Der Schwan - Gudbergur Bergsson - E-Book

Der Schwan E-Book

Gudbergur Bergsson

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Beschreibung

In seinem Roman erzählt der isländische Autor die Geschichte einer Neunjährigen, die zum ersten Mal das Elternhaus an der Küste Islands verlässt. Als Strafe für einen Ladendiebstahl muss sie den Sommer auf einem Bauernhof im Landesinneren verbringen. Der Autor nennt weder den Namen der Heldin noch die Namen der übrigen Figuren: Das kleine Mädchen, so heisst es, muss Bauer und Bäuerin dienen, Leuten, die nur bedingt umgänglich sind. Immerhin ersparen sie der Sünderin Entrüstung und moralische Tiraden, da sie mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt sind. Der Knecht, mit dem die Kleine die Unterkunft teilen muss, verkündet düstere Weisheiten und verwirrt dem Mädchen den Kopf. Dennoch hängt es an dem Sonderling, weil dessen Gesellschaft die Last der Einsamkeit zu mindern scheint. –Eine überaus phantasievolle und poetische Erzählung, berichtet aus der Perspektive eines aus seiner Unschuld erwachenden Kindes.Gudbergur Bergsson wurde 1932 in Island geboren und zählt zu einem der beliebtesten Erzähler seines Heimatlandes. Er lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Reykjavik und Madrid und wurde für seine Bücher bereits mehrmals ausgezeichnet.-

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Gudbergur Bergsson

Der Schwan

Roman

Aus dem Isländischen von Hubert Seelow

Saga

1.

Schon als der Omnibus losfuhr, fing das kleine Mädchen an, sich nach den Steinen und dem Meer zu sehnen, und die Sehnsucht wurde noch schmerzlicher, nachdem man dorthin gekommen war, wo das Gras wächst, die Vögel singen, der Fluß fließt und die Sonne auf Teichen und Mooren glitzert. Neben den Straßen waren Gräben mit Wasser, und an den Rändern wuchs hohes Gras. Wie sie am Fenster im Omnibus saß und die Wiesen vorbeiziehen sah, nahm sie sich vor, immer an das Meer zu denken, wenn sie diesen Sommer allein war. So dachte sie, und der Omnibus fuhr immer weiter vom Meer weg, und die Wolken schickten schnell fliegende Schatten über das Land. Die grauen Schatten zogen über das Gras, und es wurde mit einem Mal dunkelgrün, doch dann bekam es wieder seine richtige Farbe. In den Sonnenschein danach schlich sich ein klein wenig Trauer, die durch die Schatten, das Flachland und die Weite verstärkt wurde. Das war nicht die Weite des Meeres, sondern die der Erde, die ständig größer wurde, denn es kam immer neues Land, und der Omnibus würde es nie durchqueren können und ans Ziel gelangen, wegen der Berge, Moore und Flüsse. Er fuhr auf einer Straße, die in unzählige andere Straßen überging. Manche führten über hohe Brücken, und dann versuchte sie, einen Augenblick ins Wasser hinunterzuschauen, das in schnellem Wirbel dahinfloß und so tief wurde, daß sie Angst bekam und dachte, es reiße sie mit. Sie schloß die Augen, spürte das tiefe Wasser und machte sie schnell wieder auf, damit sie nicht in den Flüssen unter den Omnibusrädern und Brücken verschwand.

Die Kleine wußte, auf dem Land würde es einen weißen, reißenden Fluß geben, und sie versuchte unterwegs im Omnibus, ihn in ein Meer zu verwandeln. Das mißlang, weil das Meer endlos, weit und grün war, und sie sich den Fluß nur als langen, schmalen Wasserstreifen vorstellte. Er hatte so wenig Ähnlichkeit mit dem Meer, das keiner überqueren konnte. Den Fluß konnte man überqueren, auf einer Brücke und in einem Boot, und mit den Gedanken ohnehin, auch wenn er schließlich verschwindet. Das wußte sie, daß der Fluß am Ende aufhört, ein Fluß zu sein, und zum offenen Meer wird. Weil er aufhört zu fließen. Und dafür hohe Wellen hat, je nachdem, wie die Stürme blasen.

Als sie abfuhr, brachte ihre Mutter sie zum Busbahnhof und sagte:

Das ist das erste Mal, daß du von daheim von deinen Eltern weggehst und aufs Land fährst, versuche deshalb, dich dort wohlzufühlen. Sei höflich und benimm dich allen gegenüber gut, dann vergißt du, was du getan hast. Und wenn du wieder nach Hause kommst, haben es alle auch vergessen.

Dann nahm sie sie in den Arm und flüsterte:

Wir vergessen genauso gern, wie wir uns erinnern, Liebes.

Bevor ihr Vater zur Arbeit ging, hatte er am Morgen, als sie sich zum ersten Mal gleichzeitig anzogen, gesagt:

Wenn du tüchtig bist, behält dich der Bauer vielleicht den ganzen Winter über und zahlt dir Lohn.

Kaum hatte er das gesagt, da füllte sich ihr Mund und Hals mit weichen, trockenen Steinen, eigenartigen Kieseln, die sie nur mit großer Anstrengung hinunterschlucken konnte.

Danach sprachen sie ganz sachlich darüber, daß sie auf dem Land viel verständiger und reifer werden würde, die Luft dort sei viel gesünder als hier und die Leute seien sorglos und gut.

Auch wenn das vielleicht nicht ganz stimmt, ist es trotzdem richtig, daran zu glauben, sagte ihr Vater.

Auf seltsame Art und Weise und voll Freude begann sie, undeutlich Gras, Tiere, Berge und Menschen wahrzunehmen, die im Licht des Morgens leuchteten. Das war ein Gefühl, das sie zu vermeiden suchte wie das Weinen.

Die Kleine war froh und traurig zugleich. Das spürte sie im Omnibus, und sie atmete tief ein, während er an den Häusern vorbeifuhr. Danach flüsterte sie sich selbst zu, weil die Reise eine endlose Abschiedsstunde war:

Nie, nie. Der Omnibus fährt nie mehr an diesem Felsen vorbei, ich sehe nie mehr diesen braunen Vogel, der jetzt wegfliegt, ich werde nie mehr an diesem Berg entlangfahren. Ich sehe das nur einmal in meinem Leben, jetzt und nie wieder.

Ihre Augen bekamen das Gefühl, daß sie nach und nach sterben würde, während der Omnibus immer weiterfuhr auf der Straße.

Und falls ich je wieder nach Hause fahre, wenn ich groß bin, dann heißt mich dieser Vogel nicht willkommen. Er wird längst tot sein, ohne gewußt zu haben, daß ich einmal in einem Omnibus saß und ihn sah. Wahrscheinlich werde ich auch diesen Felsen, den Berg und sogar das Meer vergessen haben. Auf dem Weg nach Hause sehe ich nicht genau dasselbe, was ich auf dem Weg von daheim fort gesehen habe. Deshalb, weil der Omnibus in entgegengesetzter Richtung fährt zu der, wie er jetzt fährt, und ich sehe alles anders und glaube, der Felsen sei ein neuer Felsen, der Berg ein anderer Berg. Ich bin dann schon groß und alles ist viel kleiner und niedriger geworden als bei meiner Hinreise. Die Rückfahrt wird ganz anders als die Hinfahrt, obwohl die Straße dieselbe ist, die Straße, die von zu Hause weg und wieder nach Hause führt.

Und nun verabschiedete sie sich durch das Fenster hinaus von allem, was sie zum letzten Mal sah. Es kam ihr so vor, als verwelke sie und sterbe im Sonnenschein, während dunkle Wolken über das Land dahinsegelten. So fuhr sie von den Meereswogen zu grünen, gerundeten Anhöhen.

Als der Omnibus an den letzten Häusern vorbeigefahren war, wurden sie zu einer Erinnerung, an der sie sich festhielt, doch dann wurden sie von einem Nebel aufgesogen und sie konnte sie sich kaum mehr in Gedanken vorstellen. Es war, als ob die Häuser und die Leute in ihnen gestorben wären, als sie wegfuhr. Alles starb, je weiter man kam. Sogar das Haus daheim hing irgendwie in der Luft, wie ein blasses Trugbild, nachdem man aufs Land gelangt war.

Die Vögel, die über das Gras flogen, waren leicht und klein, nicht so wachsam wie die schweren Seevögel mit ihren breiten Flügeln. Sie flogen schnell vor dem Omnibus davon, waren eher nur Geräusche, ängstliche Schreie, als wirkliche Vögel. Sie waren ganz anders als die Möwen, die das Meer in den Schwungfedern hatten und es von dort zum Himmel hinaufschleuderten. Sie schlugen beim Flug auf ähnliche Weise mit den Flügeln, wie das Meer sich in langsamen Wellen hebt. Ihre Augen waren eine Uhr, die keine Zeit mißt. Doch die lebhaften kleinen Vögel dachten nicht. Sie waren wie kleine Steine, die ein unsichtbares Wesen oder ein Geist in blinder Wut aus der Erde herausgeschleudert hatte.

Je weiter der Omnibus fuhr, desto klarer wurde, daß es keinen Weg zurück gab. Die Feuchtigkeit vom Meer war aus dem Luftstrom verschwunden, der durch das halboffene Fenster hereindrang. Hier und da sah man auf dem grünenden Land die ersten Zeichen für die Ankunft des Frühlings, und der Luftzug trug die nicht salzige, fremde Feuchtigkeit von sich erwärmender Erde mit sich. So weit das Auge reichte, herrschte die Ruhe des Landes, und nicht das einschläfernde, geheimnisvolle Seufzen, das vom Meer her dringt, wenn sich nach einem stürmischen Winter eine schwere Frühjahrsruhe über es breitet. Die Erde erwacht im Frühjahr zum Leben, und zur gleichen Zeit stirbt das Meer, oder es fällt in tiefen Schlaf. Es wird einem blauen, pulsierenden fließenden Tier ähnlich, das ruhig daliegt. Trotzdem hat es auch Augen und ist jederzeit bereit, fauchend auf den Strand loszugehen.

Das Mädchen sah das grünblaue Tier in Gedanken vor sich, wußte aber nicht, von welcher Art es sein mochte. Es war eine Mischung zwischen einem Ungeheuer und einem treuen Haustier, aus Wasser geformt und aus einem Traum geboren. Ein solches Tier konnte man leichter spüren als sehen.

Plötzlich fing sie an, innerlich vor sich hin zu heulen, ohne daß man es hören konnte. Sie heulte über alles, was sie sah. Sie heulte langgezogen, still, mit der Hand vor dem Mund, so daß man meinen konnte, sie singe, und sie betrachtete das Land, die Höfe und die Hauswiesen, die ganz bestimmten Leuten gehörten, und niemand anderem. Diese Leute wurden Bauern genannt. Doch das Meer gehörte allen gemeinsam, keiner konnte sich dort ansiedeln oder dort seine Haustiere weiden lassen. Das Meer konnte niemandem gehören, denn es strömt ununterbrochen zum Himmel hinauf und wieder zu sich selbst hinunter, auf unsichtbare Weise in Sonne und Regen.

Das Meer kann genausowenig jemandem gehören wie die Liebe des Menschen, so wie du keinem Mann gehören kannst, auch wenn er dich heiratet und du ihn, hatte ihr Vater gesagt.

Das Mädchen heulte still, während sie über das nachdachte, was sie wahrnahm, aber sie saß immer ruhig und gerade da, während der Omnibus unbarmherzig weiterfuhr.

Bisweilen hielt er an, Leute stiegen aus und andere kamen herein und fuhren ein Stück weit mit. Hunde kamen von den Höfen über Hänge und Hauswiesen herabgelaufen, entweder um zu bellen oder um die Aussteigenden zu begrüßen. Das Mädchen freute sich nicht darüber, die ungezügelte Freude der Hunde zu sehen. Sie wußte, daß sie keiner begrüßen würde, wenn sie endlich am Ziel war, nicht einmal ein Hund.

Es war leicht zu erkennen, daß der, den die Hunde begrüßten, wirklich daheim angekommen war. Er lächelte so, als ob er es an ihren Liebesbezeugungen spüre, schimpfte sie aber zum Schein aus.

Das Land war so anders als das Meer.

Die Kleine wußte, auch wenn sie auf der Stelle nach Hause zurückkehrte und zum Meer hinunterginge, würden keine Fische an den Strand geschwommen kommen, um aus Freude über ihre Rückkehr mit dem Schwanz zu schlagen. Keiner begrüßt den, der ans Meer tritt. Wer das tut, spürt nur in seiner eigenen Brust Freude darüber, wieder die nasse Meeresfläche anzutreffen, die zurückgeblieben war, als er wegging.

Das ist der Unterschied zwischen dem Meer und dem Land, dachte sie.

2.

Plötzlich spürte das kleine Mädchen in der Brust jene unendliche Härte, die immer nahe daran ist, sich in Wasser zu verwandeln. Doch man hält sie im Zaum, solange andere in der Nähe sind und es sehen. Man verbirgt die Veränderung, bis man allein ist und keiner sehen kann, wie man blind wird in seiner eigenen Tiefe und sich weit entfernt von sich selbst und anderen. Man lauscht und späht gleichzeitig herum. Eben deswegen saß sie während der ganzen Fahrt schweigend da und sammelte das, was sie später verdauen und sich im stillen von der Seele weinen wollte, und es schien ihr, als sei sie in einem Käfig auf Rädern unterwegs.

Ein Fahrgast, der vor der Kleinen saß, begann, lauthals vom Land, von der Sonne und von der Erde zu singen, während sie ihre Limonade trank. Sie sah mit eigenen Augen und hörte plötzlich mit den Ohren, was bisher nur in Gedichten und Geschichten existiert hatte, die sie in den Schulbüchern gelesen hatte. Sie war jetzt in der Gegend, von der die Gedichte handelten. Das, was sie sah, machte keinen schlechten Eindruck, wenn man durch das Fenster schaute, während gesungen wurde; hätte sie nur nie ans Ziel kommen und an einem fremden Ort etwas damit zu tun haben müssen.

Über sie legte sich eine dunkle Rauchwolke von dem feuerspeienden Berg, der unvermutet aus Kummer im Innern des Menschen ausbricht, der zum ersten Mal von zu Hause fortgeht. Und für den Rest der Fahrt lag sie unter dieser dunklen Wolke.

Der Omnibus hielt an, der Fahrer wandte sich um, sah sie gleichgültig an und sagte:

Hier mußt du aussteigen. Man ist schon da, um dich abzuholen.

Daraufhin schaute sie hinaus und sah zum ersten Mal den Bauern. Er wartete allein auf der Straße, und nirgends war ein Haus zu sehen, nur der Fahrweg hinter ihm, der zwischen zwei ziemlich flachen Hügeln verschwand.

Sobald sie aus dem Omnibus ausstieg, steif in den Beinen, konnte sie die Vögel hören, und irgendwie auch die langsam wachsenden Pflanzen. Ein Leben, das sie noch nie gehört hatte, tönte überall aus der Ferne der Gewässer und des begrünten Landes. Es schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen, aus der Erde herauf und vom Himmel herab. Zwei verschiedene Klänge verschmolzen in ihren Ohren. Es war ganz anders als dann, wenn sie den Himmel und die Brandung auf den Klippen hörte. Jener Klang hatte mit Getöse alles übertönt, und gleichzeitig verstummte das Land. Das Meeresrauschen war so, wie es war, und der Strand war still in seinem Schweigen.

Der Fahrer war vor ihr hinausgesprungen und hatte eilends ihren Koffer aus der Gepäckluke gezerrt und an den Straßenrand gestellt. Alles, was er tat, geschah ruckartig. Er warf den Koffer dem Bauern vor die Füße. Noch bevor die Kleine guten Tag sagte, schaute sie ihm in die Augen, denn ihre Mutter hatte ihr das eingeschärft und gesagt:

Schau ihm gleich ins Gesicht, bevor du guten Tag sagst. Du hast keine Diebsaugen.

Der Koffer, hier, sagte der Fahrer, sprang schnell wieder in den Omnibus und fuhr ruckartig davon.

Der Bauer trug seine Arbeitskleidung. Das war ein blauer Drillichanzug, und die Jacke war viel verschossener als die Hose. Ihr Rücken war schon fast weiß. Die Sonne hatte die Farbe ausgebleicht, während er sich bei der Arbeit bückte. Jetzt fragte er:

Kannst du deinen Koffer selber heben?

Ja, antwortete sie. Aber nicht sehr weit tragen.

Sie hatten vergessen, sich richtig mit Handschlag zu begrüßen, oder taten es irgendwie flüchtig, indem sie beide gleichzeitig den Handgriff des Koffers berührten.

Du bist stark, sagte er und holte eine Schnur aus der Tasche und band sie um den Koffer, obwohl der ein stabiles Schloß hatte. Dann nahm er ihn mühelos und mit Schwung auf den Rücken und zog ihn noch weiter auf die Schultern hinauf.

Ach, er ist nicht schwer, sagte er und lächelte, als freue er sich darüber, eine Last auf dem Rücken tragen zu dürfen.

Der Koffer war nicht schwer, trotzdem sah der Bauer immer vor sich auf die Erde. Während er ging, war es, als ob er jeden seiner Schritte mitverfolgte, sorgfältig beobachtete, wie er einen Fuß vor den anderen setzte, damit er auf dem ebenen Weg nicht stolperte. Er stellte sich nicht vor, war aber offensichtlich der Bauer auf dem Hof.

Geh mir nach, sagte er. Es ist nicht weit bis zum Haus und nichts fürs Auto. Wir gehen einfach zu Fuß.

Sie ging nicht hinter ihm, sondern ein klein wenig voraus, ein bißchen seitwärts von ihm, und wandte sich manchmal um. Da feuchtete er gerade mit der Zunge seine Lippen an, er feuchtete oft seine trockenen Lippen an, doch er schwieg und wurde nicht langsamer. In der Senke zwischen den Hügeln sah sie, daß der Hof nicht weit entfernt vor ihnen lag, an einem flachen Hang oder auf einer Anhöhe, und auf einmal herrschte um sie herum Totenstille. Der gleichmäßige, schwerfällige und unbeirrte Schritt des Bauern auf dem Weg verstärkte die Stille. Auch der Sonnenschein wurde stärker, und das Licht flutete durch das Schweigen. Als sie zwischen den Hügeln auf die Ebene hinauskamen, glaubte die Kleine, sie müsse in der Weite ersticken. Sie bekam Angst. Die Natur war so schrecklich groß, und sie selbst ganz winzig. Und sie wagte kaum, sich zu bewegen, obwohl sie frei und ohne Gefährdung durch den Verkehr umherlaufen konnte. Trotzdem lief sie nicht. Sie wußte, daß sie in die Weite hinaus gekommen war, zu anderen, die sie durch Pflichten daran hinderten, sich frei zu bewegen, und sie ließ den Bauern an sich vorbeigehen und ging hinterher.

Es kam ihnen ein Mann auf dem Weg entgegen. Der Bauer blieb stehen und stand gebückt mit dem Koffer auf dem Rücken da, während sie sich unterhielten. Obwohl er sich mit dem Mann unterhielt, war es, als spreche er mit niemandem, mit seinen Zehen oder mit der Erde. Das Mädchen verstand nicht, worüber sie redeten, außer, daß sie von irgendwelchem Vieh sprachen. Der Bauer schwitzte nicht unter der Last, aber er kratzte sich oft am Kinn, indem er es an der Kofferecke rieb, die über die Schulter vorstand. Dabei verzog er das Gesicht.

Sie sah sich um, während die Männer miteinander sprachen. Neben dem Weg war ein ziemlich tiefer Graben, und unten in ihm Wasser mit einer schillernden, bräunlichen Schicht auf der Oberfläche. Die Erde an den Rändern war beinahe rot. Als sie sich genauer umschaute, sah sie, daß die Weite nicht ununterbrochen war, sondern von Gräben durchzogen. Dennoch war es kein Ozean von Mooren und Gewässern, sondern es konnte sich nicht entscheiden, ob es Meer oder Land sein wollte. Es war unsicheres Überschwemmungsland. Nur der Weg war sicher unter ihren Füßen und führte durch die Sümpfe. Als sie länger in alle Richtungen blickte, ging ihr auf, wie bedrohlich die Weite sein konnte, obwohl sie an den Bergen in der Ferne endete. Sie behinderte nicht die Augen und den Blick, doch für die Füße war sie unwegsam.

Bei diesem Gedanken wurde sie von dem Gefühl gepackt, daß sie sich emporhebe oder in schwindelnde Höhen hinaufschwebe und binnen kurzem nach unten stürzen werde, und dann würde die Erde sie verschlingen. Es wurde ihr ein wenig übel und sie streifte sicherheitshalber mit den Schuhsohlen über den Weg, der wie ein schmaler Strich von der Landstraße zu den Höfen der Gegend führte. Da verabschiedeten sich die Bauern gerade, und der eine sagte:

Vielleicht schaust du für mich nach dem Vieh.

Dann fragte er ganz plötzlich:

Ist das das Mädchen, das du bekommst?

Ja, sagte der mit dem Koffer.

Sie gingen ihres Wegs, ohne weitere Worte zu wechseln. Da sprang plötzlich ein Hund aus einem Graben herauf und begleitete die Kleine und den Bauern. Ehe sie sich’s versah, waren überall Hunde. Einer schien sogar unter einem Stein hervorzukriechen. Sie liefen dem Mann mit dem Koffer nach. Der, der aus dem Graben heraufgekommen war, war naß, schmutzig und außer Atem und tat, als gehöre ihm der Bauer, der mit ihm zu sprechen begann und ihn gutmütig zurechtwies. Der Hund ließ die Zunge hängen vor Freude über die Schelte.

Das kleine Mädchen empfand Widerwillen. In Gedanken rümpfte es die Nase über die zottigen Tiere. Und nun fingen die Schafe, die am Weg weideten, an, eines nach dem andern den Kopf zu heben und zu schauen, wie der Bauer an ihnen vorbeispazierte. Er rief ihnen etwas zu, und sie fingen gleich an zu blöken und zu scheißen, und der Hund schüttelte den Kopf vor Freude.

Das sind die gesunden und harmlosen Freuden des Landlebens, dachte sie, doch selbst die scheuen Vögel machten ihr keine Freude. Sie flogen aus den Grashökkern am Wegrand auf, die gelbgrün von dichtem, verdorrtem und sprießendem Gras waren, und erschreckten sie.

Plötzlich streckte der Hund die Schnauze vor in den Wind, der ihm über das Fell strich und es nach hinten kämmte. Er schnupperte in die Weite und schloß die Augen.

Na, sagte der Bauer und feuchtete seine Lippen an.

Das schien der Hund zu verstehen, und er begann, heftig zu bellen. Die Kleine wünschte sich, daß der Weg endlos wäre, daß sie ihn nie verlassen müßte, um in ein Haus hineinzugehen, daß er nirgends endete und ihre Reise nur eine Zeichnung auf einem Block wäre: sie, der Bauer, die Hunde, die Sonne, die Schafe, der Hof und die Gegend darum herum. Wenn es so wäre, würde sie die Zeichnung sofort ausradieren. Aber sie kamen den Häusern immer näher. Schon bald war nichts mehr übrig vom Weg, und eine Frau mit kalter, feuchter Hand begrüßte sie.

Guten Tag, sagte sie. Bist du das neue Mädchen?

Der Bauer stellte den Koffer auf die Erde und sperrte den Mund auf, obwohl er nicht außer Atem war. Das Mädchen glaubte, er würde die Mütze abnehmen und sich am Kopf kratzen, doch er stöhnte nur und bat um Kaffee.

Äh, sagte er und fügte noch einige Laute hinzu.

Warum hast du sie nicht mit dem Auto abgeholt? fragte die Frau und führte das kleine Mädchen in ein Zimmer mit zwei Betten. Sie zeigte auf eines von ihnen und sagte:

Das ist dein Bett.

Der Bauer maß den Koffer mit den Augen und schob ihn dann unter das eine Bett. Die Kleine erschrak. Es konnte keinen Zweifel mehr daran geben, sie war jetzt auf dem Land. Ihre Mutter hatte gesagt, daß dort die Koffer immer unter den Betten aufbewahrt würden, und wenn sie hervorgezogen würden, seien Staubflocken darauf vom Unterbett. »So war das, als ich auf dem Land arbeitete, und es ist sicher immer noch so. Auf dem Land ändert sich so etwas nie.«

Der Nachmittag verging ganz langsam, und die Kleine saß meist auf dem Bett. Sie versuchte, leise zu atmen, um die Stille nicht zu verscheuchen. Der Bauer und die Frau schienen gestorben zu sein. Sie regten sich nicht. Die Zeit verging, ohne daß irgendein Lebenszeichen zu hören war. Sie schlich vorsichtig zum Fenster und sah, daß der Hund schlief und die Schnauze auf eine seiner Pfoten gelegt hatte. Die Zeit verging so langsam, daß sie stillzustehen schien. Das Mädchen sah auf der Uhr, daß die Zeit verging, und die Sonne wanderte an den Fenstern auf zwei Seiten des Hauses vorbei. Es kam kein richtiger Abend, aber trotzdem war er da. Da erschien plötzlich die Frau und fragte erstaunt:

Sitzt du hier und gehst nicht hinaus? Du hast doch frei heute.

Die Kleine seufzte, froh darüber, vom Bett aufstehen und sich ungehindert bewegen zu können.

Nach dem Abendessen wurde der Abend zu einem riesengroßen, feuerroten Rachen am westlichen Himmel. Die Kleine schlenderte in der Abenddämmerung um den Hof herum, wie eine appetitlose Zunge, die keine Lust hatte, die Umgebung zu schmecken. Die Frau sah sie forschend an, als sie entdeckte, daß sie wieder auf dem Bett saß.

Du darfst nicht an der Bettdecke kleben bleiben, dann bist du keine große Hilfe bei der Arbeit, und ich versohle dir den Hintern, sagte sie zum Spaß.

Die Kleine blickte zum Fenster. Sie sah die Abendstille draußen und hörte, daß sich das Motorengeräusch eines Autos entfernte. Der Mann und die Frau fuhren irgendwohin und ließen sie allein zurück. Sie dachte, ohne zu denken: Diese Umgebung kann mir gestohlen bleiben.

Dann fing sie an, sich auszuziehen, und schwebte im Halbschlaf eine Zeitlang in der Luft. Als sie von dem Flug zurückkehrte, bevor sie einschlief, beschloß sie, vom Haus daheim zu träumen. Sie nahm sich vor, in Zukunft im Schlaf in der Nacht dort zu bleiben, auch wenn sie im Wachen am Tag arbeiten mußte, vielleicht ihr ganzes Leben lang.

Doch sie träumte etwas ganz anderes, als das, was sie sich vorgenommen hatte. Durch die Tür eines großen Hauses, das voller Garnrollen war, wälzte sich ein komisches Gefäß herein, nachdem sich etwas Unverständliches ereignet hatte, als sie einen Mann traf, den sie noch nie gesehen hatte. Dann geschah nichts mehr im Schlaf in dieser Nacht.

3.

Als die Kleine aufwachte, gab das Licht keine bestimmte Zeit zu erkennen. Es war weder Morgen, noch Abend, noch mitten am Tag. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, ob es in der Gegenwart war, am gestrigen Tag, am heutigen Tag oder in irgendeiner anderen Zeit, die sie nicht kannte. Das Licht war fremd, es stammte aus einer anderen Welt als der, die sie gewohnt war, und aus ihm heraus trat eine Frau und schlüpfte durch eine Türöffnung auf ihrer Brust.

Sie kam bald zu sich, und alles schrumpfte in sie selbst hinein zusammen. Sie wußte, wo sie war, und spürte zugleich den Geruch von nasser Erde, Tieren und einem fremden Haus. Es war ganz früh am Morgen, lange bevor sie immer daheim aufwachte. Deshalb kannte sie das Licht nicht. Die Frau hatte sie aus dem Schlaf aufgeschreckt. Nach der anfänglichen Verwunderung, der Verwirrung und der Zeitlosigkeit des Lichts erwachte die Erbarmungslosigkeit, die von morgens bis abends auf allem lasten sollte.

Gleich am ersten Tag wurde sie sich selbst fremd. Es war nicht sie, die sich an diesem Ort aufhielt. Zum ersten Mal merkte sie, wie einfach es in Wirklichkeit war, Kummer und Schmerz in ihrem Innern zu verstecken, ohne daß es jemand merkte. Die Leute schauten zwar, aber sie schauten nicht, um zu sehen, deshalb wurde ihr klar, daß allein zu sein bedeutete, unter Fremden zu sein und so sein zu wollen.

Sie bekam nicht gleich, nachdem sie aufgestanden war und gefrühstückt hatte, eine besondere Arbeit zugewiesen, aber man hatte ein Auge auf sie. Sie durfte nicht hinausgehen und mußte in der Küche warten, bis sie gebraucht wurde. Sie saß dort auf einer hölzernen Bank und schwieg.

Sogar das Frühstück hatte anders geschmeckt, als es zu Hause schmeckte. Alles war anders: das Licht, der Geschmack, der Geruch, was man sah und fühlte. Die weiße Milch tat einem in den Augen weh. Der Quark verströmte eine unangenehme Kälte. Das Metall des Löffels war härter als das der Löffel daheim, er hatte einen feindseligen Geschmack von giftigem Metall. Alles um sie herum war reine Kälte, Klarheit des Schweigens, und doch war in beidem auch Qualm und Rauch. Die Frau hatte gesagt:

Du mußt tüchtig frühstücken, dann geht es dir gut.

Im Haus roch es nach Hunden, alles hatte einen starken Geruch von Tieren, auch die Frau und der Mann. Das Mädchen erinnerte sich daran, daß ihre Mutter gesagt hatte: »Auf dem Land riecht alles nach Hundearsch.«

Alles war sauber und ordentlich im Haus, aber wenn sie den seltsamen Geruch einatmete, erstickte sie beinahe, deshalb schlich sie mit weit aufgerissenem Mund auf den Gang hinaus zur Haustür, als wolle sie die Umgebung in sich aufsaugen. Sie hielt die frische Luft eine Weile in ihren Lungen und hustete sie dann wieder heraus.

Irgendwie hatte sie sich jedoch auf diese Weise an das Land angepaßt. »Vier Monate«, dachte sie. »Nicht länger.« Dann ging sie wieder in die Küche zurück, setzte sich auf die Bank und wartete auf etwas, wußte aber nicht, was das sein mochte. Sie wartete nur.

Wenig später kam ein Junge vom nächsten Hof hereingestürmt, und als er sie sah, sagte er atemlos:

Komm heraus zum Spielen bei dem guten Wetter.

Er war sauber und adrett gekleidet. Sein Gesicht war wie Schlagsahne, nur die Wangen hatten die Farbe von Erdbeeren. Er versuchte, überall sein Lächeln anzubringen, während er vor sich hin gluckste, wie es kleine, dicke Jungen tun, anstatt offen zu lachen. Das war ein Zeichen absoluten Wohlbehagens, und er zappelte hin und her mit seinem hellen, festen Speck.

Sie ist nicht hierhergekommen, um zu spielen, sagte die Frau schnell. Sie muß arbeiten.

Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, befahl sie ihr, den Abfall hinauszutragen. Das Glucksen des Jungen hörte plötzlich auf, während er die Kleine enttäuscht ansah, und das Lächeln verschwand. Er schien nichts zu verstehen, und sie ging schweigend im Bogen an ihm vorbei. Er wurde wieder eifrig und zappelig, wich aber dennoch zurück. Das Mädchen spürte, daß ein himmelweiter Unterschied zwischen ihnen war, als die Frau ihn ziemlich scharf und höhnisch fragte:

Wird für dich nicht Geld bezahlt?

Der kleine, dicke Junge gab es zu und bekam traurige Augen. Die Grübchen und die Erdbeeren auf seinen Wangen wurden blaß.

Die Kleine hatte noch nie zuvor einen Unterschied zwischen sich und anderen Kindern verspürt. Nun wußte sie, daß es diesen Unterschied gab und daß sie nur sie selbst war, nicht so wie andere Kinder, nur sie allein und selbst. Dadurch wurden ihre Eltern auch zu Leuten, die ihr fremd waren, und dasselbe galt für ihre Geschwister, ihren Großvater und ihre Großmutter. Die schnellen und schonungslosen Worte der Frau hatten die Familie von ihr losgerissen, während sie den Abfalleimer durch den Gang nach draußen schleppte. Wenn sie nichts Schweres in den Händen gehabt hätte, wäre sie sicher umgefallen, hätte dabei den Abfall über sich ausgeschüttet und zu weinen begonnen, gänzlich verlassen, doch der Eimer war so schwer, daß die Mühe und Konzentration, die es brauchte, damit nichts herausfiel, dafür sorgten, daß Geist und Körper im Gleichgewicht blieben. Sie verzog das Gesicht, damit man nicht sehen konnte, wie ihr zumute war.

Wirf den Abfall den Hühnern am Gemüsegarten hin! rief ihr die Frau nach. Sie können sich etwas herauspicken.

Der Junge wurde wieder zappelig, lief voraus und sagte:

Ich weiß, wo man den Abfall hinwerfen muß, ich zeig es dir.

Sie warf den Abfall den Hühnern hin, die sich gleich darüber hermachten. Der Junge war währenddessen mäuschenstill. Doch plötzlich sagte er:

Es lohnt sich, so zu sein, wie du bist, und nicht wie ich.

Sie schaute ihn fragend an, und er fügte hinzu:

Vielleicht bekommst du im Herbst Geld, weil für dich nicht bezahlt wird. Ich weiß, daß ich nichts bekomme.

Sie sah ihn an.

Du verdienst etwas, sagte der Junge. Weil du arbeiten mußt.

Sie sah ihn immer noch an.

Deine Eltern verdienen an dir, fügte er eifrig hinzu. Papa und Mama zahlen drauf bei mir. Das ist der zweite Sommer, in dem sie bei mir draufzahlen.

Sie schaute weg und hatte Mitleid mit dem Jungen und seinen Eltern.

Siehst du nicht den Unterschied zwischen uns? fragte er und fügte hinzu: Bist du stumm?

Die Hühner gackerten um sie herum. Die Kleine wollte den Mund aufmachen, einen Laut von sich geben, wußte aber nicht, was sie sagen sollte. Sie räusperte sich nur. Als der Junge davonlief, versuchte sie, ihr Schweigen mit Worten zu durchbrechen.

Sicher kann ich sprechen, sagte sie.

Ihre Stimme war natürlich und leise. Wegen der unerwarteten Freude, die sie überkam, begann sie, mit den Hühnern um die Wette zu gackern. Manchmal gackerten sie im Chor. Sie lachte. Es war beinahe so, als sei in ihr ein Tier, das gackern, muhen, blöken und wiehern konnte, als sei ihr dies angeboren. Da hielt sie sich die Hand vor den Mund.