Der Sommer war sehr groß - Angelina Franzen - E-Book

Der Sommer war sehr groß E-Book

Angelina Franzen

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Beschreibung

Die beeindruckende und ermutigende Geschichte eines jungen Paares, das nach einem schweren Schicksalsschlag über Nacht zu Winzern im Weinbaugebiet Mosel wird. Angelina und Kilian Franzen machen Mut, Außergewöhnliches zu wagen und zu vertrauen. Für ihre Arbeit im Calmont an der Mosel – dem steilsten Weinberg Europas – wurden sie 2018 als »Newcomer des Jahres« ausgezeichnet Die Bewirtschaftung und Erhaltung der Weinberge im Calmont an der Mosel ist eine der körperlich anstrengendsten und arbeitsintensivsten Aufgaben, die es überhaupt gibt. Als der Vater von Kilian Franzen durch einen tragischen Unfall im Weinberg ums Leben kommt, werden er und seine Frau Angelina mit Anfang 20 plötzlich und unerwartet Besitzer eines der steilsten Weinberge Europas. Die beiden sind ein Paar, seit sie 13 und er 16 war. Nun stehen sie vor einer großen Entscheidung: Sollen sie es wagen und den Traum des Vaters fortführen? Nicht nur das finanzielle Risiko ist erheblich. Beiden fehlt es vor allem an Erfahrung. Allen Bedenken zum Trotz beschließen sie, alles auf eine Karte zu setzen. Denn Wegducken kommt für sie nicht infrage. Mit Leidenschaft und Passion haben Kilian und Angelina es weit gebracht, wurden für ihre Arbeit als Winzer 2018 als »Newcomer des Jahres« gekürt. 70.000 Flaschen füllen sie mittlerweile pro Jahr ab. Doch der Weg dorthin war steinig: 80-Stunden-Wochen, eine erste Ernte, die aufgrund des Wetters zur Hälfte verfault, hohe Schulden und der Tod der Mutter nur wenige Jahre nach dem Vater … Die wahre Geschichte zweier Winzer, die hoffen, vertrauen, glauben und lieben.

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Seitenzahl: 174

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Angelina Franzen / Kilian Franzen

Der Sommer war sehr groß

Wie uns das Schicksal über Nacht zu Winzern machte und wir im steilsten Weinberg Europas das Glück fanden.

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als Kilian Franzens Vater durch einen tragischen Unfall in einem seiner Weinberge ums Leben kommt, werden Kilian und seine Frau Angelina mit Anfang 20 plötzlich und unerwartet Besitzer des steilsten Weinbergs Europas. Sie stehen vor einer großen Entscheidung. Sollen sie es wagen? Allen Bedenken zum Trotz beschließen sie, alles auf eine Karte zu setzen, und übernehmen nicht nur das Weingut, sondern auch einen Haufen Schulden. Tief verwurzelt in der Weinbautradition des Calmont (Mosel) und voller neuer Ideen leben sie ihren Traum. Auch ihr Glaube spielt dabei eine wichtige Rolle.

Inhaltsübersicht

HerbsttagPrologDas Erbe»Der Papa ist tot«WendezeitZeit zu reifenNeue WegeDas Jahr des WeinesKatastrophenNeue WegeWo ist Bruce Willis, wenn man ihn mal braucht?AusbauWenn, dann jetztDer Kreislauf des LebensAlles andersBlockiertMamaglückMoselochsenDie Geschichte des Weinbaus an der MoselLebenszeitenKaputtgefrorenWo ist der Opa?Liebeserklärung an den WeinWieder PionierarbeitAusgezeichnetEpilog
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Herbsttag

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren laß die Winde los.

 

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

 

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

 

Rainer Maria Rilke

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Prolog

© Privat

Langsam fährt die kleine Bahn den Weinberg hinauf. Ulrich Franzen und seine Frau Iris freuen sich darauf, den Sonntagabend an ihrem Lieblingsplatz, ganz oben im Berg, zu verbringen. Es ist Juni, ein früher Sommerabend, und eine frische Brise streift durch die Weinstöcke. Die kleine Bahn muss ordentlich schuften, um das Winzerehepaar samt Last den Hang hinaufzubekommen. Schließlich ist es nicht irgendeine Steigung, die sie zu bewältigen hat, sondern die des steilsten Weinbergs Europas. Hinten in dem kleinen Stauraum, in dem normalerweise Werkzeuge oder Weinbergpfähle den Berg hinauf- und hinuntertransportiert werden, steht heute ein Picknickkorb, in dem sich die Reste vom Mittagessen, etwas Brot und – natürlich – eine Flasche Wein befinden.

Zwanzig Minuten dauert die Fahrt den Calmont hinauf. Als sie oben ankommen, steigen sie aus und gehen die letzten Schritte zu Fuß. Hier oben ist der Ort, an den sie sich zurückziehen, wenn sie nachdenken oder – so wie heute – einfach Zeit miteinander verbringen möchten.

»Uli«, wie er von allen genannt wird, liebt den einzigartigen Ausblick auf die Mosel, der sich ihm hier bietet. In fünfter Generation betreibt er das Weingut. Auch die Generationen vor ihm haben schon an diesem Ort gestanden. Hier fühlt er sich ihnen nahe.

Langsam greift er zum Wein, öffnet die Flasche und gießt zwei Gläser ein. Er lässt sich Zeit. Das ist nicht der Ort für Hektik. Er genießt es, den Wein im Glas langsam zu schwenken, genau zu begutachten, wie sich die Sonnenstrahlen des endenden Tages in ihm brechen. Es ist sein eigener Wein, hier gewachsen, in den Hängen des Calmont. Während er ihn ansieht, erinnert er sich an die Jahre harter Arbeit, die nötig waren, um die Hänge wieder für den Weinbau zu erschließen. Ausgelacht haben sie ihn. Gesagt: »Das wird doch eh nichts. Der Anbau in den steilen Hängen ist viel zu aufwendig.« Aber er hat an seinem Vorhaben festgehalten. Konnte sich einfach nicht damit abfinden, die Hänge, die seine Vorfahren viele Jahrzehnte beackert hatten, brachliegen und verwildern zu sehen.

Vier Jahre harte Arbeit hat es ihn gekostet: das Roden, Umgraben, neu Anpflanzen. Und es hat sich gelohnt: Heute wächst hier ein ganz besonderer Tropfen. Uli kann sich nicht gegen den leichten Anflug von Stolz wehren, der sich bei dem Gedanken an das Geleistete in ihm breitmacht.

Einige andere Winzer sind später seinem Beispiel gefolgt. Heute ist der Calmont, der steilste Weinberg Europas, bekannt für den ausgezeichneten Riesling, der hier wächst.

Uli lächelt, während er mit Iris anstößt. Sie sprechen nicht viel. Das ist nicht nötig, beide wissen auch so, was der andere denkt.

Bis vor wenigen Stunden war ihr Sohn mit seiner Freundin zu Besuch. Die beiden studieren Weinbau in Geisenheim und schicken sich an, später einmal in ihre Fußstapfen zu treten. Für Uli und Iris würde ein Traum in Erfüllung gehen, wenn es so käme. Die nächste Generation, die die Tradition fortführt. Doch noch ist es nicht so weit, und Uli hütet sich, die beiden zu irgendetwas zu drängen. Sie sollen selbst entscheiden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen.

Er selbst hat es nie bereut, diesen Weg gegangen zu sein. Hier, im beschaulichen Örtchen Bremm, direkt am Calmont, an der wunderschönen Mosel. Zufrieden lässt er den Blick schweifen: über die Weinberge, das Moselknie mit den bewirtschafteten Flächen auf der Insel in der Mitte und die steilen Hänge drumherum. Uli ist glücklich an diesem Abend, zwei Wochen vor seinem Tod.

 

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TEIL I

Das Erbe

© Max Adams

»Der Papa ist tot«

ANGELINA Ich erinnere mich noch an den Anruf, als sei es gestern gewesen. Ich bin gerade dabei, das Bad zu putzen – es war in der ersten eigenen Wohnung, die Kilian und ich bezogen hatten, während wir beide in Geisenheim Weinbau studierten –, als ich das Klingeln höre, mir das Telefon schnappe und die Nummer von Kilians Mutter auf dem Display sehe. Sie ruft regelmäßig an, um zu fragen, wie es uns geht, also denke ich mir nichts dabei, als ich sie fröhlich begrüße. Doch schon wenige Augenblicke später merke ich, dass es diesmal kein netter Plausch werden wird. Iris ist völlig außer Atem, ihre Stimme klingt zitterig, überschlägt sich, sie weint: »Angelina … es ist … ein Unfall … Kilians Papa hatte einen Unfall … Ihr müsst kommen, beide, sofort!« Dann legt sie auf. Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf: Was heißt Unfall? Ist Uli verletzt? Wie schlimm ist es? Was ist überhaupt passiert? Sofort versuche ich, Kilian auf dem Handy zu erreichen. Mir ist klar, dass es schwierig werden wird, da er gerade Vorlesung hat.

»Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.« Klar! Er hat das Handy ausgeschaltet. Hektisch wähle ich die Nummer eines gemeinsamen Kommilitonen, Philipp. Der müsste ebenfalls in der Vorlesung sitzen. Aber auch der geht nicht ran. Vielleicht Julia? Diesmal habe ich Glück. »Hi Angelina, ich kann grad nicht, bin in der Vorlesung«, höre ich die Freundin flüstern und habe Angst, dass sie wieder auflegt, bevor ich etwas sagen kann. Bitte bleib dran. »Ist Kilian bei dir? Es ist wichtig.« Einen Moment ist es still, dann sagt sie: »Er sitzt drei Plätze weiter. Ist etwas passiert?«

»Kilians Papa hatte einen Unfall. Ich komme Kilian jetzt holen. Er soll rauskommen. Sag ihm das, bitte. Wir fahren zu ihm nach Hause.«

Auf dem Parkplatz vor der Fachhochschule lasse ich den Motor laufen, während ich auf Kilian warte. Als er einsteigt, fragt er sofort: »Was ist los?« Ich bin unsicher, was ich sagen soll. So genau weiß ich es ja selbst nicht. »Deine Mama hat angerufen. Dein Papa hatte einen Unfall. Mehr weiß ich auch nicht.« Kilian reicht das nicht: »Was ist passiert? Ist er verletzt? Was ist passiert?« Ich versuche, ruhig zu bleiben: »Kilian, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir so schnell wie möglich nach Hause müssen.«

Normalerweise brauchen wir mit dem Auto für die 130 Kilometer von Geisenheim nach Bremm etwa 90 Minuten. Dieses Mal dauert die Fahrt kaum eine Stunde. Ich fahre, so schnell ich kann. Als könnten wir das Unglück dadurch eindämmen. Während der Fahrt sprechen wir kein Wort. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Die Zeit scheint wie eingefroren, wir stecken fest zwischen Bangen und Hoffen. Die Stille ist erdrückend. Ich schalte das Radio ein, um ihr etwas entgegenzusetzen, nehme aber kaum wahr, was aus den Boxen kommt. Bis ein Sprecher die regionalen Kurznachrichten liest: »Ulrich Franzen, Steillagenwinzer im Bremmer Calmont, ist tragisch verun… « Schnell schalte ich das Radio aus und schiele zu Kilian hinüber. Hat er etwas gehört? Ich will noch nicht wissen, was passiert ist. Zumindest nicht so. Und schon gar nicht will ich, dass Kilian die Einzelheiten aus dem Radio erfährt. Der tut zumindest so, als habe er nichts bemerkt. Solange wir nichts Endgültiges wissen, besteht Hoffnung. Daran klammern wir uns. Die Schlimmste aller Möglichkeiten sprechen wir nicht aus.

Kurz vor Bremm ist eine Durchfahrt gesperrt, der Verkehr staut sich. Ich brettere kurzerhand über den Grünstreifen an der Schlange der Wartenden vorbei. Endlich sind wir da. Als wir am heimischen Gut vorfahren, ist der Hof bereits voller Menschen: Nachbarn, Freunde, Verwandte, der halbe Ort. Viele mit Tränen in den Augen. Als wir aussteigen, ruhen alle Blicke auf uns, doch niemand spricht uns an. Rasch gehen wir in Richtung Haustür. Schweigend bilden die Menschen eine Gasse für uns.

Drinnen wartet die Familie: Onkel Horst, der Bruder von Kilians Mama; Maximilian, Kilians 18 Jahre alter Bruder; Verena, seine 20 Jahre alte Schwester – und Iris, Kilians Mutter. Sie sitzt auf der Eckbank am Tisch. Ihre Wangen sind tränenüberströmt, als sie zu uns aufsieht und uns schluchzend das letzte bisschen Hoffnung nimmt: »Der Papa ist tot.«

*

KILIAN Nachdem wir die anderen begrüßt, uns umarmt und erste Tränen vergossen haben, sitzen wir gemeinsam am Esstisch. Mama berichtet von dem, was sie über das Unglück weiß. Die Nachbarn haben es berichtet: Papa wollte Pflanzenschutzmittel in einer der Flachlagen, beim alten Kloster, ausbringen. Als er mit dem Traktor über einen Erdhügel fahren wollte, geriet das Gefährt in Schräglage und kippte zur Seite. Papa ist genau auf einen Rebstock gefallen, der sich in sein Herz gebohrt hat. Als die Nachbarn bei ihm sind, ist es schon zu spät.

Papa war so ein erfahrener Weinbauer. Er hat in den Steilhängen des Calmont gearbeitet, jahrelang, ohne sich auch nur einmal ernsthaft zu verletzen. Und jetzt das. Beim Pflanzenschutzmittel-Ausbringen in einer der Flachlagen. Es klingt derart absurd, wenn es nicht so schlimm wäre.

Auch wenn wir selbst völlig fertig sind, versuchen wir, Mama zu trösten. Uns ist klar, dass es lange dauern wird, bis sie diesen Schicksalsschlag überwunden haben wird.

Gestern Morgen hat Papa noch da drüben auf seiner Bank gesessen, die Zeitung gelesen und mit Mama übers heiße Wetter gesprochen. Auf der Spüle steht noch die Tasse, aus der er am Morgen getrunken hat, da hinten liegt sein alter Pulli, den er oft zum Arbeiten im Weinberg trug, auf dem Schrank steht die Legofigur, die er mir mal für eine gute Note geschenkt hat. Fast ist es, als ob er gleich zur Tür reinkäme und sagt: »War alles nur ein Irrtum, mir geht’s gut!«

Aber er kommt nicht.

Niemand mag jetzt darüber sprechen. Immer wieder setzen wir an, etwas zu sagen, geraten ins Stocken, schauen uns hilflos an.

Irgendwann merke ich, dass ich jetzt einen Moment für mich allein brauche. Ich schleiche mich in mein altes Zimmer, setze mich aufs Bett, vergrabe das Gesicht in meinen Händen und versuche, das Unfassbare zu begreifen: Papa ist nicht mehr da! Tausend Bilder gehen mir durch den Kopf: Papa im Weinberg, mit seiner Arbeitshose, der sonnengegerbten und braun gebrannten Haut, dem konzentrierten Blick, mit dem er sich an den Pflanzen zu schaffen macht. Papa, als er mir zum ersten Mal erklärt, wie man Reben schneidet. Papa abends am Küchentisch, wie er nach getaner Arbeit die Arme auf der Tischplatte faltet, den Kopf ablegt und einfach einschläft. Papa, wie er freudestrahlend unterm Weihnachtsbaum steht, neben ihm eines seiner gigantischen Legobauwerke, die er immer zur Bescherung für uns vorbereitet hat.

Plötzlich merke ich, wie Angelina neben mir sitzt. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie sie hereingekommen ist. Ich nehme ihre Hand, und wir schweigen zusammen. Es gibt Dinge, für die es keine Worte braucht!

Als wir am nächsten Morgen aufstehen und ich aus dem Fenster blicke, sieht es so aus, als habe sich nichts geändert. Das Leben im Dorf geht seinen gewohnten Gang: Winzer, die zur Arbeit in die Weinfelder fahren, der Eiermann, der alle paar Meter in den Straßen hält und an den Haustüren schellt, ob jemand etwas haben möchte, eine alte Katze, die von ihrer nächtlichen Tour nach Hause streicht, und der Zeitungsjunge, der die Briefkästen abklappert.

Nur bei uns ist nichts mehr, wie es war.

Während wir in der Küche darüber sprechen, wann wohl der Leichnam freigegeben wird – bei einem solchen Unglück muss dieser erst obduziert werden, hat man uns erklärt – und die Beerdigung stattfinden kann, klingelt immer wieder das Telefon. Die Nachricht von Papas Tod hat sich noch am Abend wie ein Lauffeuer herumgesprochen, im Ort, entlang der Mosel und in der gesamten Weinfachwelt. Nachbarn rufen an, um sich zu erkundigen, wie es uns geht, andere sprechen uns einfach ihr Beileid aus, Journalisten bitten um Daten für die Nachrufe, die sie schreiben wollen. So geht es noch lange Zeit. Es ist bewegend, die Anteilnahme zu erleben. So viele Menschen, die ihn kannten, so viele Menschen, die ihn vermissen.

Während langsam das erste Begreifen einsetzt, taucht mitten in der Trauer eine Frage auf, die noch niemand auszusprechen wagt: Wie soll es jetzt weitergehen? Mit dem Weingut? Mit der Mutter und der Großmutter, die davon leben? Heute, morgen und in den nächsten Wochen? Die Lese, die Abfüllung, die Kundenanfragen – die Arbeit steht ja nicht still. Was jetzt?

Doch Hilfe ist schon unterwegs. Zumindest für den Anfang. Während wir zusammensitzen, öffnet sich die Haustür. Onkel Karl-Heinz und Onkel Jürgen, Papas Brüder, treten ein. Verstohlen schauen sie auf den Boden, dann zu Mama. Onkel Jürgen räuspert sich: »Der Karl-Heinz und ich würden jetzt rauffahren und uns um alles kümmern. Na ja, der Schlepper und der Hänger. Das kann ja nicht da liegen bleiben. Und der Pflanzenschutz muss ja noch fertig ausgebracht werden. Da müssen wir uns beeilen, bevor der nächste Regen kommt, sonst wäscht der alles wieder weg. Wir haben die Lagen zwischen uns aufgeteilt und fahren jetzt los.« Und schon sind sie wieder verschwunden.

Es ist, als hätten sie mit ihrem Besuch eine Lawine der Hilfsbereitschaft losgetreten: Immer mehr befreundete Winzer tauchen plötzlich auf, um uns zu helfen. Auch ihre Frauen kommen mit. Während wir noch sprachlos am Küchentisch sitzen, breitet sich auf dem Hof eine emsige Geschäftigkeit aus: Gemeinsam beratschlagen die Helfer, was zu tun ist, holen sich die Werkzeuge aus der Halle und legen los.

Der Zusammenhalt der Menschen im Ort ist riesig. Eigentlich weiß man das, und doch überwältigt es einen immer wieder. Alle packen mit an, ohne groß darüber zu reden. Die Frage ist nicht, ob man hilft. Die Frage ist nur, was zu tun ist. Und weil herumsitzen es auch nicht besser macht, schließe ich mich ihnen an. Irgendwie muss es gehen.

Das Wichtigste ist die Arbeit im Weinberg selbst: Es geht auf den Sommer zu, und in wenigen Wochen steht die Lese an. Laubarbeiten und Schädlingsbekämpfung stehen auf der Prioritätenliste ganz oben. Die Trauben können nicht warten. Wenn wir das nicht rasch erledigen, verlieren wir die Ernte. Das wäre das wirtschaftliche Aus für das elterliche Weingut.

 

*

 

ANGELINA In den nächsten Tagen wird uns eines klar: Wir können in dieser Situation nicht einfach wieder zurück an die Uni fahren und die Familie hier alleine lassen. Auch wenn für die ersten Tage genug Helfer da sind, muss jemand den Überblick behalten und sie koordinieren. Und auch anschließend, wenn die Helfer zu ihren eigenen Höfen und Arbeitsstellen zurückgekehrt sind, muss es weitergehen. Da sind Kilian und ich uns einig. Deswegen informieren wir zunächst die Hochschule in Geisenheim, dass wir auf dem heimatlichen Gut gebraucht werden und erst einmal nicht kommen können – auch wenn wichtige Vorlesungen und Klausuren anstehen. Zum Glück zeigt man dort Mitgefühl und hat vollstes Verständnis für unsere Situation. Man sagt uns zu, dass wir die Prüfungen nachholen oder Ersatzleistungen für die verpassten Klausuren erbringen können. Das zu hören und zu merken, auch hier gibt es durchaus eine Perspektive, erleichtert uns schon mal sehr.

Als Erstes müssen wir uns einen Überblick verschaffen, was überhaupt zu tun ist. Nicht dass wir das Weingut nicht gut kennen würden. Kilian hat – bis auf die vergangenen eineinhalb Jahre in Geisenheim – sein gesamtes Leben hier verbracht, und selbst in dieser Zeit war er regelmäßig zu Besuch. Immer haben wir beide hier mitgearbeitet: nach der Schule, in den Ferien, später nach der Arbeit oder im Urlaub. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man als Helfer mit anpackt oder ob man plötzlich selbst alles koordinieren muss.

Eine der größten Schwierigkeiten besteht darin, die Arbeitsabläufe von Kilians Papa zu durchschauen. Uli war, wie soll man es sagen, schon immer ein wenig chaotisch. Meistens hat er den Tagesablauf gestaltet, ohne vorher einen genauen Plan zu haben. Er hat einfach immer das erledigt, was gerade am Dringendsten war.

Als wir durch die Hallen gehen, stehen da Gitterboxen, Maschinen, Etiketten, leere Weinflaschen, Stöße von Bestellformularen; nagelneue Kartons, die mit Weinflaschen gefüllt und verschickt werden wollen, Tanks, von denen wir nicht wissen, was sich darin befindet … Uli hatte diese Dinge im Kopf – er hatte anscheinend alles irgendwie im Kopf. Was hätte er jetzt als Nächstes gemacht? Es gibt keinen Arbeitsplan, auf dem man nachsehen könnte, keinen Mitarbeiter, den man fragen könnte. Abgesehen von gelegentlichen Saisonarbeitern und der Unterstützung durch die Familienmitglieder hat er alles alleine erledigt.

Wo sollen wir nur anfangen? Es fühlt sich an, als stünden wir vor einem riesigen Berg.

Wir beginnen mit den offenen Kundenbestellungen. Doch in dem Regal, in dem die vollen Weinflaschen gelagert werden, liegen weit weniger, als wir bräuchten, um den eingegangenen Bestellungen nachzukommen. Hat Uli etwa den gesamten Rest schon verkauft? Das kann nicht sein. Es dauert eine Weile, bis wir begreifen, wo das Problem liegt: Uli hat vom aktuellen Jahrgang noch nicht alles in Flaschen gefüllt. Der Wein lagert noch im Keller im Fass. Und auch vom 2008er-Jahrgang ist längst noch nicht alles abgefüllt.

»Das Abfüllen wollte er als Nächstes erledigen, glaube ich«, sagt auch meine Schwiegermutter Iris.

Wir brauchen dringend Nachschub, sonst laufen wir Gefahr, Bestellungen nicht erfüllen zu können. Wenigstens wissen wir jetzt, wo wir anfangen müssen. Während Freunde sich um das Abfüllen kümmern und die Flaschen mit Etiketten bekleben, werfen Kilian und ich einen Blick ins Büro, in der Hoffnung, hier schnell einen Überblick zu bekommen. Doch es ist vollgestopft mit Unterlagen, Materialien, Kisten, Lesestoff, Ordnern. Und alles ist viel zu eng. Berge von Papier türmen sich auf. Ich schlage vor, das Büro direkt in einen größeren Raum zu verlegen und dabei alle Unterlagen zu sichten und zu ordnen. Denn in dem alten Zimmerchen ist nicht mal genug Platz, um die ganzen Sachen übersichtlich auszubreiten.

Außerdem müssen die Kunden informiert werden, was gerade bei uns los ist. Darum kümmert sich Iris. Schweren Herzens verfasst sie einen Rundbrief, in dem sie von Ulis schrecklichem Tod berichtet. Am Nachmittag geht das Schreiben raus. Die Anteilnahme, die uns daraufhin erreicht, ist überwältigend. Einige fragen, ob sie etwas für uns tun können, andere bestellen viel mehr als üblich, einfach, weil sie uns unterstützen möchten. Wieder merken wir, wie gut uns der Zuspruch der Menschen aus dem Umfeld tut. Ob von den Nachbarn, den Freunden oder den Kunden – es macht uns Mut, die Ärmel hochzukrempeln und anzupacken.

Es gibt Menschen, die erst mal Ruhe brauchen und für sich sein müssen, wenn ihr Leben plötzlich kopfsteht. Anderen hilft es, wenn sie sich ablenken und ihr Leben, so gut es eben geht, weiterführen können. So ist es bei uns. Die viele Arbeit, vor der wir nun stehen, hilft uns, das Chaos im Inneren zu ordnen. Wenigstens empfinde ich es so. Und ich glaube, Kilian geht es ähnlich, auch wenn er über solche Dinge nicht groß spricht.

 

*

 

KILIAN Um die Weinberge selbst müssen wir uns erst einmal nicht kümmern, die haben die Helfer im Griff. Sie bringen auch den Schmalspurschlepper zurück, in dem Papa gestorben ist. Es wird lange dauern, bis es wieder jemand über sich bringen wird, ihn zu benutzen. Ich selbst werde nie wieder damit fahren.

In den folgenden Tagen arbeite ich mich durch die Unterlagen aus dem Büro. Angelinas Idee, alles in einen anderen Raum zu bringen, war gut. Überhaupt hat sie ein großes Talent, wenn es darum geht, Dinge zu strukturieren. Nach und nach sortieren wir die Papiere, blättern in den Ordnern und sichten die Mails.

Was uns große Sorgen macht, ist der Wein im Keller. Den hat bislang immer Uli im Blick gehabt. Müssen wir damit nun direkt etwas tun? Und worauf müssen wir dann achten? Das Risiko, hier durch einen kleinen Fehler großen Schaden anzurichten, ist enorm. Eigentlich wäre es gut, direkt einen Kellermeister einzustellen. Auch im Hinblick auf die kommende Ernte.