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Zwei ältere Damen sind mitten in der Renovierung eines ausgeleierten Uralt-Buffets, als die Idee geboren wird, selbst organisiert mit vollbepacktem Fahrrad durch Chile und Argentinien zu fahren. Ein Geburtstagsgeschenk sollte es sein, zum Sechzigsten. Die meisten Bekannten wollten sie davon abhalten, prophezeiten Überfälle, Vergewaltigung und gar Mord. Doch der Wunsch, diese Reise anzutreten, übertraf bei weitem die Bedenken. Sie starteten tatsächlich und wurden reichlich belohnt. Mal schipperten sie als Eismumien übers Wasser, mal wähnten sie sich wie Bäckerlehrlinge im Mehlsack. Nur eines war immer gleich: jeden Abend kamen sie irgendwo an, verdreckt wie ein Sandkastenkind. Ein herrlich erdiges Geschenk zum runden Geburtstag.
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2020
Monika Zebert, Jahrgang 1954, lebt in Stuttgart-Degerloch. Als Diplom-Sozialpädagogin arbeitete sie beruflich jahrelang mit straffälligen jungen Menschen und verfasste schriftliche und mündliche gutachterliche Stellungnahmen für das Jugendstrafverfahren.
Im Urlaub ist sie fast ausschließlich mit dem Fahrrad unterwegs. Nichts begeistert sie so sehr, wie der direkte Kontakt zur Natur und zu den Menschen. Der Rhythmus der Landschaft, das Licht der Sonne und die Dynamik von Wind und Wetter als ständigem Begleiter, was gibt es Schöneres.
Dies ist ihre erste Buchveröffentlichung.
Für alle, die ihr geistiges Nest verlassen wollen.
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„Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise,
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen“.
Hermann Hesse
Prolog
Wir zwei ältere Damen
Omas Küchenbüffet
Schreckensbilder bei Nacht
Die Trümmertour
Eine Monsterschraube fürs Glück
Meine Gepäcklösung
Aus der Sicht eines Wallfahrers
Als Obdachlose unterwegs
Schwankende Gemüter, fliegende Räder und wackelige Verfolger
Spanisch im Galopp
Die Kartoffeltour
Zelterfahrungen
Felszeichnungen, Skulpturen und Hunger bei Nacht
Der Regenjackentest
Überleben – Strategie I
Überleben – Strategie II
Gleich zwei Verstöße
Fester Boden unter den Füßen
Gehen im Sandkasten
Ein Überfall?
Würste und ein roter Pickup
Ein schwieriger Beginn, versüßt mit Fasnachtsküchle
Curarrehue mit seinen Besonderheiten
Anden, Araukarie und archaische Ur-Laute
Der Bäckerlehrling im Mehlsack
Schmotze
Eva wechselte das Pferd
Ein heiliger Akt unter Frauen
Notcamping am Fluß
Der Karakara kam wie gerufen
Besuch bei der kalten Dame
Kein Stöffle fürs Fahrrad, keine Pizza für den Magen
Als Eismumie unterwegs
Im kochenden Sud
Der Gang durchs Totholz
Urlaubsgefühle
Mein sechzigster Geburtstag
Curarrehue ganz verwandelt
Auf nach Los Andes
Wieder sesshaft
Brütend auf dem Fahrrad und zitternd im Bus
Zwei erfüllte Wünsche
Epilog
„Maquehue“ prangt in großen roten Lettern am Flughafengebäude. Soeben waren wir gelandet und in unserer überhitzten Winteraufmachung steif die Metallstiege hinunter gestakst. Als ich wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, schaute ich ungläubig zum Flugzeug empor. Noch immer konnte ich es kaum glauben: Wir waren in Chile.
Die Idee, zu meinem sechzigsten Geburtstag mit dem Rad durch Chile und Argentinien zu fahren, hatte meine Freundin Eva schon ein Jahr zuvor geäußert, eine Idee von vielen war das, aber die letzte, die ich mir vorstellen wollte. Ausgerechnet Südamerika, wo ich noch nie den europäischen Boden verlassen hatte, keinen einzigen spanischen Satz sprechen konnte, sollte ich mal eben geschwind mit dem Rad durch die Anden fahren. Lange war ich damit beschäftigt gewesen, diesen ungeheuerlichen Gedanken wieder aus meinem Kopf zu verbannen.
Als wir uns dann doch entschieden, diese Reise anzutreten und Freunde und Verwandte einweihten, waren die Reaktionen verheerend, weit schlimmer als ich mir in meinen kühnsten Vorstellungen hätte ausmalen können. „Raub, Vergewaltigung und Mord“ klingt es noch heute in meinen Ohren.
Aber da waren meine Bedenken längst einer wilden Euphorie gewichen. Dank Evas bewundernswerter Hartnäckigkeit. Und nur ihr verdanke ich es, dass ich in den Genuss kam, in Südamerika Staub zu schlucken wie ein Bäckerlehrling, als Eismumie übers Wasser zu schippern und am Ende des Tages irgendwo anzukommen, verdreckt wie ein Sandkastenkind.
Bis zu diesem Vergnügen war es allerdings ein weiter Weg, auf dem ich mich erst noch mit Farbe bekleckern und als Obdachlose durchs Land ziehen durfte. Und Nudeln mussten auch noch aus dem Gebüsch geklaubt werden.
Für manch Außenstehenden bezeichnet das Wort „Manie“ wahrscheinlich sehr treffend unseren emotionalen Zustand, was Fahrradfahren angeht, wir lieben diesen Sport, als Ausgleich zum Alltag und aus purer Freude. Wir sitzen oft und gerne im Sattel, für uns ist Radfahren wie ein in den Tag geschobener Miniurlaub. Radfahren ist unsere Leidenschaft.
Jede von uns hatte für sich irgendwann das Radfahren entdeckt, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Als Kind voller Bewegungsdrang, gab es bei mir keinen Knopf, den man auf „Aus“ drücken konnte. Hüpfen, toben, Roller fahren gingen nahtlos über in Fußball spielen, Skifahren, Schwimmen und kulminierten in Klettern, Kanusport und Bergwandern. Die Berge hatten es mir endgültig angetan und als hätte noch das Tüpfelchen auf dem „i“ gefehlt, entdeckte ich als Studentin in Freiburg das Rennrad, meine große Liebe.
Ab sofort hatte ich die Wanderschuhe gegen das Rennrad getauscht, hatte Hunderte Stunden und Tausende Kilometer im Sattel verbracht und bin noch immer fasziniert davon. Rhythmus, Fahrtwind, Freiheit, Lust an Distanzen und an Geschwindigkeit, all das erlebe ich nur mit dem Fahrrad und ganz besonders in den Bergen. Pässe fahren erzeugt Glücksgefühle, auch wenn man sich manchmal selbst überwinden muss, um dann oben anzukommen und über allem zu stehen. Und dieses Gefühl beflügelt mich, es treibt mich an, motiviert.
Evas sportliche Biografie verlief völlig anders. Sechs Jahre jünger als ich, spielte sie schon als Jugendliche jahrelang erfolgreich Handball im Verein und hatte sich bis zur Regionalliga hochgeworfen. Klein, wild und muskulös war sie die geborene Kreisläuferin und vollführte lauter Bewegungen, die für den Körper nur in Ausnahmefällen vorgesehen und schon gar nicht gewünscht sind. Das machte sie Woche für Woche, Monat für Monat, jahraus, jahrein. Leider, wie sie inzwischen wehmütig denkt, doch um noch eins drauf zu satteln, begann sie Jahre später mit Marathonläufen. Irgendwann meldeten sich Schmerzen im Knie und so ungern sie sich vom Laufen verabschiedete, so begeistert wandte sie sich dem Rennrad zu, um neue sportliche Herausforderungen anzunehmen - eine späte aber große Liebe.
Radfahren als sportliche Betätigung und doch kann „Fahrradfahren“ viel mehr. In sattgrünen Wäldern, mit Vogelgezwitscher und Blätterrascheln gehört es zu den besten Methoden, sich gedanklich zu befreien. Vielleicht sollten Psychiater ihre Couch hin und wieder durch ein Mountainbike ersetzen.
Evas Begeisterung fürs Radreisen mit Rucksack auf dem Rücken und Tasche am Lenker zündete bei unserer ersten gemeinsamen Tour von Verona über den Apennin an die Amalfi-Küste, und dann gleich richtig. Die Ungebundenheit hatte sie fasziniert und die wunderbare Möglichkeit, mit eigener Kraft ein Land zu entdecken. Ständig erfreut man sich an neuen Eindrücken, an unverhofften Ausblicken und unverkennbaren Gerüchen. Man ist schnell genug, um voran zu kommen, aber auch langsam genug, um mit den Menschen in Kontakt zu bleiben. Urlaub mit dem Fahrrad, dabei wollten wir bleiben.
Mit der Leidenschaft wuchs auch unser Material und wir kurbeln mit acht Rädern garantiert den statistischen Bundes-Durchschnitt bei Frauen signifikant in die Höhe. Vier Rennräder, zwei Fullies fürs Grobe und zwei Hardtails für „gemischte Bedingungen“ sind ein kaum zu bewältigender Aufmarsch an Rädern in einem einzigen Kellerraum. Es musste etwas passieren und dabei halfen uns feuerrote Klapphaken, mit denen wir eine Disziplin in den Abstellraum brachten, ähnlich der in Schweizer Bahn-Gepäckwagen. Dank ihnen baumeln sie nun senkrecht an der Wand, auch wenn vor dem Baumeln erst noch ein Uraltmöbel meiner Großmutter das Feld „räumen“ musste. Evas Mission.
Fast jeden Winter, wenn die Tage eine kleine Statistenrolle zwischen den Nächten spielen, befällt Eva eine gewisse Dramatik, eine innere Rastlosigkeit, die sie fahrig und unzufrieden nach außen trägt. Es ist die Zeit, in der man kaum aufs Rad kommt. So war es auch in diesem Winter, kurz nachdem mir ihre Chile-Idee wie ein Donnergrollen in die Magengrube gefahren war. Ich zumindest hatte den Eindruck, sie vibrierte hoch explosiv von Zimmer zu Zimmer. Andauernd stöberte sie nach einem Ventil, zuckte von einer Aktivität zur andern und wusste nicht wohin mit ihrem Drang und ihrer Unruhe. Räder überholen, Kleiderschränke ausmisten, Schubladen neu organisieren, Bücher aussortieren, Garage aufräumen, keine Idee schlug ein, waren nur Brosamen für ihren hungrigen Rachen. Etwas Großes musste es sein, etwas Richtiges, am liebsten etwas Handwerkliches. Ihre Anspannung hätte den Kessel zum Platzen gebracht, wäre sie nicht zufällig ihrer Beschäftigung begegnet.
Es war beim Sprudel holen, als sie nebst Flaschen auch gleich unsere winterliche Aufgabe aus dem Keller mitbrachte: “Wir werden Omas Küchenbüfett restaurieren und in die Wohnung integrieren!“ Das war so entschlossen formuliert, dass sich der Spielraum für Diskussionen auf ein Minimum reduzierte. Es war mehr ein Befehl, der lediglich durch ein begeistertes Lächeln abgemildert wurde.
Hätte ich ihre vor fünf Wochen geäußerte Geburtstags-Idee, zu meinem Sechzigsten mit dem Rad durch Chile zu fahren, nicht so forsch ad acta gelegt, wäre mir die Zwickmühle erspart geblieben, in der ich mich nun sah. Die Wahl zwischen einer Fahrt ins Ungewisse und dem modrigen Keller. Denn zweimal „Nein“ hätte Alltagszerwürfnis bedeutet, heimische Schieflage und die galt es zu vermeiden. Also wählte ich den Keller, der mir wesentlich vertrauter und näherlag und ließ mich auf die Restaurierung des nikotingelben, tattrigen Oma-Möbels mit der „bemerkenswerten Ausstrahlung“ ein, das so unverrückbar hinter acht Rädern in der Ecke stand. Immer im Hinterkopf, dass damit sämtliche südamerikanischen Nebengeräusche verstummten. „Entweder/Oder“, kreiste in meinem Kopf, und eine Woche Bedenkzeit hatte ich mir auch ausbedungen.
Es war eines der Zugeständnisse, das man, kaum dass es ausgesprochen war, augenblicklich bereut.
Das Küchenbuffet meiner verstorbenen Großmutter ist mindestens hundert Jahre alt und besteht aus einem filigranen Oberteil und einem gigantisch schweren Unterteil mit drei Schubladen und zwei Türen. Die obere Thematik, von einem überdimensionalen Napoleon-Hut überkragt mit zwei gedrechselten Säulen und zwei Glastürchen ist professionell verzapft und verklebt und stand seit über vierzig Jahren unbewegt in der hinteren Ecke des Kellers. Seit meinem Einzug beherbergte es Elektroartikel, Fahrradzubehör, Bohrmaschine, Sägen, Maler- und Tapeziergerätschaften, Gartenutensilien und vieles mehr. Nichts sprach dafür, an diesem sinnvollen Gebrauch irgendetwas zu verändern, an der bemitleidenswerten Gesamtverfassung dieses Möbels mit den klemmenden Türchen, den polternden Schubladen, dem gesprungenen Lack, mit den hässlichen, roten Glasfensterchen und übermalten Schlossbeschlägen. Eingebettet in erdigen Modergeruch bettelte das Möbelstück mit seinen Macken geradezu, den Rest seiner Tage im Keller zu verbringen.
Die Woche war vergangen, wir schritten der großen Aufgabe entgegen, Eva mit viel, ich mit wenig Elan, und strebten zur gewittergrauen Tür des Abstellraumes. Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen, verbarg sich dahinter kein säuberlich aufgeräumter Raum, wo alles seinen Platz hatte. Der Keller in seiner respektablen Dimension entsprach mehr einem Lagerraum einer Speditionsfirma und umspannte die Ausgeburt meiner Sammelleidenschaft und der weitverbreiteten Mentalität, sich nur schlecht von Dingen trennen zu können. In der kühlen Atmosphäre stritten Koffer, Bollerwagen, Stuhl, Ski und Paddel um die begehrten Plätze, wertvolle, mit einem Teppich verhüllte Ölgemälde klappten in der Ecke gegeneinander, neben Farbbottichen, Blumenübertöpfen, Fliesen und Parkettresten. Körbe, Kisten, Kartons und weiteres Kleinzeug waren mal mehr, mal weniger geschickt dazwischen eingeflochten, alles in die Enge getrieben von Schränken und Regalen. In der Mitte der Flut verhakten sich unsere Räder und in der hintersten Ecke verharrte das unscheinbare Möbel. Kurzzeitig war mir bereits an der Tür der Mut zur Restaurierung abhandengekommen.
Geflecht entwirren stand an und ausräumen. Es blieb uns keine Wahl, als den sperrigen Kram in Richtung Waschküche zu bugsieren und an den Wänden des schmalen Kellergangs entlang zu beugen. Innerhalb kürzester Zeit sah es nach vorbereitetem Sperrmüll aus, nach angeschwemmtem Treibgut, nur eben trocken. Und dann ging es los. Als praktisch kein Stapelplatz mehr zur Verfügung stand, leerten wir den auserwählten Geschirrschrank und stiegen, stolperten oder taumelten dabei je nach Geschwindigkeit und Geschicklichkeit mit dem Handwerkszeug in der Hand über am Boden liegende Sachen und drosselten den engen Kellerdurchgang auf einen einspurigen Pfad herab und verschanzten die Zugänge von acht Parteien.
Leer zeigten sich dann die tatsächlichen Verwüstungen: dichter Holzwurmbefall, gerissene Rückwand, gelöste Stützsäule, kaputter Fuß, gesprungener Kitt, krumme Einlegebretter, konserviert in erdig faulem Kartoffelgeruch. Gehörige Zweifel zerrütteten mein Vorstellungsvermögen zu Chic und Ausstrahlung, wohingegen die Zerstörungen Evas wilden Eifer entfachten, sie glühte vor Entschlossenheit.
Als erstes schraubten wir im gedämpften Schummerlicht die Türchen des Oberteils ab, vielmehr versuchten wir dies zu tun, und erlebten eine frühe Niederlage. Dem Alter des Möbels gebührend, trafen wir Schlitzschrauben an, denen bereits arg zugesetzt worden war. Der einen fehlte der halbe Kopf, der anderen der ganze. Die restlichen Köpfe waren wundgedreht und manche Schraube war gar ein Nagel. Mit Zange, Schere, Spachtel und Messer gingen wir ganz unfachmännisch ans Werk, hebelten, bogen und zerrten an den Scharnieren, die in den über hundert Jahren unzählige Male dick überstrichen worden waren – und bogen sie krumm. Wenn Demontieren mit Demolieren gleichzusetzen war, machten wir alles richtig.
Nach dieser stümperhaften Arbeit stemmten wir unsere vier Büroarme gegen die herrschaftliche Verbindung des Oberteils und drückten was das Zeug hielt, beinahe sah es nach einem Sieg für das Holzgestell aus. Ewig lange wuchteten wir auf der einen, dann auf der anderen Seite und wieder von vorn, bis sich schließlich die Verklebung doch noch mit einem schlagartigen Ruck und berstendem Getöse löste. Der Impuls ließ den Aufsatz derart in die Höhe schnellen, dass er um ein Haar kopfüber auf den Boden gekracht wäre. Aufgeschreckt wackelten wir mit dem Gestell in die Waschküche, wo wir es auf dünnbeinige Holzböcke legten.
Der Aufbau war eine Sache, der Unterbau eine ganz andere. Schwer wie ein Amboss, gab der Block ächzende Töne von sich, als wir an ihm zerrten und da wir nicht lockerließen und ruckartig weiterrissen, schließlich das irre Geheul einer kollabierenden Dampfmaschine von sich. Wir wuchteten bis zum Umfallen und kaum stand der Koloss quer im Raum, trieb uns, zur absolut unpassendsten Zeit, ein ohnmächtiger Hungeranfall fluchtartig in die Wohnung. Wir in der Küche und unten das Chaos.
So sah der Anfang dieser unsäglichen Restaurierung aus und es wurde nicht besser. Der Abstellraum hatte durch die Schrank-Evakuierung seine Funktion eingebüßt, denn nicht nur die ausgeräumten Sachen lagen mitten im Raum, nun versperrten die eigenwilligen Möbelteile hinter der Tür auch noch den Zugang. Der Keller eine Trutzburg, uneinnehmbar.
Wenn es das Wetter zuließ, bugsierten wir das filigran-ausladende Obergestell mit dem monströsen Napoleon-Hut die gewundene Kellertreppe hoch, vors Haus, fädelten uns zwischen Buschwindröschen auf der einen und dichtem Lorbeerstrauch auf der anderen Seite hindurch und legten es mittig auf die aufgestellten Holzböcke. Das war unsere Ouvertüre. Dann zogen wir den Staubschutz übers Gesicht und gingen dem Möbel mit Winkelschleifer, Stahlwolle, Bürste und sonstigen kratzenden Utensilien an den Lack und kippten Spiritus über die Holzwürmer. Es war der Beginn körperlicher Ertüchtigungen, die jedem Orthopäden Zulauf verschaffen: Reinbuckeln ins Innere, beugen über die Seiten, ducken unter die Böcke, bücken, krümmen, verbiegen, einfach lauter schreckliche Übungen, die auf Dauer unbekömmlich sind.
Der feine Lackabrieb verstopfte augenblicklich das Schleifpapier und zwang uns einen rhythmischen Schleifen-Klopfen-Schleifen-Klopfen-Walzer auf, der durch asthmatisches Husten immer wieder jäh unterbrochen wurde. Laut waren wir natürlich auch mit dem kreischenden Material, und so blieb es nicht aus, dass nette Nachbarn kamen. Vor allem die Älteren gaben gerne Tipps und brachten sogar die eine oder andere brauchbare Gerätschaft mit. Krummeisen lieferten sie ab, Flachspachtel, Stemm- und Hobeleisen und noch einiges mehr. Die Mitbringsel kamen sehr gelegen, denn für jede Kante hatten wir nun ein extra Instrument. Plötzlich tobte der Wind um die Ecke und deckelte mit Staub unsere Augen zu. Kurz Rücken durchdrücken, Augen wischen und wieder rein in die Höhle.
Mit diesem ungemütlichen Gehabe verging die Zeit und verschwanden die Lackschichten des Jahrhunderts. Kam noch Regen dazu, hetzten wir mit der ausladenden Angelegenheit in den Hausflur und schauten fragend, manchmal eher ärgerlich zum Himmel empor. Je nach Wetterkapriolen ging es runter oder eben wieder raus. Wochen vergingen mit dieser Mission und dann stellten sich der Arbeit auch noch Hürden in den Weg, die unerfreulicher nicht sein konnten.
Als auch am dritten Tag nach der Grundierung die Oberfläche noch wie angetrockneter Honig klebte, hatten wir ein Problem. Vielleicht hätte ein Motivationstrainer das Problem als eine kleine Aufgabe heruntergespielt, wohin wir geradewegs dabei waren, unsere innere Ausgeglichenheit zu verlieren. Die Gemütsverwerfung gründete sich auf den dringenden Rat eines Baumarkt-Fachmannes, das Möbelstück ja zu grundieren. Wir hatten noch Zweifel geäußert, doch da hatte die Bestimmtheit seines Fachverstandes längst unsere Unkenntnis besiegt.
Zur pappigen Fragestellung stand nichts im Handwerkerbuch, eine geeignete Methode zur Entfernung klebriger Schichten auf Möbeln schien nicht erdacht. Geschmeidig produzierten wir mit dem Schmirgelpapier wurmartige Gebilde, ehe wir intuitiv unserem Verdruss folgten und zur Stahlwolle griffen. Mit der nötigen Portion Unmut rückten wir dem zähen Material auf den Leib und schmolzen uns die Metallfäden in die Haut. Pusten, schleifen, pusten schleifen, ständig lernten wir dazu.
Zum Streichen kam nur die Garage in Frage. Garagen sind Orte der Vielfalt, wie man weiß, bisweilen lauert sogar Kunst hinterm Tor, nur frei und sauber müssen sie sein. Während ich „High-Heel“ – mein Auto mit den übertrieben hochgeschraubten Stoßdämpfern – in die Parkschlange unterm Trottoir-Licht einreihte, rotierte Eva staubsaugend die Betonfluchten entlang, hielt den Rüssel in jede Ecke, und hinter jedes Rohr und jagte dem Kollektiv aus Spinnweben und Flusen hinterher. Im blitzblanken Milieu, steril wie ein Operationssaal, bockten wir schließlich das Oberteil wie eine Königssänfte auf. Dann wollte ich allein sein.
Einen Gehirnschaden galt es beim Malern auf jeden Fall zu vermeiden, hereinplatzenden Staub von der Straße ebenso. In dieser Balance meiner Überlegungen griff ich zu einem Kübel relativ ungefährlicher Farbe und sorgte für einen Spalt Frischluftzufuhr. In schäbiger Montur baute ich mir mit kleinem Klapphocker mein Malerreich auf, deckte den Boden ab, positionierte den glühend heißen Flutlichtstrahler, legte mir eine Garnitur verschiedener Pinselgrößen und Schaumstoffwalzen zurecht samt Putzzeug und ließ das Radio vor sich hin plärren.
Langsam schmatzte ich mit der weißgetränkten Rolle über die Oberfläche, zog Bahn um Bahn, mal längs, mal quer und umkreiste auf diese Art rollend und tropfend das Oberteil, bis ich dort ankam, wo ich gestartet war. Vertiefungen, Rundungen und Rillen kam ich mit dem Flachpinsel bei, Nasen wischte ich ab. Als alles unterm weißen Lack lag, hob ich leicht benebelt die Garagentür an und duckte mich ins Freie. Zwei Tage lang war es strengstens verboten, die Garage zu betreten, dann begann ich mit der Prozedur von vorn.
Das filigrane Oberteil war im Verhältnis zum plumpen Unterbau eine spaßige Vorübung, denn die Kommode hatte das ungeheure Gewicht und die Ausmaße einer Doppelwaschmaschine. Nicht nur das Gewicht ließ uns zweifeln, man konnte sie auch kaum greifen. Bis wir den Klotz in die Garage bugsiert hatten, war unser Bedarf an Schrammen längst gedeckt. Es war deshalb gut nachvollziehbar, dass Eva bereits jetzt mit der Frage haderte, wie wir das wuchtige Möbel überhaupt in die Wohnung bekommen würden. Eine Antwort gab es auf diese furchterregende Vorstellung nicht und noch heute staunen wir über den Gewaltakt, den wir drei Stockwerke lang vollführten.
Doch erstmal regnete es. Als das graue-Platte-weißer-Korpus lackierte Unterteil mit seinen vier Anstrichen nicht mehr klebte und der Regen eine Pause einlegte, rafften wir uns auf, verkeilten die offene Eingangstür und schlichen besorgt zur Garage. Vor der eigentlichen Übung hatte Eva ihr obligatorisches „wer führt?“ gefragt. Genau wie fünf Monate zuvor, als wir schon einmal in einer ähnlich vertrackten Lage waren, als es darum ging, einen wesentlich leichteren, flaschengrünen Sessel in die Wohnung zu bugsieren. Bereits an der Gartentreppe waren wir derart ins Straucheln geraten, dass wir mitsamt dem guten Möbel unelegant in den Bodendecker der Rabatte fielen. Einen Unfall mit der Kommode würden wir nicht überleben.
Als nächstes ging es in die tiefe Hocke. Das Anheben des Brockens erforderte das geübte Geschick und die Kraft eines Gewichthebers, um nicht mitsamt dem Möbel umzukippen. Und dann wurde es nicht besser, als wir mit zusammen gepressten Lippen in kleinen Entenschrittchen durch den Garten tippelten. Zuschauer gab es keine, Eva führte. Mit 1,60 m Körpergröße saß ihr die kantige Platte zackig im Genick und hebelte den Kopf wüst nach unten. In dieser Haltung schlurfte sie der großen Ungewissheit entgegen. Mit dem Kinn auf der Brust, konnte sie nur noch unverständliche, verdruckte Klagelaute von sich geben, als hätte sie einen Knebel im Mund. „M, m, mmm!“ hieß sofortiges Absetzen und eine Pause einlegen. Doch Pausen hatten es in sich, denn jedes Mal zwang uns das Schwergewicht erneut in die verhängnisvolle Hocke. Zittrig, wackelig und mit vielen Unterbrechungen standen wir schließlich am Hauseingang und schauten düster die steile Treppe empor. „Von Stufe zu Stufe“ sagte ich unnützerweise, was hätte man auch anderes annehmen können.
Evas Jammern wurde schriller als wir die erste Treppe nahmen, die Laute beängstigender, denn das Ungetüm klopfte ihr nun auch noch die Waden weich. Sie buckelte vorn und ich schindete mich hinten und am Rauputz scheuerten wir uns die Ellenbogen blank. Im Innern stimmten die Bandscheiben ihren Moll-Singsang an und spielten Vorfall, Ischias und Hexenschuss auf der Klaviatur der Orthopädie. Von Stockwerk zu Stockwerk frischten wir unsere Wundmale auf, wir taten, als gelte es, einen Goldschatz zu sichern. Die Tragezeiten unseres Büßerganges wurden kürzer, immer öfter stellten wir ab. Jede Stufe wurde mühsamer, die Beine schwächer. Schwitzend, stöhnend und rumsend arbeiteten wir uns peu a peu nach oben. Es war unfassbar, dass keine Wohnungstür aufging bei unserem überreizten Gekicher und dem Gepolter, das wir verursachten.
Nach unzähligen Stopps, Neustarts und brüllend lauten Quietschgeräuschen standen wir tatsächlich irgendwann vor unserer Wohnungstür. Nur noch 10 Schritte, ein letztes Mal dieses schwere Monstrum anheben, das Ziel vor Augen. Dann setzten wir es endgültig und ein für alle Mal an seinem neuen Platz ab. Mehr Kraft war eigentlich nicht in unseren Körpern. Im stillen Einvernehmen platzierte ich zwei Hocker neben den Schrank, dann wackelten wir mit zuckenden Knien die Treppe hinunter. Kurzzeitig war die Erschöpfung dem Gefühl der Zuversicht gewichen, als wir die leichte, dafür umso sperrigere obere Thematik in den Händen hielten. Jetzt ging es um Koordination. Mit den ausgeleierten Armen winkelten wir das Gestell übers Treppengeländer, trugen mal waagrecht, mal hochkant und ab und zu auch geduckt unter der niedrigen Treppenkante und verkniffen es tunlichst, das filigrane Stützwerk abzustellen. Es glich einem Wunder, dass wir nirgends aneckten.
Als wir vor der Kommode standen, waren wir erschlagen und noch immer hielten wir das Oberteil in den Händen. Messerscharf schnitt der Aufsatz in den Oberschenkel, der unter der Anstrengung krampfartig flatterte. Wie wir mitsamt dem Aufsatz auf die Hocker kamen, blieb mir ein ewiges Rätsel. Wieder hatte Eva auf Drei gezählt, bevor wir mit einem finalen Aufschrei an Anstrengung das Oberteil in die Höhe rissen und es punktgenau auf die Kommode setzten. Sämtliche Holzdübel waren in ihren Löchern verschwunden, es saß. Die Erschöpfung übertraf bei weitem unseren Stolz. Kaputt knickten wir wie zwei Garderobenständer aufs Sofa und waren zu nichts mehr in der Lage.
Natürlich standen wir irgendwann wieder auf, zwei Armlängen entfernt lockte schwäbische Mandel-Schokolade und rote Klapphaken samt Dübel lagen auch schon bereit.
Die Ordnung der Tage war durch die Renovierungsarbeit bedenklich zunichtegemacht, Wochen, in denen stupide über Holz gekratzt, geschmirgelt und gerollt wurde. Und in dieser hoch angespannten Zeit hatte Eva noch den Mut aufgebracht, über Südamerika zu fantasieren. „Nach Chile fliegt man 14 Stunden“, hatte sie irgendwann schwärmerisch eingeworfen. Klebrig hielt sie an ihrem Thema fest, fantasierte mit trotzigem Optimismus über Anden und Vulkane, während wir uns den Rücken krümmten. Chile schwebte über unserem Tun, als redete sie über ihre Heimat.
Lange hatte ich mich gegen die Idee gewehrt, mich mit der staubigen Angelegenheit von weiteren Plänen abgelenkt und hatte erst dann, als das bemalte Unterteil in der Garage trocknete und wir an einem herrlichen Sonntag mit dem Rennrad in Richtung Schwarzwald fuhren, nachgegeben. Im Rausch der kreisenden Beine erschienen mir sonnenbeschienene Berge plötzlich weit lohnender als eine Geburtstagsfeier in der winterkalten Heimat. Wahrscheinlich tummelten sich in der Überlegung auch noch Fetzen meines Wunsches als Studentin, quer durch die Anden zu wandern, den ich nie verwirklicht hatte.
Schlagartig elektrisierte mich die Idee. Im Überschwang orientierte ich mich am Erfolg unsrer Renovierung. In dieser überschießenden Phase gab es nur wildes Vorwärtsdenken, grenzenloser Übermut, dem wir letztendlich den verwegenen Entschluss verdankten, kein enges Schnürleibchen einer Reisegruppe anzulegen, wo man morgens schon wusste, was man abends aß. Und damit waren wir mittendrin im Thema, Südamerika auf eigene Faust, dreister konnte man gar nicht starten. Aber noch war ja alles geheim, noch „wurschtelten“ wir im Verborgenen vor uns hin.
Mit einer wasserfesten Chile-Karte im Maßstab 1:1,6 Millionen legten wir los. Ob die Eigenschaft „wasserfest“ dem vorherrschenden Klima geschuldet war, wussten wir nicht. Mit dem Maßstab hätten wir uns jedenfalls weder in Deutschland noch in Europa auf Tour getraut. Die Karte ist mehr oder weniger ein Zwei-Farben-Druck, in Blau und Braun. Blau ist der Pazifik, der kam nicht in Frage, dunkelbraun sind die eisigen Höhen über viertausend Meter, dort zog es uns auch nicht hin und das kränkelnde Beige war uns zu wenig. Die Mischung macht’s dachten wir und suchten weiter auf diesem ellenlang vor uns ausgebreiteten Land, von links oben bis rechts unten und wieder zurück, viertausend Kilometer lang. Alles faszinierte uns, überall gab es Perlen, wir taten uns schwer.
Wenig Klarheit brachten auch ein zwanzig Jahre alter englischer Reiseführer in Papierform und zwei Radreisebücher quer durch den Südamerikanischen Kontinent, wobei die Bücher den Reiseführer bei weitem übertrafen.
Richtig Fleisch ans Gerippe kam erst mit dem PC. Mit ihm scheffelten wir Informationen und füllten dicke Notizblöcke. Alles, was wir aufschrieben, kam uns hochwichtig vor. Natürlich gab es auch Bedrohliches zu lesen, schreckliche Erlebnisse, die Radreisende zu bestehen hatten, wo neben Wassernot noch ganz andere Gefahren lauerten. Doch alles war erstmal aufregend und fesselnd, im heimischen Wohnzimmer bei Tee und Schokolade.
Nur nachts war es vorbei mit spannend. Lag man endlich im Bett, kam man mit den prallen Geschichten kaum zur Ruhe. Nachts, wenn man sich mit Grübeln den Schlaf verscheuchte, manchmal stundenlang. Und war man schließlich eingenickt, kamen die Nebenwirkungen der Lektüre. Nicht wenige Male zerfetzten heftige Träume den Schlaf, die als Traumschnipsel schemenhaft noch lange nachhallten. Angsttrümmer, die den Tag säumten, ehe er sich seine Berechtigung holte. Und dann begann das Spiel von vorn.
Lange kreiselten wir im Chile-Taumel, schichteten und schachtelten Fragen in- und übereinander, fieberten und fantasierten, wurden übermütig und maßlos, schlugen Purzelbäume und irrlichterten bereits auf dem fremden Kontinent, um im nächsten Augenblick wieder hart auf realem Degerlocher Boden zu landen. Strapaziös war diese Phase, ein wackeliges Hin und Her, zwischen Euphorie und Zweifel, Hochstimmung und Wankelmut.
Im gedanklichen Kuddelmuddel gossen wir unsere Fiktion in praktisches Handeln, in eine Nagelprobe, wie wir sie nannten, unsere Gepäckfahrt an den Königsee. Die Tour erschien uns zu überschaubar und unaufgeregt, als dass sie der Hauch einer frühen Niederlage umwehte, zumindest redeten wir uns das ein.
Mit Erholung hatte die Etappen-Fahrt nichts zu tun. Ein reiner Test war das, eine Probe für Mensch und Material, um Fragen zu Gicht und Gebrechlichkeit zu klären, zur Robustheit der Räder und ob die Zeltausrüstung etwas taugt. Ein Breitbandtest also, eine frühe Entscheidungshilfe über Hopp oder Top. „Top“ hieß Rad fahren in Südamerika, „Hopp“ Geburtstag feiern in Degerloch.
Auf einer der höchst frequentierten aller überbevölkerten Strecken Deutschlands probten wir für die Anden. Eine simple Fahrt, ein passgenaues Schnittmuster für unsere Hoffnung auf kolossalen Rückenwind. Denn den brauchten wir. Für mich war es über dreißig Jahre her, dass ich mit Gepäcktaschen gefahren war, Eva betrat Neuland.
Fiebrig stellten wir eine Gepäckliste zusammen und hatten Glück, dass beim Discounter gerade Packtaschen angeboten wurden, blau für mich, rot für Eva. Wir hatten uns zu diesen Taschen überreden lassen, zur dünnen Qualität und der lächerlichen Größe.
Ähnlich sah es mit der Brauchbarkeit der Gepäckträger aus. An Evas uraltem, weißem Exemplar war der Lack splittrig abgeplatzt und rostete schartig vor sich hin. Um ihn am Rahmen zu befestigten, mussten wir zwei kantige Verbindungsstäbe zurechtbiegen. Auch für meinen labilen Alu-Gepäckträger krümmten wir Metallstreben, die wir mit einer überlangen Schraube direkt an der Sattelklemme fixierten.
Noch unprofessioneller benahmen wir uns mit meiner Sattelstütze. Da ich Sitzbeschwerden von vornherein aus dem Weg gehen wollte, tauschte ich vorausschauend meine starre gegen Evas ausgemusterte, gefederte Sattelkerze aus. Leider hat diese einen etwas zu klein bemessenen Rohrdurchmesser und rauschte ungebremst nach unten, sobald man sie in das Sattelrohr schob. In unserer Bastellaune klemmten wir ein Stück abgeschnittenen Fahrradschlauchs dazwischen, Gummi benimmt sich wie Sekundenkleber hatten wir festgestellt, die Sattelstütze steckte bombenfest – leider in der falschen Höhe. Noch ehe sie auf die richtige Sitzhöhe herunter gewuchtet war, hatte ich eine dicke Blase an der Hand. Verständlich, dass ich mit dieser quick-and-dirtyLösung nie mehr etwas zu tun haben wollte.
Für die fünftägige Tour kam nur das Allernötigste mit, Hose und Blusen für abends, Rad- und Regenkleidung, Schuhe, einen Beutel mit Hygieneartikeln, Landkarten, Kamera, GPS-Gerät und sonstige Kleinigkeiten. Wir häufelten unsere Sachen als „Häppchen“, mal mehr, mal weniger geschickt in die Packtaschen und bestaunten die eigenartige Verwandlung dieser Behältnisse hin zu einer Figur, ähnlich eines aufgeblasenen Luftballons. Die bunten Kugeln wirkten lächerlich und zur Krönung der Aufmachung klickte jede am Lenker eine Tasche ein. Ein altmütterlicher, unsportlicher Oma-look mit dem wir auf die hochwichtige Premieren-Fahrt gingen.
Unsere Anspannung steigerte sich ins Unermessliche und entlud sich in einem emotionalen Gewirr aus Begeisterung, romantisierender Jugenderinnerung und wilder Abenteuerlust. Wir kamen uns wie Teenies vor, unglaublich jung und wagemutig - auf dieser Tour der gesplitteten Waldwegchen, der runden Hügelchen, netten Sträßchen und der nahen Ortschaften, mitten in Deutschland. Und um den Wagemut nicht zu übertreiben, lud Eva den Track aufs GPS-Gerät.
Aufgeregt wie beim Schulausflug und voller Erwartung machte sich ein kühnes Gefühl breit, als wir früh morgens bei erfrischend klarem Wetter losfuhren. Ungewohnt wackelig, wegen der schweren Lenkertasche, schlingerten wir zu unserer Fahrt ins Ungewisse. Nur wenige hundert Meter hatten wir Zeit, uns an die neue Balance zu gewöhnen, dann ging es auch schon in wilder Sause die Neue Weinsteige hinab. Zum Glück war es Samstagmorgen und kaum ein Auto auf der Straße, denn unerhört großzügig nahmen wir die Kurven und bretterten waghalsig an den Blitzern vorbei.
Nach fünf Kilometern befanden wir uns am Bahnhof und steuerten direkt zur Anzeigetafel, auf der ausgerechnet unsere Zugverbindung nach Ulm nicht stand. Die Schalterbedienstete schickte uns pampig zum hintersten Abstellgleis und ich wunderte mich, wie geübt manche Menschen bereits früh morgens in schlechter Laune sind.
Zwischen Hochhauspfeilern und bunten Graffiti-Wänden schlich der Zug übers Bahnhofs-Gleisgewimmel, nachdem wir die Räder im Gepäckraum festgezurrt hatten, und polterte den Rosensteinpark entlang. Sonnenstrahlen funkelten durchs dichte Busch- und Blattwerk, als wir auf der Besichtigungsfahrt an Schleuse und Stadion vorbei glitten, bevor die Toskana-Silhouette der Rotenberg-Kapelle auftauchte. An den Hängen Weinberge, wie mit dem Lineal gezogen. Und als sich Felder, Wald und Wiesen um die größeren Anteile stritten, als Ziegen, Graureiher und Kühe staksig dem Tag entgegengingen, hatte sich auch die letzte Anspannung bei uns gelegt. In altersgerechtem Zen-Zustand strahlten wir freudig vor uns hin.
Duzende Kirchtürme fegten an uns vorbei, die sich mit ihren Türmchen verzweifelt an Sendemasten, Fabrikschloten und Hochhäusern maßen, das reinste Vorgeplänkel - wenn man ans Ulmer Münster dachte, das sich nach gut einer Stunde unverkennbar vom modernen Stadtbild abhob: stark, erhaben und doch äußerst zerbrechlich. Und als wir nach unserer Ankunft in unmittelbarer Nähe standen, die hauchdünn übereinander gebauten Gesteinssäulen emporsahen, wo Türmchen auf Strebepfeilern thronen, mit eingeflochtenen Rosetten und Rundbögen, Fialen und teuflischen Wasserspeiern, wo Verzierungen nochmals verziert und umschmückt sind, und all dies erst in über 160 Meter Höhe zu Ende ist, ergriff uns Ehrfurcht vor diesem alten Gemäuer. Über fünfhundert Jahre lang wurde daran gebaut und konstruiert und als das Münster endlich vollkommen war, tobte der Krieg. Es war ein Wunder, dass es unbeschadet blieb.
Mit drei Klicks aktivierte ich das GPS-Gerät. Im frischen Schwung des freudigen Anfangs kurbelten wir zur nahen Donau und stiegen genauso schnell wieder ab. Man kann sich unser Entsetzen kaum vorstellen, als uns nach knapp achthundert Metern ein augenreizender Ton aus Evas Hinterrad stoppte, das schrille Pfeifen einer Bremsscheibe. Wieso es da unten wie im Schraubstock zuging, war uns ein Rätsel. Per Zufall war ein Fachgeschäft in nächster Nähe.
Im Laden drehten sich die Köpfe irritiert zur Tür als wir eintraten, was weniger uns als vielmehr dem Gekreisch und unserem Gepäck galt. Da eine „größere Reparatur“ nicht möglich war, wie der Monteur sich ausdrückte, ließ er einfach einen Teil der Bremsflüssigkeit ab und meinte, es wäre gut so. Den Torx-Schlüssel für die Ablass-Schraube gab er Eva vorausschauend mit, falls nochmals Flüssigkeit abgegossen werden muss, denn er prophezeite, dass sie noch höchstens einhundert Kilometer weit kommen würde. Die Frage, wie oft man Bremsflüssigkeit ablassen könne, bevor die Leitung trockengelegt wäre, stellte ich lieber nicht. Wir standen am Beginn unserer Tour und hatten schon weiche Knie, denn Panne Nr. 1 war zu vermelden.
Auf der tadellos ausgeschilderten Zugangsstrecke zur Iller bogen wir zackig auf den Radweg ein und sandelten bald im Wald herum. Es gab fast keine Steigungen und genauso wenig Gefälle, was zur Erholung der Bremse und auch für uns recht angenehm war. Die eintönige Strecke war durch einen Lehm verkrusteten Bagger am Wegrand und durch eine alte Eisenbahnbrücke, die über uns querte, etwas aufgemöbelt, sowie durch eine Mühle, an der wir vorüber kamen. Zügig knirschten wir den breiten Weg entlang und doch schwankte ich wie an einem Absturz. Laut GPS fuhr ich nämlich auf einer Kante. Rechts des Wegs zeigte das Display Geländesignaturen und ein intaktes Wegenetz, links davon klaffte Weiß, also nichts. Auch wenn mir Evas Erklärung einleuchtete, dass sie nur die Baden-Württemberg-Karte aktiviert hatte und nicht die von Bayern, war es äußerst unangenehm, am Rande von „Nichts“ zu fahren.
Die beglückende Begleitmusik malmender Reifen ließ uns leichtfüßig pedalieren, ein untrügliches Zeichen, dass die Maschinen liefen. Locker kurbelten wir ein schlichtes Wegchen entlang, als plötzlich ein missgestimmtes Cello den Ton verdarb. Wieder ein Ton von hinten und wieder ein Schaden. Eine meiner zwei Packtaschen schwang nur noch an einem Haken, am anderen war ein Niet gebrochen und läutete den baldigen Kollaps ein. Anscheinend waren sie eher für brave Sträßchen als für muntere Wildnispfade ausgelegt. Mit soliden Textilbändern knüpften wir das Malheur an den Gepäckträger und hofften auf eine Reparatur am Abend.
Wir bogen ab und suchten in der Marktgemeinde Altusried nach einer ersten Übernachtung und waren bass erstaunt, wie einfach man es uns hier machte. Obwohl „Don Quichote“ auf der Freilichtbühne gerade Publikum aus nah und fern anlockte, ergatterten wir im Handumdrehen eine große Ferienwohnung bei einem freundlich zugewandten, älteren Ehepaar. Und wäre dies nicht Freude genug, entdeckte ich beim Rundgang durchs Appartement eine etwas betagte, einfache Standschleuder im Gäste-WC, eine ekstatische Wonne für jeden Radreisenden, fast so, als hätte man einen Trockner dabei.
Flink packte ich nach dem Duschen unsere kleine Handwäsche in die weiße Schleuder und kam unserer berechtigten Hoffnung, am anderen Morgen trockene Wäsche einpacken zu können, ein beträchtliches Stück näher. Doch dann lief alles aus dem Ruder, als die hüpfende Schleuder mit ihrem irrsinnigen Gebrüll literweise Wasser aus den paar Wäschestücken herauspresste und zwar direkt auf den Boden. Der milchige Schwall blockierte kurzzeitig mein sachliches Handeln, ehe ich ins benachbarte Wohnzimmer stürmte, den beiden blühenden Brunfelsien auf dem Esstisch die Übertöpfe entriss und zur brüllenden Schleuder zurück spurtete. Das WC schwamm schon im eigenen Saft und auch meine Schuhe gaben den Widerstand gegen die Nässe auf, als ich mich zum schwallenden Rohr hinunter buckelte und mit der Arbeit begann. Rhythmisch rotierte ich wie ein Schaufelrad, auffangen, weggießen, auffangen und hatte dabei die allergrößte Mühe, mit dem ausgestreckten Arm ans Waschbecken zu kommen. Es war beruhigend, dass aus dem munteren Plätschern irgendwann ein zartes Tröpfeln wurde.
Der Herr des Hauses war äußerst kontaktfreudig und in gleichem Maße hilfsbereit. Mir schien sogar, dass ihm die kaputte Tasche wie gerufen kam. Eine Schraube samt Mutter und Unterlagscheibe wird sich finden lassen, meinte er und war wie ein aufgeregter Junge davongeeilt. Beflügelt von seiner Zuversicht, gingen wir zum Abendessen und prosteten uns vorab schon gutes Gelingen zu.
Als der Hausherr mit der Tasche kam, hatte er viel zu erzählen. Atemlos schilderte er seine erfolglose Suche in Schubladen und Aufbewahrungskästchen im ganzen Haus und dass er auch noch die halbe Nachbarschaft abgeklappert hatte. Aber der zweistündige Wiederaufbau hatte sich gelohnt. An der labilen Tasche strotzte nun ein unverschämt großes Bollwerk aus Schraube, Mutter und Unterlagscheibe, das nie wird kollabieren können, selbst dann nicht, wenn es schon längst keine Tasche mehr gab. Die Verankerung gab mir und unserem Unternehmen ungemein Selbstvertrauen. Panne Nr. 2 war behoben, und wie!
Mit dieser Zuversicht vor Augen, pendelten wir am anderen Morgen zur Freilichtbühne, etwas außerhalb des Ortes im Riedbachtal, wo schon seit über 125 Jahre Freilichtspiele aufgeführt werden. Dort bewunderten wir die imposante Konstruktion des geschwungenen Holzdachs der Zuschauerränge, ein architektonisches Schmuckstück, das uns sehr beeindruckte. Beglückt fädelten wir uns zurück in die Spur des GPS-Geräts ein.
Die Strecke zog bisher sture Bögen um sämtliche Ortschaften herum, als gelte es, Kontakt zu Menschen zu vermeiden. In diese Berührungskrise platzte das Schild „Bahnhof“ wie eine Sensation herein, das ich noch vor Kempten an einem Strommasten entdeckte und das rechts ab zeigte. Wir schwelgten bereits in einer Tüte Hörnchen und Brezeln, als wir uns den steilen Weg hochdrückten, doch oben waren wir dann eine Umdrehung schlauer. Anstelle von Kiosk, Laden oder Bistro standen wir am Güterbahnhof vor einem Haus hohen Metall-Regal und starrten auf die Vorratshaltung der Deutschen Bahn, auf Achsen, Kupplungen, Rohre und Bleche. Eva drehte schon um, als ich ihr ein Zeichen gab, nur kurz einige Fotos zu schießen.
An meinem Fahrrad gibt es keinen Ständer, weshalb ich es immer an den nächstbesten Behelf anlehne. Wie schon hunderte Male zuvor griff ich auch dieses Mal an den Sattel und hob ihn an. Raketen artig schnellte mir die rechte Hand dabei nach oben mitsamt dem Sattel und einem Stück Sattelstütze unten dran. Das Rad blieb einfach stehen. Ratlos starrte ich die abgetrennte Stütze an, für mich war die Tour so gut wie beendet. Erst beim näheren Untersuchen entdeckten wir eine Rändelmutter, die sich in das feine Haargewinde einschrauben ließ. Kein großes Prozedere, und doch strahlten wir, als hätten wir die Schraube erfunden. Panne Nr. 3 war behoben, ich konnte wieder sitzen.
Wir fuhren technikunterstützt einem lilafarbigen Strich hinterher, es war bequem, es ging bergab und doch waren wir falsch. Die beiden GPS-Touren, die Eva miteinander kombiniert hatte, der Iller -Radweg und der Bodenseeradweg, kreuzen sich in Immenstadt. Nahtlos waren wir von einem in den anderen Radweg übergewechselt, ein äußerst wünschenswerter Übergang war das sogar, nur eben in die falsche Richtung. Wir hatten keinen Anlass gesehen, irgendetwas auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. Ständig kamen uns viele Radreisende entgegen und mit ihnen wuchsen meine Zweifel. Nach zehn Kilometern Zweifelns und Wunderns fasste ich mir schließlich ein Herz und fragte. Die Wahrheit traf uns furchtbar hart. Es waren weniger die umsonst zurückgelegten Kilometer, die uns ärgerten, sondern der verheerende Gedanke, der mir durch den Kopf jagte, wie das wohl in Südamerika mit uns werden würde. Fassungslos über diese katastrophale Leichtfertigkeit begegneten wir dem Irrtum mit einer 180 Grad Kurve. Und auch diesen Lapsus verbuchten wir als Panne, Nr. 4, allerdings mehr im kognitiven Bereich.
Das Iller Tal lag nun hinter und buckliges Voralpenland vor uns, wir steuerten auf den Grünten zu. Manch einer ließ sich auf diesen Berg samt Sessel hochtragen, wir dagegen zogen es vor, die ersten Steigungsprozente in Angriff zu nehmen. Wie gewonnen, so zerronnen, war das Thema dieses hügeligen Kapitels, denn kaum war man oben, ging es im Schuss bergab. Zum ersten Mal knackten wir die tausend Meter Höhenmarke und zum ersten Mal hatten wir freien Blick zu den Alpen.
Mein persönlicher Höhepunkt an diesem Tag war jedoch das außergewöhnlich inspirierende Gepäck-Transport-Unternehmen, das uns spätnachmittags begegnete und mich durch seinen praktischen Lösungsansatz auf Anhieb begeisterte. Der Ballast eines Radler-Ehepaars konzentrierte sich nicht wie bei uns auf Gepäckträger und Lenker, er lagerte in einem zitronengelben Sack auf einem windschnittigen Metallgerüst und lief dem männlichen Radfahrer auf einem kleinen Rädchen hinterher. Das Boot ähnliche Gefolge war mir äußerst sympathisch, ich wollte auch so einen bunten Sack hinter mir herziehen.
Anderntags waren wir alles andere als alleine und auch die Berge der näher rückenden Alpenkette tauchten nun in einer Vielzahl und Gewaltigkeit auf, wie wir sie schon lange erwartet hatten. Ab und zu setzte ein See sein i-Tüpfelchen in die Landschaft. „Wer sieht Neuschwanstein zuerst?“ stachelte ich uns gegenseitig an, als wir voller Ungeduld in Richtung Hopfensee radelten. Unser Zeitbudget zu Beginn des Tages war noch prall gefüllt, was uns die Gelassenheit gab, einen Abstecher zum Märchenschloss zu machten.
Im zähen Strom der internationalen Besucher wanderten wir den steilen Weg mit den Rädern empor, geradewegs zur Marienbrücke. Eva sind wackelige Brücken ein Graus und ebenso Brücken, zwischen deren Holzbohlen man Hände durchstrecken kann. Sie blieb auf sicherem Boden, während ich mich über die gurgelnde Schlucht begab. Zwischen aufgeregtem Geschnatter und fremdsprachigem Freudentaumel ließ ich kurzzeitig diesen einmaligen An- und Ausblick in mir wirken.
Auf unserer Tour waren wir schon an vielen Radreisenden vorbeigefahren, doch nur ein Radfahrer blieb uns in Erinnerung, Johann, dem wir bei einer kurzen Rast begegneten. Er hatte nicht nur als Mensch eine feine Art, er hatte auch ein abenteuerliches Gepäcksystem dabei, das er uns freudig präsentierte. Auf seinem Gepäckträger klemmte ein Sperrholzrahmen in der Größe eines halben Esstischs, in den ein Koffer eingepasst war. Öffnete er in seinem Besitzerstolz den Deckel, erschien eine Art Bauchladen, ein liegender Setzkasten, in dem sein Sammelsurium wunderbar einsortiert lag. Kamera, Karten, Werkzeug und noch vieles mehr steckte in einem eigenen Fach. Die ausgezirkelte Konstruktion war bleischwer, also nichts für uns, und doch bestechend praktisch. Johann hatte dasselbe Ziel wie wir und war in ähnlichem Tempo unterwegs. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden wir uns wiedersehen, doch sicher waren wir uns nicht.
Denn erst einmal stach uns der Hafer und wir entschieden uns, die klassische Strecke zu verlassen und den hübschen Schlenker über Alp- und Plansee zu fahren. Nicht, dass wir übermütig geworden wären oder der Radfahrer überdrüssig, der Schwenk war einfach attraktiver und ein paar Berghänge mehr würden bestimmt auch nicht schaden. Hatte man auf mehr Ruhe gehofft, überkam uns nun das deutliche Gefühl, in einem Tumult gelandet zu sein. Ein Marathon war in vollem Gange und als ich in so manch erschöpftes Gesicht schaute, das die Beschwernis dieser Anstrengung ausstrahlte, erfasste mich erneut ein Hochgefühl. Wie angenehm war es doch, mit dem Fahrrad so viel schneller und leichter unterwegs zu sein.
Mit dieser Erkenntnis kurbelten wir in unserer Sommeraufmachung über die Fernpassstraße und waren mehr als glücklich, dem nervösen Verkehr entkommen zu sein, als wir in Richtung Ammergebirge abbogen. Inmitten der Bergflanken kontrastierte der dunkle Wald wunderbar mit dem hellen Türkis des Plansees, auf dem ein kleines blaues Boot rhythmisch vor sich hin dümpelte. Als ich hochschaute, brauten sich dicke Wolken zusammen, doch da laut Wettervorhersage nicht mit Regen zu rechnen war, genossen wir ausgiebig die Szenerie.
Mal mehr, mal weniger zaghaft führte uns die Straße über den Ammersattel, der so unscheinbar mitten im Wald liegt und doch als Zeichen für die nun folgende Abfahrt mehr als willkommen war. Schloss Linderhof in seinem überschwänglichen Rokoko bedachten wir nur eines kurzen Blickes und auch am Kloster Ettal legten wir eine mehr als knappe Pause ein. Wir strebten zum Loisachtal, wo wir uns in Eschenlohe wieder in die offizielle Königsee-Strecke einfädelten. Bis Benediktbeuren waren es noch vierzig Kilometer und da die Zeit merklich vorangeschritten war, erhöhten wir die Kurbelumdrehungen und schauten fast nur noch geradeaus.
Im Kloster Benediktbeuren, unserem heutigen Übernachtungswunsch, war jedes noch so schmale Bett schon belegt, im Nachhinein eine wunderbare Fügung. Denn Johann nächtigte im selben Hotel wie wir und lud uns abends in der Gaststube durch sein gewinnendes Lächeln zu sich an den Tisch, wo ein gemütliches gemeinsames Essen den Tag abschloss. Es stand mir nicht zu, mich über seinen kleinen Salatteller zu belustigen, während wir uns dicke Knödel, Braten und gebundene Soße in die Mäuler stopften, aber im Verhältnis zu seiner Körpergröße und den abgestrampelten Kilometern aß Johann fast nichts. Umso mehr Zeit hatte er, uns von seinen Gewohnheiten und Reisen zu erzählen. Auch über seinen ungewöhnlichen Ess-Rhythmus philosophierte er, alle zwei Stunden eine Vesperpause einzulegen. Essen als Prophylaxe, dachte ich und stellte mir vor, wie ich das bei meinen Portionen wohl schaffen könnte.
Wie alte Schulkameraden begannen wir, uns gegenseitig in unser Leben einzuweihen. Als Kartograph von Beruf, schien es Johann ein inneres Bedürfnis zu sein, die Symbole der Landkarten auf seinen Reisen mit den realen Gegebenheiten abzugleichen. Jede freie Minute nütze er, um unterwegs zu sein, am liebsten alleine, meistens mit dem Fahrrad. Am eindrücklichsten blieb aber seine Geschichte zur Großglockner-Wallfahrt, auf der schon seit Tausenden von Jahren gepilgert wird und an der er jährlich teilnimmt. Unter dieser Betrachtungsweise drängte sich mir der Vergleich zu unserer eigenen Etappen-Fahrt auf. Im Grunde pilgerten auch wir durchs Land um herauszufinden, ob wir bereit waren für Größeres. In diesen Gedanken lag der Reiz der Unterhaltung und mit einem Male sah ich mich schon am Beginn unserer Südamerika-Reise stehen.
Wie immer kontrollierten wir morgens penibel unsere schwachen Nieten und freuten uns diebisch über die gigantische Metall-Verschraubung an meinem Haken. Am nächsten Tag würden wir in Schönau ankommen, der anvisierten Ziellinie unserer Tour. Schon jetzt hatten wir wesentliche Erkenntnisse gewonnen und die lauteten: unser Material war ungenügend, doch körperlich fühlten wir uns topfit.
In einem dieser Momente, wo man nichts als unbändige Freude empfindet, wo man mit Lust und Elan auf die Pedale eintritt und denkt, nichts könne sich einem jetzt noch in den Weg stellen, versagte meine zweite Gepäcktasche. Der komplette Haken war abgerissen, mit Schraube war da nichts mehr zu machen. Für diesen schlimmsten aller Taschen-Kollapse hatten wir, rein vorsorglich und allen Gewichtsüberlegungen zum Trotz, zwei dieser bunt melierten Gummibänder mit den gemeingefährlichen Metallhaken eingepackt, die sich in jedem Haushalt finden lassen. In Untergangsstimmung flochten wir die unberechenbaren Gummiseile um die lädierte Tasche und den gutmütigen Gepäckträger und erschufen dabei eine Verwirrnis, die es mir nun freilich nicht mehr gestattete, an den Inhalt der Tasche zu kommen. Die kaputte Aufmachung war kein Fall für den Bilderrahmen, gedanklich rutschte ich ab in Richtung „umherziehende Obdachlose“. Meine liederliche Erscheinungsform peinigte mich ungemein.
Der Schwung war erstmal draußen, alle Beschwingtheit dahin. Mit Panne Nr. 5 oblag Eva die undankbare Aufgabe der visuellen Gepäckkontrolle, denn jede Unebenheit konnte meinem Haushalt den finalen Stoß verpassen. Wir kurbelten dem unmittelbaren Totalschaden entgegen. Die Fahrt trotze uns viel Aufwand ab, in jeder Pause hieß es Gummizüge straffen, Gepäck kontrollieren.
Flüsse, Weiher und Bäder mimten einen entspannten Tag, tatsächlich bescherte er uns bis zum Abend die meisten Höhenmeter. Die Strecke gab ihr Bestes, uns vom Taschendilemma abzulenken, mal mit grandiosem Ausblick, mal mit unerwartet knackigen Anstiegen. „Radfahrer absteigen!“ diktierte ein rostiges Schild an einem dieser Feldwege, die senkrecht den Hang hinaufschnüren. Da keine Überwachungskamera auszumachen war und es auch nicht so aussah, als würde man rücklings vom Rad stürzen, missachtete ich die Anweisung. Ich drückte mich auf die ungemütliche Spitze meiner Sattelnase und kurbelte mit pfeifender Lunge den Hang hoch. Eva dagegen marschierte, was sehr vernünftig war, denn ab einer gewissen Steigung macht es kaum noch einen Geschwindigkeits-Unterschied, ob man fährt oder schiebt.
Die Sonne behielt die Oberhand mit ihrem warmen Licht und doch gab es vereinzelte Passagen, die mehr einer Nachtfahrt glichen. Der Weg hatte uns in dichten Wald geführt, wo sich Fächer aus Tannenzweigen über uns schlossen und Laubbäume sich zu Düsterheit verästelten. Schulter an Schulter wiesen die Bäume dem schmalen Weg die Richtung und als zur Enge noch Wurzeln, Löcher und Steine samt Steilheit dazukamen, mussten wir absteigen. Obwohl ich als Degerlocherin Dreiviertel meiner Kindheit im Wald verbracht habe, war es mir hier entschieden zu dunkel. Beklemmende Stille umgarnte uns, als hätte die Natur den Atem angehalten. Kein Vogelgezwitscher war zu hören, kein Insektengeschwirr, stattdessen umgab uns ein unangenehmes Gefühl der Einsamkeit. Es dauerte einige Zeit, bis wieder Licht und Helligkeit durch die Baumkronen fiel, und die düsteren Gedanken verscheuchte. In einem Biergarten befreiten wir uns von den dunklen Strapazen und erneuerten uns mit Eis und kühlen Getränken.
Am Abend fädelten wir die Räder hinter dicken Strebepfeilern in eine kleine Nische zwischen gestapelten Sprudelkisten, dicken Fässern und vollbepackten Paletten ein und gaben uns den üblichen Abendbeschäftigungen hin.
Nach wunderbar durchschlafener Nacht träumten wir uns am anderen Morgen in unserer üppigen Frühstücksbegeisterung bereits nach Schönau und ließen vor unserer letzten Etappe nochmals die bunte Mischung aus Pannen Revue passieren, die wir mit viel Improvisationsgeschick in eine farbenprächtige Reparatur-Palette verwandelt hatten. Stolz waren wir und vergnügt, und in Gedanken schon fast am Ziel.
Mit ansteckend heiterer Laune schob ich mein Rad aus der Scheune und wunderte mich, wie bockig und starrköpfig es sich auf einmal benahm. Am Vorderrad tobte der Kampf zwischen Bremse und Felge, wie ich erkannte, und keine wollte klein beigeben. Es lag eindeutig am Gummi, der sich aus seinem hydraulischen Kolben herausgemogelt hatte und festsaß. Die Misere gehörte leider nicht in die mechanische, sondern in die hydraulische Abteilung, weshalb ich erst gar nicht nach dem Werkzeug kramte. Enttäuscht hievte ich mich auf den Sattel und stockte auf meiner Büßerfahrt mit angezogener Bremse Kilometer um Kilometer die Straßen entlang und stellte mich auf 117 äußerst beschwerliche Kilometer ein.
Ich wurde doch noch erlöst. Im Fahrradgeschäft, an dem wir vorbeikamen, war das Erfreulichste, dass ich gleich drankam, wohingegen das „Wie“ etwas abfiel. Die erste der vorwurfsvollen Fragen, die der Monteur mir stellte, war auch gleich die unangenehmste, ob ich denn etwas an der Bremse verstellt habe. Eine derart befremdliche Frage versetzt einen nämlich in die ungemein peinliche Lage, etwas völlig Widersinniges getan zu haben und wie er dabei schaute, klang das nach „typisch Frau“. Ich hielt mich zurück und hoffte auf schnelle Reparatur und hierbei zeigte er tatsächlich Sachverstand. Im Nu war Panne Nr. 6 behoben.
Als der Weg auf der Weiterfahrt erneut im dunklen Wald verschwand und den Tacho ein letztes Mal auf 14% hochzitterte, mogelte sich mir die überzeugende Vermutung in meine Gedanken, dass dem Ort Gmain in früheren Zeiten womöglich zwei „e“ abhandengekommen waren. Zum Glück war der Anstieg nur kurz und markierte den Schluss-Akkord unserer Reise. Das Tal weitete sich, vor uns thronte der Watzmann mit seinen Dienern und wir fuhren in euphorischem Schwung in Berchtesgaden ein, als sich auch schon gärende Wolken über uns zusammenbrauten. Berchtesgadener Ache, Ramsauer Ache, Königseer Ache, wir waren am Königsee - wo uns ungeheurer Trubel empfing und mitten drin Johann, der uns strahlend und herzlich in die Arme nahm.
Abends waren die Tour-Trümmer längst in überschwängliche Stimmung umgeschlagen, als wir mit Evas Freunden bei Pizza und Wein beieinandersaßen. Unsere Geschichten würzten die zwanglose Runde und plötzlich regte sich tief in mir drin untrüglicher Mut, etwas Neues, Großes zu beginnen.
Das technische Bulletin am Ende unserer gebeutelten Knochentesttour war erschreckend und dennoch überwog die Freude über unsere Fitness und den Zustand der Gelenke. Trotz 110 Kilometern am Tag winkelten Evas Knie vollkommen schmerzfrei und noch erstaunlicher sogar geräuschlos ab.
Im Rausch der Euphorie überraschten wir alle, aber am meisten uns selbst, mit einem vermessen frühen, mutigen Entschluss und platzten mit unserer Idee heraus:
„Wir werden mit dem Fahrrad durch Chile und Argentinien fahren“
Es gab kein Zurück mehr. Die Idee war ausgesprochen und augenblicklich lastete eine ungeheure Erwartungshaltung auf uns. Laufend sollten wir Wasserstandsmeldungen abliefern, Planungsschnipsel, Konkretes. Kurz hatten wir es deshalb bereut, in diesem frühen Stadium unseren Plan geäußert zu haben, unser „Projekt“ wie heutzutage alles bezeichnet wird, was über einen Spaziergang auf der Schwäbischen Alb hinausgeht. Wir sprachen von überschaubarer Rundreise, denn nichts lag uns ferner, als andere zu beunruhigen und noch weniger uns selbst. Davon abgesehen ging es auch nur um meinen Geburtstag, einen von vielen.
Unsere in Worte gefasste Begeisterung prallte an das wackelige Vorstellungsgerüst einiger eher mit schwankendem Mut gesegneten Freunde, die sich außerordentlich schwer mit unserer Südamerikatour taten. Lange hatte es gedauert, bis wir in ihren Gedanken verankert waren und als es dann endlich soweit war, brachen die Reaktionen wie ein Gewittersturm über uns herein. Während wir von Freiheit träumten, pinselten sie uns mit harschen Strichen düstere Bilder von Raub, Vergewaltigung und Mord, sofern wir die Reise überhaupt antreten sollten. In ihrer Skepsis endete unser Vorhaben direkt in der Katastrophe. Zwei Frauen konnte man einfach nichts zutrauen, schon gar nicht mit dem Fahrrad, und dann auch noch auf der unteren Seite des Globus. „Und das in Eurem Alter“, hatten sie noch nachgelegt, sozusagen in der Abendröte unseres Lebens, wenn nicht gar auf dem Weg zur letzten Erschöpfung. Erst beim näheren Betrachten wunderten wir uns über die bunte Vorstellungskraft von so manchem, der bis dahin allenfalls an der Lahn entlang geradelt war.