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Stell dir vor, du hast den ganzen Tag größte Schmerzen von der Sorte, bei der man an Selbstmord denkt, nur damit es endlich vorbei ist. Kein Arzt kann helfen, keine Behandlung funktioniert, keine Medikamente oder Schmerzmittel wirken. Selbst beim Schlafen bereiten dir die Schmerzen immense Probleme. Du bist daher nie ausgeschlafen, immer komatös müde und völlig am Ende. Alles, was dir wichtig war, ist plötzlich nichts mehr wert. Nichts und niemand kann dir also helfen und du bist gerade mal Anfang 20. Was machst du? Der Autor dieses Buches hat sich dazu entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Er hat für seine Wirbelsäulenproblematik keine andere Lösung gefunden, als die drumherum liegende Muskulatur so zu stärken, dass sie in der Lage ist, die defekten Knochen zusammenzuhalten, damit er weiterhin am Leben teilhaben kann. Die Schmerzen hören dadurch nicht auf, aber er kann sich selbstständig bewegen. Mit seinem Arzt sucht er weiter nach Therapiemöglichkeiten und stellt durch ein knallhartes Sportprogramm sicher, dass er eventuellen Lösungsansätzen auch gewachsen ist - und so lange überlebt. Dieser Kampf dauert nun schon über ein Jahrzehnt und ein Ende ist trotz aller Hoffnung nicht abzusehen. Das hat auch extreme Auswirkungen auf das Privatleben, dennoch gelang es über die Jahre, eine Ausbildung, ein Studium und eine Karriere als Bauingenieur zu machen. Dieses Buch ist nicht nur ein verzweifelter Aufschrei, es macht auch Mut, denn es zeigt, zu was ein Mensch in der Lage ist, wenn er nur will.
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Seitenzahl: 449
Veröffentlichungsjahr: 2021
Nicolas Springer
Der Sklave
meiner eigenen Freiheit
Ein Leben, das niemand erleben sollte
(oder vielleicht doch jeder?)
Copyright: © 2021 Nicolas Springer
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Coverbild: byheaven (depositphotos.com)
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
Softcover 978-3-347-48859-5
Hardcover 978-3-347-48860-1
E-Book 978-3-347-48861-8
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Intro
Am Anfang war der Schmerz
Fragen ohne Ende
Zurück zur Schule
Ich musste lernen
Weglaufen ist nicht
Der Kampf ging weiter
Dennoch konnte ich das Schlimmste verhindern
Ängste
Nicht Nichtstun
Unmöglich oder nicht
Entscheidung fürs Leben
Sechs Wochen
Fit sein
Bereit für die Realität
Die Grenzen kennen
Es gibt kein Ende
Die Erkenntnis am Schluss
Eine Frage wird immer bestehen bleiben
Vorwort
Vor einiger Zeit habe ich einen Typen kennengelernt, der … Nun, ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich ihn mit nur wenigen Worten angemessen beschreiben kann. Ich sage einfach mal, er ist recht außergewöhnlich. Er lebt ein ziemlich spezielles Leben und er wollte immer ein Buch darüber schreiben. Aber er wollte das immer so machen, dass niemand weiß, dass er es ist. Und da ich wollte, dass seine Geschichte erzählt wird, nahm ich mich der Angelegenheit an. So würde ich sein Leben auf die Schnelle beschreiben:
Du würdest es nicht glauben, wenn du ihm begegnen würdest. Nicht einmal, wenn er dir seine Geschichte erzählen würde. Sogar wenn er alle deine Fragen beantworten und mit dir zwei Wochen lang über sich reden würde, wäre es immer noch eine Herausforderung, alles zu begreifen, was er erzählt. Er erscheint wie ein ganz normaler Typ und erst, wenn man ihn ein kleines bisschen kennenlernt, würde man wahrscheinlich merken, dass irgendetwas an ihm anders ist, aber man hätte nicht einmal annähernd eine Vorstellung davon, was tatsächlich vor sich geht.
Wegen einer Erkrankung im Teenageralter sind Teile seiner Wirbelsäule, aufgrund von Entzündungen am Knochen, etwas zerfressen. Und das hat dazu geführt, dass Wirbelkörper aus ihrer optimalen Position geschoben wurden, wodurch eine ganze Menge Schmerzen entstanden sind. Ärzte haben dann die Wirbelsäule begradigt und temporär zusammengeschraubt. Das hat ihm dann Zeit gegeben, ein entsprechendes Paket an Muskulatur um den betroffenen Bereich der Wirbelsäule herum aufzubauen, das in der Lage sein sollte, die Wirbelkörper nach dem Entfernen der Verschraubung in ihrer Position zu halten. Glücklicherweise ist das der Fall, auch da die Schrauben nach ein paar Jahren gebrochen sind und frühzeitig entfernt werden mussten. Kurz bevor der Arzt die Operation mit der Verschraubung machte, erzählte er ihm, was danach nie mehr für ihn möglich sein würde, aber er hat das anders gesehen.
Das alles hat ungefähr acht Jahre, fünf Operationen, mehr Schmerzen (körperlich, psychisch und emotional) als er sich jemals hätte vorstellen können, ausreichend Depressionen für ein ganzes Leben, unzählige Zusammenbrüche (sowohl körperlich als auch psychisch) und die Aufgabe seines Traumberufs im Alter von 19 Jahren in Anspruch genommen. Ganz zu schweigen davon, dass überraschenderweise Schmerzmittel bei ihm nicht wirken. Wobei das nicht ganz stimmt: Sie wirken in der Art, dass er aussieht wie ein Geist, aber sie helfen kein bisschen gegen die Schmerzen.
Während dieser ganzen Zeit hat er in seinem Kopf sein Leben in alle möglichen Einzelteile zerlegt. Alles was er macht, wie er es macht und warum er es macht, hat er infrage gestellt. Weil diese Zeit alles von ihm verlangt hat und auch immer noch tut, musste er sich sicher sein, wofür er seine Energie verwendet, nur damit er den Hauch einer Chance hatte, mit seinem Leben umgehen zu können. Und er ist auch heute noch sehr vorsichtig damit, wie er mit seiner Energie umgeht, weil er jedes letzte Bisschen davon braucht, um irgendwie weitermachen zu können. Und das ist auch genau der Grund, warum er nie über sein Leben redet: Weil das verschwendete Energie wäre.
Er ist heute Anfang 30 und auch wenn er normal erscheint, sind Schmerzen Teil seines Lebens. In seinem Fall bedeutet das, dass er sehr selten keine Schmerzen hat, im Regelfall hat er Schmerzen und manchmal hat er höllische Schmerzen – die Art Schmerzen, die einen wortwörtlich auf die Knie zwingen. Aber Schmerzmittel sind immer noch keine Option, weil sie einfach nicht funktionieren. Ich muss wahrscheinlich nicht erwähnen, was das für eine enorme psychische und emotionale Belastung bedeutet.
Wegen dieser extremen körperlichen, psychischen und emotionalen Beanspruchung durch sein Leben, geht ihm bereits nach einem halben Tag komplett die Energie aus – jeden einzelnen Tag! Aber er macht weiter.
Heute arbeitet er als Ingenieur, weil er während der Hochphase seiner Erkrankung seinen Arsch durch die Schule gezwängt hat. Er hat niemals aufgehört weiterzumachen, auch wenn es Zeiten gab, in denen er ernsthaft jede andere Option in Betracht gezogen hatte. Er hat niemals aufgehört, zu kämpfen, weil er immer diesen einen Gedanken im Kopf hatte: Das kann es einfach nicht sein! Da hinzukommen, wo er heute ist, hat ihn fast das Leben gekostet und er wird jede einzelne Sekunde weiterkämpfen – für den Rest seines Lebens. Es gibt keine Alternative. Im Gegensatz zu vielen anderen Fällen gibt es bei ihm kein Du bist jetzt gesund … Du hast es überlebt … Sein gesamtes Leben, seine komplette Existenz ist darauf angewiesen, dass er in der Lage ist, die Energie zu haben, immer weiter zu trainieren und vor allem auch seine Psyche immer in der Spur zu halten.
Man sollte sich vielleicht noch einmal Gedanken darüber machen, was Gib nicht auf! in diesem Fall eigentlich heißt: Für ihn gibt es keine Ziellinie, kein Du hast es geschafft, keine Auszeit, keine Pause. Es gibt nur den nächsten Schritt und das jede einzelne verdammte Sekunde – für den Rest seines Lebens!
Weil er sein gesamtes Leben geändert, seine eigenen Gedankengänge entwickelt, seine komplette Denkweise geändert hat, weiß er ganz genau, was es heißt, einsam zu sein – selbst wenn er in einem Raum voller Menschen steht. Das sind genau die Erfahrungen, die nur schwer mit jemandem geteilt werden können. Es ist ganz egal, wie detailliert er seine Geschichte und seine Erfahrungen erzählt, wie viel Zeit er sich nimmt, alles zu erklären, oder wie viele Fragen er beantwortet: Manche Dinge kann man einfach nur verstehen, wenn man sie selber erlebt hat.
All dem stand er ganz alleine gegenüber. Seine Familie war zwar immer mit dabei, stand immer hinter ihm und hat ihn auch immer unterstützt und macht das auch heute noch, aber am Ende des Tages musste er es immer alleine hinkriegen, weil ihm das eben keiner abnehmen konnte. Er hat gelernt, mit verschiedensten Arten von Schmerz zurechtzukommen und auch, wie man mit Depressionen und Burn-outs umgeht. Aber niemand hat es ihm gezeigt oder erklärt. Er hat es durch sehr viel Nachdenken und sehr viel Leid gelernt. – Du denkst, das ist nicht möglich und du kannst das nicht glauben? Er würde sagen: »Das ist nicht mein Problem.« Falls du denkst, du hättest ein hartes und einsames Leben, solltest du jetzt vielleicht noch mal darüber nachdenken.
In meinen Augen ist er eine Inspiration auf eine Art und Weise, wie ich sie noch nie gesehen habe. Trotz all dieser Umstände ist er glücklich und lebt sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen und Regeln.
Und glücklicherweise hat er es aufgeschrieben.
Ramsey McKinsi
Intro
Ich musste schon um mein Leben kämpfen, bevor ich überhaupt wusste, was Leben eigentlich bedeutet. Deswegen ist das inzwischen die einzige Variante des Lebens, die ich kenne. Nach all dieser Zeit bin ich mittlerweile sogar so weit, dass ich mich umso wohler fühle, je mehr Schmerzen ich habe. Ich kenne kein Leben ohne Schmerzen mehr. – Was nicht heißen soll, dass ich mir selber Schmerzen zufüge, nein, die kommen weiterhin von ganz allein. Und wenn die Schmerzen da sind, dann ist es alles andere als angenehm, aber wenn ich mal wirklich annähernd keine Schmerzen habe, dann fühlt sich alles total fremd und ungewohnt an – als ob irgendetwas fehlt. Komischerweise fühlt es sich dann sogar so an, als ob ich stillstehe. Vielleicht haben mich die ganzen Erlebnisse tatsächlich in die Vorstellung getrieben, dass ich nur weiß, dass ich noch lebe, wenn ich Schmerzen habe. Aber es sind eben auch Schmerzen dabei, die mich im wahrsten Sinne des Wortes auf die Knie zwingen. Wenn ich wenigstens mit voller Stärke den Schmerzen gegenüberstehen könnte, aber meine Energie reicht einfach nur für wenigen Stunden am Tag, danach erlangen Müdigkeit und Energielosigkeit die Überhand. Wenn man das Spiel über ein Jahrzehnt mitspielt, dann sollte man meinen, dass man es irgendwann gewohnt ist, aber das Tödliche sind nicht die Schmerzen oder die Energielosigkeit: Das Tödliche ist, wenn es bei all diesen Sachen einfach keine Pause gibt – niemals!
Ich habe Angst davor, dass ich es nicht schaffe. Dass ich es nicht schaffe, selber wieder herauszukommen. Dass ich den Burn-out nicht verhindern kann. Dass ich mein Leben selber nicht in den Griff bekomme. Dass ich es nicht schaffe, selberwieder auf die Beine zu kommen. Ich habe Angst davor, dass ich meinem Anspruch, meinem Ehrgeiz nicht gerecht werde. Dass ich mir selber nicht standhalten kann. Wenn ich mich nicht selber ständig fordere, den Druck auf mich selber nicht permanent aufrechterhalte, dann habe ich das Gefühl, dass alles um mich herum zerbricht, dass mein Leben auseinanderfällt, dass ich Zeit verschwende. Dann habe ich immer den Eindruck, ich würde mein Leben, meine Zeit vergeuden. Wenn ich mal ein oder zwei Tage Pause mache und ›nur herumliege‹, dann erscheint es mir, als ob ich mein Leben wegwerfe, dann geht irgendwie alles zugrunde. Wenn ich den Druck nicht aufrechterhalte, dann fühlt es sich so an, als ob mein Körper kollabiert. Wenn ich mich nicht ständig fordere, dann bin ich unzufrieden mit mir. Es geht immer nur um den nächsten Schritt, ich darf nicht stehen bleiben. Wenn ich stehen bleibe, dann versinke ich. Als ob ich im Treibsand versinken würde, sobald ich aufhöre vorwärtszugehen. Ich weiß nicht, wo das noch hinführt. Wenn ich diese Situation nicht in den Griff bekomme, dann kann das ein sehr böses Ende nehmen. Ich habe Angst davor.
Notizbuch 2015
Aber jetzt stellt sich schon ein bisschen die Frage: Was zur Hölle muss einem Menschen passieren, damit er mit Ende 20 schon so einen Zustand seinen Alltag nennt?
In meinem Leben sind Dinge Realität, von denen niemand will, dass sie Realität sind. Es sind mit Sicherheit auch Sachen dabei, von denen man will, dass sie Realität sind, aber das eine geht nicht ohne das andere. Manches geht nur Hand in Hand.
Manchmal musst du einfach eine Distanz gehen, die so groß ist, dass du Angst davor hast. Eine Distanz, die alles von dir verlangen und dich in deinen Grundwerten erschüttern wird. Eine Distanz, die dir ganz genau aufzeigt, wo deine Defizite sind und wie schnell dein Leben vorbei sein kann. Eine Distanz, die dir jeden Funken Hoffnung aus der Seele presst und dich langsam aber sicher den Wahnsinn der eiskalten Einsamkeit spüren lässt. Das Problem ist nur, dass du am Ende dieser Distanz feststellen musst, dass das erst der Anfang war und es jetzt erst so richtig beginnt …
Ich habe wirklich lange gezögert, mit dem Schreiben anzufangen. Ich hatte es zwar seit sehr langer Zeit im Kopf und habe auch schon ein paar Mal halbherzig damit angefangen, aber ich wusste immer ganz genau: Wenn ich es jetzt ernsthaft anfange und bis zum Schluss durchziehe, dann kommen mir permanent Tausend Sachen in den Kopf, die ich auf gar keinen Fall vergessen will aufzuschreiben. Und diesen Gedanken kommen natürlich immer genau dann, wenn man eigentlich gerade was anderes im Kopf und natürlich nichts zum Notieren zur Hand hat. Auf der anderen Seite geht mir sowieso immer alles Mögliche bezüglich meines Lebens durch den Kopf und das ist ja eigentlich auch der Grund, warum ich anfangen wollte, alles mal aufzuschreiben. Der Unterschied wäre nur, dass ich alles ein bisschen ausblenden könnte, solange ich es nicht aufschreibe. Aber da das ja so supertoll funktioniert in all den Jahren, komme ich in letzter Zeit immer mehr zu dem Entschluss: Ich muss anfangen zu schreiben und es auch durchziehen.
Das erste Mal fing ich im Juli 2014 damit an. Ich habe nie wirklich gewusst, auf welche Art und Weise ich die Sachen zu Papier bringen, wie ich alles verpacken soll, aber ich fing einfach an, meine Gedanken in ein Notizbuch zu schreiben, wann immer mir irgendwas in den Kopf kam. Das war sehr ungewohnt für mich. Ich habe noch nie vorher ernsthaft versucht, meine Gedanken festzuhalten, aber das war ja noch lange kein Grund dafür, es nicht mal zu versuchen. Das hier sind meine ersten Zeilen aus meinem Notizbuch vor sechs Jahren:
Die ganze Zeit versuche ich, diese Gedanken auszublenden, sobald sie mir in den Kopf kommen. Weil ich immer das Gefühl habe, dass ich daran zerbreche und komplett durchdrehe. Jetzt ist es nach sieben Jahren an der Zeit, diesen Gedanken aufzuschreiben, damit ich einen freien Kopf bekomme. Es geht nicht darum, dies alles zu vergessen. Ich will diese Sachen gar nicht vergessen. Sehr wahrscheinlich werde ich sie auch nie vergessen. Aber jetzt muss ich alles mal aus meinem Kopf ›rausschreiben‹, damit ich nicht immer befürchten muss, dass ich etwas davon vergesse und damit ich weiß, es steht irgendwo geschrieben und ich kann mit einem freien Kopf in die Zukunft schauen. Vielleicht geht es auch ein bisschen darum, loszulassen.
Viele der Erlebnisse haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Schon alleine deswegen werde ich vieles nicht vergessen. Permanent muss ich mich konzentrieren und mich daran erinnern, dass ich diese Gedanken ausblende und gewissermaßen aussperre, sobald die Vergangenheit wieder in meinen Kopf kommt. Meistens hält das nicht lange, aber wenn ich es nicht mache, dann zieht es mich wieder in diesen Sumpf hinein und das will ich vermeiden. Und jetzt, da ich endlich angefangen habe zu schreiben, komme ich nicht mal in Ruhe zum Autofahren, weil meine Gedanken ständig abschweifen und ich anhalten muss, um sie aufzuschreiben.
Wenn mich Leute fragen, dann will ich auf der einen Seite, dass sie es erfahren. Auf der anderen Seite aber, und das überwiegt, will ich und kann ich das meiste nicht erzählen. Alles, was ich zu erzählen hätte, ist schwer verständlich und man kann es fast nur begreifen, wenn man es miterlebt hat. Vor allem ist es schwer, so etwas in fünf Sätzen zusammenzufassen.
Notizbuch 2014
Diesen Text habe ich tatsächlich, gerade jetzt, da ich ihn hier abtippe, das erste Mal seit Juli 2014 gelesen. Alles was in meinem Notizbuch steht, habe ich hauptsächlich im zweiten Halbjahr 2014 geschrieben. Wenn ich den Text so lese, muss ich feststellen, dass es mir damals schon schwergefallen ist, die Umstände in dem entsprechenden Ausmaß halbwegs realistisch darzustellen und zu Papier zu bringen. Vor allem klingt das jetzt im Nachhinein alles noch recht verwirrt. Damals habe ich wirklich gehofft, dass ich mit dem Aufschreiben meinen Kopf etwas freimachen kann. Allerdings war der Effekt nicht wahnsinnig groß, eher schon fast vernachlässigbar gering.
Was mir letztendlich weitergeholfen hat, war nicht das Aufschreiben, sondern das Verarbeiten, und zwar unabhängig vom Aufschreiben. Verarbeiten heißt in diesem Fall, alles bis ins kleinste Detail auseinanderzunehmen und zu verstehen, was passiert und abgelaufen ist. Es macht zwar den Kopf nicht zwingend freier, aber ich kann dann besser mit allem umgehen. Ich bin auch lange noch nicht damit fertig. Es wird meine gesamte Lebenszeit dauern, bis ich damit durch bin.
Ich habe mich nie als irgendwas Besonderes oder Spezielles gesehen, obwohl ich ganz genau weiß, dass ich sehr speziell bin. Wenn ich mir die Welt so anschaue, die verschiedenen Menschen, wie sich Leute verhalten, welche Entscheidungen getroffen werden, oder auch einfach nur, was alles so um mich herum und auf der Welt geschieht, dann merke ich ganz deutlich, dass mein Kopf komplett anders arbeitet. Das führte mich zu dem Glauben, dass ich einfach mal aufschreiben muss, was in meinem Leben bisher so abgelaufen ist und warum ich bin, wer ich bin. Ich bin der Meinung, dass sehr viele Menschen einen Nutzen aus meinen Erfahrungen und Gedankengängen ziehen könnten. Ich bin noch vielmehr der Meinung, dass noch mehr Menschen einen Nutzen aus meine Erfahrungen und Gedankengängen ziehen müssen, denn wenn ich mich so umschaue, dann habe ich sehr oft das Gefühl, dass niemand mehr weiß, wieso man eigentlich einen Kopf hat, geschweige denn, was man damit macht.
Mir fällt es sehr schwer, alles niederzuschreiben. Ich habe permanent alles, was mich definiert, im Kopf. Bei sehr vielen Sachen kommt mir in den Sinn: Das darfst du nicht vergessen! Es ist nicht so, dass ich vieles davon noch verarbeiten muss – das habe ich schon lange hinter mir. Ich habe immer versucht, alles zu verarbeiten, wenn es aktuell war. Irgendetwas zu verdrängen hätte mir keinen Schritt weitergeholfen. Für mich war immer klar: Das ist momentan die Situation, also setze dich damit auseinander! Irgendwann würde es mich ja dann doch wieder einholen. Und im Regelfall holt es einen ja gerade dann ein, wenn man sowieso schon darauf gewartet und sich Zeit dafür genommen hat. Aber mir sitzt trotzdem permanent alles im Schädel, weil ich ununterbrochen daran erinnert werde, und zwar schon bei den kleinsten Gelegenheiten, weil mich einfach alles, was ich sehe, daran erinnert, dass ich anders bin.
Das Buch ist eine Darstellung der Welt, in der ich lebe, in der ich mich mit meinen Gedanken bewege und mit meinen Augen sehe. Alles, was hier geschrieben steht, habe ich mir selber aus dem Arsch gezogen und es sind meine eigenen Worte, Gedanken, Erlebnisse und Erfahrungen. Es ist sogar so, dass sehr vieles davon Gespräche und Diskussionen sind, die ich tagtäglich mit mir selber führe. Und ich bin wirklich kein Gesprächspartner, mit dem man anfangen will zu diskutieren. Bei mir beiße ich immer ganz böse auf Granit, da gibt es einfach nicht den geringsten Raum für Kompromisse: Du willst leben, also hörst du gefälligst auf zu jammern und tust, was notwendig ist!
Ich möchte sehr gerne meiner Familie danken, die immer hinter mir stand und auch immer noch hinter mir steht. Ich weiß, dass die Zeiten mit mir nicht immer einfach waren, dafür möchte ich mich entschuldigen. Aber es war immer hilfreich zu wissen, euch im Rücken zu haben.
Ich habe in dem gesamten Buch keine Namen aufgeführt. Wenn man mich kennt, dann weiß man wahrscheinlich ziemlich schnell, wer dieses Buch geschrieben hat. Wenn man mich nicht kennt, dann ist das vollkommen in Ordnung, mich muss man nicht kennen. Mir ist es nicht wichtig, dass man mich kennt. Und wenn man mich finden will, dann wird man einen Weg finden, dies zu tun – wenn es einem wirklich wichtig ist.
Das Schöne ist: Mir kann man direkt auf der Straße begegnen und wir könnten sogar ein Gespräch anfangen, trotzdem würde man es mit ziemlicher Sicherheit nicht erwarten, dass ich die Person bin, von der dieses Buch handelt. Und ich lege auch Wert darauf, dass das so bleibt.
Und nun: Sei dir sicher, dass du wirklich weiterlesen willst. Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen: Meiner Erfahrung nach kann es sehr gut sein, dass einiges von dem, was kommt, an deinem Ego kratzt. In meiner Welt sind die Regeln einfach etwas härter und der Spielraum für Fehler recht gering. Aber wenn man sich wirklich von irgendetwas in diesem Buch angegriffen fühlt, dann sollte man sich mal ernsthaft Gedanken machen, ob man überhaupt sein eigenes Ego im Griff hat und vielleicht endlich erwachsen werden.
Ich habe keine Ahnung, was sich mit dem Schreiben des Buches entwickelt oder ob sich Menschen dafür interessieren, aber ich habe einfach Sachen in meinem Kopf, von denen ich glaube, dass Menschen daran interessiert sein könnten. Wenn ich mich so umschaue, dann bin entweder ich der Idiot oder alle anderen. Und wenn ich der Idiot bin, dann würde ich mich sehr freuen, wenn mich jemand berichtigen könnte. Falls es aber anders herum ist, dann sollten die Menschen wirklich sehr an meinen Erfahrungen interessiert sein.
Wer weiß, vielleicht erkennt auch jemand die Geschichte neben der Geschichte.
Am Anfang war der Schmerz
Wie oft passiert es, dass man tatsächlich seinen Traumjob findet? Dass man tatsächlich das Gefühl hat, man geht nicht mehr zur Arbeit? Für mich war das so. Ich liebte meine Arbeit. Ich war nie die hellste Leuchte in der Schule und konnte in kaum einem Fach die Nase über Wasser halten. Bis heute ist es nicht nachvollziehbar, wie ich den Abschluss an der Realschule geschafft habe. Aber ab dem Zeitpunkt, als ich die Ausbildung zum Zimmermann begann, war auf einmal alles klar. Der Unterrichtsstoff war kein Rätsel mehr für mich und ich habe alles auf Anhieb verstanden. Meine Erklärung für diese Wendung war immer, dass ich jetzt wusste, wofür ich die ganze Theorie brauche, und ich hatte einen tatsächlichen, praktischen Bezug. Die Welt war für mich in Ordnung. Ich stand voll im Leben. Die Ausbildung habe ich problemlos absolviert. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, weder mit der Theorie noch mit der Praxis.
Die Zimmerei war bei uns im Dorf, fünf Gehminuten von dem Haus meiner Eltern entfernt, bei denen ich mit meinem zwei Jahre älteren Bruder wohnte. In meiner Freizeit habe ich mit meinen Freunden im Verein Fußball gespielt. Zweimal in der Woche haben wir trainiert und am Wochenende gab es ein Spiel. Ich war immer mit vollem Ehrgeiz und Einsatz dabei. Ich konnte mir ein Leben ohne Fußball nicht vorstellen.
Alles war prima. Mit meiner Familie war alles bestens, die Freizeit war geregelt und jetzt hatte ich auch noch den passenden Job. Ich war vorbereitet für alles, was auch immer da kommen mochte. – Bis dann eines Tages ein Arzt zu mir sagte: »Sie können Ihren Beruf als Zimmerer nicht mehr machen. Sie werden umschulen müssen. Sie sind nun berufsunfähig!« Den Satz haben wahrscheinlich schon viele Menschen gehört. Ich glaube nicht, dass irgendjemand sehr glücklich über so eine Aussage sein kann. Blöd war in meinem Fall nur, dass der Satz relativ kurz nach Ende meiner Ausbildung gefallen ist und ich zu dem Zeitpunkt gerade mal 19 Jahre alt war. Die Scheiße war also am Dampfen und ich wusste noch gar nichts vom Leben. Nichts was ich je gehört, gesehen oder gelernt hatte, hat mich auf diese Situation vorbereitet. Meine Erfahrungen und mein Wissen bezüglich des Lebens waren auf dem Level eines Säuglings. Entgegen meiner bisherigen Vorstellung war ich Lichtjahre davon entfernt, erwachsen zu sein. Wie sich später herausstellte, hatte ich auch keine Ahnung, was es eigentlich heißt zu leben. Ich hatte auch überhaupt keine Ahnung, dass ich irgendwann dankbar sein würde, dass das so gekommen ist.
Während meiner Ausbildung hatte ich immer wieder mal Rückenschmerzen. Für einen Zimmermann ist das jetzt nicht unbedingt ein Grund zum Aufschreien. Allerdings gingen diese Schmerzen bei mir nicht mehr weg, sondern wurden immer mehr. Also habe ich das Standard-Prozedere durchlaufen: Man geht zum Hausarzt, bekommt Spritzen und Schmerztabletten, wird zwischendurch mal eingerenkt und geröntgt. Irgendwann schickt einen der Hausarzt zum nächsten Arzt und das ganze Spiel geht von vorne los. Ziemlich schnell waren meine Medikamente auf einem Level, dass mir verbot zu arbeiten oder gar die entsprechenden Maschinen zu bedienen. Meine Mutter war sich morgens nicht mal mehr sicher, ob ich geistig noch auf demselben Planeten war.
Trotz allem wurde meine Schmerzsituation nicht besser. Es gab sogar Momente, in denen ich beim Arbeiten auf allen vieren auf dem Gerüst war, weil ich aufgrund der Schmerzen nicht mehr aufrecht stehen konnte. So konnte ich dann zwar mal etwas Luft holen und kurz durchatmen, aber für einen Zimmermann ist das keine brauchbare Arbeitshaltung. Das ist wahrscheinlich eins der Dinge, die ich nie mehr vergessen werde. Es gab dann auch schnell keinen Zeitpunkt mehr, an dem ich keine Schmerzen hatte. – Der Schmerz war immer da und ging auch mit den Medikamenten nicht mehr weg.
Ich weiß noch ganz genau, wann mein erster Krankheitstag war: Es war Montag, der 25. September 2006, ungefähr einen Monat, nachdem ich die Ausbildung mit Bravour absolviert hatte. Am Tag davor hatten wir noch ein Fußballspiel. Es war mein letztes. Ich habe tatsächlich gespielt, bis ich nicht mehr konnte, wortwörtlich, bis ich fast auf dem Spielfeld zusammengebrochen bin. Unter höllischen Rückenschmerzen ließ ich mich auswechseln. Als wäre es gestern gewesen, sitze ich alleine mit Tränen in den Augen in der Kabine. – Nicht weil ich ausgewechselt wurde, sondern weil die Schmerzen einfach so groß waren, dass ich sogar Atemprobleme hatte und jeder Atemzug die höllischen Schmerzen noch verstärkte. Am nächsten Tag war es mir schlichtweg nicht mehr möglich, zum Arbeiten zu gehen. Das war der erste Tag einer Reihe von sehr vielen Krankheitstagen. Natürlich wurde während meiner krankgeschriebenen Zeit weiterhin versucht, der Ursache des Übels auf die Schliche zu kommen.
In der Zeit bis Dezember gab es dann auch einen Wechsel von meinem Hausarzt zu einem Orthopäden. Mit dem Orthopäden war ich sehr zufrieden und er hat auch ernsthaft versucht, mir zu helfen und die Ursache zu finden. Er hat mich ein paar Wochen auf eine Rehabilitationsmaßnahme geschickt, von November 2006 bis Januar 2007. Es war schön, sich mal zu entspannen und etwas Abstand zu bekommen von allem. Es gab die üblichen Aktivitäten, die einen so erwarten während einer Reha: Physio- und Bewegungstherapie, Gymnastik, Bewegungsbäder, Massagen, medizinische Bäder, Magnetfeldtherapie, Entspannungstherapie und so weiter. Leider war es mehr ein recht angenehmer Wellness-Urlaub, als dass mich das in Bezug auf meinen Rücken weitergebracht hätte. Solche Aufenthalte sind meistens nicht darauf ausgelegt, die Ursache der Beschwerden zu behandeln. Stattdessen werden einfach ein paar Sachen ausprobiert, in der Hoffnung, dass etwas davon Erfolg bringt. – Zumindest war das mein Eindruck dieses Reha-Aufenthalts. So was ist im Sinne einer Anschlussheilbehandlung (AHB) nach einer Operation eine super Sache, wenn es dann darum geht, wieder beweglich zu werden oder die Muskulatur an die neuen Umstände zu gewöhnen oder zu lernen, den Alltag zu bewältigen, je nachdem welche OP man hinter sich hat. Aber wenn es darum geht, die Ursache von ernsthaften Beschwerden zu ergründen und diese gezielt mit individuellen Maßnahmen zu behandeln, dann ist eine Reha mit einem allgemeinen Behandlungsplan einfach der falsche Weg. Aber das sind alles Erfahrungen, die man entlang des Weges macht und ich möchte mit Sicherheit keine meiner Erfahrungen missen, denn es gibt aus jedem Erlebnis und jeder Situation etwas zu lernen, solange der Wille da ist, dies zu tun.
Die Reha hat mich zwar nicht wirklich weitergebracht, aber ich habe neue Erfahrungen gesammelt. Das Bewusstsein für meinen Körper hat sich ein klein wenig weiterentwickelt. Ich habe auch überhaupt erst einmal gelernt, was es so alles für Behandlungen gibt bei einer Reha. Es war meine erste und somit war alles neu für mich. Trotzdem hatte ich immer noch dieselben Schmerzen und es ging immer noch darum, endlich rauszufinden, was mit meinem Rücken los war.
Nachdem die Reha-Maßnahme nichts gebracht hatte, empfahl mein damaliger Arzt, ich solle doch eine Wiedereingliederung in meinen Beruf als Zimmerer versuchen, damit wir diesen Schritt auch gemacht hätten. Nicht dass es sonst irgendwann heißen würde, wir hätten nicht alles versucht. Das Ganze sah dann so aus, dass ich in Wochenschritten zuerst vier, dann sechs Stunden und dann wieder Vollzeit gearbeitet habe. Es war wirklich komisch, nach vier oder sechs Stunden nach Hause zu gehen, wenn alle anderen noch am Arbeiten waren. Ich lasse ungern Arbeit liegen, schon gar nicht, wenn ich die Arbeit liegen lasse, alle anderen aber weiterarbeiten. Letztendlich hatte ich auch bei der Wiedereingliederung meine üblichen Schmerzen und somit war dieser Schritt auch nicht hilfreich für mich. Wenn wir ehrlich sind, war das nicht wirklich eine Überraschung.
Bei meinem nächsten Arzttermin war es dann so weit, dass der Arzt dann eben das Unvermeidliche ausgesprochen hat: »Sie können Ihren Beruf als Zimmerer nicht mehr machen. Sie werden umschulen müssen. Sie sind nun berufsunfähig!«
Für mich war das zu diesem Zeitpunkt keine Überraschung mehr, schließlich macht man sich ja Gedanken. Aber für mich als 19-jähriger Junge mit Traumberuf war das dann schon ein Moment, in dem ich kurz schlucken und mir dessen bewusst werden musste, was da gerade passierte. Selbst jetzt vermisse ich diesen Beruf immer noch. Aber so sehr es mich auch anpisst das zu schreiben: Es gibt tatsächlich Sachen in meinem Leben, die einfach nicht mehr gehen. Und ich kann jetzt jammern und schmollen und mich wehren, wie ich will, am Ende vom Tag werde ich das akzeptieren müssen. Allerdings ist das eine Lektion, die in dieser Situation noch darauf gewartet hat, von mir gelernt zu werden.
Und so stand ich nun da. Vollkommen ahnungslos, was ich jetzt mit meinem Leben anfangen sollte, musste ich mir überlegen, wie es weiterging. Das war für mich das erste Mal, dass ich mich hinsetzen und nachdenken musste, was ich denn eigentlich wollte. Obwohl das so einfach klingt, ist das eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, aber im Nachhinein finde ich es essenziell, dass man das mal macht. Dann kann man zielstrebig seinen Wünschen und Träumen nachgehen, sein Leben genau danach ausrichten und hat etwas, von dem man mit Sicherheit weiß, dass es sich lohnt, alles dafür zu geben. Das Paradoxe ist halt nur, dass diese Erkenntnis erst kommt, nachdem man es getan hat. Solange vorher kein Grund dafür vorhanden ist, kommt niemand von selber auf die Idee, das mal zu machen. So war es auch bei mir.
Leider musste ich aber mit diesem Prinzip, dass die Erkenntnis erst kommt, wenn man es selber erlebt, im Laufe der Jahre noch so meine Erfahrungen machen. Erfahrungen, die mir schwer auf dem Herzen lagen. Eigentlich ist es ja ganz natürlich, dass man Dinge erst glaubt, wenn man sie selber erlebt hat, so sind wir eben. Was mir dann so schwer auf dem Herzen lag, war die Tatsache, dass ich nicht derjenige war, der anderen etwas glauben sollte, es war vielmehr so, dass ich wusste, was zu tun war, aber keiner glaubte mir. Und so konnte ich letztlich nur dabei zusehen, wie gegen diverse Wände gefahren wurde.
Aus irgendeinem Grund hatte ich immer ziemliches Glück mit meinen Ärzten, so mochte ich auch diesen Orthopäden recht gerne. Er hat immer versucht, das Problem zu finden, und wollte nicht einfach irgendetwas machen, nur damit er etwas Abrechnen konnte. Wie es aber so kommen musste, war es dann irgendwann so weit, dass der Arzt ehrlich zu mir sagte: »Leider weiß ich hier nicht mehr weiter und bin mit meinen Möglichkeiten am Ende. Sie müssen einen anderen Arzt aufsuchen.«
Das war jetzt eine etwas verklemmte Situation. Einerseits musste ich mir einen neuen Arzt suchen, schließlich wollte ich ja, dass es mir irgendwann mal wieder besser ging, andererseits musste ich mir ja auch einen neuen Job suchen – oder irgendwas, was ich anstellen konnte mit meinem Leben, schließlich war ich immer noch berufsunfähig. Für den Rest meines Lebens arbeitslos zu sein, war für mich jedenfalls keine Option. In diesem Moment wurde mir klar: Ich muss jetzt ganz schnell erwachsen werden, sonst nimmt das mit mir ein ganz böses Ende.
Für die Suche nach einem neuen Arzt hatte ich einen Anhaltspunkt: Einer meiner Ausbildungskollegen hatte einen Bandscheibenvorfall und konnte mir eine Praxis in München empfehlen. Dort gab es verschiedene Ärzte, vom Orthopäden bis hin zum Neurochirurgen. Wie sollte es auch anders sein: Es gab von den verschiedenen Ärzten prompt verschieden Diagnosen. Eine war, dass ich drei Bandscheibenvorfälle gehabt hätte. Diese Diagnose hat zu meiner ersten Operation an der Wirbelsäule Anfang April 2007 geführt. Die entsprechende Behandlung war kein großer Eingriff, dennoch war es für mich ein stationärer Krankenhausaufenthalt. Es wurde eine Laseroperation gemacht, bei der mithilfe eines Lasers Bandscheibenmaterial entfernt wurde, um die Nervenbahnen davon zu befreien und somit die Schmerzen zu verringern oder gar loszuwerden. Leider hat mir dieser Eingriff in keiner Weise geholfen. Na ja, vielleicht in der Hinsicht, dass man eine mögliche Ursache mehr ausschließen konnte. Aber meine Schmerzen waren immer noch dieselben, also ging es weiter. Es gab für mich unter anderem unzählige Spritzen an die Wirbelsäule. Schmerzmittel standen auch weiterhin auf meiner Speisekarte. Aber bezüglich meiner Schmerzen hat mir das alles nicht geholfen. Ich kam ziemlich auf dem Zahnfleisch daher. Allerdings (vielleicht auch zum Glück) war mir da noch nicht bewusst, dass bezüglich meines Schmerzpensums noch viel mehr ging, es noch viel schlimmer kommen würde und mein Körper und meine Psyche noch sehr viel mehr aushalten mussten.
Jetzt könnte man sich fragen, warum ich nicht versucht habe, die Schmerzen mit Alkohol zu betäuben. Nun: Wieso sollte ich versuchen, meine Schmerzen mit Alkohol zu betäuben? Wie hätte mir denn Alkohol helfen können? Ich mag vielleicht nicht der Schlaueste sein, aber so blöd bin ich dann auch wieder nicht. Auf die Idee muss man erst mal kommen, soviel Alkohol zu trinken, dass man entweder keine Schmerzen mehr spürt oder sie einem einfach egal sind, nur um am nächsten Morgen aufzuwachen und festzustellen, dass die Schmerzen immer noch da sind, der Kopf für die Lösung der Situation nicht zu gebrauchen ist und man nicht mehr die Energie hat, um an dem Tag zu trainieren. Dasselbe gilt für alle anderen Drogen.
Letztendlich hat mich dieser Arzt dann Mitte 2007 auch weitergereicht. – Wieder ein Arzt, der mit seinem Latein am Ende war. Ich blieb in derselben Arztpraxis, aber es war nun ein anderer Neurochirurg. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste war, dass es mein letzter Arztwechsel sein würde, denn dieser Arzt war ein Glückstreffer. Er hat stets versucht, mir zu helfen, ohne dabei ein zu großes Risiko einzugehen, indem er mich nicht einfach aufschnitt und irgendwas operierte. Vom ersten Tag an hatte ich den Eindruck, dass die Wirbelsäule und der Rücken sein Handwerk waren, so wie es für mich der Beruf des Zimmerers war. Er wusste, was er tat, und kannte sich aus. Was ich auch sehr an ihm schätzte und immer noch schätze ist die Tatsache, dass er sich für seine Patienten Zeit nimmt. Jedes Mal wenn ich bei ihm bin, fragt er mich, ob ich noch irgendwas brauche oder ob er noch irgendwas für mich tun kann, bevor ich das Zimmer verlasse.
Er hat wie gesagt immer versucht, zuerst die Ursache für das Problem zu finden, bevor er mich auf irgendeinen Verdacht hin operierte. Es wurden verschiedene Eingriffe erwähnt, die möglich waren, wie zum Beispiel Bandscheiben oder Wirbelkörper auswechseln, Versteifung der Wirbelsäule, Nervenenden veröden und so weiter. Er sagte aber auch zu mir, dass die Versteifung der Wirbelsäule die letzte Option sei, das würde er bei mir nicht machen, weil ich dafür einfach noch zu jung und die Wirbelsäule immer noch im Wachstum sei. Das war für mich ein beruhigender Satz. Ich war froh, einen Arzt gefunden zu haben, der wirklich an der Lösung des Problems interessiert war und mich nicht unüberlegt unters Messer legen wollte. Aber auch für mich war eine Versteifung der Wirbelsäule unvorstellbar und kam nicht infrage. So hat er mit unter anderem Krankengymnastik, Massagen und verschiedene Untersuchungen verordnet. Eine Computertomografie (CT) war auch vorgesehen, wurde aber vom ausführenden Arzt abgelehnt, da ich für die Belastung durch die Röntgenstrahlen noch zu jung war. Also hat man auf eine Magnetresonanztomographie (MRT) zurückgegriffen.
Nichts wird jemals wieder so sein, wie es mal war, wobei das immer so ist. – Nicht nur in meinem Leben: In jedem Leben! Jeder Gedanke, jeder Schritt, den wir machen, verändert uns. Der Wunsch, dass etwas wieder so ist, wie es mal war, ist eine Illusion. Es ist schlicht und ergreifend nicht möglich. Wie soll man mit dem Wissensstand, den man aktuell hat, einen Zustand erschaffen, in dem dieser Wissenstand noch nicht vorhanden war?
Es ist eine Sache, wenn man irgendwo mal Schmerzen hat, aber es ist eine ganz andere Sache, wenn dieser Schmerz nicht mehr weggeht – besonders wenn dieser Schmerz im Rücken ist. Ich muss ehrlich sagen, dass Schmerzen im Rücken sehr ekelhaft sind. Der Rücken ist immer beansprucht, egal was man macht oder in welcher Position man ist. Und dieser Schmerz belastet den ganzen Körper. Ich hatte auch verschiedene Varianten, wie sich dieser Schmerz dargestellt hat: Es gab einen stechenden Schmerz, dann gab es auch einen drückenden Schmerz, der einfach auf den ganzen Rücken gedrückt hat und des Öfteren so extrem wurde, dass ich nicht mehr richtig atmen konnte. Dann gab es natürlich auch noch den brennenden Schmerz. Alle Schmerzen weisen letztlich auf irgendetwas hin, es muss aber nicht immer dasselbe sein und vielleicht entsteht der eine oder andere Schmerz auch nur als Resultat eines anderen Schmerzes. Für mich war es jedenfalls so, dass der ganze Scheiß einfach nur wehtat – und ich wollte nicht, dass es wehtat! Aber nichts von dem, was ich bisher in meinem Leben erlebt oder gehört hatte, hat mir weitergeholfen. Ich konnte nicht einfach sagen: Ja, dieses oder jenes hat bei dem und dem funktioniert, also mache ich das jetzt genauso, weil es bei mir genauso ist. Nichts war bei mir genauso und nichts hat geholfen. Ich war mit einer völlig neuen Situation konfrontiert, von der ich keine Ahnung hatte. Ich wusste nur: Mir tut mein Rücken scheiß weh und ich will, dass das aufhört! – Es ist recht interessant, was ein so simpler Sachverhalt mit einem Menschen anstellen kann.
Der schlimmste Schmerz ist der, der dich nicht mehr ruhen lässt. – Und ich rede nicht von Stunden, Tagen oder Wochen … Ich rede von Jahren.
Eines der besten Gefühle, das ich jemals in meinem Leben gehabt habe, war der Moment, in dem ich ganz genau wusste, was ich zu tun hatte. Damit meine ich nicht, eine der täglichen Aufgaben, die man so hat, sondern was ich in meinem Leben zu tun hatte, was von jetzt an und für die Zukunft meine Aufgabe war. Der Moment war jetzt da: Ich musste um mein Leben kämpfen! Alles dafür tun, um wieder auf die Beine zu kommen und ein Leben zu haben. Ich wusste einfach, dass ich alle Register ziehen musste, um aus dieser Sache lebend wieder herauszukommen. Bedingungslos. Nichts und niemand durfte mich dabei aufhalten. Ich ließ mich auch nicht aufhalten, schon gar nicht von all diesen blöden Sprüchen, dass irgendwas nicht geht. Denn es ging um mein Leben. Wenn ich wirklich nicht bereit bin, alles zu tun, alles zu geben und zu versuchen, dann habe ich nicht das Recht, mich zu beschweren, weil meine Situation dann offensichtlich nicht so schlimm sein kann.
Es ging nicht darum, mein Bestes zu geben, es ging darum, dass ich tat, was notwendig war. Wenn alles gut ist, dann liegen diese zwei Konzepte sehr eng beieinander, aber je ekelhafter es ist, desto größer ist der Unterschied zwischen beiden.
Das bin ich aber nicht! Das widerspricht mir! Aber was ist, wenn deine Situation genau das von dir verlangt? Was ist, wenn deine Existenz, dein Leben genau davon abhängen? Was ist, wenn genau das der einzige Weg zu einem positiven Ende ist?
Die Wahrheit ist: Am Ende vom Tag interessiert es keine Sau, ob dir das widerspricht. Vielleicht ist es ja auch dein Bestes, aber weißt du was? Es interessiert nicht, ob es dein Bestes ist. Du musst einfach tun, was notwendig ist. Und wenn es so weit ist, dann bist du ganz weit über dein Bestes hinweg!
Jetzt stellt sich noch die Frage, woher man sich sicher sein kann, dass das tatsächlich der einzige Weg ist. Nun, wenn es so weit ist, dann weiß man es ganz sicher.
Fragen ohne Ende
Um das zweite Problem mit meiner beruflichen Zukunft zu lösen, habe ich mich erst mal auf meinen Arsch gesetzt und angefangen zu überlegen. Ich dachte mir einfach: Fangen wir halt bei null an. Was macht mir Spaß? Was mag ich gerne? Schließlich hatte ich alle Möglichkeiten und mit standen alle Türen offen. Na ja, fast alle, wenn man bedenkt, dass ich bereits mit 19 Jahren umschulen musste, weil ich einen kaputten Rücken hatte.
Ich habe mir tatsächlich eine Liste mit allen möglichen Berufen rausgesucht und bin sie durchgegangen. Wenn ich schon noch mal neu starten musste, dann wenigstens richtig. Ich wollte auf gar keinen Fall einfach irgendwas machen und dann später realisieren: Oh verdammt, das finde ich doch nicht so toll. Hätte ich doch mal lieber …. Ich wusste zwar, dass ich keine Ahnung vom Leben hatte, aber so schlau war ich dann doch.
Allerdings muss ich ehrlicherweise sagen, dass es gar nicht so einfach war, wie es sich jetzt vielleicht anhört. Ich hatte mich vorher noch nie fragen müssen: Was will ich eigentlich? In den Beruf als Zimmermann bin ich mehr oder weniger wegen meiner handwerklichen Familie reingewachsen. Mein Opa war Schindelmacher mit eigener Firma und mein Onkel hatte seine eigene Zimmerei. Trotzdem machte ich damals ein Praktikum in einem Unternehmen, das viel mit Stahl arbeitete. Ich habe dann aber sehr schnell festgestellt, dass Holz cooler ist. In der Ausbildung hatte ich dann noch mal festgestellt, dass der Beruf des Zimmermanns perfekt zu mir passte.
Jetzt war es soweit, mir tatsächlich die Frage zu stellen: Was macht mir Spaß? Um diese Frage beantworten zu können, musste ich mich ernsthaft mit mir selber beschäftigen. Das heißt vor allem, erst mal rauszufinden, warum ich die Sachen machte, die ich machte. Tat ich Dinge nur, weil ich sie gerne tat, oder gab es einen anderen Grund dafür? Wenn ja: Welchen?
Ich hatte auf einmal jede Menge Fragen im Kopf: Warum mache ich meine Routine am Morgen in dieser Reihenfolge? Warum habe ich eine Routine? Warum trage ich meine Einkäufe mit der einen Hand und nicht mit der anderen? Spielt es eine Rolle, mit welcher Hand ich meine Einkäufe trage? Warum will ich die Antwort auf manche Fragen nicht wissen? Habe ich Angst vor etwas? Warum habe ich Angst davor? Bin ich nicht selbstsicher genug? Warum bin ich nicht selbstsicher genug? Muss ich überhaupt selbstsicher sein? Hätte ich gerne mehr Selbstvertrauen? Warum hätte ich gerne mehr Selbstvertrauen? Warum glaube ich, dass ich nicht genügend Selbstvertrauen habe? Warum habe ich Schwierigkeiten damit, vor anderen Menschen eine Rede zu halten? Spielt es eine Rolle, ob ich Schwierigkeiten damit habe, vor anderen Menschen eine Rede zu halten? Ist es mir wichtig, was andere Menschen von mir denken? Warum ist es mir wichtig, was andere Menschen von mir denken? Will ich, dass andere Menschen mich mögen? Will ich, dass alle Menschen mich mögen? Reicht es mir, dass nur meine Familie mich mag? Warum will ich, dass andere Menschen mich mögen? Warum ist mir die Meinung anderer Menschen wichtig? Warum bin ich froh, einen besten Freund oder eine beste Freundin zu haben? Warum brauche ich einen besten Freund oder eine beste Freundin? Will ich nicht alleine sein? Warum will ich nicht alleine sein? Was macht mir beim Alleinsein zu schaffen? Warum bin ich gerne alleine? Ist es ein Problem, wenn ich gerne alleine bin? Kann es mal zum Problem werden, dass ich gerne alleine bin? Warum fällt es mir schwer, über meine Gefühle zu reden? Ist es wichtig, dass ich über meine Gefühle rede? Kenne ich meine Gefühle überhaupt? Für wen ist es wichtig, dass ich über meine Gefühle rede? Spielen Gefühle in meinem Leben überhaupt eine Rolle? Müssen Gefühle in meinem Leben eine Rolle spielen? Warum will ich, dass andere Menschen von meinen Leistungen und Erfolgen erfahren? Warum will ich die Anerkennung der anderen Menschen? Warum will ich die Aufmerksamkeit der anderen Menschen? Warum ist es mir wichtig, dass sich alles um mich dreht? Warum ist es ein Problem für mich, wenn sich nicht alles um mich dreht? Warum will ich im Mittelpunkt stehen? Warum bin ich der Meinung, dass ich es verdient habe, im Mittelpunkt zu stehen? Warum habe ich überhaupt irgendwas verdient? Warum muss man sich überhaupt irgendwas verdienen? Warum ist mein Äußeres dafür ausschlaggebend, ob ich mich wohlfühle? Warum lege ich so viel Wert auf mein Äußeres? Warum interessiert mich mein Äußeres überhaupt nicht? Warum habe ich Vorurteile? Warum kann ich meine Vorurteile nicht beiseitelegen? Warum glaube ich, dass meine Vorurteile der Wahrheit entsprechen? Warum bin ich der Meinung, dass ich alles weiß? Warum bin ich der Meinung, dass das, was ich weiß, auch wirklich der Wahrheit entspricht? Warum kann es nicht sein, dass mein Bild von der anderen Person komplett falsch ist? Warum kann es nicht sein, dass die andere Person, die viel jünger ist als ich, viel mehr weiß als ich? Warum kann ich mir nicht eingestehen, dass ich falschliege? Warum liege ich so oft falsch? Warum habe ich Angst davor, wirklich blöd zu sein? Warum kann ich nicht einfach die Realität akzeptieren? Warum kann ich nicht einfach meine Vergangenheit akzeptieren? Warum kann ich nicht für meine Entscheidungen einstehen? Warum verstecke ich mich, wenn ich etwas Falsches gemacht habe? Warum will ich nicht für meine Fehler geradestehen? Warum muss ich das Gefühl haben, dass ich besser bin als jemand anderes? Warum kann ich mir nicht selber vertrauen? Warum kann ich nicht das Vertrauen, dass ich in Gott stecke, auch in mich selber stecken? Warum glaube ich, dass es einen Gott gibt? Warum will ich, dass es einen Gott gibt? Warum funktioniert eine Welt ohne Gott nicht für mich? Wäre es ein Problem für mich, wenn es wirklich keinen Gott geben würde? Warum erreiche ich meine Ziele nicht? Warum habe ich überhaupt Ziele? Warum bin ich traurig, wenn ich meine Ziele nicht erreiche? Bin ich traurig, weil ich meine Ziele nicht erreiche, oder wütend, weil ich nicht alles für meine Ziele getan habe? Warum finde ich immer eine Ausrede für meine Faulheit? Warum kann ich nicht die notwendige Disziplin aufbringen? Warum schaffe ich es nicht, ehrlich zu mir zu sein? Warum lüge ich mich selber an? Warum lüge ich andere Menschen an? Warum sehe ich einen Fehler immer nur in der anderen Person? Warum glaube ich, dass ich schlau bin? Was bedeutet das überhaupt, wenn man schlau ist? Warum verlange ich von anderen mehr, als von mir selber? Warum fällt es mir schwer, Hilfe anzunehmen? Warum fällt es mir schwer, um Hilfe zu bitten? Warum habe ich mir bis jetzt über all diese Fragen noch keine Gedanken gemacht? Warum weiß ich die Antwort auf viele dieser Fragen nicht? Will ich die Antwort vieler dieser Fragen gar nicht wissen? Warum will ich die Antwort vieler dieser Fragen gar nicht wissen?
Das ist nur ein winziger Bruchteil der Fragen, die man sich aus meiner Sicht stellen sollte und die ich mir gestellt habe. Und jede einzelne dieser Fragen habe ich mir selber beantwortet. Ich habe nicht irgendwelche Antworten oder Weisheiten auf diese Fragen im Internet gesucht, sondern mir jede einzelne Frage solange gestellt, bis ich mir selber eine ehrliche Antwort darauf geben konnte. Und wenn die Antwort nicht schlüssig war und wieder neue Fragen aufgeworfen hat, dann habe ich mir auch diese Fragen beantwortet. Das Spiel kann man sehr, sehr lange spielen und es gibt unzählige Fragen. Manche sind einfach zu beantworten, manche erfordern etwas Nachdenkzeit, von manchen Fragen will man die Antwort gar nicht wissen und beim Großteil der Fragen ist die Antwort schmerzhaft. Dieses Spiel spiele ich immer noch. Seit ich damit angefangen habe, habe ich nicht mehr damit aufgehört.
Jetzt wird sich bestimmt der eine oder andere fragen, für was das denn gut sein soll. Diese Frage wird sich beim ehrlichen Beantworten der Fragen von selber beantworten. Und falls jemand denkt, dass das doch überflüssig sei, dann ist das auch eine Antwort, nur eben eine andere als bei mir. Dann wird sich jetzt wahrscheinlich noch jemand denken, dass das aus irgendeinem Grund bei ihm nicht funktioniert, weil da ja sowieso alles anders ist. Da muss ich an dieser Stelle leider sagen: Wenn du an dieser Stelle wirklich glaubst, dass das bei dir nicht funktioniert, weil alles anders ist, dann ist das mit Sicherheit nicht so! Denn wenn du denkst, dass du diese eine Ausnahme bist, dann bist du es mit Sicherheit nicht.
Es gibt für alles einen Grund. Für wirklich alles. Es gibt einen Grund, warum man gerade macht, was man gerade macht. Es gibt einen Grund, warum man sagt, was man gerade sagt. Es gibt einen Grund, warum man gerade genau da ist, wo man gerade ist. Es gibt einen Grund, warum man gerade fühlt, was man gerade fühlt. Und wenn der Grund ist, dass man nicht weiß, was man tut, dann ist das vielleicht nicht der beste Grund, aber es ist ein Grund. Wenn man aber wirklich der Meinung ist, dass es für diese Situation/Aktion/Emotion oder was auch immer wirklich keinen Grund gibt, dann hat man einfach noch nicht fertig gedacht und muss sich noch mehr Fragen stellen, denn nur weil man den Grund nicht sieht, heißt das noch lange nicht, dass es keinen gibt. Es gibt immer einen Grund. Immer! Jeder Mensch hat eine Geschichte und jede Geschichte ist anders. Wir sind ja schließlich alle in irgendeiner Weise verschieden. Somit gibt es auch immer einen anderen Grund für das, was gesagt oder getan wird. Oder auch für die Reaktionen, die auf Gesagtes folgen. Das gilt es zu beachten und zu respektieren. Immer! – Nur weil ich den Grund für das Handeln einer anderen Person nicht sehe, bedeutet das nicht, dass ich respektlos sein kann. Die andere Person kann ja nichts dafür, dass ich ein Idiot bin.
Meine ganze gesundheitliche Situation war also der Anlass, mich zum ersten Mal in meinem Leben so richtig mit mir selber zu beschäftigen, mir die richtigen Fragen zu stellen und die Antworten darauf zu finden – egal wie schmerzhaft sie auch waren. Ich habe im wahrsten Sinne des Wortes mein Leben in seine Einzelteile zerlegt und werde auch nicht mehr damit aufhören.
Alles, von dem ich bisher dachte, dass ich es wüsste, war auf einmal nicht mehr brauchbar. Wenn ich nicht bereit war, alles was ich glaubte zu wissen beiseitezulegen, dann würde ich auch nichts Neues dazu lernen. Wenn ich es mir selber nicht wert bin, mir die richtigen Fragen zu stellen, dann kann ich es doch gleich sein lassen, denn die richtigen Fragen sind die, deren Antwort man nicht wissen will.
Es hat sich sehr schnell herausgestellt, dass alles, was ich jemals über tiefsinnige Gespräche gehört hatte oder was Menschen als tiefsinnige Gespräche bezeichneten, nicht mal ansatzweise an der Oberfläche kratzte. Ich habe gemerkt, dass es eher eine Ausrede ist, um eben genau die notwendige Tiefsinnigkeit zu vermeiden. Meine Erfahrung ist: Egal wie man es anfängt oder welchen Weg die Gedankengänge nehmen, wenn ich es bis zur bitteren Wahrheit am Ende der Fahnenstange durchziehe, komme ich immer zum selben Schluss: Ich bin einegoistischer Idiot.
Mittlerweile habe ich dieses Spiel schon Tausende Male gespielt, schließlich ist das für mich inzwischen allgegenwärtig und funktioniert automatisch und permanent. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Wenn ich nicht zu diesem Schluss komme, dann habe ich nicht fertig gedacht. Der Punkt ist, dass das überhaupt kein Problem und auch nicht schlimm ist. Aber es ist wichtig, dass man sich dessen bewusst ist. Denn erst, wenn ich mir dessen selber bewusst bin, kann ich damit anfangen zu arbeiten und es auch ändern. Aber um das tun zu können, muss ich es erst einmal realisieren.
Egoistisch bin ich, weil in meinem Kopf immer der Gedanke herumschwirrt: Ich will …. Noch egoistischer geht es ja wohl nicht. Die zwei Worte Ich und Will sind ja der Inbegriff des Egoismus. Ich will Spaß haben.Ich will eine glückliche Beziehung.Ich will ein Kind.Ich will reich sein. Ich sage nicht, dass das schlimm ist, Wünsche und Träume zu haben ist ja gut, ich muss mir einfach nur darüber bewusst sein, was das eigentlich bedeutet. Aber das habe ich mir doch verdient. Einen Scheißdreck habe ich mir verdient. Alles, was ich mir jemals verdient habe, ist zu leben! – Allerdings bekommt das mit den Wörtern Ich und Will ein anderes Licht, wenn es heißt Ich will helfen! Also: Kontext ist wichtig!
Idiot kommt daher, dass ich überhaupt keine Ahnung habe, was im Leben abgeht. Eine simple Aktion kann alles auf den Kopf stellen und dann kann man alles, was man glaubt zu wissen, erst mal über Bord werfen, weil es keinen Nutzen hat.
Was aber ist, wenn einem am Ende des Tages alles, was man weiß und kennt, nicht mehr weiterhelfen kann?
Meine Eltern haben bis vor einigen Jahren Zigaretten geraucht. Ich kann diesen Geruch nicht ausstehen. Für mich gibt es keinen nachvollziehen Grund zu rauchen. Ich bin sehr vorsichtig, wenn es darum geht, das Wort Nie zu verwenden, denn niemand weiß, was passieren wird, aber ich werde auf jeden Fall nie mit dem Rauchen anfangen. Zur Zeit meiner Eltern war noch vieles anders. Dass Menschen damals angefangen haben zu rauchen und vielleicht auch heute noch rauchen, ist einfach so. Das muss man respektieren. Ich bin auch sehr stolz auf meine Eltern, dass Sie es geschafft haben, mit dem Rauchen aufzuhören. Aber wenn ich in der heutigen Zeit noch jemanden sehe, der raucht, dann brennt mir komplett die Sicherung durch. Wenn man in den 80er-Jahren oder später geboren ist und im Jahr 2020 noch raucht (egal welche Variante), dann gehört man doch zu den größten Idioten auf diesem Planeten! Und wenn ich dann noch Eltern sehe, die mit ihrem Kind unterwegs sind und rauchen, dann ist das das perfekte Beispiel von egoistischen Idioten. Dass so etwas nicht bestraft wird, ist eine weitere Idiotie. Und dann sagen solche Eltern auch noch, dass ihnen ihr Kind das Wichtigste sei. – So ein verlogener Blödsinn!
Bezogen auf meine berufliche Zukunft bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass Zimmermann schon das Richtige für mich wäre, aber das war ja jetzt keine Option mehr. Generell war körperliche Arbeit keine Option mehr. Es musste etwas sein, das ich auch tatsächlich ausführen konnte oder zumindest die Chance darauf bestand. Da ich mit der Baubranche zufrieden war, habe ich mich dazu entschieden, auf meinem bisherigen Beruf aufzubauen und eine zweijährige Weiterbildung zum Bautechniker in München zu absolvieren. Ich machte mir zwar sehr stark Gedanken darüber, ob es mit einem kaputten Rücken eine gute Idee war, wieder die Schulbank zu drücken und den ganzen Tag zu sitzen, aber