17,99 €
Ayahuasca, die Liane der Geister, verbindet uns mit unseren Hoffnungen, Ängsten und Traumata. Sie offenbart uns unser Innerstes, ungeschönt, intensiv und frei von Bewertung. Und sie kann Wunder bewirken: selbst für Menschen, die mit chronischen Schmerzen leben, an Depressionen leiden oder als austherapiert gelten. Joseph Tafur ist Mediziner und Schamane, der die Urwaldpflanze selbst immer wieder eingenommen und Zeremonien ausgerichtet hat. Er zeigt, welche lebensverändernden Erkenntnisse durch Ayahuasca möglich sind und wie die Einnahme unter therapeutischer Begleitung abläuft.
Ein Standardwerk für alle, die diesen kraftvollen Weg der emotionalen und spirituellen Heilung kennenlernen und für sich nutzen möchten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 420
Veröffentlichungsjahr: 2019
Autor
Joseph Tafur, US-Amerikaner mit kolumbianischen Wurzeln, ist praktizierender Arzt und Schamane. In dem traditionellen Heilungszentrum »Nihue Rao Centro Espiritual« im Amazonas von Peru ließ er sich zum Ayahuasca-Experten ausbilden und ist dort noch immer als Berater tätig. Er leitete Hunderte von Ayahuasca-Zeremonien und versteht sich als Vermittler zwischen medizinischer Wissenschaft und spiritueller Heilung.
Zudem ist er Mitbegründer der Non-Profit-Organisation »Modern Spirit«. Als Allgemeinarzt lebt und arbeitet er in Phoenix, USA.
Joseph Tafur, MD
Der Spirit von Ayahuasca
Uralte Pflanzenzeremonienfür Heilung und spirituelles Erwachen
Aus dem US-amerikanischen Englischvon Yutta Klingbeil
Die US-amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Fellowship of the River – A Medical Doctor’s Exploration into Traditional Amazonian Plant Medicine« bei Espiritu Books, Phoenix, USA.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Das in diesem Buch vorgestellte Material dient lediglich der Information und ist nicht für Diagnosen, ärztliche Verordnungen oder Behandlungen irgendwelcher Krankheiten bestimmt. Wenn Sie gesundheitliche Probleme haben, holen Sie bitte immer ärztlichen Rat ein.
Deutsche Erstausgabe
© 2019 Arkana, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Originalausgabe Copyright © by Joseph Tafur
Foreword 2017, Gabor Maté
All rights reserved
Lektorat: Annette Gillich-Beltz
Umschlaggestaltung: ki36 Editorial Design, München, Sabine Krohberger
Umschlagmotiv: Cover © ratpack223/istockphoto; Illustration Innenklappe: © Markus Drassl
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23904-6V001www.arkana-verlag.deBesuchen Sie den Arkana Verlag im Netz
Für meinen Vater
Vorwort
1 »The Fellowship of the River«
2 Die Pflanze spricht: »Wenn du mir hilfst, helfe ich dir«
3 Der verwundete Heiler
4 Der Weg des Peyote
5 Geist, Gefühl und Vertrauen
6 Tukuymanta
7 Verantwortungsvolle Praxis
8 Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen auf dem Raumschiff Erde
9 Der Emotionalkörper
10 Die Anfänge des Nihue Rao Centro Espiritual
11 Der Placebo-Effekt und der unerklärliche chronische Husten
12 Ein verborgenes Trauma heilen
13 Ayahuasca, die traditionelle Amazonas-Pflanzenmedizin und die Heilung des limbischen Systems
14 Was ist Liebe?
15 Einlassen auf die Diät und die Entdeckung des eigenen Gesangs
16 Psoriasis spirituell behandeln
17 Den Schmerz im Kern der Sucht heilen
18 Die Pflanze schützen und einen neuen Song entdecken
19 Lisas Migräne und der schwarze Drache
20 Epigenetik, vererbter Stress und Auflösung durch spirituelle Heilung
21 Intensive Visionen durch weitere Initiationen
22 Nathans Morbus Crohn und die Heilung eines gebrochenen Herzens
23 Adams Angst und die beruhigende Kraft des Mitgefühls
24 Die Rolle spiritueller Heilung im modernen Gesundheitswesen
Dank
Glossar
Quellennachweis
Register
Als ein im Westen ausgebildeter Arzt sind mir die Begrenzungen der modernen Medizin im Umgang mit chronischen Erkrankungen von Geist und Körper seit Langem bekannt. Trotz aller erstaunlichen Errungenschaften können wir als Ärzte bei einer Vielzahl von Beschwerden mit ihren schwerwiegenden Auswirkungen höchstens Erleichterung verschaffen. Unser schmaler Pfad der Heilmöglichkeiten lässt uns das Wesen von Heilung nicht nachvollziehen. Aus diesem Grund ist Ayahuasca so populär geworden. Ayahuasca ist eine Pflanzenmedizin aus dem Amazonasgebiet, der sich viele Menschen aus dem Westen zuwenden, um körperliche oder psychische Erkrankungen zu heilen. Oder weil sie auf der Suche nach einem Lebenssinn sind, der ihnen in der zunehmenden Entfremdung in unserer Kultur verloren gegangen ist.
In diesem Buch schreibt mein kolumbianisch-amerikanischer Arztkollege Joe Tafur über die Heilkraft von Pflanzen, insbesondere von Ayahuasca. Es bietet dreierlei: eine faszinierende Geschichte über eine schamanische Selbstentdeckungsreise, ein Kompendium von überzeugenden Fallbeispielen über die Heilkraft dieser Pflanze sowie eine sachkundige wissenschaftliche Betrachtung über die erstaunliche physische, emotionale und spirituelle Wandlungsfähigkeit, die diese Urwaldliane und ähnliche Pflanzen unter guter schamanischer Leitung bewirken können. Sowohl er als auch ich haben dieses erlebt in der Arbeit mit la madre – der Mutter, wie die Pflanze im Amazonasbecken genannt wird.
Der frustrierendste Misserfolg der westlichen Medizin ist in dem mangelnden Bewusstsein für die Einheit von Körper und Geist begründet, obwohl es umfangreiche, beeindruckende und überzeugende Forschungsergebnisse dazu gibt, dass eine Trennung von Körper und Geist falsch, unwissenschaftlich und – im realen Leben – unmöglich ist. Sachkundig verlässt sich Tafur auf solche Beweise, um die »Wunder« zu erklären, die er aus schamanischen Zeremonien mit Pflanzen kennt. Denn sie sind das, was man bei einem ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit und Krankheit erwarten würde.
Seine Fallbeispiele beschreiben die Linderung von chronischen Erkrankungen, bei denen die gängige medizinische Praxis höchstens die Symptome bekämpft. Dabei geht es nicht um Heilung. Zu den Erkrankungen gehören Psoriasis, chronische Migräne, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, außerdem psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen.
Die Anwendung von Ayahuasca in der Behandlung hartnäckiger psychischer Erkrankungen ist bereits oft untersucht worden, zumindest in Ländern, in denen die Behandlung der Paranoia und anderer geistiger Störungen mithilfe der Pflanze erlaubt ist und ihre Anwendung auf der kulturellen Tradition indigener Gemeinschaften basiert. Ein Artikel aus The Medical Post berichtete von einer Bewertung kürzlich veröffentlichter insgesamt 28 Humanstudien im Journal of Psychopharmacology von Forschern. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Behandlung mit Ayahuasca nicht nur ein antidepressives und antisüchtigmachendes Potenzial hätte, sondern auch einen physiologischen Effekt auf das Gehirn ausübe und Größe und Stärke der Gehirnareale beeinflusste, die mit Impulskontrolle, Entscheidungsfähigkeit, Schmerz und Erinnerungsvermögen verbunden seien. Diese gehören zu den Arealen des Gehirns, die durch Suchterkrankungen beeinträchtigt werden.
Meine erste Erfahrung mit Ayahuasca zeigte mir deutlich, wie diese Pflanze Menschen mit emotionalen und spirituellen Themen helfen kann. Ayahuasca öffnete mich, und ich spürte sowohl lang unterdrückte Gefühle der Trauer und des Verlusts als auch ein Gefühl der Liebe, das größer und tiefer war als jede Trauer oder jedes Trauma, das ich bislang erlebt hatte. Gehirnscans zeigen, wie die Pflanze Teile des Großhirns aktiviert, in denen emotionale Kindheitserinnerungen gespeichert sind und in denen Erkenntnisse im Erwachsenenalter generiert werden.
Unter der Leitung eines mitfühlenden und erfahrenen Lehrers und im richtigen zeremoniellen Rahmen kann die Pflanze – oder der Überlieferung nach die Seele der Pflanze – Menschen in Verbindung mit ihrem unterdrückten Schmerz und ihren Traumata bringen. Das sind die Faktoren, die jede gestörte psychische Verfassung steuern. Indem wir unseren Urschmerz bewusst erleben, verliert er Einfluss auf uns. Somit kann Ayahuasca in ein paar Behandlungen das erreichen, was eine jahrelange Psychotherapie nur anstreben kann. Mit der Pflanze können Menschen sogar längst verloren geglaubte innere Qualitäten wieder erleben, wie beispielsweise ein Gefühl der Ganzheit, des Vertrauens, der Liebe und einen Sinn für ihre Möglichkeiten. Im wahrsten Sinne des Wortes erinnern sie sich, wer sie eigentlich sind.
Wie kann Ayahuasca jedoch Heilung ermöglichen bei Erkrankungen wie der chronischen Darmentzündung, Psoriasis oder anderen Autoimmunerkrankungen? Diese Heilung haben wir beide, Tafur und ich, beobachten können. Joe Tafurs Erfahrungen und theoretische Forschungen bieten mehr als plausible Antworten auf diese Frage an.
Im Unterschied zu dem im Westen vorherrschenden Konzept von der Trennung von Körper und Geist beruhen viele der Weisheitslehren der Ureinwohner auf einem holistischen Weltbild. Wie bei allen auf Pflanzen basierenden indigenen Heilmethoden weltweit, entspringt die Verwendung von Ayahuasca einer Tradition, in der Körper und Geist in Bezug auf Gesundheit und Krankheit als untrennbar gelten. Hier verlässt sich Tafur auf einwandfreie westliche Wissenschaftstheorien über die heilenden Fähigkeiten der Pflanze – Theorien, die die alten Weisheiten bestätigt haben.
In verschiedenen Kapiteln erklärt Tafur die Einheit von Körper und Geist bei Gesundheit und Krankheit und beleuchtet sie anhand von Fallbeispielen. Er zeigt auf, wie ein emotionales Trauma eine Entzündung beispielsweise in den Atemwegen oder anderen Organen hervorrufen kann, wie Gefühlsstörungen das autonome Nervensystem beeinträchtigen können oder wie Stress dem Immunsystem schadet und es aus dem Gleichgewicht bringt. Folglich müsste und könnte ein emotionales Gleichgewicht, das Bearbeiten früherer Traumata und die Verbindung zu unserem tiefsten Wesen eine kraftvolle und heilsame physiologische Wirkung auf uns haben. Wird eine solche Wandlung erfahren, kann sie das Hormon-, Nerven- und Immunsystem sehr stark beeinflussen sowie weitere Organe wie das Gehirn, das Herz und den Darm. Hierauf beruht die Heilkraft der Ayahuasca-Pflanze.
Dazu schreibt Tafur: »Sich wieder mit den Körpersinnen zu verbinden bedeutet auch, den Geist mit der eigenen inneren Wahrnehmung zu verbinden: Wie fühlen Sie sich in Ihrem Körper, Ihrem Herzen, Ihrem Bauch und überall? Dieses Gespür nennt man Interozeption. Durch diese Wahrnehmung erleben wir unsere Emotionen. Die innere Wahrnehmung verrät uns den physiologischen Zustand unseres Körpers.« Noch einmal: Wir erinnern uns daran, wer wir sind.
Die neue Wissenschaft der Epigenetik zeigt, wie sich emotionaler Stress negativ auf das Funktionieren der Gene auswirkt. Diese Auswirkungen werden sogar auf zukünftige Generationen übertragen. Joe Tafur mutmaßt völlig plausibel, dass positive Erlebnisse solche Veränderungen umkehren oder sogar positive Veränderungen in der Genaktivität auslösen können.
Joe Tafur zeigt allerdings auch auf, dass es nicht nur gute Neuigkeiten gibt. Ayahuasca kann missbraucht werden von skrupellosen oder unerfahrenen Anwendern, die sich damit bereichern wollen, oder von Heilern, die sich zu ihrer eigenen sexuellen Befriedigung gezielt gefährdete Klienten, meistens junge Frauen, als Opfer aussuchen. Solche Fälle sind in der Ayahuasca-Welt bekannt und berüchtigt, genauso wie schamanische Machtkämpfe und Verfluchungen. Man sollte die richtigen Rahmenbedingungen finden, wenn man sich solchen machtvollen Umständen aussetzt. Deshalb hat Tafur sein eigenes Heilzentrum in Peru gegründet, das Nihue Rao Centro Espiritual. Auch ich leite Pflanzenretreats in Peru, im Temple of the Way of Light.
Ayahuasca ist allerdings auch kein Allheilmittel. Menschen, die an bestimmten psychischen Erkrankungen wie Psychosen oder Manien leiden, müssen diese Pflanze meiden. Im Allgemeinen ermöglicht sie für viele Menschen eine Öffnung, jedoch ist die Heilung damit noch lange nicht abgeschlossen. Ich selbst weiß es, und Joe Tafur rät ebenso dazu, nach einer psychedelischen Erfahrung die Themen langfristig zu bearbeiten und zu integrieren, um den vollen Nutzen aus dem Erlebten zu ziehen. Er schreibt dazu: »Eine offene spirituelle Praxis wie die Meditation ist ein ausgeglichener Weg zu einem erweiterten Bewusstsein. Bei anhaltender Belastung braucht der Geist kontinuierliche Unterstützung … Ohne eine Art von Integration, der emotionalen Verarbeitung und/oder ein neues Verhalten, führt sogar das erleuchtendste psychedelische Erlebnis nur zu einer kurzweiligen veränderten Denkweise. Kurzfristig kann eine solche Erfahrung jedoch einen Anstoß geben, einen ausgewogeneren Weg zu finden.«
Dieser Anstoß kann allerdings sehr wirkungsvoll und für viele Menschen vollkommen lebensverändernd sein. Joe Tafur hat uns hier einen faszinierenden Bericht über seine persönliche Reise und seine Beschreibungen der Heilerfahrungen durch die Augen eines klassisch ausgebildeten Mediziners vorgelegt und bringt uns somit unserem Ziel, zwischen der scheinbar unvereinbaren Welt der schamanischen Heilung und der Welt der westlichen Medizin eine Brücke zu schlagen, ein gutes Stück näher.
Gabor Maté
Herbst 2016
Sind Sie jemals zum Arzt gegangen, weil Sie sich Sorgen über irgendwelche Beschwerden gemacht haben, nur um dann zu hören: »Sie sind vollkommen gesund, Sie bilden es sich nur ein«? Ja, manchmal spielen sich die Dinge tatsächlich nur in Ihrem Kopf ab, manchmal geht es jedoch um mehr. Ich weiß noch, wie ich während meines Medizinstudiums einen Arzt aufsuchte, weil es mir nicht gut ging. Ich hatte unbestimmte, subjektive Beschwerden. Am meisten beunruhigte mich meine Atmung. Meine Lunge fühlte sich zäh an, und ich konnte kaum tief Luft holen. Der Arzt untersuchte mich, veranlasste eine Röntgenaufnahme der Lunge und forderte ein paar Laborwerte an. Es war alles in Ordnung. Der Arzt meinte, ich hätte das »Medizinstudium-Syndrom« und sollte mir nicht so viele Gedanken machen.
Auch wenn mich das etwas beruhigte, fühlte ich mich nicht besser. Mein Problem lag jenseits von Blutuntersuchungen und Röntgenbildern. Meine Seele war erkrankt, mir ging es spirituell schlecht. Der Arzt hatte mich während des kurzen Besuchs kaum danach gefragt, wie ich mich innerlich, in meinem Herzen, fühlte. Ich kann es ihm nicht übel nehmen, denn vermutlich hat er sich mit solchen Themen während seiner Ausbildung nie befasst. Das sollte ich wissen, denn ich bin selbst Arzt. Aber als Erstes bin ich ein Mensch. Es stellte sich heraus, dass meine Atembeschwerden etwas mit meiner psychischen Gesundheit zu tun hatten. Das Medizinstudium deprimierte mich. Damit es mir wieder besser ging, musste ich mich aus den Begrenzungen der klassischen Schulmedizin herauswagen. Ich brauchte spirituelle Heilung.
Als ich sie schließlich fand, beruhigte sich mein Geist, und meine Atmung normalisierte sich. Mir wurde klar, dass ich viel mehr über spirituelle Heilung lernen musste. Als der richtige Zeitpunkt gekommen war, ließ ich meine Bücher und Aufsätze liegen und reiste in den Amazonas-Regenwald. Dort verbrachte ich viele Jahre mit Arbeiten und Lernen. Auf der Basis meiner klassischen Ausbildung entwickelte ich ein umfassendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Diese neue Perspektive achtet die moderne Biochemie, Anatomie und Pharmakologie, erkennt aber auch den grundlegenden Einfluss des Immateriellen in der Medizin, die emotionale und spirituelle Dimension von Gesundheit. So geht es in diesem Buch um die Schnittpunkte zwischen Biologie, Emotionen und Spiritualität. Um Ihnen diese neue Sichtweise zu vermitteln, werde ich meine Theorien in verschiedene Geschichten einbetten – Geschichten über meine eigene Reise durch den Schamanismus.
Mein Interesse am Amazonasgebiet lag zum Teil an meinem Wunsch, die Depression, die mich während des Medizinstudiums eingeholt hatte, auf einer tieferen Ebene zu verstehen. Durch das Studium hatte ich zwar Fachwissen, Fähigkeiten und Kompetenzen erworben, aber es hatte mich auch in die Knie gezwungen.
Wie viele andere Kommilitonen hat auch mich meine westliche ärztliche Ausbildung ziemlich traumatisiert. Ich brauchte Hilfe, um sie durchzustehen. Trotz meiner anfänglichen Skepsis gegenüber psychedelischen Drogen, entdeckte ich einen kraftvollen Verbündeten in der Pflanze Peyote (siehe Kapitel 4 über meine Peyote-Erlebnisse). Mitten in der Wüste von Arizona gelang es mir, mithilfe von Peyote meinen Geist zu beruhigen und mich mit meinem Herzen zu verbinden. Meine Erfahrung in der Wüste weckte in mir die Neugier auf die schamanische Pflanzenmedizin und psychedelische Drogen. Während meiner Facharztausbildung interessierte ich mich weiterhin für verschiedene medizinische Traditionen und lernte andere indigene Heilmethoden kennen.
Schließlich besuchte ich im Jahr 2007 zum ersten Mal das Amazonasgebiet: Ich flog nach Iquitos, Peru, mit meinem Kollegen und guten Freund Keyvan (ausgesprochen: cave-on). Keyvan und ich hatten während unserer medizinischen Ausbildung zufällig dieselben Stationen durchlaufen: Das Medizinstudium hatten wir an der University of California, Los Angeles (UCLA) und der University of California, San Diego (UCSD) absolviert, dann wieder an der UCLA die Facharztausbildung zum Familienmediziner. Über zehn Jahre lang hatten Keyvan und ich das Ausbildungsprogramm der klassischen Schulmedizin über uns ergehen lassen. Nach unserer Facharztausbildung waren wir beide bereit für etwas mehr Abenteuer. Nach dem Facharzt kann man sich als Stipendiat noch weiter spezialisieren, beispielsweise in Sportmedizin oder Geriatrie. Wir hingegen reisten ins Amazonasgebiet und entwickelten aus Spaß unser eigenes Stipendienprogramm, das Keyvan das »Fellowship of the River«*, also des Amazonas, taufte. Diese erste Reise konfrontierte mich mit der traditionellen Amazonas-Pflanzenmedizin (TAPM – Traditional Amazonian Plant Medicine) und mit der mystischen Welt des Ayahuasca-Schamanismus.
Ich hatte bereits über Ayahuasca gelesen und wusste um diese heilige Pflanzenmedizin aus dem Amazonas-Regenwald, die kraftvolle Visionen auslösen kann, wofür sie außerordentlich geschätzt wird. Unser fünfwöchiges »Fellowship of the River« begann mit einer erstaunlichen Ayahuasca-Zeremonie in einem traditionellen Heilzentrum außerhalb von Iquitos. Nach unseren unglaublichen Erlebnissen dort fuhren wir den Amazonas hinunter nach Brasilien. Als unser Abenteuer beendet war, fuhren wir wieder nach Hause, um unsere medizinische Karriere anzugehen. Für mich war das »Fellowship of the River« jedoch keineswegs beendet, es sollte erst jetzt richtig losgehen.
Nach Abschluss meiner Promotion begann ich am Institut für Psychiatrie der UCSD mit meiner Forschungsarbeit im Bereich Mind-Body-Medizin. Während einer Pause kehrte ich allein zurück nach Iquitos, um mehr über die traditionelle Pflanzenmedizin und die Ayahuasca-Zeremonie zu erfahren. Nach diesem zweiten Besuch bekam das »Fellowship of the River« seine eigene Dynamik, und es begann die nächste Phase meiner medizinischen Ausbildung. Ich reiste immer wieder zum Amazonas. Anfangs war ich mir nicht sicher, wohin mich das alles führen würde, ich folgte lediglich meiner Neugier. Das Leben hatte jedoch andere Pläne für mich.
Ich war Arzt geworden, weil ich immer ein Heiler sein wollte. Ayahuasca öffnete mir die Augen für die Welt der spirituellen Heilung.
Im Jahr 2009, zwei Jahre nach meiner ersten Reise mit Keyvan, brachte ich regelmäßig Gruppen nach Iquitos, um andere Menschen in den traditionellen Ayahuasca-Schamanismus einzuführen, aber auch um mich selbst auf einer tieferen Ebene darauf einzulassen. Auf diesen Reisen verbrachte ich viel Zeit mit einheimischen Schamanen und beobachtete, wie immer mehr Menschen von ihren kraftvollen Heilmethoden profitierten. Als Arzt war ich beeindruckt vom Einsatz heiliger Pflanzen zu medizinischen Zwecken und von den tiefgreifenden Heilerfolgen. Ich spielte mit dem Gedanken, mich als Ayahuasca-Schamane ausbilden zu lassen.
Mit der Zeit entwickelte ich eine enge Beziehung zu einem Ayahuasquero-Lehrmeister, Ricardo Amaringo. Ich hatte ihn bei meiner ersten Reise 2007 getroffen, im Laufe der Jahre half ich ihm immer wieder beim Übersetzen, und wir wurden Freunde. Er wollte aus meinen Erfahrungen als Arzt lernen. Im Jahr 2010 teilte er mir seine Vision für ein neues Heilzentrum in der Umgebung von Iquitos mit. Er bat einige von uns, ihn bei diesem Projekt zu unterstützen, und 2011 wurden die kanadische Künstlerin und Heilerin Cvita Mamic, Ricardo und ich schließlich Geschäftspartner. Wir gründeten das traditionelle Heilzentrum Nihue Rao (ausgesprochen: nee-way rao) Centro Espiritual. Mit der Hilfe eines wunderbaren Teams von Menschen setzten wir Ricardos Vision um.
Im Nihue Rao, wie wir es nennen, begann ich mit der klassischen Ausbildung bei Meister Ricardo. Er ist ein Shipibo-Schamane. Shipibos sind Ureinwohner vom Ucayali River im oberen Amazonasgebiet von Peru. Sie haben viel von ihrer präkolumbianischen Kultur erhalten, einschließlich ihrer Sprache und ihrer geheimnisvollen Tradition der Pflanzenmedizin.
Wie viele andere war Ricardo Schamane geworden, nachdem er selbst geheilt worden war. Nach einer schweren Kindheit und vielen Jahren, in denen er unter Depressionen litt, hatte er mit Ende zwanzig in seiner Ahnenkultur nach Hilfe gesucht. Die traditionelle Shipibo-Medizin und der Ayahuasca-Schamanismus haben sein Leben gerettet, wie er sagt. Die Pflanzen holten ihn aus seiner Verzweiflung heraus und unterstützten ihn dabei, neu anzufangen. Er verpflichtete sich daraufhin, mit diesen Pflanzen, die ihn geheilt hatten, zu arbeiten. Er ist ein ernst zu nehmender Schamane mit einem jugendlichen Geist.
Jahrelang begleitete ich Ricardo in den Ayahuasca-Zeremonien. Sie waren der Klassenraum, in dem ich mithilfe des »Fellowship of the River« lernen konnte. So wie man die Chirurgie letztlich im Operationssaal lernt, lernt man den Schamanismus in der Zeremonie. Im Nihue Rao konnte ich durch viele unterschiedliche Fälle wertvolle Erfahrungen sammeln.
In jenen Jahren erlebte ich Hunderte von Menschen, hauptsächlich aus Nordamerika und Europa, die sehr von der traditionellen Behandlung mit schamanischer Pflanzenmedizin profitierten. Ihr Leben verwandelte sich durch intensive Visionen und eine veränderte Wahrnehmung. In den folgenden Kapiteln werde ich die Geschichten von Russ, Colleen, Nathan und vielen anderen erzählen. Ich werde berichten, wie sie gesund wurden, um zu erklären, wie schamanische Pflanzenmedizin und die dazugehörigen spirituellen Techniken moderne Krankheiten und Beschwerden heilen können. Die Bandbreite erstreckt sich von posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) über chronischen Husten und Morbus Crohn bis hin zu Angststörung, Depression und verschiedenen psychosomatischen Erkrankungen.
Als Arzt habe ich in den USA viele Patienten gesehen, die jahrelang verzweifelt auf der Suche nach Heilung genau dieser Beschwerden und Erkrankungen waren. Obwohl sie Tausende von Dollar ausgaben und eine Armada von Spezialisten aufsuchten, konnten sie nicht bis zur Wurzel ihres Problems vordringen. Denn die westliche Schulmedizin klammert die emotionale und spirituelle Dimension dieser chronischen Erkrankungen in der Regel aus. Es werden lediglich körperliche Symptome berücksichtigt. Die schamanische Pflanzenmedizin hingegen heilt, indem sie tiefer in die emotionalen und spirituellen Ebenen vordringt. Sie funktioniert durch eine Änderung des Bewusstseins, wie es auch bei anderen Formen der spirituellen Heilung der Fall ist. Der Geist wird jenseits seiner illusorischen Beschränkungen durch die aktuelle Betriebssoftware erweitert, wie der Autor Stephen Buhner nahelegt.1 Der Geist öffnet sich für das Herz und für die Energien, die unser emotionales Wesen stören.
In traditionellen medizinischen Systemen wie dem Schamanismus gibt es einen »Emotionalkörper«, durch den wir Emotionen und Gefühle erleben. Auch die moderne Wissenschaft ist inzwischen auf diesen Emotionalkörper gestoßen und kann mittlerweile sogar seine Anatomie beschreiben: ein komplexes Netzwerk, das unsere Psyche, unser Nervensystem, unser Hormonsystem und unser Immunsystem miteinander verbindet. Emotionale Traumata und »spirituelle Wunden« beeinträchtigen dieses Netzwerk, was wiederum unsere Gesundheit gefährdet.
Die Schamanen wissen schon lange, dass der physische Körper nicht gesunden kann, wenn der Emotionalkörper krank ist. Schamanische Pflanzenmedizin verschafft uns Zugang zu den mystischen Bereichen der Seele, in denen wir diese alten Wunden finden und heilen und emotionale Belastungen lösen können. Somit erlangen wir wieder emotionale Gesundheit und damit unsere angeborene Fähigkeit, Körper und Geist zu heilen.
Nachdem ich fünf Jahre lang mit Ricardo gearbeitet hatte, schloss ich mein erstes schamanisches Training ab und wurde ein Ayahuasquero-Neuling – besaß also die Befähigung, eigene Ayahuasca-Zeremonien zu leiten und mit schamanischen Gesängen zu heilen. Bis Ende 2016 arbeitete und praktizierte ich weiterhin am Nihue Rao. Mit dem vorliegenden Buch ist das Fellowship für mich abgeschlossen, und ich werde mich neuen Vorhaben widmen. Meine enge Verbindung zur Amazonas-Gemeinschaft wird natürlich bestehen bleiben.
Es gibt noch immer viel zu lernen, zu erfahren und zu üben, ich befinde mich weiterhin mitten im Lernprozess. Dennoch habe ich das Gefühl, es ist an der Zeit, mein Wissen weiterzugeben.
Bei chronischen Krankheiten, die auch den Emotionalkörper belasten, kann eine dauerhafte Heilung nur erzielt werden, wenn die Bedürfnisse von Herz und Seele berücksichtigt werden. Nach meiner Erfahrung wird dies auf eine tiefgreifende Art in der Ayahuasca-Zeremonie erreicht im Rahmen eines verantwortungsvollen Umgangs mit der traditionellen Amazonas-Pflanzenmedizin (TAPM).
Das »Fellowship of the River« führte mich wieder in die Kunst der Medizin ein, zeigte mir die Bedeutung von spiritueller Heilung und führte mich zu einer weiteren Bestimmung. Ich wollte dabei helfen, eine Brücke zu bauen zwischen der Welt der modernen medizinischen Wissenschaft und der des traditionellen Schamanismus mit seinen metaphysischen Ebenen.
In den folgenden Kapiteln werde ich meine eigenen mystischen Erfahrungen mit dem Schamanismus beschreiben und über die beeindruckenden spirituellen Heilerfolge berichten. Als Arzt werde ich versuchen, die moderne klinische Forschung in die mystischen Geschichten der Menschen einzubinden. Dafür verweise ich auf relevante medizinische Forschungen in Bereichen wie der »psychedelischen Medizin«, der Mind-Body-Medizin und der Epigenetik, um so ein breiteres medizinisches Bezugssystem beleuchten zu können.
Das »Fellowship of the River« ist eine Geschichte – eigentlich eine Reihe von Geschichten – über die Magie der Natur und was sie uns lehren will. Reisen Sie mit mir zum Amazonas, und ich zeige Ihnen, was ich meine.
* Wörtlich übersetzt: »Stipendium des Flusses«; Anm. d. Ü.
Für Keyvan und mich begann unser Fellowship mit einem Flug nach Iquitos in Peru. Ehrlich gesagt hatte ich Angst davor, Ayahuasca zu trinken. Ich hatte gehört, dass es ein äußerst intensives Erlebnis werden könnte. Keyvan meinte aber, ich solle mir keine Sorgen machen. Er hatte schon einmal Ayahuasca getrunken, und er versicherte mir, es würde nichts Schlimmes passieren, la Madre Ayahuasca sei ein vertrauter Begleiter, ein schützender Geist.
Keyvan und ich hatten uns während eines Feldbiologie-Kurses an der Uni angefreundet. Er ist Amerikaner iranischer Abstammung und war als Kind vom Iran nach Los Angeles gekommen. Er machte ein Jahr vor mir seinen Abschluss, weshalb wir uns eine Zeit lang aus den Augen verloren. In dieser Zeit reiste er durch Brasilien, Uruguay, Argentinien und Bolivien und landete schließlich in Iquitos. Dort begegnete er Ende der Neunzigerjahre zum ersten Mal la madrecita, dem Mütterchen, der »Liane der Seele«.
Im Jahr 2003, nach Abschluss meines Praktischen Jahres in meinem Heimatstaat Arizona, begegnete ich Keyvan wieder in der Facharztausbildung für Familienmedizin an der UCLA in Los Angeles. Nach unserem Abschluss planten wir unser »Fellowship of the River«, unsere erste gemeinsame Reise nach Peru. Wir wollten Südamerika bereisen, Iquitos besuchen und danach mit einem Boot den Amazonas herunter von Iquitos zur Nordküste von Brasilien fahren.
Durch meine transformierenden Erfahrungen mit Peyote in Arizona war ich sehr neugierig auf das südamerikanische Ayahuasca geworden. Ich hatte bereits Bücher wie Jeremy Narby, Die kosmische Schlange und Rick Strassman, DMT – Das Molekül des Bewusstseins gelesen und wusste um die Fähigkeit von Ayahuasca, tiefgreifende und teilweise lebensverändernde Visionen hervorzurufen, und um ihre Verwendung in Heilzeremonien im gesamten Amazonas-Regenwald. Ich hatte schon länger das Gefühl, Ayahuasca könnte mir etwas beibringen und mich persönlich weiterbringen. Nun war endlich der Zeitpunkt gekommen, die Pflanze selbst zu erleben.
Wenn im Westen von Ayahuasca gesprochen wird, ist damit ein Tee gemeint, der aus der Ayahuasca-Liane (Banisteriopsis caapi) und anderen starken psychotropischen Pflanzen, die im Amazonasbecken heimisch sind, gewonnen wird. Wird sie allein genommen, leitet die Ayahuasca-Liane keine psychedelische Erfahrung ein. Wird aus ihr jedoch zusammen mit anderen Pflanzen ein Tee zubereitet, kann sie starke Visionen hervorrufen. In der Tradition der Shipibo aus dem Amazonasbecken, in die ich später eingeweiht werden sollte, gilt Ayahuasca als ein heilender Geist der Natur, zu dem man durch das Trinken des Ayahuasca-Tees in einer heiligen Zeremonie Zugang erhält. In einer Ayahuasca-Zeremonie können wir uns mit einer spirituellen Intelligenz jenseits unseres gewöhnlichen Verständnisses verbinden. Meistens berichten Menschen von einem Kontakt mit einer Art Pflanzenbewusstsein. Sie nennen es den Geist von la MadreAyahuasca. In dieser Tradition gilt Ayahuasca als weiblich, eine Seele des Urwaldes, von Mutter Natur. Durch die Mutter Ayahuasca erhalten wir Zugang zur heilenden Weisheit ihrer mithelfenden Pflanzenseelen.
Das Wort Ayahuasca stammt aus der Quechua-Sprache. Aya bedeutet Tod oder Seele, und huasca bedeutet Ranke, die Seelenranke. Für diese traditionelle Pflanzenmedizin gibt es neben Ayahuasca unter den indigenen Gruppen im riesigen Amazonasbecken noch viele andere Bezeichnungen, zum Beispiel Yagé, Hoasca oder Caapi.
Der Bekanntheitsgrad von Ayahuasca als spirituelles Werkzeug ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Immer mehr Menschen strömen aus allen Teilen der Erde in den Amazonas-Regenwald, um la Medicina zu erleben. Genau wie Keyvan und ich reisen sie zu Orten wie Iquitos, um Erfahrungen mit den Amazonas-Schamanen zu machen, mit den Ayahuasqueros und den Ayahuasqueras, den männlichen und den weiblichen Schamanen. Es gab also noch andere Gringos auf unserem Flug von Lima nach Iquitos. Wahrscheinlich waren einige von ihnen auch auf der Suche nach Ayahuasca. Andere wollten nur den Amazonas-Regenwald bereisen und seine großartige Schönheit erleben.
Iquitos ist eine vom Dschungel umgebene Hafenstadt am Amazonas. Das bedeutet es gibt keine Straßen, die Iquitos mit dem Rest von Peru verbinden. Man muss entweder per Flugzeug oder per Boot anreisen. Beim Anflug sieht man den schlammigen, braunen Amazonas, wie er sich durch ein endloses Meer von smaragdgrünem Urwald windet. Der Ort befindet sich tief im Dschungel. Beim Aussteigen aus dem Flugzeug wird man sofort von der warmen, dampfenden Regenwaldluft begrüßt. An dem Tag, als wir dort ankamen, war es nicht zu heiß, etwas bewölkt und es regnete nicht.
Nachdem wir unser Gepäck abgeholt hatten, gingen wir zur Bushaltestelle. Wir hatten den Transport zum Ayahuasca-Heilzentrum vorbestellt, und Marco Antonio, unser Fahrer, wartete mit seinem dreirädrigen Mototaxi bereits auf uns. Er navigierte uns geschickt durch den chaotischen Verkehr. Das Mototaxi, halb Motorrad und halb Rikscha, verwandt mit dem asiatischen Tuk-Tuk, gehört zum Haupttransportmittel in dem belebten Zentrum von Iquitos. Marco Antonio ist ein Einheimischer, der schon seit Jahren die Pasajeros (»Reisende«, die auf dem Weg zu einem Ayahuasca-Ritual sind) zum Ayahuasca-Heilzentrum fährt. Er spricht etwas Englisch und ist ein Seelenverwandter, der die Sorgen der Suchenden aus dem Westen gut versteht. Marco arbeitet noch heute für Nihue Rao, trägt noch immer sein Bandana und fährt nach wie vor wie ein Irrer.
Wir sagten ihm, wir hätten es eilig, zum Zentrum zu gelangen. Er versicherte uns, es bliebe genügend Zeit. Iquitos hat gut hunderttausend Einwohner, und die Straßen sind unorganisiert und chaotisch. Ein Ausländer fühlt sich etwas überwältigt, aber den Einheimischen macht das Fahren in Iquitos Spaß. Marco Antonio raste mit uns über den Belén-Markt und hupte sich durch die überfüllten Gassen, vorbei an unzähligen Ständen, die von Tupperware bis zu Buschfleisch alles feilboten.
Das Zentrum liegt außerhalb, und als wir die Stadt hinter uns ließen, weitete sich die Umgebung, die Luft wurde frischer, die Dschungellandschaft fängt an. Ich liebe diese Gegend. Nach etwa vierzehn Kilometern auf der Straße Richtung Nauta bogen wir in den Wald ein, auf eine Schotterstraße Richtung Norden.
Es waren kaum mehr Menschen zu sehen, und nach etwa einem Kilometer über sandiges Terrain erreichten wir den bewachten Eingang zum Heilzentrum. Man öffnete uns das Tor, und Marco Antonio bekam grünes Licht, um im Indiana-Jones-Stil eine wackelige Holzbrücke hinunterzubrettern. Schließlich landeten wir im Herzen des Zentrums. Nach dieser wilden und holprigen Fahrt, auf der wir regelmäßig nervös nach Luft schnappen mussten, hatten wir es geschafft.
Wir befanden uns auf einem weitläufigen Urwaldgelände mit stabilen Holzbauten, die um einen großen Raum für Zeremonien gruppiert waren. Dieser Raum war das Maloka, das sogenannte Medizinhaus.
Es gab Duschen, Toiletten und sogar einen Pool. Die einfachen strohgedeckten Häuser befanden sich im Wald, und dahinter führten zahlreiche Pfade in den Dschungel. Wir machten es uns in unseren Zimmern gemütlich. Sie befanden sich in einem schlichten zweistöckigen Holzhaus, in dem Platz für mehrere Gäste war. Die Räume waren spartanisch eingerichtet und gegen Moskitos geschützt. Die Managerin des Zentrums erklärte uns alles. Sie war freundlich und sehr auskunftsfreudig. Wir erkundeten das Zentrum, machten uns mit dem Ort vertraut und lernten die anderen Pasajeros kennen.
Ein Einheimischer namens Wilder saß am offenen Feuer und bereitete den Ayahuasca-Trunk zu. Er trug ein Phoenix-Suns-Basecap. Ich erzählte ihm, ich sei aus Phoenix. Er lächelte. Für ihn war es einfach nur ein Basecap. Mich interessierte die Zubereitung von Ayahuasca, und ich wollte mehr darüber erfahren. Wilder erklärte mir, dass in Peru für den Ayahuasca-Sud normalerweise zerkleinerte Stängel der hölzernen Liane zusammen mit den tryptaminhaltigen Blättern des Chacruna-Strauches (Psychotria viridis) gekocht werden. Chacruna enthält viel Dimethyltryptamin (DMT), ein sehr wirksames Halluzinogen, das Ayahuasca-Visionen induzieren kann. Es gibt noch weitere Verfahren, um das Ayahuasca-Gebräu herzustellen, bei dem verschiedene Tryptaminquellen und andere Pflanzen verwendet werden.
Zur Vorbereitung auf die Zeremonie wird von den Teilnehmern eine traditionelle Shipibo-Diät eingehalten, die von manchen als Vegetalista-Diät** bezeichnet wird. Es gibt sehr unterschiedliche Vegetalista-Diäten, die Zusammensetzung ist abhängig von dem Schamanen, der sie verordnet. In diesem Heilzentrum nahmen wir als Erstes ein pflanzenbasiertes Brechmittel ein (und es wirkt genau so, wie es klingt). Es bestand aus einer wässrigen Suppe aus Azucena (Lilium spp.) und Ojé (Ficus insipida). Man erklärte uns, dass der durch die Pflanzen eingeleitete Brechdurchfall uns reinigt und unsere Mägen auf das Ayahuasca vorbereitet. Sagen wir einfach, das Mittel hat gute Arbeit geleistet.
Anschließend beginnt die eigentliche Diät: kein Salz, kein Zucker, kein rohes Fleisch, kein Schweinefleisch, keine Milchprodukte, keine fettigen Speisen, kein scharfes Essen, kein Alkohol, keine Drogen und kein Sex. Das galt für unseren gesamten fünftägigen Aufenthalt. Unsere Mahlzeiten bestanden hauptsächlich aus Fisch und Kochbananen und noch ein paar anderen geschmacklosen stärkehaltigen Nahrungsmitteln. Die Shipibos glauben, dass eine solche Reinigungsdiät entscheidend ist für eine tiefere Heilung durch die Pflanzen, weil eine engere Verbindung mit den sogenannten Meisterpflanzen aufgebaut wird. Nach traditionellem Brauch haben die Pflanzen selbst diese strengen Diätauflagen gefordert und sie den Schamanen durch Träume und Ayahuasca-Visionen mitgeteilt.
In der Nacht nahmen wir an unserer ersten Zeremonie teil. Ich erinnere mich lebhaft daran. Ich war besorgt und hatte Angst, als ich in das schummrige Maloka trat. Ich steuerte eine freie Matte an. Dieses spezielle Maloka oder Medizinhaus war ein großes Dschungelrundhaus, groß genug für etwa fünfundzwanzig Menschen. Als ich nach oben blickte, konnte ich im Kerzenschein die traditionelle Amazonas-Architektur bewundern. Naturholzbalken formten eine hohe konische Decke, die von einer zentralen Säule gestützt wurde. Durch die hohe Decke wirkte das Maloka wie eine Kathedrale mit Reetdach. Der Raum besaß einen Lehmboden, bedeckt mit schönen gewebten Matten aus irgendeiner Naturfaser. Diese Matten waren glatt, weich und fein, wie die Haut einer Schlange. In der Mitte des Raumes war der Boden jedoch nackt. In dem weitläufigen Raum über uns war genügend Platz für unsere hochfliegenden Gedanken und Visionen.
Es war kurz nach acht Uhr abends. Im Schein der einzigen Kerze beobachtete ich, wie die Teilnehmer der Reihe nach aufgerufen wurden, um sich vor dem Schamanen hinzusetzen und das Ayahuasca zu empfangen. Nacheinander erhielten wir unsere Dosis des Tees, eine kleine Tasse mit trüber Flüssigkeit, die ein leichtes Rumoren in meinem Darm auslöste. Glücklicherweise konnte ich meine erste Portion Ayahuasca ziemlich gut herunterschlucken. Das ist nicht immer der Fall, wie ich später erfahren sollte.
Mit dem eigenartigen Geschmack dieses zähen Dschungeltrunks im Mund ging ich zurück zu meiner Matte. Ich setzte mich auf meine dünne Matte und steckte mir eine Mapacho-Zigarette an, gerollt aus dem heimischen schwarzen Tabak. Von meinen neuen Freunden im Heilzentrum wusste ich, das würde dabei helfen, den komischen Geschmack im Mund loszuwerden. Es half tatsächlich, und ich lehnte mich paffend an die stabile Holzwand, die den heiligen Raum umgab.
Als alle Gäste ihr Ayahuasca empfangen hatten, nahmen die Schamanen ihren Trank ein. Dabei folgten sie einem speziellen Ritual und sangen kurz vor dem Trinken in den kostbaren Ayahuasca-Tee hinein. Diese Gesänge hörten sich an wie ein gepfiffenes »Pst«, wie eine rhythmische Verzauberung. Im Spanischen sagt man dazu soplando la ayahuasca, das heißt, in das Ayahuasca hineinblasen, um es mit den Wünschen der Schamanen für die Heilrituale zu tränken. Dieses Blasen (soplo) ist eine schlichte Form der Icaro-Gesänge, der mystischen Heilgesänge der Ayahuasca-Schamanen.
Gemäß der Shipibos lernen Schamanen die Icaros von den Pflanzen selbst. Jeder Ayahuasquero hat seine eigenen Icaros, die er durch die Reinigungsdiät mit Meisterpflanzen gelernt hat. Meisterpflanzen lehren und leiten uns spirituell. Die Melodie wird von den Pflanzen vorgegeben, die Worte werden in Shipibo gesungen und drücken das aus, was in den Visionen wahrgenommen wird. Als der Ayahuasca-Tee später am Abend zu wirken begann, fingen die Ayahuasqueros aus voller Kehle an, ihre Icaros zu singen. Es waren die Pflanzengeister, die durch die Stimmen der Schamanen eine geheimnisvolle Melodie und Schwingung zum Ausdruck brachten. Die Icaro-Gesänge begleiteten unsere Reise durch die Welt von Ayahuasca und seinen Visionen.
An der Zeremonie an dem Abend nahmen etwa ein Dutzend Ausländer teil, sowohl Frauen als auch Männer, inmitten einer pulsierenden Regenwaldnacht. In der Ferne hörte man, wie der Strom abgestellt wurde und der dröhnende Generator langsam zum Stillstand kam.
Wir waren mitten im Dschungel. Als die Kerze erlosch, umhüllte uns die Dunkelheit, und die Luft füllte sich mit Dschungelmelodien, mit Zirpen, Summen, Quaken und Gepfeife, den Geräuschen der Dschungelnacht. Meine Augen gaben sich der Dunkelheit hin, und ich suchte in meinem Geist und meinem Körper nach Anzeichen von Übelkeit, Schwindel, Desorientierung als Auswirkungen des Ayahuasca-Tees (auf Spanisch nennt man diesen Zustand »la mareación«).
Nach etwa einer halben Stunde spürte ich, wie Energie in Wellen durch meinen Kopf und meinen gesamten Körper strömte. Ich merkte, wie sich mein Geist und mein Brustkorb ausdehnten und wie meine Wahrnehmung beeinträchtigt wurde. Meine Atmung verlangsamte sich. Meine Gedanken verschmolzen zu Gefühlen, die durch mich, meine Eingeweide und jenseits meines Körpers pulsierten. Es dauerte nicht lange, und mich überkam eine bleierne Schwere, sodass ich mich hinlegen musste.
Irgendwann sah ich Farben, die die Dunkelheit erleuchteten. Als sich die Pforten der Wahrnehmung langsam einer außergewöhnlichen Dimension öffneten, durchbrachen die Schamanen das dunkle Schweigen mit ihrem Gesang, zunächst leise, dann immer lauter. Die Zeremonie wurde intensiver, als zwei oder drei der Schamanen zusammen sangen. Einen solchen Sprechgesang hatte ich bislang noch nie gehört, und seine Wirkung war unter dem Einfluss von Ayahuasca besonders stark. Die Gesänge und ihre Schwingungen schienen die Energien der Visionen zu ergreifen, Energien, die in mich hinein- und durch mich hindurchflossen. Ich meinte, jemanden kotzen zu hören, aber es störte mich nicht.
Die Icaro-Gesänge füllten das Maloka und vermischten sich rhythmisch mit den Geräuschen der Regenwaldnacht. Sie beseelten meine Sinne – als ob ich mich mit einer neuen Bewusstseinsebene verband, der Welt der Pflanzen, die so fremdartig und dennoch so vertraut war.
Als die Gesänge in ihrer rhythmischen, geheimnisvollen, fremden und wunderschönen Art weitergingen, fühlte sich alles immer tiefgreifender und seltsamer an. Die Chants schienen direkt durch meine Seele zu pulsieren und riefen Visionen mit geometrischen Mustern und Urwaldlandschaften hervor, wie in einem intensiven Traum. Inmitten dieser Visionen fühlte ich mich keineswegs berauscht. Mein Geist war klar. Ich wusste, dass ich in einem Maloka war, dass ich unter dem Einfluss von Ayahuasca stand, und … mir war auch klar, dass ein geistiges Wesen in meiner Nähe war.
Ich nahm hallende Klänge und blitzartige visuelle Wellen wahr. Ein weibliches Geistwesen begrüßte mich inmitten rasch wechselnder Bilder von Regenwäldern, traumhaften Fledermäusen und knurrenden Fratzen. Dieses Geistwesen war sowohl angsteinflößend als auch wunderschön, freundlich und verführerisch, lieblich und streng. Das Gesicht verwandelte sich schnell und zeigte verschiedene Ausdrücke, die alle gleichzeitig erschreckend, liebevoll, anregend und sexy waren. Das Haar und der Körper bestanden aus wild fließenden Lianen, die mit Blättern in Orange- und Grüntönen bedeckt waren. Ein tanzendes Licht umgab dieses Geistwesen.
Ich war völlig hypnotisiert von ihm. Es streckte mir seine Hand entgegen und lud mich ein, ihm Gesellschaft zu leisten. Es sah, dass ich etwas einsam war. Es flirtete mit mir, als es mich in den Traum hineinzog und mich auf eine Reise mitnahm. Wir verließen das Maloka, wir verließen die Nacht. Das Wesen führte mich sanft zum Ufer eines Sees, an dem wir im Sonnenlicht entlangspazierten. Mal gab es einen lichtdurchlässigen Schleier, mal war alles von unten erhellt. Die Landschaft war sehr klar, die Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser, wir waren von sattgrünem Wald umgeben, der Himmel war herrlich blau. Wir fanden einen ruhigen Platz mit Gras und Sand und legten uns hin. Da waren wir nun. Ich verbrachte den Nachmittag mit diesem Geistwesen am Ufer des Sees und genoss seine zauberhafte Gesellschaft.
Ich wusste, wer es war. La MadreAyahuasca. Ich konnte mir nicht sicher sein, dennoch war ich mir sicher. Ich hatte von ihr gehört – ein Geist der Natur, eine Pflanzenseele, eine lebende Ausdehnung der Erde und des göttlichen Lichts. Sie zog mich in ein magisches Reich hinein, das sich sehr real anfühlte und mit dem mein Bewusstsein anscheinend lückenlos verbunden war.
Nach unserem sehr angenehmen und jenseitigen Nachmittag, an einem Ort jenseits der Zeit, führte la Madre mich zurück in die Nacht, zu meinem Platz im Maloka. Sie schaute mich ein letztes Mal intensiv an und verabschiedete sich mit den Worten: »Wenn du mir hilfst, helfe ich dir.« Sie schien diese Worte direkt in mein Bewusstsein zu pusten, wo sie widerhallten, unauslöschlich.
Wenn du mir hilfst, helfe ich dir.
Nach einer Weile ließen die intensiven Eindrücke nach. Ich rollte mich auf die Seite, um nach meinem Freund Keyvan zu schauen: »Wie geht’s dir?«, flüsterte ich.
»Das war krass! Und wie verrückt war es bei dir?«, sagte er.
»Auf jeden Fall krass«, erwiderte ich, während die inneren Bilder nur langsam verblassten.
Die Gesänge wurden allmählich ruhiger, und die Zeremonie schien sich in eine zweite Phase zu bewegen. Ricardo, der Assistent der Schamanen, unterbrach die Stille und fragte in die Runde: »Alguien quiere más ayahuasca?« – Will jemand noch mehr Ayahuasca?
Er bot uns eine zweite Runde an. Mir ging es einigermaßen gut, mir war nicht übel, aber nach dieser Erfahrung mit fast katatonischen visuellen Eindrücken, die eine Ewigkeit zu dauern schienen, wollte ich lieber passen. Doch aus dem Nichts heraus setzte sich ein erstaunlich gelassener Keyvan auf und rief aus: »Yo sí!« – Ich, ja! Okay, dachte ich mir, dann auf ein Neues. Wir nahmen eine zweite Portion.
In dieser zweiten Runde ging es mehr um eine tiefgreifende innere Reise. Ich lag friedlich in der Dunkelheit und ließ mein Leben und meine Probleme Revue passieren. Auch diese Entdeckungsreise wurde von den geheimnisvollen Icaro-Gesängen der Schamanen angefeuert und begleitet, und wieder bemerkte ich nicht, wie die Zeit verging.
Als die Wirkung etwas nachließ, hörte ich mit meiner Innenschau auf. Ich wunderte mich, wo diese wunderbare Ayahuasca-Seele geblieben war. Als ich daran dachte, sie zu suchen, sah ich sie aus dem Augenwinkel aus der Tür des Malokas schlüpfen … ich hatte sie gerade verpasst. Ob ich sie tatsächlich gesehen hatte oder nicht, ich wusste, dass sie bei mir war.
Der Schamane Ricardo Amaringo kam kichernd zu mir. In der Dunkelheit war ich überzeugt, er sei jemand anderes. Ich dachte an den Ayahuasca-Koch mit der Phoenix-Suns-Kappe, den ich vor ein paar Stunden getroffen hatte. Ich fragte ihn: »Quién eres?« – Wer bist du?
Ricardo merkte, dass ich mich unter dem Einfluss des Ayahuasca etwas verloren fühlte. Anstatt meinen Verstand mit Worten noch mehr anzustrengen, setzte er sich neben mich und stimmte sich auf mich ein. Ich versuchte mich zusammenzunehmen und sagte: »Ich weiß, wer du bist.« Er lachte wieder und beobachtete mich weiterhin. Er saß dicht neben mir in der absoluten Finsternis. In einem bestimmten Moment begann er mit seinem Gesang. Durch sein Icaro explodierte ein glänzendes Licht in mir, das Ayahuasca raste förmlich durch meinen gesamten Körper. Ich fühlte, wie jede Zelle in meinem Körper voller Leben vibrierte. Irgendwann streifte sein Bein meins. Dabei spürte ich eine glatte Schlangenhaut und das enorme Gewicht einer großen Boa constrictor. Muster von Schlangenhäuten blitzten vor meinem geistigen Auge auf.
Ich war überwältigt von dem glänzenden Licht, das in meinen Visionen erschien, und als es vorbei war, bedankte ich mich für sein Lied. Ricardo fragte mich nach meinem Erlebnis. Ich erzählte ihm, wie sein Bein zu einer Schlange wurde. Er lachte und flüsterte durch die Dunkelheit: »Das ist Ayahuasca.« Er blies etwas Mapacho-Rauch aus seiner Pfeife zu mir und ging dann leise zur nächsten Person.
Die Zeremonie ging ihrem Ende zu. Nach einem letzten Gesang wurde sie als beendet erklärt, und wir durften unser Schweigen brechen und wieder miteinander reden. Die Gespräche mit den anderen bestätigten, dass wir gerade eine unglaubliche Erfahrung gemacht hatten. Einige der Teilnehmer gingen in ihre Zimmer, um sich auszuruhen, ich blieb jedoch im Maloka.
Ich war voller Ehrfurcht. In dieser Nacht machte ich kein Auge mehr zu. Dennoch erlebte ich den Sonnenaufgang vollkommen klar und erfrischt.
Wenn du mir hilfst, helfe ich dir. Diese Worte waren in meinem Kopf hängen geblieben.
** »Vegetalista« ist zum einen die Bezeichung für eine spezielle Ernährungsweise, die auf schamanischen Heilpflanzen basiert, zum anderen wird der Begriff für Menschen verwendet, die sich auf diese Weise ernähren; Anm. d. Ü.
Oft fragen mich Menschen, wie ich, ein Mediziner aus den USA, in Peru gelandet bin und mit Pflanzen kommuniziere. Meine Antwort ist, dass ich schon immer ein Faible für die integrative Medizin hatte. Für einen im Westen ausgebildeten Arzt mag es ungewöhnlich sein, sich für alternative Arten der Heilung zu interessieren. Allerdings bin ich nie nur den konventionellen medizinischen Weg gegangen.
Ich bin in einer spirituell orientierten kolumbianisch-amerikanischen Familie aufgewachsen mit Geschichten über wundersame Heilungen in Südamerika und anderen Teilen der Welt. Als Kind von Immigranten haben mich die Sichtweisen verschiedener Kulturen schon immer interessiert.
Mein Vater war Arzt und praktizierte als Allgemeinmediziner in Kolumbien, als er beschloss, sich in den USA auf Psychiatrie zu spezialisieren. Als mein älterer Bruder noch ein Baby war, zogen meine Eltern zuerst nach Missouri, dann nach Kansas. Dort wurden ich und mein jüngerer Bruder geboren. Nachdem mein Vater seine Facharztausbildung in Psychiatrie beendet hatte, fand er Arbeit in Phoenix, Arizona. Dort verbrachte ich meine prägenden Jahre.
Von Kindheit an wollte ich Arzt werden wie mein Vater. Ich interessierte mich jedoch auch für andere Medizinsysteme. In Arizona lernte ich die traditionelle Medizin der Indianer kennen, in Kalifornien begegneten mir die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und das spirituelle Heilen aus Westafrika. Weil ich mich früh mit verschiedenen Heiltraditionen auseinandergesetzt hatte, war ich offen und neugierig gegenüber anderen Dimensionen von Gesundheit und Krankheit, die die westliche Medizin oft übersieht.
Auf dem College bereitete ich mich auf das Medizinstudium vor, doch nach meinem Examen 1996 entschied ich mich anders. Ich hatte den Eindruck, nicht ins Schema des typischen Medizinstudenten zu passen und begann nach Alternativen zu suchen. Ich beschäftigte mich kurz mit der Ausbildung zum Feldbiologen, landete aber bald wieder beim Gesundheitswesen. Etwa neun Monate lang arbeitete ich in Los Angeles als Berater für lateinamerikanische Aids-Patienten. Durch diese Arbeit beschäftigte ich mich mit Akupunktur, Energieheilung und ein paar anderen alternativen Behandlungsmethoden. In Los Angeles wurde ich auch mit verschiedenen religiösen und spirituellen Praktiken konfrontiert, von japanischer Zen-Meditation bis hin zur afrokubanischen Santería.
Im Jahr 1998 folgte ich meiner damaligen Freundin nach San Diego. Dort arbeitete ich zunächst in einer Einrichtung, die sich um psychisch gestörte Teenager kümmerte. Einige Monate später fand ich einen Job im Bereich Gesundheitsaufklärung an der Student Healthcare Clinic der UCSD, die direkt gegenüber der medizinischen Fakultät der Uni lag. Während ich dort arbeitete, belegte ich einen Einführungskurs am Pacific College of Oriental Medicine (PCOM). Eine Zeit lang dachte ich daran, Akupunktur und Pflanzenheilkunde zu studieren.
Mein Vater machte sich Sorgen über mein berufliches Mäandern. Er sah mein Interesse an der integrativen Medizin und riet mir: Ein System lässt sich am besten von innen heraus verändern. Wenn ich Arzt werde, könne ich eines Tages im Bereich der integrativen Medizin praktizieren. Schließlich befolgte ich seinen Rat und bewarb mich um einen Studienplatz an der medizinischen Fakultät der UCSD.
Im Zuge meines Bewerbungsverfahrens wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Als ich über den Campus lief, traf ich zufällig meinen alten Studienfreund Keyvan. Wir hatten uns einige Jahre nicht mehr gesehen und tauschten kurz ein paar Neuigkeiten aus. Keyvan studierte seit einem Jahr an der medizinischen Fakultät, und es war ihm ein Bedürfnis, mich vor dem Studium zu warnen. Er beschrieb die Atmosphäre am Institut als ziemlich kühl und machte sich Sorgen darüber, ob die Ausbildung für mich und meinen unkonventionellen Geist nicht zu hart sei. Sein erstes Jahr war gnadenlos gewesen, und er überlegte gerade selbst, eine Zeit lang zu pausieren.
Trotz Keyvans Warnung schrieb ich mich im Herbst 1999 an der medizinischen Fakultät der UCSD ein. Letzlich bin ich der School of Medicine sehr dankbar, ich bin stolz darauf, Arzt zu sein. Mein Doktortitel hat mir in meinem Leben viele Türen geöffnet, und die Arbeit als Arzt war häufig sehr bereichernd. Aber es ist nicht alles Gold, was glänzt, wie man so schön sagt. Die Ausbildung war eine harte Zeit für mich, und hielt ein paar schwierige Lektionen über psychisches Leiden und Erkrankungen der Seele bereit. Dieses Leid brachte mich dazu, nach Heilung durch Pflanzen zu suchen. Ironischerweise war es das Medizinstudium, das mich zum »Fellowship of the River« führte.
Nach einer Studie aus dem Jahr 2016 leidet fast ein Drittel aller amerikanischen Medizinstudenten an Depressionen.1 Ich war einer von diesen depressiven Studenten. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, kommt mir in den Sinn, was der Schamane Ricardo einmal gesagt hat: Die meisten Depressionen entstehen durch aufgestaute Wut.
Während meines Medizinstudiums hatte ich mich oft darüber geärgert, dass das Gesundheitssystem sich nicht genügend um angehende Ärzte kümmerte, die schließlich die Zukunft der Medizin sind. Wir fühlten uns nicht unterstützt, vielmehr hatten wir Angst. Ein Problem anzusprechen bedrohte die eigene berufliche Zukunft. Ich erinnere mich daran, wie ich meinen Leistungsabfall in einem Semester mit der Universitätsverwaltung besprach. Ich hatte im zweiten Jahr die Klausur zu einer Vorlesung nicht bestanden. Die Frau aus der Verwaltung sagte mir: »Vielleicht erzählen Sie mir, was Ihr Problem ist. Wenn Sie es uns nicht erklären können, muss ich Ihre depressiven Tendenzen den Zuständigen in der Facharztausbildung melden und einen Vermerk in Ihren Unterlagen machen.« Ich wollte der Frau nichts über meine Befindlichkeiten erzählen. Vielleicht war ich zu stolz, aber ich spürte keine echte Anteilnahme in ihrem Tonfall. »Schreiben Sie einfach das, was Ihnen richtig erscheint«, erwiderte ich.
Ich war wütend darüber, das respektlose Verhalten von Menschen tolerieren zu müssen, die das Klima der Angst ausnutzten. Vielleicht waren es nur ein paar schwarze Schafe, aber ich war es leid mitzuerleben, wie Professoren und Dozenten uns demütigten. Menschen, die meiner Meinung nach ebenso deprimiert und unglücklich waren. Mein Vater und seine Freunde liebten ihre Arbeit, aber vielleicht war der Medizinbetrieb im Umbruch oder ich hatte das Pech, in meiner Ausbildung nur unzufriedene Ärzte kennenzulernen. (Laut Berichten der Medscape Physician Lifestyle litten im Jahr 2015 über sechsundvierzig Prozent der Ärzte an Burnout, gegenüber vierzig Prozent im Jahr 2013.)2
Nachdem ich bei der Klausur durchgefallen war, ärgerte mich außerdem die Vorstellung, dass all die harte Arbeit möglicherweise umsonst gewesen sein sollte. In meiner Frustration richtete ich die Wut gegen mich. Ich wurde überkritisch mir selbst gegenüber und zunehmend unsicher. Ich drehte mich gedanklich im Kreis und verlor den Kontakt zur Welt um mich herum. Es war mir peinlich, mich so verloren zu fühlen, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Schließlich ging ich zum studentischen Gesundheitsdienst und klagte über Atembeschwerden. Wie Sie sich erinnern, erhielt ich die Diagnose »Medizinstudium-Syndrom«.
Später, im dritten und vierten Ausbildungsjahr, vermittelte mir die Arbeit mit Patienten einen Sinn und motivierte mich, diese bedenkliche Entwicklung im Medizinbetrieb zu ertragen. Die Indoktrination in den ersten beiden Ausbildungsjahren hatte mich jedoch zu viel Kraft gekostet und deprimiert. Obwohl mich einige Freunde unterstützten, verdunkelte sich meine Welt zusehends. Ich suchte den Kontakt mit den Dingen, die mich nährten, bevorzugte natürliche Umgebungen und natürliche Menschen. Trotzdem wurde mir alles zu viel.
Es gelang mir nicht, meine negativen Gefühle, meinen Zorn, meine Unsicherheit und meine Trauer zu verdrängen. Ich wollte nichts mehr spüren. Ich versuchte mich von meinen Gefühlen abzuschotten. Leider verlor ich dadurch auch das Vertrauen.
Warum ist für manche Menschen die Ausbildung zum Arzt dermaßen deprimierend? Warum führt die Tätigkeit als Arzt so häufig zum Burnout?
Meiner Meinung nach liegt es an unserer materialistischen Kultur, die ein System hervorgebracht hat, das zu hart für uns, für unsere Herzen, ist. Unsere Kultur und unser Gesundheitssystem werden zunehmend von ökonomischen Interessen bestimmt. Wir verlieren die Verbindung zu menschlichen Werten. In unserem derzeitigen Gesundheitssystem steht der Gewinn im Vordergrund, Gesundheit und Zufriedenheit sowohl der Patienten als auch der Ärzte verlieren an Priorität. Wir sind viel zu beschäftigt, als dass wir uns in Ruhe fragen können, wie es uns geht.
Eine Kultur, die ihre natürliche Empathie leugnet, ist entmenschlicht. Der Körper kann diese Verleugnung nicht auffangen, er zerbricht daran. Der Verstand kann das Herz nicht lange ignorieren. Wir Menschen können unsere Menschlichkeit nicht lange unterdrücken.
Als Kultur erinnern wir uns langsam wieder daran. Nur wenn wir in Verbindung mit uns selbst sind, mit unserer Gemeinschaft und unserer Umgebung, fördern wir unsere Gesundheit und Ganzheitlichkeit. Für den afrikanischen traditionellen Heiler und Gelehrten Malidoma Somé hat sich die westliche Gesellschaft von drei menschlichen Grundbedürfnissen entfernt: der Natur, der Gemeinschaft und den Ritualen, die einen Zugang zur geistigen Welt ermöglichen.
Vor dem Medizinstudium fühlte ich mich mit der Welt verbunden, mit mir selbst, mit meiner Seele, der Natur und der Gemeinschaft. Irgendwann während dieser ersten zwei Jahre verlor ich diese Verbindung. Dementsprechend verlor ich das Vertrauen und wurde depressiv.