Der silberne Flügel - Tanja Bern - E-Book

Der silberne Flügel E-Book

Tanja Bern

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Berührend, ergreifend, magisch: eine zauberhafte Geschichte um einen Engel - und eine universale Liebe vor der faszinierenden Kulisse der schwedischen Skanden! Im Westen Schwedens bemerkt man in einem Gebiet der Skanden fremdartige Phänomene, die dazu führen, dass man dort eine Forschungsstation errichtet: Sie soll vorrangig diese naturkundlichen Erscheinungen untersuchen. Eines Tages findet man dort einen ungewöhnlichen Mann, der mitten im abgesperrten Gebiet auf die Felsen geschlagen ist und sich schwer verletzt hat. Elias Nilsson, der junge Arzt der Station, kümmert sich um den Fremden – und entdeckt Unglaubliches: Sein Patient ist kein Mensch, sondern ein Engel, der auf der Suche nach seiner verlorenen Seelengefährtin ist. Als Elias aufgrund von Intrigen jeglichen Kontakt zu seinem neuen Schützling verliert, befreit er den Engel aus der Station und sie fliehen in das Skanden-Gebirge. Doch dessen Bergpässe sind in den eisigen Wintern Schwedens kaum begehbar ... Es handelt sich um eine überarbeitete Ausgabe des bereits unter diesem Titel selbst publizierten Werkes der Autorin. »Der silberne Flügel« von Tanja Bern ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte erotische, romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite. Genieße jede Woche eine neue Geschichte - wir freuen uns auf Dich!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 291

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tanja Bern

Der silberne Flügel

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Berührend, ergreifend, magisch: eine zauberhafte Geschichte um einen Engel – und eine universale Liebe vor der faszinierenden Kulisse der schwedischen Skanden!

Inhaltsübersicht

VERLASSENFARBLOSEIN BESONDERER FUNDSCHMERZGESPRÄCH MIT EINEM ENGELSINNLOSE AUFGABENSEELENGEFÄHRTENFLUCHTPLANLETZTE HOFFNUNGZUFLUCHTIN DEN SKANDENIM WANDELGEFANGENZEICHEN DES FRÜHLINGSZU HAUSEAM WASSERFALLFREIJA STENLÖVZERSTÖRTES LEBENSILVER VINGARNUR EIN KINDERGEBETEPILOG
[home]

VERLASSEN

Die Abendsonne tauchte das Moos auf der Waldlichtung in sanftes Licht, als Keija in einer fließenden Bewegung die Arme hob. Kräfte durchfluteten ihn, trafen auf die Erde und strömten in die Umgebung. Wie im Zeitraffer schlugen die Bäume aus, und der Winterwald verwandelte sich in ein grünes, wogendes Meer. Für Keija existierte in diesen Augenblicken keine Zeit.

Nur langsam ebbte die Energie ab und versickerte in der Landschaft. Keija wartete noch ein wenig und beobachtete aufmerksam die Natur. Dann wandte er sich zufrieden ab. Er sah zu seiner Gefährtin Nerya und reichte ihr die Hand. Sie jedoch trat einen Schritt zurück. Mit Sorge nahm er wahr, wie sich ihr Blick veränderte.

»Was ist mit dir?«, fragte er voller Verwunderung.

»Ich wünschte …«

Mit einem fragenden Ausdruck trat Keija näher, und die Umgebung verschwamm, als er sie mit sich nehmen wollte.

Nerya wehrte sich. »Nein, noch nicht!«

»Meine Arbeit ist beendet, Nerya.«

»Ich möchte … noch hierbleiben.« Sie beugte sich hinunter und fasste nach etwas Erde, doch ihre Hand glitt hindurch. »Ich wünschte, ich könnte es richtig berühren.«

Ratlos schaute Keija sie an. »Du fühlst es.«

Nerya schüttelte den Kopf. »Ich spüre die Kraft und die Energie der Erde. Aber ich …«

Der Ausdruck in ihren Augen versetzte ihm einen Stich. »Aber du empfindest es nicht wie ein Mensch«, beendete Keija leise ihren Satz. Angst kroch in ihm hoch, Angst, sie zu verlieren.

»Ich empfinde wieder das, was mir doch eigentlich fremd sein sollte.« Neryas Stimme senkte sich. »Mein Herz sehnt sich nach dieser Welt.«

In Keija stieg ein Gefühl auf, das ihm die Brust zuschnürte. Er nahm sie beim Arm. »Wir müssen jetzt gehen, Nerya.«

Mit einem Wimpernschlag waren sie in einer anderen Umgebung. Ein Himmel, wie aus Milch gegossen, spannte sich über weite Wiesen.

Nerya riss sich von ihrem Gefährten los. »Ich habe gesagt, dass ich noch bleiben will!«

»Ich bin dort für dich verantwortlich.«

Tränen schossen ihr in die Augen und liefen an ihren Wangen hinunter. Nerya wandte sich ab und rannte davon. Erschüttert starrte Keija ihr nach, denn normalerweise weinten Engel keine Tränen. Erst wenn sich ihr Inneres gewandelt, sich einer Menschenseele bereits angenähert hatte.

So sehr war sie ihm voraus?

Keija eilte ihr nach. »Nerya!«

Sie verharrte, sah sich aber nicht um. Erst als er sie sanft zu sich drehte, hob Nerya den Blick.

Ihre Augen schimmerten auf eine besondere Weise. Sterne schienen in ihnen zu leuchten. Diesen Anblick kannte Keija von anderen Engeln. Nerya hatte ihre Entscheidung getroffen.

Er löste sich erschrocken von ihr. »Du hast dich schon entschieden?«

»Ja … ich werde ein Mensch«, antwortete sie.

Keija wich vor ihr zurück.

»Komm mit mir, Keija.«

Widerstreitende Gefühle kämpften in ihm. Er wollte bei ihr sein. Mehr als alles andere. Aber er genoss das Leben, das er hier in dieser magischen Welt führte. Er liebte das Dasein als Engel.

»Ich kann nicht …«

Bestürzt sah Nerya ihn an. »Ich dachte, du würdest mit mir kommen.«

»Du hättest es mir sagen müssen.«

»Und ich dachte, du hättest mein Verlangen nach einem menschlichen Leben gespürt.«

Keija senkte den Kopf. Er hatte es befürchtet, aber vehement verdrängt.

»Keija, ich kann nicht anders.« Nerya näherte sich ihm, strich ihm zärtlich eine Strähne seines hellen Haares zur Seite.

»Und ich kann dir nicht folgen.« Seine Stimme war voller Trauer. »Meine Aufgabe ist hier.«

Sie nickte verständnisvoll, aber traurig, und das Leuchten in ihren Augen erlosch.

»Aber ich verstehe es«, flüsterte er. Keija fragte sich, ob er sie wirklich verstehen konnte. Sagte er es nicht nur deswegen, weil er wusste, sie wollte es hören?

»Wir werden uns nicht verlieren«, wisperte sie. »Nur deshalb wage ich es trotzdem. Bestünde die Gefahr, dass ich dich nie wiedersehe … ich würde es niemals tun.«

»Ich weiß«, wisperte er.

Nerya nahm seine Hand und zog ihn zu sich. »Dergleichen haben wir nie getan, weil wir es nie gewagt haben. Aber jetzt …«

Dann küsste sie ihn.

Erstickt keuchte Keija auf. Doch Nerya schlang die Arme um ihn, und er presste sie an sich. Ihre Liebe zueinander umflutete sie wie goldenes Licht.

 

Als Nerya zur Schlucht der Seelen ging, um als Mensch geboren zu werden, war Keija bei ihr. Er wollte jede Sekunde, die ihm noch blieb, mit ihr verbringen. Keija hielt ihre Hand und hoffte, sie würde es sich noch einmal anders überlegen. Aber ihr Sehnen war spürbar und machte diese Hoffnung zunichte. Ein letzter Blick, und sie löste sich voller Schwermut. Verzweiflung stieg in ihm auf.

Leise flossen ihre Worte in seine Gedanken. »Seelen wie unsere werden sich immer wieder finden.«

Ihre Gestalt wurde ein letztes Mal von dem Engellicht umflutet, dann ließ sie sich in die Schlucht fallen. Sie verschwand in dem Nebel des beginnenden Lebens.

Gebrochen sank Keija auf die Knie. Er fühlte sich, als hätte ihn ein Schwert durchbohrt.

Engel vermochten die Umwelt ihrer Heimat nur durch Vorstellungskraft und Gefühl zu gestalten. Keija wollte nicht, dass ihn jemand so sah. Nebel wallte von den Wiesen auf. Bäume stiegen aus dem Boden empor, richteten ihre blattlosen Zweige zum Himmel und verbargen ihn. Die Umgebung reagierte auf seine Gefühle, und Wind erhob sich. Kälte zog in sein Herz, und er sah, wie der Boden gefror.

Keija versuchte, die Kontrolle über seine Empfindungen zurückzuerlangen. Als der Wind endlich verebbte, die Kälte auf ein erträgliches Maß sank, drang eine tiefe Leere in ihn. Es fehlte der Teil, der ihn vollständig gemacht hätte. So wie den leblosen Bäumen die Blätter.

Eine lange Zeit verharrte er dort und war nicht mehr fähig, seinen Aufgaben nachzugehen.

Irgendwann erklang ein Geräusch, wie von einem Windspiel. Eine Brise umwehte ihn, und die Landschaft veränderte sich. Die Bäume schlugen aus, und weiße Blüten bildeten sich an den Zweigen. Der Nebel wich zurück, und eine schmale Gestalt erschien neben ihm.

»Keija'Yrahel, du könntest ebenso handeln. Du bist einer meiner leitenden Engel, aber ich würde jemanden finden, der deine Aufgaben übernimmt.«

Keija schüttelte den Kopf. »Ich will ein Engel sein.«

»Willst du das wirklich?«

»Ich will … ich … möchte nur bei Nerya sein.« Keija schlang die Arme um sich. Die Vorstellung, seine Unsterblichkeit aufzugeben, um ein Mensch zu werden, ängstigte ihn. »Eine halbe Ewigkeit lebte ich mit ihr zusammen, passte mich ihr an, wurde männlich für sie. Jetzt war alles umsonst.«

Sanfte Hände fuhren über Keijas helles Haar. »Nur wenigen Engeln wird diese Form der Liebe und Hingabe für eine andere Seele zuteil. Ihr werdet dieses Gefühl nicht verlieren.«

»Das ist nicht wahr!«, begehrte Keija auf. »Selbst wenn ich ebenso handle wie sie. Ich kann nicht wissen, ob ich Nerya finde oder sie erkenne, wenn ich sie gefunden habe. Vielleicht werde ich sie nicht einmal suchen, weil ich sie vergessen habe.«

»Ja, das kann passieren.« Der Bewahrer der Engel legte beruhigend seine Hand auf Keijas Schulter.

Wie um sich selbst Trost zu schenken, wiegte sich Keija sachte vor und zurück. Ein Entschluss reifte in ihm, und er wusste, dass dies eine Wandlung in ihm bewirkte, die der Bewahrer sehr genau wahrnahm.

»Ach, Keija …«

»Werdet Ihr mir verzeihen, Herr, wenn ich Euch auf diese Art verlasse?«

»Ja … bedenke aber, dass dein Weg nur von deinen Entscheidungen geprägt sein wird. Wisse, dass ein Preis gezahlt werden muss, der nicht nur dir Schaden zufügen wird.«

»Ich weiß.« Keija sah ihn an. »Wird mir trotzdem eine Bitte gewährt?«

Der Bewahrer nickte. »Ich weiß, was du von mir erflehst, und ich werde es dir schenken. Du wirst Nerya'Sariel finden. Ich werde dafür Sorge tragen.«

»Werde ich sie erkennen?«, fragte Keija unsicher.

»Erinnere dich an den Satz, den sie zuletzt zu dir gesagt hat. Dadurch wirst du wissen, dass sie es ist.«

Dieser Satz hatte sich in Keijas Seele eingebrannt. Seelen wie unsere werden sich immer wieder finden.

Der hohe Engel erhob sich langsam, strich über Keijas Wange. »Leb wohl, Keija'Yrahel. Bis wir uns wiedersehen.«

Als er davonging, begegnete Keija noch einmal seinem besorgten Blick. Wind rauschte leise durch die Bäume, und die weißen Blütenblätter fielen wie Schnee auf ihn nieder.

Nein, er wollte nicht als hilfloser Mensch geboren werden, wollte nicht wie andere Engel, die ihrem inneren Drang nachgaben, sein Dasein aufgeben. Keija wollte nur eines: Nerya. Er konnte nicht warten, bis sie ihren Lebenskreislauf beendet hatte und als Seele zu ihm zurückkehrte. Zwar spielte Zeit für ihn kaum eine Rolle, aber jeder Augenblick, der verging, schien ihn zu zerreißen. Wenn er sie nicht suchte, würde er an der Leere, die ihr Fortgehen in ihm hinterlassen hatte, zerbrechen.

Langsam richtete er sich auf, stellte sich nah an die Schlucht. Der Nebel, der aus ihr emporstieg, schien nach ihm greifen zu wollen. Keija wich nicht zurück, denn er musste zur Grenze der Welten, nur dort konnte er sein Vorhaben umsetzen. Er war nicht der Erste und würde nicht der Letzte sein, der diesen dunklen Weg beschritt. Was aus denen geworden war, deren Beispiel er nun folgte, wusste er nicht, wollte er nicht wissen. Doch instinktiv ahnte er, dass sie zurückgekehrt waren. Welchen Preis mochten sie gezahlt haben?

Ein letztes Mal sah sich Keija um. Der Nebel breitete sich über die Ebene aus und verbarg seine Heimat vor ihm. Ein furchtbares Gefühl der Schuld ergriff ihn. Dennoch begann er vorsichtig die Felsen der Seelenschlucht hinabzusteigen. Ihm war klar, dass er nicht zur Grenze schweben konnte, er musste dies aus eigener Kraft, ohne Engelfähigkeiten, bewältigen.

Die scharfkantigen Steine der Wand schnitten in seine Hände. Es schmerzte auf seltsame Weise. Je näher er dem Übergang kam, desto intensiver spürte er dies.

Als er nach oben blickte, verbarg sich der Rand der Schlucht im grauweißen Dunst. Keija verlor die Orientierung, kletterte trotzdem immer weiter nach unten, bis ein waberndes Licht, das sich wie eine geschlossene Wolkendecke überallhin ausbreitete, vor ihm erschien.

Noch kannst du dich fallen lassen, flüsterte die Stimme des Bewahrers.

Instinktiv schaute sich Keija um. Er war allein. Absolute Stille umgab ihn.

Ließe er sich jetzt fallen, würde er Neryas Pfad folgen und als Menschenkind geboren werden. Aber die Zeit, die auf der Erde bereits vergangen war, konnte er kaum einschätzen. Es wäre ihm schier unmöglich, Nerya zu finden. Zumindest empfand Keija es so und schloss diese Option für sich aus.

Er brauchte eine Weile, um den Mut zu finden, weiter abzusteigen. Als sein Bein das regenbogenfarbene Licht traf, zuckte er zusammen. Es zerrte an ihm.

Seine Gedanken glitten wieder zu Nerya. Ihr Bild vor Augen, setzte er einen Fuß vor den anderen und tauchte bis zur Hüfte in die Lichtschlieren ein. Er stand zwar noch auf einem felsigen Absatz, doch sein Engelkörper wurde in der anderen Welt bereits unsichtbar. Hier an diesem Ort konnte er sich selbst nicht mehr richtig erfassen.

Keija hockte sich hin, überwand die Grenze, hielt sich aber mit der rechten Hand krampfhaft in der Engelwelt fest, sodass sein Arm immer noch dort verankert war. Diese Verbindung würde er brauchen, um seine Kräfte nutzen zu können.

Keijas Fähigkeiten erleichterten ihm nun den weiteren Schritt. Er streckte die Linke nach unten aus und konzentrierte sich. Ohne einen stofflichen Körper wäre seine Suche nach Nerya sinnlos, sie würde ihn niemals erkennen. Also musste er sich einen erschaffen.

Als die Macht durch seine Adern rauschte und von da in den Nebel der Menschen schoss, fühlte er, wie sich beide Welten kurz aufbäumten. Dann floss wie aus dem Nichts Wasser zu ihm. Erde, Staub und Holzpartikel vermischten sich mit der Flüssigkeit, und Keija keuchte auf, als die Substanzen in ihn strömten und sich unter Schmerzen mit ihm verbanden.

Seine Hand krallte sich in die Felsen der Engelwelt, jegliche Kontrolle schien ihm zu entgleiten. Er spürte, wie seine Gabe, die Zeiten zu beeinflussen, durcheinandergeriet und ihn im Geiste hin und her warf.

Aber er gab nicht auf, auch wenn er nicht einschätzen konnte, wie viel Zeit in der Menschenwelt verging. Jahre? Womöglich Jahrzehnte?

Alles fügte sich zusammen, und er wandelte die Erdsubstanzen so um, dass der Körper, den er sich erschuf, lebensfähig sein würde. Der Schmerz verblasste in der Trance seines Wirkens.

Irgendwann spürte er, dass die Wandlung vollbracht war. Seine Hand rutschte von den Felsen, das Licht über ihm verblasste und bildete eine Barriere, die er in diesem Zustand nie mehr würde durchschreiten können.

Ein Gefühl der Enge ergriff seine Brust, und Keija tat einen ersten verzweifelten Atemzug. Geschockt von dem Gefühl, Luft in seinen Körper einströmen zu spüren, strauchelte er leicht, seine Hand glitt vom Felsen. Rasch klammerte er sich an den nächsten Vorsprung im Gestein.

Dann hörte er tief in sich leises Weinen. Bilder flackerten in seinem Geist auf, von sterbenden, wie versteinerten Bäumen, von einer vertrockneten Ebene, die weiß wie Schnee geworden war …

Die Stimmen der Naturhüter klagten in seiner Seele, und Keija kauerte sich zusammen.

Was habe ich getan?

Er schluchzte leise. Keija spürte, wie die Zeit ihm weiter entglitt, an ihm vorbeiraste, bis er diese Gabe endlich in sich löste und freigab. Diese besondere Kraft fiel hinab, und für einen kurzen Augenblick blitzte etwas Gläsernes vor Keijas Auge auf. Mühsam verdrängte er den Kummer der ihm einst anvertrauten Natur und riss sich zusammen.

Noch immer stand er auf dem schmalen Grat, verharrte seltsam zwischen den Zeiten. Unter ihm jedoch war nichts, nur der allumfassende Nebel, der sich nun mit klammen Fingern auf seine neue, empfindsame Haut legte.

Wo war der Boden?

Zur Sicherheit würde er wohl durch den Nebel schweben müssen, denn die Felswand hörte unter ihm einfach auf. Sein Engellicht schoss wie Flügel aus seinem Rücken, verwandelte sich in Schwingen.

Keija konzentrierte sich auf Nerya und ließ sich fallen. Doch die Lichtflügel waren völlig unbrauchbar geworden. Die Erde raste auf ihn zu. Als Keija das begriff, packte ihn pure Panik. Er stürzte unaufhaltsam durch die Luft, eine weiße Ebene tauchte vor ihm auf, viel zu schnell. Es gab kein Entrinnen, kein Aufhalten.

Der Aufprall schließlich raubte ihm den Atem, und das Einzige, was blieb, war Schmerz.

[home]

FARBLOS

Langsam nahm Elias die Hände hoch. Ein Gefühl griff nach ihm, das ihn wie mit einer Klammer fest umschließen wollte, doch er ließ es nicht zu – noch nicht.

Er wusste, die Frau hieß Jörnson. Aber wie war ihr Vorname gewesen? Ihr Blut klebte an seinen Handschuhen, und er konnte sich nicht einmal an ihren Vornamen erinnern. Die nervtötenden Warngeräusche der Geräte verstummten endlich.

»Dr. Nilsson?«, wisperte die Schwester ihm zu.

Elias riss sich zusammen. »Todeszeitpunkt …«, er sah auf die Uhr im Operationsraum, »… 16 Uhr 47. Bitte machen Sie sie zu, Dr. Kars. Ich werde die Familie benachrichtigen.«

Rasch streifte Elias seine Handschuhe ab, warf sie in den Eimer und flüchtete förmlich aus dem OP-Saal. Er hatte sie einfach nicht retten können. Mit leerem Blick befreite er sich von dem blutverschmierten Kittel.

»Du weißt, dass ihre Chancen nach diesem Unfall minimal waren«, bemerkte der Chefarzt, der im Vorraum auf ihn wartete.

»Das macht die Sache nicht besser.«

»Du hast übrigens Besuch. Draußen wartet ein Professor Dr. Grant und will dich sprechen.«

Verwundert schaute Elias seinen Vorgesetzten an. »Ich kenne keinen Professor Dr. Grant.«

»Nun, er scheint dich aber zu kennen.«

»Ich muss erst mit der Familie reden.«

»Geh zu ihm, er wartet schon eine Stunde. Und er wirkt so … wichtig. Ich werde das mit der Familie übernehmen.«

Elias seufzte genervt auf. Was wollte dieser Fremde von ihm?

»Gib mir nur einen Augenblick«, bat er.

Ohne eine Antwort abzuwarten, stahl sich Elias davon und verbarg sich in einem der Wäscheräume der großen Klinik. Dieser Dr. Grant konnte noch ein wenig warten.

Mit einer fahrigen Bewegung fuhr sich Elias durch das dunkle Haar. Eine gläserne Tür spiegelte sein Gesicht, und er starrte sich einen Augenblick resigniert an.

Obwohl Elias wusste, dass er an dem Tod der Frau keine Schuld trug, kam er sich vor, als ob sein Leben in tausend Scherben zerbrochen am Boden läge. Sein Herz fror unter dem Leid, das er fast täglich in der Notaufnahme sah. Er selbst ließ es erfrieren, um all das ertragen zu können. Jeden Tag aufs Neue kämpfte er mit seinem Mitgefühl für die Patienten. Ein Arzt sollte derartige Empfindungen nicht zulassen. Doch er verlor fast jeden Kampf dagegen.

Elias verdrängte seine Gedanken, öffnete die Tür und machte sich missmutig auf die Suche nach diesem Dr. Grant.

Der Fremde harrte im Büro einer der Chefärzte aus und blickte abwartend auf, als Elias eintrat. Dr. Grant trug einen förmlichen Anzug, sein ergrautes Haar war akkurat geschnitten, und der Blick aus seinen stechenden Augen ließ Elias frösteln.

»Mein Name ist Dr. Elias Nilsson. Was kann ich für Sie tun?«

»Dr. William Grant. Angenehm. Setzen wir uns doch. Man sagte mir, wir können dieses Büro kurz nutzen.«

»Nutzen, wofür?«, fragte Elias skeptisch.

Dr. Grant betrachtete ihn mit scharfem Blick. »Es geht Ihnen nicht sonderlich gut, wie ich sehe.«

Sah man es ihm so sehr an?

»Ich habe gerade eine schwere Operation hinter mir, und die Frau starb mir unter den Händen weg. Ich denke, niemand würde da wirklich gut aussehen.«

Was wollte der Mann von ihm?

»Nun ja, ich habe mich ein wenig über Sie erkundigt. Und es scheint Ihnen hier generell nicht besonders gut zu gehen. Nicht wahr, Dr. Nilsson?«

Elias fühlte sich derart überrumpelt, dass er sprachlos Platz nahm.

»Auch hörte ich, dass Sie ein Einzelgänger sind und keine Probleme mit einsamen Gegenden haben.«

Elias runzelte die Stirn, erwiderte noch nichts. Er wollte hören, was dieser Mann noch über ihn wusste.

»All das ist jedoch nur am Rande interessant«, fuhr Grant fort und setzte sich. »Viel mehr interessieren mich Ihre Forschungsarbeit während des Studiums und Ihr erstklassiger Abschluss.«

»Sie wollen mir eine Stelle anbieten?«

»So kann man sagen. Vielleicht ist es an der Zeit, Ihre Segel neu auszurichten.«

»Worum geht es, Dr. Grant?« Elias wurde langsam ungeduldig.

»Vor dreißig Jahren entdeckte man im Skandengebirge seltsame Phänomene am Himmel, die man ursprünglich für Polarlichter hielt. Wissenschaftler kamen dahinter, dass sie einen völlig anderen Ursprung hatten, und setzten sich dafür ein, dass die Erscheinungen untersucht werden mussten. Es wurde eine Forschungsstation errichtet, die vorrangig die naturkundlichen Phänomene dort untersuchen sollte.«

Dr. Grant machte eine Pause, in der er ihn beobachtete. Elias hatte längst Feuer gefangen und hoffte, dass er dies nicht zu sichtbar zur Schau trug. Die Skanden … Er liebte dieses Gebirge. Jede freie Minute fuhr er in den Westen von Schweden, um dort zu wandern und Zeit zu verbringen.

»Und was wollen Sie mir anbieten, Dr. Grant?«

»Wir benötigen einen … Arzt für die Station.«

»Wieso?«, fragte Elias neugierig.

»Die Dinge haben sich so entwickelt, dass einer vonnöten ist«, antwortete Grant vage und schob ihm einige Unterlagen zu. »Hier wären die Arbeitsbedingungen.«

Als Elias das veranschlagte Gehalt sah, stockte ihm fast der Atem.

»Sie werden dort oben zur Ruhe kommen, glauben Sie mir.« Grant lächelte. »Und Sie mögen doch dieses Gebirge, oder nicht?«

Konsterniert starrte Elias sein Gegenüber an und lehnte sich zurück. »Wieso wissen Sie so viel über mich?«

Dr. Grant atmete tief durch. »Nun, sagen wir mal so. Die Station ist wichtig, der Regierung unterstellt und … geheim. Ich hatte meine Quellen.«

Das ließ Elias hellhörig werden. »Eine Art Area 51?«

William Grant lachte verhalten. »So würde ich es nicht bezeichnen. Lesen Sie sich alles durch und sagen Sie mir, ob Interesse besteht.«

»Jetzt?«

»Jetzt. Ein zweites Gespräch gibt es nur, wenn ich eine Unterschrift von Ihnen bekomme.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein?«

»Sehen Sie sich die Arbeitsbedingungen und das Gehalt an.«

»Das habe ich.«

»Der Umzug nach Östersund wird ebenfalls von uns finanziell unterstützt. Und Sie verpflichten sich immer nur für zwei Jahre.«

»Das ist eine lange Zeit.«

»Die Sie in Ruhe und Frieden im Gebirge verbringen werden. In der Sie die Lappalien der Wissenschaftler behandeln werden und niemand auf dem OP-Tisch stirbt. Wo Sie interessante Phänomene erkunden können.«

Elias blinzelte. »Geben Sie mir einen Moment.«

»Nur zu …«

Aufgewühlt verließ Elias den Raum, schloss die Tür und lehnte sich dagegen.

Das war verrückt. Völlig wahnsinnig. Er konnte doch so eine Entscheidung nicht in fünf Minuten fällen.

Oder doch?

Was hielt ihn denn noch hier? Silva hatte ihn aus der gemeinsamen Wohnung geworfen, und er hauste nun in einem kärglichen Loch. Die Arbeit brachte ihn emotional um, und seine Familie scherte sich nicht um ihn.

Silva …

Wut flackerte in ihm auf, als er an ihren Trennungsgrund dachte. Zu wenig Zeit hätte er angeblich für sie. Dabei wusste er, dass sie sich längst anderweitig orientiert hatte.

Elias kämpfte mit sich. Er würde untergehen, wenn sein Leben so weiterverlief. Es war … farblos. Ja, das erschien ihm das richtige Wort. Eine innere Stimme sagte ihm, dass dies eine neue Chance war. Dass dies die Flamme in ihm wieder entzünden könnte.

Er schöpfte hörbar Atem und öffnete die Tür.

»Wo ist der Vertrag?«

*

Mit einem zufriedenen Seufzen stieg William ins Auto. Den Vertrag, den Nilsson tatsächlich unterschrieben hatte, legte er mit einem Lächeln auf den Beifahrersitz.

Dieser Schritt wäre also getan. Nun würde er abwarten, was sich entwickelte. Denn irgendetwas war im Gange. Er spürte es.

Auf der Rückfahrt zur Station hing er seinen Gedanken nach. Eigentlich sollte er nach Hause fahren, aber die Hochebene schien ihn zu rufen, und er gab diesem Drang nur zu gerne nach.

Als er nach einer Weile in höhere Bereiche kam und um eine Biegung fuhr, die ihm freie Sicht auf den Abendhimmel gewährte, hielt er an und stieg aus.

Eine Böe wirbelte Staub und Blätter auf. Er atmete die Kälte ein, sog sie in sich auf und genoss die Frische. Jedes Mal aufs Neue fasziniert, starrte William auf die Lichter am Himmel, die in diesem Gebiet stets zu sehen waren. Wie Polarlichter breiteten sie sich aus, waberten in der Luft. Trotzdem wirkten sie völlig anders. Als läge hinter diesem bunten Teppich aus Licht eine andere Welt. Die Ränder faserten auseinander, als wäre nur ein Teil von diesem Wunder zu sehen. Denn feststand, dass es eben keine Polarlichter waren. Sie blieben stets über dieser Ebene, auch wenn keine chemischen Prozesse in der Erdatmosphäre gemessen werden konnten.

Trotzdem hatte die Regierung schon ein paar Mal überlegt, die Gelder zu streichen. Man wollte die Station sogar schließen, erachtete sie nicht mehr für wichtig, fand sich mit den Phänomenen ab, die seit einigen Jahren nicht mehr so gravierend und erschreckend waren wie zu Anfang. Die Natur schien sich beruhigt zu haben. Wozu öffentliche Gelder für etwas verschwenden, was zwar unerklärlich war, aber offensichtlich auch ungefährlich?

William schnaubte, doch dann stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Bis die gläsernen Steine vor einigen Wochen auftauchten. Sie versetzten die Regierung wieder in Aufruhr, die Station war finanziell seitdem bis auf Weiteres gesichert.

Gläserne Steine ohne Substanz! Williams Puls beschleunigte sich, wenn er nur daran dachte. Er hatte eine ganz eigene Theorie, auch wenn er sie noch weitestgehend für sich behielt. In ihnen schien die Zeit gefangen zu sein. Ein unvorstellbarer Gedanke, doch etwas anderes fiel selbst ihm nicht ein.

Dieses Gestein war durchlässig, und versenkte man zum Beispiel eine Blume darin, verwelkte sie auf unerklärliche Weise wie im Zeitraffer. Glücklicherweise gab es nur kleine Bereiche davon, die man abgesperrt hatte. Eine Erklärung gab es nicht. Eines jedoch wusste William. Das Warten hatte sich gelohnt. Die jahrelange Arbeit würde sich endlich bezahlt machen, denn etwas geschah. Nie war er sich einer Sache sicherer gewesen.

Für die Station hatte er seine Familie vernachlässigt, viele Jahre schon. Die Schwangerschaft seiner Tochter ignorierte er regelrecht, verdrängte alle Empfindungen dazu. Er wurde Großvater, und es berührte ihn nicht einmal. Die Forschung war in all den Jahren zu seinem Lebensinhalt geworden. Dass seine Ehe an einem seidenen Faden hing, war offensichtlich der Preis, den er zahlen musste.

Als er, eher durch Zufall, Elias Nilssons Akte in die Hände bekam, verdichtete sich auf unerklärliche Weise das Gefühl, dass etwas geschehen würde.

Damals hatte ein Ärztekongress in einem der großen Hotels von Östersund stattgefunden, und in einem der Nebenräume besuchte er eine Zusammenkunft mit einigen hochrangigen Wissenschaftlern. Später mischten sich die Besucher, und William lernte einen Oberarzt kennen, mit dem Dr. Nilsson zusammengearbeitet hatte. Der flüchtig ausgesprochene Name des jungen Mannes versetzte William in Aufregung − er konnte nicht sagen, was dieses Gefühl ausgelöst hatte, aber er forschte nach diesem Arzt, der so außergewöhnliche Referenzen in mehreren Gebieten besaß, und trotzdem so unglücklich zu sein schien. Natürlich war Nilsson kein Physiker und noch weniger ein Geologe, aber schon in der Ausbildung schien er gewisse Dinge durchschaut zu haben, die jeden anderen Assistenzarzt in die Verzweiflung getrieben hätten. Wer wusste schon, was der junge Mann herausfinden oder bewirken könnte? Außerdem war es an der Zeit, sich medizinisch abzusichern. Seit die Glassteine aufgetaucht waren, konnte man nie wissen, ob sich nicht doch einer der Mitarbeiter mal ernstlich verletzen würde. Bisher waren sie ohne Arzt zurechtgekommen, aber nun? So rechtfertigte er auch vor der Regierung den Nutzen von Dr. Nilsson. Widerwillig stockten sie die Mittel ein weiteres Mal auf und ließen ihn gewähren.

William starrte auf die sich im Wind wiegenden Fjällbäume, die nur als Schattenumrisse im Zwielicht zu erkennen waren. Plötzlich verdunkelte sich die Ebene. Überrascht sah er auf.

Die Lichter waren fort.

Entgeistert starrte William in den Himmel, an dem nun erste Sterne blitzten. Sein Herzschlag geriet kurz aus dem Takt, er griff sich an die Brust, konnte zuerst nicht fassen, was er dort sah. Das Phänomen war verschwunden! Einfach so. Als hätte jemand das Licht ausgeknipst.

Die Grenze ist durchschritten, hörte er tief in sich, und ein Schauder überfiel ihn.

»Was für eine Grenze?«, murmelte er.

Eine Antwort blieb aus.

Wieder stieg diese Ahnung in William auf, dass etwas geschehen würde. Wie ein Feuer ergriff das Gefühl seine Sinne und belebte ihn für den Moment.

Entschlossen stieg er ins Auto und raste zurück zur Station.

*

Fünf Wochen später fuhr Elias eine lange, gewundene Straße durch das Skandengebirge. Seine Habseligkeiten befanden sich bereits in der neuen Wohnung in Östersund und warteten in Kartons darauf, dass er sie auspackte.

Sein erster Arbeitstag begann um neun Uhr, und er kam bereits jetzt zu spät. Die Fahrtzeit war schwer einzuschätzen gewesen, und er hoffte, dass Grant ihm nicht sofort eine Standpauke halten würde.

Elias hielt kurz und studierte die Landkarte. Was war das nur für ein verzwickter Weg?

Schließlich kam er an eine Kreuzung. Rechts führte ein Weg in einen Tannenwald, links versperrte etwas weiter hinten eine Schranke die Straße. Er konnte eine Pforte erkennen. Langsam bog er ab und kramte nach dem Ausweis, den er zugeschickt bekommen hatte.

Unsicher sah er sich um. Das Gebiet war weiträumig abgesperrt. Was verbarg sich hier?

Elias hielt vor der Schranke und gab dem Pförtner den Ausweis. Dieser prüfte ihn sorgsam, reichte ihn zurück und winkte ihn durch. Langsam fuhr er weiter und folgte dem schmalen Weg. Dann bremste er abrupt.

Was war das?

Die Ebene, die vor ihm lag, schien völlig farblos zu sein. Selbst die Stämme der kleinen Fjällbäume zeigten ausschließlich eine weiße Färbung. Ihre kahlen Äste hingen windschief über den Felsen.

Für den Augenblick vergaß Elias die Pünktlichkeit, stellte das Auto an den Straßenrand und lief über das Plateau.

In einiger Entfernung sah er die mittelgroße Station zwischen unnatürlich hellen Felsen. Sie schmiegte sich fast unsichtbar in die Landschaft ein.

Er war zwar kein Geologe, aber hier stimmte doch etwas nicht. An einigen Stellen am Boden gab das Gestein so nach, als würde ihm die Festigkeit fehlen. Als er darüberlief, versank er wie in dichtem Moos. Andere Felsen wirkten wie aus Glas, und das Areal um sie war abgesperrt. Vorsichtig beugte er sich hinunter und streckte die Hand unter die Absperrung.

»Lassen Sie das lieber sein!«

Grants Stimme hallte seltsam über die Ebene, und Elias zog die Hand rasch zurück.

»Mit den Gläsernen muss man verdammt vorsichtig sein. Der Rest ist aber harmlos.«

»Was ist das hier?«, flüsterte Elias erstaunt.

Sein Forscherdrang erwachte. Elias kniete sich hin, ließ Steinstaub durch seine Finger rieseln.

»Willkommen in Färglös, Dr. Nilsson. Ich habe mir gedacht, dass ich Sie hier draußen finden würde.«

Elias wunderte sich nicht über Grants Erscheinen, richtete sich auf und gab ihm pflichtschuldig die Hand. »Guten Morgen.«

»Und? Haben Sie keine Fragen?«

Elias sog zischend den Atem ein. »Hunderte!«

Dr. Grant gab ein seltsames Lachen von sich. »Glauben Sie, die haben wir auch.«

»Das ist nicht erforscht? Aber Sie haben gesagt …«

William Grant unterbrach ihn. »Wir forschen zwar seit Jahren, aber eine endgültige Antwort haben wir noch nicht gefunden.«

»Sie wissen nicht …? Aber das ist unglaublich! Man muss doch herausfinden können …«

»Glauben Sie mir, Elias. Das ist weitaus schwerer, als es den Anschein hat. Was denken Sie denn?«

Elias gefiel es nicht besonders, dass er ihn so vertraut beim Vornamen nannte. Der Mann strahlte etwas aus, das in ihm Unbehagen auslöste.

»Mir kommt es so vor, als ob der Umgebung … hm … die Substanz entzogen worden wäre.«

Grant lächelte zufrieden. »Ich hatte gehofft, dass Sie das recht schnell erkennen würden. Aber dies wird nicht Ihre Aufgabe sein. Sie wissen ja, die Zipperlein der Forscher fallen eher in Ihr Gebiet.«

Elias seufzte innerlich.

»Allerdings«, fuhr William Grant fort, »habe ich nichts dagegen, wenn Sie sich im Forscherteam mit Ihren Gedanken ein wenig einbringen. Sofern es Ihre Zeit zulässt.«

»Jetzt verstehe ich auch diesen Mafiavertrag.«

Grant zuckte mit den Schultern. »Sie werden für Ihr Schweigen gut bezahlt.«

Allerdings. Das wurde er.

Beim Näherkommen stellte er fest, dass die Station selber eher veraltet war. Grant führte ihn durch die kahlen Forschungsräume, stellte ihm einige Mitarbeiter vor und brachte ihn in seinen eigenen Bereich.

»Sie werden sich wahrscheinlich etwas einrichten wollen. Sehen Sie sich in Ruhe um. Heute wird sicher kein Notfall zu Ihnen hereinplatzen.«

»Danke.«

»Ach, Elias? Oder möchten Sie lieber mit Dr. Nilsson angeredet werden?« Der Professor musste an seinem Gesichtsausdruck erkannt haben, dass er Letzteres für angebrachter hielt. »Wenn Sie nicht jeden Abend den weiten Weg nach Östersund fahren wollen … hier gibt es geräumige Wohnbereiche, die genutzt werden können. Fredrik Ingarsen wird Ihnen bei etwaigen Fragen weiterhelfen.«

Mit diesen Worten verschwand Dr. Grant, und Elias war allein.

Willkommen in Färglös, hatte der Professor gesagt. Färglös bedeutete farblos. »Wie passend«, dachte Elias nüchtern.

[home]

EIN BESONDERER FUND

Elias arbeitete bereits seit einiger Zeit in der Forschungsstation, die man nach der Hochebene benannt hatte. Die Forscher, Wissenschaftler und Professoren, für deren Gesundheit er verantwortlich war, schienen Einzelgänger zu sein wie er. Kontakte zu knüpfen gestaltete sich schwierig, bis auf einige Ausnahmen.

Gelangweilt blickte er sich in dem Raum um, der wie eine normale Arztpraxis eingerichtet war. Elias ließ nie viel Persönliches in solche Räumlichkeiten mit einfließen. Nur ein von ihm fotografiertes Naturbild Schwedens hing an der Wand, ein Foto seines verstorbenen Hundes stand auf dem Schreibtisch. Medizinische Fachbücher reihten sich in einem Regal aneinander. Seine Arztutensilien hatte er in Schränken aus hellem Holz verstaut, die eine Wand säumten. Der sterile OP-Raum war verschlossen. Nur die Badezimmertür der Praxis stand offen und gab einen Blick auf kalkweiße Fliesen frei.

Elias trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch. Niemand in der kleinen Forschungsstation war erkrankt, nicht einmal die kleinste Verletzung hatte sich jemand zugezogen. Nicht, dass er das jemandem wünschen würde, doch er hasste es, untätig zu sein. Seufzend fuhr er sich durch das wellige Haar und raffte sich auf, um eine Tasse Kaffee zu holen.

Das Neonlicht über ihm flackerte leicht. Elias blickte auf. Die Lichtröhren surrten noch einmal und erloschen.

Genervt stöhnte Elias auf und fragte sich, was Fredrik und Dr. Andersson in ihrem Labor veranstalteten, dass sie ständig den Strom kappten.

»Ich sollte Kerzen aufstellen«, grummelte er leise.

Draußen vor der Praxis konnte er Stimmen vernehmen, jemand lachte, anschließend schaltete sich das Licht wieder an.

Gedankenverloren rieb sich Elias über das Gesicht, als Geräusche vom Außengelände seine Aufmerksamkeit erregten. Er wandte sich verwundert um. Die Kaffeetasse noch in der Hand, ging er zum Fenster. Menschen strömten aus dem Gebäude. Elias erkannte von seiner Position aus nicht viel, beobachtete trotzdem eine Weile das Treiben auf dem Vorhof. Er lehnte am Fensterbrett und hielt das Gefäß in seinen Händen fest umschlossen, als würde die Wärme der Tasse auch sein Inneres berühren können. Die Strahlen der Morgensonne tauchten die mit spätem Frost überzogene Ebene in warmes Licht, und das Bergplateau erschien wie ein flammendes Inferno. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Dies war ein besonderer Anblick, der das Gefühl purer Hoffnung in sich trug.

Als Elias nach einer halben Stunde immer noch wie vergessen in seiner Praxis saß, kramte er sein iPhone aus der Tasche, loggte sich in das Internet ein und surfte eine Weile. Er hatte Inga, die neben anderem auch Administrator des Computernetzes war, mit Pralinen bestochen, um an das Passwort zu kommen, denn es war eigentlich nicht erlaubt, sich während der Arbeitszeit privat in das Firmennetz einzuloggen.

Schritte näherten sich, und Elias schreckte auf. Er ließ das iPhone rasch in die Tasche zurückgleiten, holte eine Akte aus der Schublade und tat so, als wäre er mit Wichtigem beschäftigt.

Ein älterer Mann trat ohne anzuklopfen ein. Elias sah auf. Obwohl ihm fast alle Mitarbeiter aus der kleinen Station inzwischen geläufig waren, kannte er ihn nicht.

»Dr. Nilsson? Wir haben einen Notfall!« Der Mann wirkte aufgewühlt und hektisch.

Elias sprang auf, nahm rasch seine Notfalltasche an sich und folgte dem Mann, der ihn eilig durch mehrere Sicherheitstüren in einen ihm fremden Bereich führte. Überall hörte er verstohlenes Gemurmel.

Sie blieben vor einer verglasten Doppeltür stehen, und der Mann brachte Elias zu mehreren Leuten, von denen einige in Kittel gekleidet waren, wie sie die Physiker und Chemiker in ihren Laboren trugen. Andere schienen vom Sicherheitsdienst zu sein.

Einer der Wissenschaftler wandte sich an Elias und winkte ihn zu sich. Es war Professor Grant. »Gut, dass Sie da sind, Dr. Nilsson. Wir fanden jemanden draußen auf der Hochebene.«

Elias zog eine Augenbraue hoch. »Und wo ist er?«