Der Sommer deines Lebens - Ruth Gilligan - E-Book

Der Sommer deines Lebens E-Book

Ruth Gilligan

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Beschreibung

Die Prüfungen sind vorbei, die Schule zu Ende, jetzt kommt das Leben. Für die Zwillinge Alex und Chloe ist klar: Du kannst alles haben. Und sie wollen feiern bis zum Umfallen. Alles scheint möglich in diesem Sommer. Da hat Alex einen Autounfall. Ein Freund wird schwer verletzt, aber Alex nimmt die Sache nicht ernst. Und vor lauter Party sieht keiner, dass Chloe immer dünner wird. Doch dann müssen sich Alex und Chloe der Frage stellen: Was wollen sie wirklich vom Leben? Und wohin führt ihr Weg? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 477

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Ruth Gilligan

Der Sommer deines Lebens

Roman

Aus dem Englischen von Anna Julia Strüh

FISCHER Digital

Inhalt

Für Mum,1. Kapitel Alex2. Kapitel Chloe3. Kapitel Alex4. Kapitel Sam5. Kapitel Chloe6. Kapitel Alex7. Kapitel Chloe8. Kapitel Jennifer9. Kapitel Alex10. Kapitel Chloe11. Kapitel Alex12. Kapitel Chloe13. Kapitel Alex14. Kapitel Chloe15. Kapitel Sam16. Kapitel Alex17. Kapitel Chloe18. Kapitel

Für Mum,

weil sie mich meinen Weg gehen ließ,

ohne mich je im Stich zu lassen.

1. Kapitel Alex

Alex legte den Stift weg. Er war fertig. Das ewige Lernen, die Prüfungen, die Abhängigkeit von den Eltern – das alles war vorbei. Heute fing das Leben an, endlich hatte er die Schule und alle Zwänge, die damit verbunden waren, hinter sich. Aber das Gefühl der Erleichterung, von dem andere erzählt hatten, stellte sich nicht ein, und er war auch nicht sonderlich stolz auf seine Leistung. Stattdessen konnte er nur daran denken, wie er sich am Abend volllaufen lassen würde.

Als Alex aus dem Prüfungsraum schlenderte, erkundigte sich sein Freund Barry beiläufig: »Wie lief’s?«

Doch Alex war das egal. Warum auch nur noch das kleinste bisschen Energie auf Gedanken an die Prüfungen verschwenden? Wenn er ehrlich war, hätte die Klausur kaum schlechter laufen können, wahrscheinlich weil er sich überhaupt nicht darauf vorbereitet hatte. Aber das kümmerte ihn nicht – Alex hatte noch nie zu der akademisch begabten Sorte gehört. Im Gegenteil hatte er immer sehr deutlich gemacht, dass Schule in seinen Augen bis auf den Sportunterricht und die Chance, Leute kennenzulernen, die reinste Zeitverschwendung war, und mit dieser Einstellung war er bei den Probeklausuren fast überall durchgefallen. Deshalb hatte er in der Prüfungszeit auch nur ein Ziel gehabt – das Examen möglichst schnell hinter sich zu bringen. Dann konnte er endlich in den Sommer starten und seine neu erworbene Freiheit genießen.

»Barry, scheiß auf die Prüfungen – sie sind vorbei. Komm, jetzt gehen wir erst mal richtig einen saufen«, verkündete er voller Begeisterung, schleuderte seinen Rucksack in die Mülltonne und verließ die Schule zum allerletzten Mal. Nächster Halt – das Pub!

*

Noch drei Freunde schlossen sich ihnen an, und Barry bestellte die erste Runde. Nur wenige hatten schon alle ihre Prüfungen überstanden – ein paar mussten noch anderthalb Wochen warten, bis sie fertig waren. Alex hatte extra die Fächer gewählt, bei denen er am schnellsten alles hinter sich hatte, und jetzt fand er, dass das wahrscheinlich die beste Entscheidung seines ganzen Lebens gewesen war. Dank der warmen Nachmittagssonne füllte sich der Biergarten schnell. In einer Ecke saßen zwei Blondinen, die ihn offensichtlich nicht aus den Augen lassen konnten, während sie ihre Cocktails schlürften. Er war ziemlich sicher, dass er mit der einen schon mal geknutscht hatte, und klopfte sich in Gedanken selbst auf die Schulter, denn sie war eindeutig ein Hingucker.

»Walshy, kennst du die zwei Bräute?«, unterbrach einer der Jungs Alex’ Grübelei.

»Ja, hab die beiden schon vor ’ner Weile rumgekriegt.« Er schmückte die Wahrheit nur ein bisschen aus.

»Aber egal, Mann, was geht heute Abend ab?«, wollte Alex wissen, und das war der Auftakt zu einer langen Diskussion über Nachtclubs, Hauspartys und, was das Wichtigste war, ganz viel Alkohol.

 

Und dann war es plötzlich sieben Uhr, und Alex, der gerade sein sechstes Glas Bier in einem Zug geleert hatte, bekam Hunger. Er vermutete, dass es bei seiner Mutter was zu essen gab, und nahm Barrys Angebot, ihn nach Hause zu fahren, dankbar an, obwohl sein Freund ungefähr genauso viel getankt hatte wie er. Egal, dieses ganze Gelaber über Alkohol am Steuer war doch Schwachsinn – die ganze Zeit fuhren sie besoffen Auto, und nie war was passiert. Die Musik dröhnte in voller Lautstärke aus Barrys VW-Golf, und Alex kurbelte die Fenster runter, um sich den Fahrtwind um die Ohren rauschen zu lassen, während sie die Schnellstraße runterbretterten. Die Geschwindigkeit, der Alkohol, der Gedanke daran, dass er die Prüfungen endlich hinter sich hatte – Alex fühlte sich großartig. Endlich fing das Leben richtig an.

*

Alex’ Kopf dröhnte, als er aufwachte. Er hörte einen durchdringenden Piepton und ein leises Stimmengemurmel. Er wollte sich aufsetzen, doch ein scharfes Stechen in der Brust hinderte ihn daran. Was geht ab? Sein ganzer Körper pochte dumpf. Wo bin ich? Seine Sicht war leicht getrübt, als er an die unbekannte Decke über ihm starrte, und das Herz klopfte ihm wie wild. Es fiel ihm schwer, klar zu denken, nur langsam tauchte er aus dem Nebel auf, in dem seine Erinnerung verschwamm. Aber dann stieg ihm dieser unverkennbare Geruch in die Nase, und mit einem Mal wurde ihm alles klar – er war im Krankenhaus. Was zum Teufel war passiert? Er versuchte angestrengt, sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war, doch alles, was sein Kopf zustande brachte, war das unklare Bild von einer Ampel, wie das Auto nicht angehalten hatte und … Barry!

»Psst – Baz, wach auf«, raunte er zur Decke hoch, damit sein Freund, der in der Nähe sein musste, ihn hören konnte.

»He, Barry, du Trottel, du hast den Golf geschrottet.« Alex lachte, die ganze Sache hatte durchaus auch ihre lustige Seite. Aber es kam keine Antwort. Unwillig drehte er den Kopf erst nach rechts, dann nach links. Von Barry keine Spur. Alex runzelte verwirrt die Stirn. In diesem Augenblick kam eine Krankenschwester herein, und ihm wurde schlagartig bewusst, was für Vorteile diese Situation ihm noch eröffnen könnte. Doch als sie sah, dass er wach war, lief sie weg und kam kurz darauf mit einem Gefolge bekannter Gesichter zurück. Alex’ Mum, seine Schwester und Barrys Eltern wirkten total panisch, und während sie sich um ihn versammelten, fingen sie alle gleichzeitig an zu reden.

»O mein Gott, es geht dir gut.«

»O mein Gott, was ist passiert?«

»Ich kann kaum glauben, dass du wach bist.«

»Wir haben nur gerade Kaffee geholt, ehrlich – wir waren den ganzen Abend bei dir.«

Alex wollte nur, dass sie alle die Klappe hielten, und zu seinem Glück verfielen sie tatsächlich in erwartungsvolles Schweigen, als er den Mund aufmachte.

»Wie spät ist es?«, fragte er.

Seine Schwester Chloe wirkte verwirrt und auch ein bisschen enttäuscht, als sie antwortete: »Kurz nach zehn.«

Das war ein herber Schlag – damit waren seine Ausgehpläne für heute Nacht erledigt. Er wollte doch feiern. Jetzt war er den Abend über an dieses dämliche Bett gefesselt, mit seinen Alten als Gesellschaft. Die Fragen gingen wieder los.

»Alex, Schatz, was ist passiert?« Seine Mutter war den Tränen nahe.

»Mum, entspann dich – mir geht’s prächtig. Wir sind vom Pub nach Hause gefahren und …«

»Hat Barry getrunken?«, fiel Barrys Vater ihm ins Wort, auch er machte ein gequältes Gesicht. Alex wusste nicht, ob er lügen sollte oder nicht, aber weil sein Kopf zu wehtat, um sich irgendwas auszudenken, antwortete er einfach: »Ein paar Bier, klar. Mann, wir sind doch mit unseren Prüfungen fertig! Kann ich Aspirin oder so was kriegen – mein Kopf tut scheiße weh.«

Doch anstatt ihn zu bemitleiden, wie er es erwartet hatte, schüttelten Alex’ Besucher nur die Köpfe, einer blasser als der andere, und Barrys Mutter fing an zu schluchzen.

Warum flippten sie alle so aus? Ihm ging’s prächtig – er hatte nur ein bisschen Kopfschmerzen. Und Barry war bestimmt auch okay, wo immer er grad sein mochte. Es ging ja wohl kaum um einen Unfall wie im Fernsehen – sondern nur um einen kleinen Zusammenprall.

»Barry ist noch nicht aufgewacht«, flüsterte Chloe, während sich die Erwachsenen am Fußende des Bettes leise unterhielten. In Alex’ Kopf drehte sich alles.

»Alex, was zum Teufel ist los mit dir? Du hättest sterben können.« Wie immer ließ Chloe die Vernünftige raushängen. Obwohl sie Zwillinge waren, verhielt sie sich in schwierigen Situationen viel erwachsener als er. Es sah ihr wieder mal ähnlich, dass sie so einen Aufstand machte.

»Chloe, komm schon – es geht mir gut.«

»Alex, ihr hattet einen Autounfall. Du hast dir den Kopf angeschlagen, Barry ist immer noch ohne Bewusstsein – was ist daran gut?«

»Ich hab’s dir schon mal gesagt – ich hab nur Kopfschmerzen. Baz ist spätestens morgen früh wieder voll fit. Bitte mach jetzt kein Riesendrama aus der Sache.«

»Ich mache überhaupt nichts! Ich verstehe nur nicht, wie du so ruhig sein kannst!«, fauchte Chloe. Sie funkelte ihren Bruder aus zornigen Augen an, doch dann wurden ihre Züge wieder weicher.

»Jetzt aber mal im Ernst, Alex, du hättest sterben können. Stell dir vor, du quälst dich so lange mit deinen Prüfungen ab, nur um dann bei einem beschissenen Autounfall draufzugehen, weil ihr unbedingt besoffen fahren müsst. Mum und Dad hatten solche Angst.«

»Tja, dann haben wir ja Glück, dass es mir gut geht«, versuchte Alex, seine Schwester aufzumuntern. Er sah die Anspannung in ihrem Gesicht und wollte nicht, dass sie sich seinetwegen Sorgen machte. »Chloe, es geht mir gut. Das ist doch schon mal was, oder?« Sie schwieg einen Moment, und ihm wurde bewusst, wie erschöpft sie aussah.

»Ja, da hast du wohl recht. Drück Barry einfach die Daumen, okay?« In diesem seltenen Augenblick gegenseitiger Zuneigung legte Chloe ihm eine Hand auf die Schulter. Die Berührung fühlte sich merkwürdig an, aber irgendwie passte sie auch. Alex war zu müde, um zu reagieren, seine Lider wurden schwer, und er driftete in einen tiefen, willkommenen Schlaf. So fühlte sich die Freiheit also an?

 

Am nächsten Tag musste Alex sich unter der Aufsicht von nicht gerade attraktiven Krankenschwestern einer Reihe gründlicher Tests unterziehen, bevor sie ihn endlich nach Hause entließen, mit der strikten Anweisung, sich auszuruhen und für mindestens zwei Wochen jegliche Anstrengung zu vermeiden. Da ihm bis zur offiziellen Abschlussfeier nur noch gut eine Woche blieb, nahm Alex sich fest vor, bis dahin wieder fit genug zu sein, um hingehen zu können – genau wie Cinderella würde er sich nicht davon abbringen lassen, beim Ball zu erscheinen! Leider war Barry noch nicht aufgewacht. Einerseits fand Alex das irgendwie beunruhigend, aber andererseits war er einfach froh, dass sein Freund noch lebte. Im Stillen hoffte er, dass Barry einfach nur wie immer etwas faul war. Das mit dem Unfall hatte sich schnell rumgesprochen, und sobald er aus dem Krankenhaus nach Hause kam, wurde Alex mit SMS und Anrufen von Leuten überschüttet, die die Geschichte nochmal aus erster Hand hören wollten. Es gab eigentlich nicht viel zu erzählen, doch Alex freute sich trotzdem über die Aufmerksamkeit. Seine Freunde schien Barrys anhaltende Bewusstlosigkeit ganz schön zu schockieren, aber Alex versicherte ihnen, dass alles gut werden würde – das musste es doch, oder?

 

Die nächsten Tage zogen undeutlich an ihm vorbei, und Alex war seltsam dankbar für die Chance, nach dem ganzen Stress vor den Prüfungen einfach mal abzuschalten. Chloe lernte immer noch wie bekloppt, denn am Dienstag hatte sie ihre Spanischprüfung. Alex hatte noch nie verstanden, wie sie so viel pauken konnte – und warum. Sie war beim besten Willen kein Genie, aber in der Prüfungszeit, vor allem dieses Jahr, verbrachte sie mehr und mehr Zeit an ihrem Schreibtisch und büffelte ohne Ende. Es überraschte alle, Alex eingeschlossen, wie gut sie in der Schule war – früher hatte Chloe unter ihren Freunden den Ruf eines »Partygirls« gehabt und hatte mit so gut wie allen Jungs aus South Dublin irgendwann schon mal was gehabt. Alex war das immer peinlich gewesen, vor allem weil er mit den gleichen Leuten rumhing. Aber Gott sei Dank hatte sich Chloe mit der Zeit wieder eingekriegt, und jetzt war eindeutig Alex derjenige mit den Kerben im Bettpfosten. Genau wie es sein sollte.

*

Die Polizei verlangte Alex’ Aussage zu dem Unfallhergang, und aus irgendeinem Grund brachte ihn das völlig aus der Ruhe. Er wollte sich nicht daran erinnern, was genau passiert war. Was spielte das schon für eine Rolle? Ihm ging es gut, und Barry … Alex spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. Jeden Tag war er sicher, dass das Telefon klingeln und ihm die gute Nachricht bringen würde, dass Barry aufgewacht war. Doch der Anruf kam nicht. Es war noch keine Woche her, versuchte er sich zu beruhigen. Über seine Sorgen konnte er mit niemandem reden, denn er wollte sie einfach nicht laut aussprechen. So klammerte er sich weiter fest an die Überzeugung, dass alles gut werden würde.

*

Am Freitagabend lag Barry immer noch im Koma. Es war der Tag der Prüfungsfeier, und trotz allem wollte Alex es sich um keinen Preis nehmen lassen, hinzugehen. Ihm war klar, dass er diesen Plan bisher mit keinem Wort seinen Eltern gegenüber erwähnt hatte, aber eigentlich erhoffte er sich davon einen Vorteil. Es ging ihm gut. Na ja, nicht unbedingt gut – sein Kopf tat immer noch weh –, aber er würde sich um einiges schlechter fühlen, wenn er das größte Event des Jahres verpasste und eine weitere Nacht in denselben vier Wänden zubringen müsste. Dienstag war der reinste Horror für ihn gewesen, als Chloe freudestrahlend von ihrer letzten Prüfung nach Hause kam und dann mit ihren Freundinnen in die Stadt loszog. Alex war in seinem ganzen Leben nicht so neidisch gewesen.

Sein Vater kam von der Arbeit nach Hause. Es war Zeit, sein Anliegen vorzubringen.

»Dad?« Er bemühte sich um einen gelassenen Tonfall.

»Ja?«, antwortete sein Vater. Er klang nach seiner Arbeitswoche müde.

»Pass auf, ich hab mich nur gefragt … heute Abend ist doch die Prüfungsfeier und … na ja … alle werden da sein, und mir geht’s echt gut …«, log Alex in dem verzweifelten Bemühen, ihn zu überzeugen.

»Und was willst du jetzt von mir?« Mr Walsh kam direkt zur Sache. Er wusste, worauf das hinauslief, und es gefiel ihm überhaupt nicht.

»Na ja, kann ich … kann ich auch hingehen? Bitte?«, flehte Alex.

Sein Vater schwieg einen Moment, seine Augenbrauen zu einem halben Stirnrunzeln zusammengezogen, während er nachdachte.

»Alex, um ehrlich zu sein, halte ich das für keine besonders gute Idee …«

»Dad, mir geht’s echt toll«, betonte Alex nochmal. Natürlich hatte er schon damit gerechnet, dass sein Vater Vorbehalte haben würde.

»Alex, um ehrlich zu sein, sorge ich mich nicht nur um deine Gesundheit«, erklärte Mr Walsh, die Stirn jetzt stärker gerunzelt.

»Was?«, fragte Alex verblüfft.

»Na ja, mein Junge, ich denke einfach … das Ganze ist gerade mal eine Woche her …«

»Zehn Tage«, korrigierte Alex.

»Okay, gut, zehn Tage. Aber das geht trotzdem ein bisschen schnell, oder?«

»Was … Dad, was soll das heißen? Wenn’s dir nicht um meine Gesundheit geht, über was zum Teufel redest du dann?«

Mr Walsh wirkte extrem unruhig, während er seine Gedanken zu ordnen versuchte.

»Alex, also … hör zu, wir müssen reden – deine Mutter und ich wollten uns schon länger mal mit dir zusammensetzen … aber du warst geschwächt und dabei, dich zu erholen, und wir wussten nicht, wann der richtige Zeitpunkt …«

»Dad, spuck’s einfach aus!« Alex verlor endgültig die Geduld – er wollte heute Abend weggehen, alles andere war ihm im Moment reichlich egal.

»Alex, ich rede über die unwichtige Tatsache, dass du letzte Woche um ein Haar gestorben wärst – oder hast du das vielleicht schon vergessen?« Die Stimme seines Vaters klang sarkastisch und wurde mit jedem Wort lauter.

»Was soll das heißen?«

»Nur für den Fall, dass du’s nicht mitgekriegt hast, Alex – du und dein Freund, ihr seid besoffen Auto gefahren und hattet einen Unfall, der euch beide fast das Leben gekostet hätte. Meinst du nicht, dass du erst mal ein bisschen nachdenken solltest, bevor du dich wieder irgendwo rumtreibst? Herrgott nochmal!«, brüllte sein Vater aufgebracht. Alex wusste, dass sein Vater nur fluchte, wenn er richtig wütend war. Die harten Worte bestürzten Mr Walsh offensichtlich selbst, denn er hielt inne und holte tief Luft.

»Tut mir leid …« Immer noch schwer atmend begegnete er dem Blick seines Sohnes.

»Dad, können wir bitte wann anders darüber reden? Egal, was letzte Woche war, ich hab gerade meine Prüfungen fertig. Ich will mit meinen Freunden feiern, das hab ich mir doch echt verdient. Ich war die ganze Zeit hier eingesperrt wie ein verdammter Gefangener – kann ich nicht wenigstens einen Abend mal Spaß haben?«

Alex hatte seinen Vater noch nie so gesehen. Warum zum Teufel flippte er so aus?

Mr Walsh hatte sich wieder beruhigt und sah jetzt nur noch völlig ausgelaugt aus, selbst Anzug und Krawatte schienen schlaff an seiner müden Gestalt zu hängen.

»Geh einfach«, murmelte er.

»Was?«

»Geh – geh und amüsier dich. Du hast recht – du hast es dir verdient …«

»Dad, was ist los?«, fragte Alex. Der resignierte Tonfall seines Vaters brachte ihn völlig durcheinander.

»Nichts … hör zu, wir können wann anders darüber reden … Mach dir einfach einen schönen Abend, nur übertreib’s um Himmels willen nicht.« Damit drehte sich Mr Walsh auf dem Absatz um und ging in die Küche, gebeugt und dem Anschein nach um Jahre gealtert.

Alex wusste nicht, wie er sich fühlen sollte. Auf der einen Seite war er von der unerwarteten Wendung begeistert, doch andererseits schockierte ihn der jämmerliche Rückzug seines Vaters. Er hatte so aufgebracht gewirkt. Irgendwas stimmte da nicht.

*

Eine Stunde später erwiderte Paddy Walsh das »Tschüs« seines Sohns und hörte die Haustür zuschlagen. Chloe war ebenfalls ausgegangen, und seine Frau war noch nicht zu Hause, wieder einmal machte sie Überstunden. Er setzte sich auf die Couch und hörte mit halbem Ohr den Nachrichten zu, während seine Gedanken um ganz andere Dinge kreisten – wie die meiste Zeit seit dem Unfall. Er konnte es immer noch nicht fassen, mochte nicht glauben, dass sein Sohn, den er so sehr liebte, so ein Risiko eingegangen war – dass er so eine unverantwortliche Entscheidung getroffen hatte – und fast ums Leben gekommen wäre. Er konnte sich nicht mal im Ansatz vorstellen, was in den Köpfen von Barrys Eltern vor sich gehen musste. Jede Nacht betete er für den Jungen, und sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, wenn er daran dachte, dass sein eigener Sohn knapp davongekommen war, während ihr Sohn im Koma lag. Die ganze Woche hatte er Alex beobachtet, wie er tagein, tagaus vor der Glotze saß, aber er hatte nichts gesagt. Sein Sohn wirkte nicht im Mindesten beunruhigt, er schien es überhaupt nicht zu bereuen, dass er so dumm gewesen war, seinen Freund besoffen ans Steuer zu lassen und ihrer beider Leben damit in Gefahr gebracht zu haben. Vielleicht war die Wirklichkeit einfach noch nicht zu ihm durchgedrungen – vielleicht stand Alex noch unter Schock. Aber obwohl Paddy Walsh seinem Sohn kein Leid wünschte, war es ihm wichtig, dass Alex das Ganze etwas ausmachte – sein Sohn musste sich klarmachen, wie idiotisch sein Verhalten gewesen war und wie viel Glück er gehabt hatte.

 

Die ersten Drinks gab es schon vor dem Ball bei Andy, einem Freund von Alex, zu Hause. Sofort wurde Alex von einer Gruppe aufmerksamer Zuhörerinnen über die Ereignisse ausgefragt, die zu Barrys Koma geführt hatten.

»War er blutüberströmt?«

»Du hast bestimmt ein Trauma?«

»So eine Erfahrung verändert doch dein ganzes Leben?«

Wie üblich nahmen die Mädels die Sache viel zu ernst, aber Alex hatte nie etwas gegen weibliche Aufmerksamkeit einzuwenden, schon gar nicht, wenn zahlreiche sorgfältig geschminkte Augenpaare ihn mit mitfühlenden Blicken bedachten.

»Um ehrlich zu sein, stand ich einfach unter Schock. Ich glaube, das tue ich immer noch. Ich mache mir Sorgen um Baz, aber gleichzeitig weiß ich, dass er’s schaffen wird. Er ist so tapfer …« Alex brachte die schnulzigsten Sprüche, die ihm einfielen. Die Mädels schluckten alles. Das war ein gutes Gefühl. Zu seiner Linken drehte einer seiner Freunde sich einen Joint, zerrieb das Hasch zwischen den Fingern und bröselte es auf den Tabak, als wäre ihm das längst in Fleisch und Blut übergegangen. Für die meisten der Jungs hier traf das auch beinahe zu. Alex trank noch einen großen Schluck Bier und nahm befriedigt zur Kenntnis, dass sein Kopf zwar immer noch pochte, sich aber mit jeder geleerten Dose leichter anfühlte. Jennifer, mit der Alex und seine Freunde schon immer abgehangen hatten und die er schon mehrmals ins Bett gekriegt hatte, sah heute Abend besonders gut aus. Ihr enges schwarzes Kleid betonte ihre schlanke, kurvenreiche Figur, und Alex hatte es im Gefühl, dass sich die Geschichte heute wiederholen würde. Mal wieder.

»Hey Jenny.« Er nickte ihr zu, als sie an ihm vorbeikam.

»Oh, wenn das nicht der Held der Stunde ist«, erwiderte Jenny heiter, doch ihrer Stimme war eine gewisse Skepsis anzuhören. Er wusste, dass er Jenny schon mehr als einmal das Herz gebrochen hatte und dass sie ihm gegenüber deshalb immer ein bisschen misstrauisch war. Aber trotz allem kamen sie gut miteinander aus, und er wusste, wie er sie rumkriegen konnte. Auch wenn er sich bei ihr mehr ins Zeug legen musste als sonst, der Anblick ihres Kleides und vor allem die Vorstellung von dem, was es verbarg, waren Anreiz genug.

»Jen, freust du dich nicht, dass ich noch lebe? Ich hab gehört, du warst ganz krank vor Sorge um mich – hast kein Auge zugetan«, neckte Alex sie und sah das Flackern in Jennys bohrendem Blick.

»Darüber solltest du keine Witze machen, Alex. Das Ganze macht viele richtig fertig. Und außerdem – du weißt, ich hasse es, wenn du mich Jen nennst.« Sie gab sich alle Mühe, ihm zu widerstehen, aber er spürte, wie sie ihm langsam verfiel.

»Tut mir leid«, sagte er sanft, »ich bin noch völlig durcheinander von dem Unfall. Du siehst übrigens toll aus.« Er zog sie mit seinen eisblauen Augen aus, und sie setzte sich neben ihn. Sie wusste, das sollte sie nicht, konnte aber nichts dagegen tun.

Ihre Freundinnen sahen die vertrauten Anzeichen dafür, dass Jennifer sich mal wieder von Alex Walsh rumkriegen ließ, und ihre Blicke verrieten zwei unterschiedliche Gefühlsregungen. Zum einen Enttäuschung, da sie so viele Nächte damit zugebracht hatten, Jennys Tränen zu trocknen, nachdem Alex sie zum millionsten Mal sitzengelassen hatte. Aber auch Eifersucht, dass so ein heißer Typ, der durch sein traumatisches Erlebnis jetzt sogar noch mehr Anerkennung genoss, sich für Jenny interessierte und nicht für sie. Das war nicht fair.

Auch Andy war enttäuscht, als er mit einem Drink für Jenny zurückkam und sah, dass sein bester Freund seinen Platz eingenommen hatte. Manche Dinge würden sich eben nie ändern. Er spülte den Drink in einem Zug runter und beschloss, sich davon nicht den Abend verderben zu lassen.

»Warst du schon bei Barry im Krankenhaus?«, erkundigte sich Jenny vorsichtig.

»Bei Barry? Jen, er schläft. Warum sollte ich ihn besuchen?«

»Angeblich können sie einen aber trotzdem hören, spüren, dass man da ist. Es ist nur irgendwie ein komisches Gefühl, zu feiern, wo’s ihm doch so schlecht geht. Seine Eltern sind bestimmt völlig fertig.« Jenny schien Barrys Zustand so viel auszumachen, dass Alex einen Stich der Eifersucht nicht verleugnen konnte. Warum machten sie alle so einen Aufstand? Barry ging’s gut – er schlief nur –, sobald sich jemand Sorgen machte, hieß es gleich, dass wirklich irgendwas Ernstes los war. Barry würde es bald wieder gut gehen. Er wünschte nur, sie würden kein schlechtes Gewissen haben, weil sie die überstandenen Prüfungen feierten. Hatten sie die Monate der Folter, des grausigen Paukens, denn schon vergessen? Zum Glück bemerkte Jenny seine Unruhe und wechselte das Thema.

»Tut mir leid, Alex, ich weiß, dass das Ganze nicht leicht für dich ist. Ich sollte nicht noch darauf rumreiten. Also, wie liefen deine Prüfungen?«

Alex gefiel das neue Gesprächsthema auch nicht viel besser, aber als er die nächste Dose Bier öffnete und einen tiefen Schluck nahm, ging ihm auf, dass es dank der Prüfungen einen Monat her war, seit er das letzte Mal »richtig« mit einem Mädchen zusammen war. Wenn ihn ein paar Sprüche über schwierige Klausuren an sein Ziel brachten, dann bitte schön.

Er war scharf auf Jennifer, und er würde sie bald haben.

*

Sie taumelten in die Taxis und taumelten wieder raus, als sie die Location für die komplett ausverkaufte Prüfungsfeier erreichten. Vor dem Haupteingang dehnte sich eine ewig lange Schlange, doch glücklicherweise war Alex Schulsprecher und durfte somit den VIP-Eingang benutzen. Er konnte außerdem eine Person in den VIP-Bereich mitnehmen und war sich im Klaren darüber, dass Jenny annahm, sie wäre für diesen Abend die Begleitung seiner Wahl. Aber als ihm aufging, dass er langsam nüchtern wurde, griff er sich stattdessen Andy und teilte ihm mit, dass sie eine Menge Saufen vor sich hatten. Dagegen hatte Andy nichts einzuwenden.

Der exklusive VIP-Bereich sah beeindruckend aus, und als Alex die edlen Sofas, unzähligen Kerzen und vor allem die reiche Auswahl an gutaussehenden Frauen betrachtete, wusste er, dass der Abend super werden würde. Die Jungs gingen schnurstracks zur Bar und blieben nur stehen, um ein paar Mädels, die sie kannten, zu begrüßen. Natürlich hatten sie von dem Unfall gehört, schlangen ihre Arme um Alex und flirteten hemmungslos mit ihm. Weil Alex kein Geschwafel mehr ertragen konnte, ohne einen Drink zu kippen, drängte er zur Bar weiter. Er bestellte zwei Gläser für sich und Andy, doch mit der Antwort der Barkeeperin hatten sie nicht gerechnet.

»Ähm, Jungs, seht euch um«, empfahl sie ihnen. »Alles umsonst.«

Tatsächlich stand am anderen Ende des Raums ein Tisch, der vollgestellt war mit Alkopops, an denen sich jeder bedienen konnte. Schulsprecher zu sein hatte durchaus seine Vorteile! Sie gingen rüber und griffen sich wie Kinder im Süßigkeitenladen je zwei Drinks. Die süße Flüssigkeit stillte ihren Durst und zuckerte ihre erregten Geschmacksknospen. Ein Stockwerk weiter unten unterbrach der DJ einen der angesagtesten Tracks, um zu rufen: »Hey, hat hier irgendjemand grade seine Prüfungen ü-ü-überstanden?«

Die ganze Menge schrie vor purer Freude und Erleichterung. Alex fühlte, wie sich alle Muskeln seines Körpers entspannten, und fast zweitausend Mitabgänger teilten seine Begeisterung.

»Hey, da«, rief eine Stimme hinter ihm, als das Geschrei abgeklungen war. Er drehte sich um und sah in das ihm so vertraute Gesicht. An Abenden wie diesem gingen sie sich oft komplett aus dem Weg, doch heute war seine Schwester offensichtlich auch nicht ganz nüchtern.

»Hey, Chloe. Echt stark, dass es hier Alkohol umsonst gibt, oder?«

»Ja, ich weiß. Ich liebe meinen Schulsprecherjob! Zu schade, dass die Alkopops echt eklig schmecken, aber was soll’s. Wie war euer Vorglühen?«

»Echt gut. Ich dachte, du und deine Leute wolltet mal vorbeischauen.«

Chloes und Alex’ Freunde hingen manchmal zusammen ab.

»Ja, aber dann sind wir doch zu diesem anderen Typen. Der hatte Champagner umsonst, und das war’s dann!« Chloe hickste, was ihre Freundinnen mit lautem Gelächter quittierten.

Dann verkündete sie, dass sie ihren Freund, Sam, suchen gehen würde, und befahl Alex und Andy, sich einen »geilen« Abend zu machen.

Als sie leicht schwankend davonstolzierte, konnte sich Andy einen Kommentar nicht verkneifen.

»Ich weiß, du wirst mich umbringen, aber deine Schwester sieht heute echt heiß aus.«

Alex spürte den üblichen Stich, wie immer, wenn seine Freunde ihn daran erinnerten, wie sehr sie auf seine Schwester abfuhren. Er fühlte sich nicht als ihr Beschützer; er fand es nur komisch, dass irgendjemand sie auf diese Weise sah. Manche von ihnen hatten sogar schon mit ihr rumgemacht, aber Alex’ Reaktion warnte die ganze Gruppe, dass Chloe Walsh, zumindest für den Moment, tabu war.

 

Der Großteil des Abends verging wie im Flug, und Alex lief zur Höchstform auf. Der Autounfall verschaffte ihm Freigetränke ohne Ende, und sobald die Alkopops aufgebraucht waren, ging er in die Haupthalle runter, wo seine Hand nie lange ohne Glas blieb. Die Raucherzone draußen war total überfüllt, und Alex wollte dabei sein. Er beschaffte sich eine Zigarette von einem Kumpel, mit dem er früher Rugby gespielt hatte, nahm einen tiefen Zug und drängelte sich dann zu seinen Freunden durch. Seine Gang jubelte laut, als er bei ihnen ankam.

»Alter, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der nur eine Woche nach ’nem beschissenen Autounfall wieder saufen und rauchen kann«, sagte einer seiner Freunde und klopfte Alex auf die Schulter.

Alex lächelte nur und stimmte voller Stolz in das gewohnte Rumgealbere und Sprücheklopfen mit seinen Jungs ein. Aber plötzlich merkte er, dass ein oder zwei von ihnen sich raushielten – sie tauschten vielsagende Blicke, die Alex, hätte er es nicht besser gewusst, für abschätzig gehalten hätte. Bestimmt bildete er sich das nur ein, lachte er innerlich – warum sollte irgendjemand einen Groll gegen ihn hegen? Er hatte doch nichts verbrochen, oder?

Seine Brust schmerzte immer noch etwas von dem Sicherheitsgurt, und als er leicht darüberrieb, erspähte er eine verwirrt dreinblickende Jenny, die offensichtlich nach jemandem Ausschau hielt. Alex schmunzelte, da er ganz genau wusste, wer dieser Jemand war. Er näherte sich ihr von hinten und legte seine Hände um ihre Taille. Sie zuckte zusammen.

»Oh, Alex, du bist es.« Offensichtlich hatte sie gefunden, wonach sie suchte, aber schien nicht gerade erfreut. »Wo warst du den ganzen Abend? Es ist fast zwei. Ich hab überall nach …« Jenny wollte nicht zu verzweifelt wirken.

»Nach mir gesucht? Ich war die ganze Zeit oben im VIP-Bereich«, prahlte Alex, doch als er Jennys ärgerlichen Blick sah, änderte er seine Taktik. »Ich suche aber schon seit einer Stunde nach dir.« Zu seiner Überraschung schien sie ihm tatsächlich zu glauben.

»Tut mir leid – Danielle hat viel zu viel getrunken und hängt schon seit Stunden über der Toilette. Ich musste bei ihr bleiben, tut mir echt leid.«

Einen Augenblick spielte Alex den Gekränkten, aber dann konnte er sich nicht länger beherrschen – sie war einfach zu sexy. Ohne ein weiteres Wort zog er sie an sich und küsste sie auf den Mund. Er konnte nicht klar denken und musste sich konzentrieren, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, doch als sie sich an ihn presste und ihn spüren ließ, wie sehr sie ihn begehrte, wusste er plötzlich ganz genau, was er wollte.

»Wollen wir woanders hin?«, schlug er vor und hoffte, sie ignorierte den Chor von »Walshy«-Rufen, den seine Freunde angesichts ihres Kusses angestimmt hatten.

»Alex, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«

»Klar ist das eine gute Idee. Du siehst umwerfend aus. Warum sollte ich dich nicht wollen?« Jetzt spielte er den Unschuldigen und spürte, wie sich in seiner Hose etwas regte. Erwartung und Lust durchfuhren seinen Körper. Jenny wandte einen Moment den Blick ab und sah ihm dann direkt in die Augen, offenbar auf der Suche nach irgendwas. Alex betete, sie würde es finden.

»Jen, nur du und ich – was sollte daran falsch sein?«, ermunterte Alex sie. Natürlich wusste er, dass es auf die Frage sogar mehrere passende Antworten gab, hoffte aber, dass sie darüber hinwegsehen würde.

Jenny kam einen Schritt näher, schmiegte sich an ihn und flüsterte: »Meine Eltern sind heute Abend weggefahren. Wir können zu mir nach Hause. Ich hole nur schnell meine Sachen.«

Alex war begeistert. Das war leicht gewesen! Während Jenny ihren Mantel holen ging, gesellte er sich nochmal kurz zu seinen Freunden, um seine Zigarette fertig zu rauchen und zu verkünden, dass er sich jetzt aufmachen würde.

»Aber es ist erst halb zwei – was soll die Scheiße?«, beschwerte sich einer der Idioten, die offensichtlich nichts mitgekriegt hatten.

»Ich gehe mit zu Jenny. Ihr braucht also nicht auf mich zu warten.« Alex zwinkerte seinen Jungs zu, drehte sich auf dem Absatz um und schlenderte davon. Er war sich bewusst, dass sein Abschiedskommentar ganz schön billig gewesen war, aber es war ihm egal – er wusste, dass alle seine Freunde ihn beneideten. Sie sahen ihm nach: manche voller Bewunderung, manche weniger, und alle dachten sie irgendwie an Barry. Das Ganze war nicht in Ordnung.

Als er an der Tanzfläche vorbeikam, bemerkte er nur seine Schwester und ihren Freund, die sich schon wieder in den Haaren hatten. Na ja. Sein Kopf drehte sich leicht, und er musste schmunzeln. Jenny wartete schon auf ihn, und als sie sich zusammen auf den Weg machten, fühlte er sich einfach umwerfend gut.

*

Jenny schien nervös, als sie die Haustür aufschloss. Alex verstand nicht, warum – sie taten das hier schließlich nicht zum ersten Mal. Er konnte sich denken, dass sie gerne erst mal ein bisschen zusammengesessen und geredet hätte, bevor sie ins Schlafzimmer hochgingen. Aber er war scharf auf sie und wollte sie gleich. Sobald die Tür wieder zu war, zog er sie an sich und küsste sie stürmisch. Es kümmerte ihn nicht, dass er wahrscheinlich nach Tabak und Alkohol schmeckte. Seine Hände waren überall, berührten sie, streichelten sie, und sie zerschmolz in seinen Armen. Er schob ihr das Kleid bis zur Hüfte hoch, presste sie mit dem Rücken gegen die Tür und rieb sich an ihr. Er küsste sie, sie küsste ihn, und als ihre Hände sich endlich an seinem Gürtel zu schaffen machten, konnte er kaum noch an sich halten. Er wollte sie auf der Stelle nehmen, doch das hätte sie nie im Leben zugelassen, und so löste er sich stattdessen von ihr und regte so zärtlich wie möglich den Umzug ins Schlafzimmer an. Er übernahm die Führung, sogar in seinem benebelten Zustand fand er den Weg ohne Probleme. Als sie ihr blass-rosafarbenes Zimmer betraten, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ihr Zimmer sah so mädchenhaft aus, so unschuldig, doch in ein paar Minuten würde sie laut stöhnen und Dinge mit ihm machen, die alles andere waren als unschuldig.

Sie zogen sich schnell und hastig aus. Alex’ Herz klopfte wie wild, so sehr sehnte er sich nach all dem, was ihn erwartete. Das war eindeutig die beste Art, seine Freiheit zu feiern. Die Welt um sie herum verschwand und ließ nur die brennende Lust zurück, die Jenny in ihm entfachte. Die Prüfungen waren vorbei; er konnte machen, was immer er wollte. Das Leben hatte wirklich angefangen.

2. Kapitel Chloe

Als ihr Bruder an ihr vorbei über die Tanzfläche taumelte, fiel Chloe sofort sein zufriedener Gesichtsausdruck auf. Gerade eben war Jennifer in diese Richtung verschwunden, und sie fragte sich, ob die beiden vielleicht das gleiche Ziel hatten. Wahrscheinlich. Sie stellte sich lieber nicht vor, wohin genau Jenny und ihr Bruder unterwegs waren. Chloe hatte seit ihrer Ankunft kaum etwas getrunken – es war ihr gar nichts anderes übriggeblieben. Nun stand sie da und wünschte sich nur, der Boden würde sich auftun und sie von Sam wegbringen. Wie konnte das passieren? Es sollte der perfekte Abend werden – die Prüfungen waren vorbei, in einer Woche würde Sam nach Frankreich in Urlaub fahren, und sie hatten abgemacht, dass sie sich ihre gemeinsame Zeit so schön wie möglich machen würden. Aber jetzt standen sie hier und schwiegen sich an, weil sie nichts zu sagen wussten. Um sie herum sonnten sich alle in dem neuen Gefühl unbekümmerter Freude: Sie tanzten zu dem pulsierenden Beat, lachten und hatten Spaß. Ganz in ihrer Nähe unterhielt sich ein Pärchen zwischen kleinen, zärtlichen Küssen. Das brünette Mädchen sah zu ihrem Freund auf, ihre Locken ergossen sich wie ein Wasserfall über den Rücken und schillerten im Discolicht. Sie sahen so glücklich aus, so verliebt. Der Junge nahm die Hand seiner Freundin und wirbelte sie herum wie eine zierliche Ballerina, ihre Finger verflochten sich ineinander. Beide lächelten, als zählte auf der ganzen Welt einzig das pure Glück, das sie verband. Chloe war eifersüchtig.

Sam stand mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn über einen Meter von ihr entfernt. Während auch er den Blick durch den Saal schweifen ließ, war ihm sein Unbehagen deutlich anzusehen. Schlechte Laune stand ihm nicht. Er war immer munter und fröhlich, und alle liebten ihn – vor allem Chloe. Deshalb sah Wut an ihm aus wie ein Kleidungsstück, das nicht passte. Er wirkte wie ein kleiner Junge, der ein Hemd von seinem Vater anhatte, in einer Pose, die ihm einfach keiner abnehmen würde.

Sie hatten sich vor ein paar Monaten in einem Französisch-Intensivkurs kennengelernt. In dem Kurs waren nur vier Leute, und da sich die anderen beiden Mädchen schon kannten, hatten Sam und Chloe gar keine andere Wahl gehabt, als miteinander zu reden. Langsam hatte sich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, und mit der Zeit war mehr daraus geworden. Sam war nicht wie die anderen Kerle, mit denen Chloe sonst zusammen war. Er war weder tough noch arrogant, und es kümmerte ihn nicht, was andere von ihm hielten – er war einfach Sam. Die Jungs, mit denen Chloe abhing, und vor allem Alex hatten eine Weile gebraucht, um sich an ihn zu gewöhnen. Seine Art der Unbefangenheit und sein mangelndes Interesse an Teenagerintrigen waren neu in ihrem Freundeskreis. Aber mit der Zeit stellte sich heraus, dass Sam einfach zu nett war, um ihn nicht zu mögen. Vor Sam hatte sich Chloe nie wirklich verliebt, aber jetzt war sie völlig hin und weg. In letzter Zeit, mit dem Prüfungsstress auf der einen Seite und der unvermeidbaren College-Frage, der Zukunft, auf der anderen, waren in ihrer scheinbar unzerbrechlichen Beziehung jedoch Risse entstanden. Sie würde es nie zugeben, aber das jagte Chloe eine Heidenangst ein.

»Chloe, bitte, das ist doch bescheuert«, durchbrach Sam endlich das Schweigen, das inzwischen seit fast fünf Minuten zwischen ihnen hing. Sie wusste, dass er recht hatte. Sie konnte sich nicht mal mehr genau erinnern, worüber sie eigentlich stritten, aber in letzter Zeit brauchten sie anscheinend keinen Grund. Heute Abend wollten sie doch Spaß haben. Es war so lange her, dass sie zusammen ausgegangen waren, und sie hatte sich schon Wochen vorher darauf gefreut. Er hatte recht: Das hier war bescheuert.

»Ich weiß«, seufzte sie, »ich wünschte nur, uns würde so was nicht andauernd passieren.«

»Dann hören wir doch einfach auf damit. Wir waren beide gestresst wegen der Prüfungen, haben doch nichts als Lernen im Kopf gehabt. Aber wir haben’s überstanden. Das ist vorbei, und jetzt haben wir den ganzen Sommer vor uns. Wir haben das ganze Leben vor uns. Also lass uns anfangen!« Sam war wirklich unglaublich süß. Chloe wusste, dass auch er sich Hals über Kopf in sie verknallt hatte, und das war das mit Abstand beste Gefühl der Welt. Sie küsste ihn zärtlich und spürte, wie sie sich langsam in die zierliche Ballerina verwandelte, die in einem Strudel des Glücks herumgewirbelt wurde. Sam hatte recht. Sie hatten das ganze Leben vor sich. Sie würden es schaffen.

 

Um halb drei wurden die Lichter wieder heller, und die Party näherte sich ihrem Ende. Chloe hielt Sams Hand fest in ihrer, wie schon die ganze Zeit, seit sie sich versöhnt hatten. Auf dem Weg zur Garderobe wurde das Pärchen von einem salzigen Geruch angelockt und wechselte den Kurs. Hot Dogs! Eine Schlange von müden, aber glücklichen Jugendlichen hatte sich vor einem Stand gebildet, an dem zwei Chinesinnen frisch zubereitetes Essen verkauften. Das war zu schön, um wahr zu sein. Sam ging ihre Mäntel holen, während Chloe sich fürs Essen anstellte. Sie trennten sich mit einem Kuss, und Chloe war froh, dass zwischen ihnen alles wieder in Ordnung war. Sie konnte es nicht ertragen, wenn sie Streit hatten.

Langsam bewegte sie sich in der Schlange vorwärts. Die Jungs vor ihr konnten kaum stehen und lallten so undeutlich, dass Chloe sie nur schwer verstand.

»Müssen wir zu dieser beschissenen Hausparty …?«

»Kommt schon, Jungs – da gibt’s sooo viele Drogen …«

»Ich will nur kotzen …«

»Der Hot Dog schmeckt hundertpro verdammt genial …«

»High Five …«

Chloe konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, während sich vor ihr ein paar der imposantesten South Dubliner Rugby-Spieler komplett zum Affen machten. Auf ihren Designer-Polo-shirts prangten Flecken von verschütteten Drinks und anderen, mysteriösen Quellen, und morgen würden sie ohne Zweifel mit höllischen Kopfschmerzen aufwachen. Mit einem von ihnen hatte sie mal geflirtet, als sie noch jünger waren, in ihrer damaligen Stammdisco.

Seitdem hatte sie sich wirklich verändert. Früher hatte sie jeden Freitag ein schönes Top und Jeans angezogen, und ihre Mutter hatte sie in Donnybrook abgesetzt, wo sie mit ihren Freunden »tanzen« ging. Doch sobald sie den Club betreten hatte, rannte sie wie die meisten Mädchen auf die Toilette, um ein kurzes Stück Stoff anzuziehen, von dem sie hoffte, dass es als Rock durchging. Normalerweise nahm sie schon vorher einen Drink. Normalerweise machte sie an einem Abend mit einer Handvoll Jungs rum. Normalerweise hing sie früher oder später über der Kloschüssel. Chloe schämte sich ein bisschen für ihr Verhalten in »den guten alten Zeiten«, aber sie hatte ihren Spaß gehabt, und nur das zählte. Vor allem war sie seitdem viel erwachsener geworden, und jetzt, wo sie Sam hatte, war das Ganze endgültig vorbei.

Als sie sich dem Ende der Schlange näherte, überkam sie plötzlich ein komisches Gefühl. Sie sah zu, wie eine Bedienung fettige Zwiebeln und einen See Ketchup auf einen Hot Dog klatschte, und fragte sich, ob es das wirklich wert war. Während der Prüfungen hatte Chloe das Gefühl gehabt, dass sie nichts anderes machte als lernen und essen, und jetzt wo sie vorbei waren, sollte sie eigentlich auf ihre Figur achten. Es war so schwer – den ganzen Abend hatte sie ein dünnes Mädchen nach dem anderen gesehen, alle von Jungs umringt. Von ihnen war keins in der Schlange. Sie wusste, dass sie immer noch schlank war, aber das zusätzliche Gewicht, das sie sich beim Lernen angefressen hatte, machte ihr Sorgen, und sie nahm sich fest vor, es wieder loszuwerden. Und dann bis zum Ende des Sommers noch ein bisschen mehr.

»Einen Hot Dog, bitte.« Das war ihre Entscheidung. Zwiebeln, Ketchup, Senf und das ganze Zeug nahm sie sich selbst. Beim Anblick des fertigen Hot Dog lief ihr das Wasser im Mund zusammen, aber sie riss sich zusammen. Als Sam endlich mit ihren Mänteln zurückkam, präsentierte sie ihm sein Festmahl.

»Wo ist deiner?«, erkundigte er sich und biss herzhaft hinein.

»Ähm, ich hab ihn schon gegessen.«

»Echt?«

»Ja, ich hab mich vorgedrängelt, und bis du hier warst, hab ich ihn schon aufgefuttert. War total lecker!« Chloe gefiel es nicht, Sam anzulügen. Aber hätte sie es nicht getan, müsste sie ihm ihre Gründe erklären, und die würde er niemals verstehen. Er würde ihr wahrscheinlich nur einen Vortrag darüber halten, wie perfekt ihre Figur sei und dass sie so was doch nicht nötig habe. Aber das hatte sie sehr wohl. Natürlich sagte er, dass sie perfekt aussah, doch sie wusste, was wirklich stimmte. Nur ein paar Pfunde weniger und sie wäre zufrieden. Sie hatte alles unter Kontrolle. Das war ein gutes Gefühl.

*

Am nächsten Morgen wurde Chloe vom Summen ihres Handys geweckt. Noch im Halbschlaf fummelte sie daran herum, bis es die Nachricht anzeigte.

Bin draußen. Schlüssel vergessen – lass mich schnell rein.

Chloe stöhnte, warf das Handy aufs Bett und verfluchte ihren Bruder dafür, dass er sie aus ihrem warmen Nest riss. Dann stolperte sie die Treppe runter, in dem schwachen Versuch, leise zu sein, da ihre Eltern noch schliefen. Sie öffnete die Tür, funkelte Alex wortlos an und machte auf dem Absatz kehrt.

»Danke, Chloe …«, setzte Alex an, aber sie unterbrach ihn gleich mit einem abwehrenden Grunzen. Sie wollte nicht reden. Sie brauchte ihr Bett.

Nachdem sie zurück unter ihre Decke gekrochen war, ließ Chloe die vergangene Nacht nochmal in ihrem Kopf ablaufen. Sam und sie hatten sich ein Taxi genommen, was einige Zeit gedauert hatte in dem Chaos, das nach dem Fest ausgebrochen war. Ein paar Jungs fingen an, sich zu prügeln, und ein Krankenwagen kam mit heulenden Sirenen angefahren – bestimmt um irgendein armes Mädchen wegzukarren, das ein bisschen zu viel getrunken hatte. Das übliche Bild am frühen Morgen.

Irgendwann hatten sie ein Taxi ergattert, und als sie an ihrem Haus ankamen, war Chloe fest davon überzeugt, dass zwischen ihr und Sam alles wieder in Ordnung war. Aber war das genug? Warum mussten sie sich immer streiten? Was spielte es für eine Rolle, dass sie sich hinterher wieder vertrugen, wenn ihre Auseinandersetzungen so wehtaten? Chloe grübelte vor sich hin, bis ihr klar wurde, dass sie nicht wieder einschlafen würde.

Also stand sie endgültig auf und ging mit leicht schwummerigem Kopf die Treppe runter. Die Sommersonne schien in die Küche, blass und grell zugleich. Chloe riss die Kühlschranktür auf, und als die kühle Luft ihren warmen Körper streifte, schloss sie einen Moment vor Wonne die Augen, bevor sie sich die Orangensaftpackung griff und sich ein großes Glas eingoss. Damit trat sie raus in den Garten. Das Gras kitzelte ihre Fußsohlen, und das Sonnenlicht verursachte ein leichtes Stechen in ihren Augen. Der Himmel war ungewöhnlich blau – wie immer war das Wetter während der Prüfungen phantastisch gewesen, und Chloe hoffte inständig, dass es sich noch etwas länger halten und sie für die Geduld, die sie den ganzen Juni an den Tag gelegt hatte, entlohnen würde. Eine sanfte Brise streichelte die Blätter des Apfelbaums. Chloe musste lächeln. Die morgendlichen Vögel sangen ihr schönes Lied, während sie von Ast zu Ast hüpften und plauderten wie Frauen mittleren Alters, die eifrig miteinander redeten, Neuigkeiten austauschten und zuhörten. Einer stand in der Vogeltränke, tauchte den winzigen Kopf in das kühle Wasser, flatterte vor Freude mit den Flügeln und spritzte Tropfen in alle Richtungen – wie ein kleines Kind, das schwimmen lernte. Chloe liebte den Sommer.

Wer tut das nicht?, fragte sie sich. Sommer bedeutete Ruhe, Wärme und Glück, und nichts sollte ihr die kommenden Monate verderben. Das hatte sie sich eindeutig verdient. Ihr Magen fing an zu knurren, doch sie ignorierte es und trank noch einen Schluck Orangensaft. Der Saft war angenehm kalt im Mund, und als sie ihn runterschluckte, spürte sie, wie er ihr Inneres abkühlte. Der fruchtige Geschmack rief ihre Geschmacksknospen wach. Na also – so gönnte sie sich ein befriedigendes Frühstück, ohne Spiegeleier und Speck in sich reinzuschaufeln, wie es ihr Bruder so oft tat. Die Sache mit dem Abnehmen würde überhaupt kein Problem werden, ermunterte sie sich fröhlich, atmete die frische Morgenluft ein und ließ den Sommer herein. Endlich.

*

Chloe hatte immer Schauspielerin werden wollen. Als Kind hatte sie sich, wie alle ihre Freundinnen auch, das glamouröse Leben der Filmstars als Ziel gesetzt. Doch während ihre Freundinnen mit der Zeit darauf kamen, dass solche Stars einfach dazu da waren, dass man sie anguckte und über sie las, war Chloe weiterhin fest entschlossen, ihren Traum zu verfolgen. Sie wollte schauspielern – egal ob auf der Bühne, fürs Fernsehen oder für die große Leinwand. Einmal die Woche nahm sie Schauspielunterricht, aber ließ niemanden wissen, wie ernst es ihr damit war. Wenn sie auf der Bühne stand, erwachte sie zum Leben. Sich in einen Charakter einzufühlen, sich wirklich in jemand anderen zu verwandeln – das war ein unschätzbares Talent, mit dem sie sorgfältig umgehen wollte. Allein der Gedanke, damit Karriere zu machen – dafür bezahlt zu werden, dass sie ihren Traum lebte … Ihre erste Wahl beim Thema College war der Studiengang Schauspiel am Trinity-College. Ihre zweite Wahl war der Studiengang Schauspiel am Dublin Institute of Technology, kurz DIT.

Sie hatte an beiden Colleges vorgesprochen, mit ordentlichem Lampenfieber und im Bewusstsein, dass ihr Auftreten an diesen beiden Tagen ihr Schicksal entscheiden würde. Aber das viele Proben und die ausgiebige Vorbereitung zahlten sich aus. Von beiden Colleges erhielt sie eine Zulassung – natürlich unter der Voraussetzung, dass sie in den Abschlussprüfungen die erforderliche Punktzahl erreichte. Das Trinity hatte bestimmt höhere Maßstäbe, und Chloe bezweifelte, dass sie wirklich genommen werden würde. Aber auch am DIT konnte sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, und das würde ihr genügen. Jedenfalls hoffte sie das. Seit der Prüfungszeit redeten die Leute um sie herum mehr und mehr über ihre Hoffnungen und Ziele fürs kommende Jahr, und dabei rollten ihnen die Begriffe »Trinity« und »UCD«, das University College Dublin, nur so von der Zunge. Sie würden alle dorthin gehen.

Aber was war mit ihr? Natürlich gehörte es mit zur Collegeerfahrung, dass man sich in die wirkliche Welt aufmachte, doch der Gedanke, allein am DIT zu landen und die Luftblase, in der sie schon so lange lebte, verlassen zu müssen, war doch ganz schön beängstigend. Alle ihre Freunde von verschiedenen Schulen würden sich jetzt in dieser neuen Welt zusammentun, in die sie leider nicht gehörte. Genügte ihr Traum, Schauspiel zu studieren, als Gegengewicht dazu, dass sie diese Welt zurückwies? Opferte sie zu viel? Diese Gedanken schob sie ins tiefste Unterbewusstsein und presste sie so fest zusammen, dass es wehtat. Sie sollten sie in Ruhe den Sommer genießen lassen.

*

»Morgen!«

Stunden später weckte Mrs Walsh ihre Tochter, die auf der Couch eingenickt war. Obwohl sie nur ein blass-rosafarbenes T-Shirt und Shorts trug, sah Chloes Mum glänzend aus. Wie immer. Sie war die Sorte Frau, die aus dem Bett fallen und sich einen schwarzen Sack überstreifen konnte und trotzdem noch zauberhaft aussah. Chloe bewunderte die vornehme Schönheit ihrer Mutter, die ihr auch jetzt noch – im mittleren Alter, wie sie zugeben musste – erhalten geblieben war. Als gefragte Anwältin arbeitete Mrs Walsh viel, aber bewahrte sich dennoch ihren zarten Teint und ihre natürliche Eleganz.

»Morgen, Mum«, murmelte Chloe, noch benommen von ihrem Nickerchen.

»Und, wie war die Feier?«, erkundigte sich Mrs Walsh munter.

»Toll. Aber ich bin k.o. Ist Alex schon wach?«

»Du machst wohl Witze! Er liegt immer noch im Koma …« Sie verstummte, als ihr bewusst wurde, dass man diese Worte seit dem Unfall nicht mehr so leichthin benutzen konnte. Schnell wechselte sie das Thema.

»Hast du viele Bilder gemacht? Ich würde so gern die Kleider der Mädchen sehen. Dein Dior-Kleidchen sah umwerfend aus.«

»Danke, Mum.« Chloe strahlte. Wenn ihre Mutter, die modischste Frau der Welt, sagte, dass sie gut ausgesehen hatte, dann hatte sie das.

»Wo ist Dad?«, fragte sie dann.

»Liebling, es ist Samstagmorgen – wo sollte er wohl sein?« Ihre Mutter redete natürlich vom Golfplatz. Chloe fand es merkwürdig, dass sie ihren Mann nicht wie so oft begleitet hatte.

»Ich hab mich schon vor ewigen Zeiten mit Sally zum Mittagessen verabredet«, erklärte Mrs Walsh, die offenbar den fragenden Blick ihrer Tochter bemerkt hatte. »Zu schade – das Wetter ist phantastisch zum Joggen. Na ja …« Sie ging zurück in die Küche, wo Cappuccino und eine Schüssel Bio-Müsli auf sie warteten. Chloe gelobte, dass sie sich, wenn sie so alt war wie ihre Mutter jetzt, auch gesund ernähren und versuchen würde, ihre Figur zu halten. Allerdings hatte sie die Figur, die sie halten wollte, noch nicht ganz. Sie warf einen missmutigen Blick auf die Fettpölsterchen an ihrer Hüfte und wünschte, sie würden einfach verschwinden.

*

Sams zweiwöchiger Trip nach Frankreich rückte immer näher, und natürlich wollte er vor seiner Abreise jede freie Minute mit ihr verbringen. Doch so sehr sie ihn auch vermissen würde, konnte Chloe nicht leugnen, dass sie sich von der Zuneigung ihres Freundes langsam erdrückt fühlte. Seit der Prüfungsfeier hatten sie sich jeden Tag getroffen, waren zusammen ausgegangen oder zusammen zu Hause geblieben, und manchmal wünschte Chloe, sie könnte sich einfach mal vor die Glotze hängen, allein oder mit ihren Freundinnen, oder noch besser joggen gehen. Sie brauchte Zeit für sich. Während einem ihrer abendlichen Telefonate versuchte sie ihm das zu erklären.

»Morgen Abend machen wir auf jeden Fall was, ich wollte nur auch mal wieder mit meinen Mädels shoppen gehen«, meinte sie leichthin.

»Aber ich fahre in drei Tagen, Schatz. Ich dachte, wir sehen uns morgen Nachmittag.«

»Versteh mich nicht falsch. Ich unternehme gern was mit dir. Aber seit die Prüfungen vorbei sind, sehen wir uns jeden Tag, und ich brauche auch mal ein bisschen Zeit mit meinen Freundinnen.«

»Aber du kannst alle Zeit der Welt mit ihnen verbringen, wenn ich weg bin. Ich verschwinde bald nach Frankreich, und dann könnt ihr euch morgens, mittags und abends sehen.«

Chloe schwieg einen Moment.

»Bitte, Schatz, wir wollten uns morgen treffen.« Sam beharrte unerbittlich auf seinem Standpunkt, und auch wenn Chloe wusste, dass er das tat, weil er sie liebte, ging es ihr langsam gehörig auf die Nerven.

»Sam, es geht hier um einen verdammten Nachmittag. Ich will nur ein bisschen Zeit für mich. Seit die Prüfungen vorbei sind, sind wir andauernd zusammen. Versteh mich nicht falsch – ich liebe die Zeit mit dir. Aber ich will einfach ausnahmsweise mal egoistisch sein und mein eigenes Ding machen.«

»Aber warum hab ich keinen Anteil an diesem ›Ding‹?«, wollte Sam wissen.

»Das hast du! Manchmal! Aber nicht die ganze Zeit. Nur dieses eine Mal will ich was anderes machen. Das ist doch kein Verbrechen!«

»Du verstehst mich nicht.« Sam seufzte.

»Du verstehst mich nicht!« Chloe merkte, wie ihre Stimme lauter wurde, aber konnte nichts dagegen machen. »Hör auf, so verdammt egoistisch zu sein – ich will meine Mädels sehen. Erschieß mich doch. Was führst du dich so auf?« Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. War doch alles halb so schlimm – warum regte sie sich so auf? Ihr Herz klopfte, und das Schweigen am anderen Ende der Leitung schmerzte ihr in den Ohren. Sie betete, dass sie nicht zu weit gegangen war.

»Okay«, flüsterte Sam endlich. »Es geht nicht um deine Freundinnen. Ich wollte dich nur sehen – das ist alles. Viel Spaß beim Shoppen.«

»Aber morgen Abend machen wir was, oder?«, versuchte Chloe ihren Freund aufzumuntern, der beängstigend still war.

»Ja, vielleicht.« Erneut seufzte Sam. »Gute Nacht, Chloe.«

»Gute Nacht. Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.«

Und dann war er weg. Chloe hätte sich in den Hintern treten können. Warum hatte sie das getan? Sie wollte ihn morgen sehen – natürlich wollte sie das. Aber Shoppen klang auch nach einer guten Idee. Sie brauchte ein bisschen frische Luft. Sie musste das Durcheinander in ihrem Kopf in Ordnung bringen, die Mischung aus Schuldgefühlen und Triumph, die sie durchströmte. Sie zog sich schnell Shorts und ein T-Shirt an, verließ das Haus und rannte los. Sterne durchbohrten den pechschwarzen Himmel, und die stillen Straßen schienen das schwere Stampfen ihrer Schritte zu begrüßen. Sie würde rennen und immer weiter rennen, bis es wehtat, bis sie so viele Kalorien wie möglich verbrannt hatte, bis sie alle Schuldgefühle Sam gegenüber vollständig aus ihren Gedanken vertrieben hatte. Die Nacht sollte Zeugin ihres Kampfes sein.

3. Kapitel Alex

Mrs Walsh tat das Essen auf, es gab Brathähnchen mit Röstkartoffeln, und schenkte sich dann noch ein Glas Wein ein. Alex war am Verhungern. Nachdem er den ganzen Nachmittag im Fitness-Studio gewesen war, war er total ausgepowert und konnte es kaum erwarten, sich aufs Essen zu stürzen. Sein Vater sprach ein Tischgebet, worauf er immer bestand, und dann war es endlich soweit. Alex kaute kaum, bevor er genüsslich die nächste Ladung runterschlang. Seine Eltern plauderten mit Chloe über ihren Job – sie heftete für irgendeine große Firma die Papiere ab –, doch Alex war voll auf sein Essen konzentriert. Leider ließ sein Vater ihn nicht ganz unbehelligt davonkommen und stellte die eine Frage, auf die Alex langsam keine Antworten mehr wusste.

»Und? Wann besorgst du dir einen Job, Alex?«

»Hab ich dir doch schon gesagt«, keuchte Alex, außer Atem von seinem Turboessen.

»Andys Dad hat vielleicht was für mich.« Er lehnte sich vor und griff sich Chloes Teller – wie fast immer in letzter Zeit hatte sie ihr Essen kaum angerührt. Alex dachte darüber nicht weiter nach, sondern freute sich einfach, dass es dadurch mehr für ihn gab.

»Aber Alex, das sagst du schon seit einer Weile. Kommt dabei wirklich irgendwas raus?«, hakte Mrs Walsh nach und nippte an ihrem Sauvignon Blanc.

»Mum, ich hab’s euch doch gesagt – eigentlich wollte ich für Baz’ Vater arbeiten, und es ist doch nicht meine Schuld, dass er im Moment andere Sachen im Kopf hat, oder?« Alex wusste, dass sie das zum Schweigen bringen würde und nahm sich vor, diese Ausrede den ganzen Sommer über zu benutzen. Auf keinen Fall würde er sich einen Job besorgen. Trotz all ihrer Proteste gab es keinen Zweifel, dass seine Eltern ihn weiterhin versorgen würden, also warum sollte er auch nur einen Finger krumm machen?

»Wie geht’s Barry eigentlich?«, fragte Chloe.

»Was weiß ich?« Alex wünschte, die Leute würden endlich aufhören, ihn das zu fragen. Mit jedem Tag, der verstrich, ohne dass Barry aus dem Koma aufwachte, sorgte er sich mehr. Und er machte sich nie Sorgen. Was war los? Er hatte das Krankenhaus schon am nächsten Tag verlassen, doch sein Freund war immer noch dort gefangen, bewusstlos. Das machte ihm Angst. Natürlich würde er das nie zugeben, aber so war es. Es machte ihm wirklich eine Heidenangst.

*

Am nächsten Tag wollten Alex und sein Vater eine Runde Golf spielen gehen. Der Himmel sah grauer aus als die letzten Wochen, aber Mr Walsh meinte, dass es schon nicht regnen würde. Während Johnny Cash aus dem Radio dröhnte, beluden sie den Truck für die Fahrt runter nach Wicklow, und Alex fühlte sich großartig. Er hatte seinen Vater schon immer bewundert: Inzwischen war er der Direktor einer der größten Banken des Landes, und Alex hoffte, er würde genauso viel Geld und Macht haben, wenn er erwachsen war. Er hatte kein Problem damit, zuzugeben, dass er sich gut mit seinem Vater verstand, denn vielen seiner Freunde ging es mit ihren Vätern genauso, und solche Trips wie zum Lieblingsgolfplatz in den Süden waren nichts Ungewöhnliches. So hatten die zwei Männer auch mal ein paar schöne Stunden ohne die Frauen der Familie.

Nachdem sie aufgebrochen waren, verdunkelte sich der Horizont leider immer mehr, und Wolken bedeckten den Himmel mit einer bedrohlichen Schwärze, die sich so bald nicht wieder verziehen würde. Sobald die ersten Tropfen gefallen waren, dauerte es nicht mehr lange, und der Regen trommelte wie ein Steinhagel aufs Autodach.

»Das sieht nicht gut aus, oder?«, gab Mr Walsh schließlich zu, als sie schon die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten.

Alex war enttäuscht, wurde aber wieder ein bisschen fröhlicher, als sein Vater vorschlug, einen Zwischenstopp in einem nahegelegenen Hotel einzulegen und zu Mittag zu essen.

Sie setzten sich in eine gemütliche Ecke der Hotelbar und bestellten sich was zu trinken. Die Kellnerin, ein junges Mädchen mit stechend grünen Augen, wurde rot, als sie Alex sein Glas hinstellte, und ihre Finger zitterten leicht. Der Raum war beeindruckend. An den Wänden hingen überall Jagdbilder in Braun- und Rottönen, das ganze Ambiente wirkte rustikal. Der Schaum auf Alex’ Bier fiel langsam zusammen, und während er sich den ersten Schluck gönnte und der Regen nach wie vor gegen die Fensterscheiben peitschte, war er froh, im Warmen zu sitzen.

»Ich weiß, dass du nicht ganz ehrlich sein kannst, wenn deine Mutter dabei ist«, fing Mr Walsh an. »Also, wie waren die Prüfungen wirklich?« Sein Blick versicherte Alex, dass die Antwort keine weiteren Konsequenzen haben würde.

Trotzdem zögerte Alex. Er wollte seinen Vater nicht enttäuschen, aber auch nicht anlügen. Er seufzte.