tisch, die sie beim Trinken gemacht hatte. Elmar war noch im Flur bei den Jacken. Durch die offene Klassenzimmertür konnte Lukas ihn beobachten. Elmar hatte es geschafft, seine Jacke so umständlich auszuziehen und an den Haken zu hängen, dass sein linker Hosenträger irgendwie mit an den Haken geraten war. Jetzt plagte er sich schon seit über fünf Minuten mit dem Versuch, seinen Hosenträger vom Kleiderhaken zu befreien, ohne dabei die Jacke noch mal abhängen zu müssen. Alle anderen saßen bereits im Stuhlkreis und unterhielten sich lautstark über alles Mögliche, das nicht zum Unterricht gehörte.

»Pscht, pscht«, machte Frau Nimeier und legte ihren Zeigefinger auf ihren Mund. Das klang immer, als würde sie das Geräusch einer Sprühflasche nachmachen. »Pscht, pscht«, ging es noch mal. Dann legte sie ihr Lehrerinnen-Grinsen auf, setzte sich so gerade hin, wie es die Stühle der Grundschule einem Erwachsenen möglich machen, und rollte die Schultern nach hinten. In der Hand hielt sie ihren »Schönstein«, wie sie ihn nannte. Ein glatt geschliffenes Ei aus Stein, das grünlich schimmerte. Gleich würde sie den Stein einem der Kinder geben, das dann erzählen sollte, wie es ihm ginge und was es am Wochenende gemacht hätte. Dann würde der Stein von Kind zu Kind weitergegeben werden und jeder musste versuchen, aus seinem langweiligen Wochenende irgendwas Aufregendes zu erzählen. Lukas hasste diese Runden. Aber Frau Nimeier schien das in ihrer Lehrerinnen-Ausbildung so gelernt zu haben, denn die Schönstein-Runde gab es jede Woche.

»Ich möchte euch heute unseren neuen Schüler vorstellen, den Reiner«, sagte sie und behielt das grünliche Ei in der Hand. Sie legte noch einmal ihren Finger vor den gespitzten Mund, anscheinend in der Hoffnung, dadurch die letzten zur Ruhe zu bewegen. Aber so ganz leise wurde es nicht. Kai kramte immer noch an seinem Schulranzen herum und redete dabei mit sich selbst, Elli quetschte sich gerade geräuschvoll zwischen zwei Mädchen in den Stuhlkreis, ohne einen eigenen Stuhl dazuzuholen, und Elmar war inzwischen mit seinem linken Arm komplett aus dem Hosenträger gerutscht, aber die Jacke hing immer noch am Haken und der Hosenträger darunter.

»Reiner, möchtest du dich denn selbst mal vorstellen?«, fragte Frau Nimeier, ohne auf Kai, Elli und Elmar zu achten.

Schlunz grinste übers ganze Gesicht und Lukas sah ihm an, dass er sich wirklich auf die Schule gefreut hatte. Falls er jemals in seinem bisherigen Leben eine Schule besucht haben sollte, musste seine Erinnerung daran wirklich vollends verschüttet worden sein, dachte Lukas, sonst würde er sich nicht derartig auf die Schule freuen.

»Also ich bin der Schlunz und ich wohne beim Lukas Schmidtsteiner.«

Frau Nimeier legte ihren Kopf schief, lächelte aber weiterhin. »Moment, in meinen Unterlagen steht, du heißt Reiner.«

»Ja«, freute sich Schlunz immer noch, »Reiner Schlunz. Aber mein Rufname ist Schlunz.«

Frau Nimeier legte ihren Kopf nun in die andere Richtung schief. »In unserer Klasse finden wir es viel schöner, wenn wir uns beim Vornamen anreden.«

»Das ist gut«, sagte Schlunz, »dann rede ich alle anderen natürlich mit Vornamen an. Aber ich bin der Schlunz.«

»Na gut, Reiner«, meinte Frau Nimeier, aber ihr Lächeln wirkte jetzt künstlicher. »Möchtest du uns denn noch etwas von dir erzählen? Aus der Zeitung haben wir ja schon einiges über dich erfahren.«

»Tja, wo ich geboren und aufgewachsen bin, weiß ich ja nicht mehr. Besser gesagt: noch nicht. Aber da, wo ich jetzt wohne, geht es mir sehr gut. Lukas ist ein prima Freund.«

Lukas merkte, wie es ihm warm ums Herz wurde, leider aber auch warm im Gesicht, bestimmt war er knallrot geworden.

»Ich habe ein Bett in Lukas’ Zimmer«, fuhr Schlunz fort, »und ich darf zu den Eltern von Lukas auch Mama und Papa sagen. Lukas hat viele Verwandte in ganz Deutschland, sogar einen Opa in der Nähe von Hamburg, den haben wir vorletzten Sonntag kennengelernt. Das war klasse, nicht wahr, Lukas?«

Schlunz grinste immer noch breit. Offensichtlich freute er sich riesig, dass er Frau Nimeier und den Kindern von Lukas und seiner Familie erzählen konnte. Die Kinder in der Klasse starrten ihn mit offenen Mündern an. Einige kicherten.

»Habt ihr denn noch Fragen an Reiner?«, fragte Frau Nimeier.

Angie meldete sich: »Stimmt es, dass du im Wald gelebt hast? Wie Mogli oder Tarzan?«

Schlunz schien einen Augenblick darüber nachzudenken, lange genug, um sein Grinsen auslöschen zu lassen. »Nein«, sagte er dann. »Ich glaube nicht.«

Michi, der direkt neben Angie saß, nahm sofort den Faden auf: »Aber in der Zeitung stand, du bist der Junge aus dem Wald.«

Schlunz schien wieder grinsen zu wollen, aber es gelang ihm nicht. »Ich war auch im Wald. Ich habe einige Wochen dort verbracht. Es war furchtbar. Ich hatte immer nur Angst. Und dann haben mich Lukas und seine Familie gefunden. Aber wie lange genau ich im Wald war, weiß ich nicht mehr. Davor muss irgendwas passiert sein, das mein Gedächtnis gelöscht hat.«

»Und was?«, fragte Michi.

»Das weiß ich ja nicht.«

»Was hast du denn im Wald gegessen?«, fragte Angie wieder.

»Das, woran ich mich erinnern kann«, Schlunz legte seine Stirn in Falten, »ist, dass ich manchmal nachts in Gärten gegangen bin und was von den Bäumen gegessen habe.«

»Geklaut?«, fuhr es Angie empört heraus.

»Na ja«, setzte Schlunz an, aber mehr kam nicht mehr.

»Kannst du dich denn von Liane zu Liane schwingen, wenn du so lange im Wald warst?«, platzte es aus Kai heraus, der inzwischen beim Stuhlkreis angekommen war.

»Nein«, sagte Schlunz leise.

»Na ja, das reicht vielleicht fürs Erste«, griff Frau Nimeier schnell ein. »Ich würde sagen, für heute beenden wir den Stuhlkreis und beginnen mit dem Unterricht. Reiner, du möchtest sicher neben Lukas sitzen.«

Schlunz nickte. Aber er grinste nicht mehr. Olli sollte sich neben Erkan setzen, damit der Platz neben Lukas frei wurde. Dafür sollte Hassan, der vorher neben Erkan gesessen hatte, neben Tom sitzen und Jana neben Angie.

»Wo bleibt überhaupt Elmar?«, fragte Frau Nimeier, während die Kinder, die die Plätze tauschen sollten, umständlich ihre Schulranzen und Zeichenblöcke hin und her trugen.

In diesem Augenblick löste sich die Schnalle an Elmars Hosenträger und klatschte ihm mit voller Wucht gegen die Brille. Elmar rutschte sofort aus und flog hin, aber die Schnalle verfing sich noch einmal am Haken, sodass Elmars Sturz durch das Gummi abgebremst wurde und er wie im Zeitlupentempo nach unten sank. Gerade als Elmar verwirrt nach oben zur Jacke schaute, hatte sich die Schnalle auch vom Haken befreit und klatschte Elmar noch einmal gegen dasselbe Brillenglas. Wie durch ein Wunder blieb es heil.

3

Nach der ersten Stunde kam Jana an den Tisch von Lukas und Schlunz. »Ich find’s mutig von dir, dass du uns von dir erzählt hast«, sagte sie zu Schlunz.

Schlunz lächelte. Ein bisschen zumindest. »War doch nicht schwer«, meinte er. Dann fragte er: »Kenn ich dich nicht von irgendwoher?«

»Doch, aus dem Kindergottesdienst. Weißt du das denn nicht mehr?«

»Ach doch, klar.« Jetzt konnte Schlunz wieder breit grinsen. »Da sind immer so viele, dass ich mir gar nicht jeden merken kann.«

»Mein Vater ist einer von den Gemeindevorstehern«, sagte Jana noch.

»Aha«, machte Schlunz. Lukas hätte wetten können, dass Schlunz nicht wusste, was ein Gemeindevorsteher war. So richtig wusste Lukas das ja selbst nicht. Zumindest musste das so ein wichtiger Mensch sein, dass sogar seine Tochter sich noch wichtig vorkam. Jana kam sich nämlich immer sehr wichtig vor und das nervte Lukas.

»Ich find’s toll, dass du in den Kindergottesdienst kommst«, sagte sie, »du fragst immer so lustige Sachen.«

»Fällt mir gar nicht auf«, erwiderte Schlunz und es gefiel ihm anscheinend, so nett angesprochen zu werden.

Das war ja mal wieder klar. Jana schleimte sich bei jedem ein, damit sie bei allen beliebt war. Aber hintenrum redete sie über dieselben Leute gemeine Sachen. Zumindest dachte Lukas das. Aber vielleicht stimmte das ja auch gar nicht. Er ärgerte sich gleich über sich selbst, dass er so schlecht über Jana dachte.

»Mach dir nix aus dem Kai und dem Michi«, sagte Jana, »die sind immer so doof. Die wollen nur cool sein, deshalb machen die so einen Quatsch.«

Da, sie fing schon wieder an, über andere herzuziehen. Obwohl – mit dem, was sie sagte, hatte sie absolut recht. Kai und Michi wollten gern die Obercoolen in der Klasse sein und machten immer mal Witze auf Kosten von anderen.

»Ich bin auch cool«, sagte Schlunz fröhlich.

»Ich find dich viel netter so, wie du bist.«

Jetzt schleimt sie sich aber ein, dachte Lukas. Das war ihm gar nicht recht. Schlunz war sein Freund. Nicht der von Jana.

»Hallo Schlunz!«, rief Nele auf dem Schulhof in der ersten großen Pause und kam von Weitem angerannt. Meike kam hinterhergehechtet.

»Nele, komm, wir spielen Gummitwist«, sagte Meike und schlang das Gummiband Nele über den Kopf.

»Lass mich in Ruhe, ich will jetzt beim Schlunz bleiben«, schnauzte Nele sie an und befreite sich aus dem Gummi.

»Willst du ein Kaugummi?«, fragte Schlunz und hielt ein Päckchen in die Runde.

Lukas traute seinen Augen nicht. Wo hatte er das denn her? In der Schule waren Kaugummis verboten!

»Das dürfen wir im Unterricht nicht kauen!«, rief Lukas sofort.

»Na und? Jetzt haben wir doch gar keinen Unterricht.« Damit stopfte er sich selbst ein Kaugummi in den Mund. Nele und Meike nahmen sich auch eines. Tom, der bei ihnen stand und sein Wurstbrot aß, lehnte ab. Lukas auch.

»Schau mal, was ich kann«, sagte Schlunz und ließ aus seinem Mund eine riesige Kaugummiblase wachsen.

»Kann ich auch«, sagte Nele, schob ihr Kaugummi vor die Zunge und pustete, als wollte sie einen Luftballon aufblasen. Mit einem Wutsch sauste das Kaugummi aus ihrem Mund und flog im hohen Bogen über den Schulhof. Schlunz konnte sich gerade noch rechtzeitig in Deckung bringen.

»Alle Achtung«, lobte er. »Das waren mindestens drei Meter.«

Meike und Nele lachten.

Sie hatten nicht bemerkt, wie sich zwei große Jungen von hinten genähert hatten, die jetzt zwei große Schatten auf die Gruppe der fünf Kinder warfen.

»Ich seh wohl nicht richtig, der Junge aus dem Wald«, sagte der eine.

Die Kinder drehten sich um. »Ach du Schande«, stöhnte Lukas leise. Da standen Knut und Brutus, zwei furchtbare Typen aus der achten Klasse. Kastenförmige Gesichter, fettige, strähnige Haare, Pickel an den Stellen an Kinn und Hals, wo sie sich immer mal zu rasieren versuchten, auch wenn ein richtiger Bart noch nicht kommen wollte. Besonders Knut roch immer ziemlich stark nach Schweiß und ungewaschenen Haaren, vielleicht weil er noch dicker war als Brutus. Beide hatten, so lange sich Lukas erinnern konnte, immer dieselben Klamotten an: olle, verwaschene braune Jeanshosen, dazu riesige dunkle Pullover, in denen sich der Staub und das Laub der letzten Jahre verfangen hatten. Meistens liefen sie barfuß, egal, welches Wetter gerade war. Nur hier auf dem Schulgelände mussten sie Schuhe tragen.

Knut und Brutus wohnten im selben Mietshaus wie Tom und Meike. Brutus im ersten Stock, Knut im Kellergeschoss zusammen mit seiner Mutter. Den Vater von Knut gab es nicht mehr. Brutus hieß in Wirklichkeit Björn, aber überall wurde er nur Brutus genannt und der Name passte auch viel besser zu ihm. Knut und Brutus hätten gut in einem Krimi mitspielen können. Sie sahen so aus, wie sich Lukas einen Verbrecher vorstellte. Und bestimmt würden sie in ein paar Jahren auch irgendwo im Knast sitzen. Jetzt allerdings standen sie erst mal hinter ihnen auf dem Schulhof.

»Hallo«, sagte Schlunz. War er wirklich so locker oder tat er nur so? Lukas konnte das in diesem Augenblick nicht erkennen.

Brutus packte Schlunz hinten am Kragen. »Will der Waldjunge lesen und schreiben lernen?«

»Lass mich los«, sagte Schlunz. Von Angst nichts zu merken.

Ich muss Schlunz helfen, ich bin sein Freund, dachte Lukas. Aber er war zu feige. Mit den Großen hätte er es nie aufnehmen können. Auch Tom und Meike sagten nichts. Nur Nele versuchte es mit einem zaghaften: »Lasst ihn in Ruhe!«

»Halt dich da raus, Kleine«, sagte Knut und fasste Nele ans Ohr. Sie schrie kurz auf.

»Nein«, wollte Lukas seiner Schwester zu Hilfe kommen. Aber im selben Augenblick hatte er es schon bereut.

Knut hatte Nele losgelassen und stattdessen Lukas am Arm gepackt. »Na, Mamasöhnchen, willst du deine Schwester beschützen?«

Lukas schaute ängstlich in das kalte Gesicht von Knut. In diesen Augen war keine Spur von Mitleid oder irgendwelchen anderen menschlichen Gefühlen zu erkennen.